«Sicher ist nur, dass nicht wir bestimmen, wer wir sind.» Anna Kim im Literaturhaus Thurgau mit «Geschichte eines Kindes»

Anna Kim, 1977 in Südkorea geboren, als kleines Kind mit ihrer Familie nach Deutschland und später nach Österreich gekommen, veröffentlicht seit 2004, bald 20 Jahre, vor allem Romane und Essays. Ein erstes Mal hörte und sah ich Anna Kim in Leukerbad am Internationalen Literaturfestival 2017 mit ihrem Roman „Die grosse Heimkehr“, ein Roman über die Geschichte Nord- und Südkoreas nach dem zweiten Weltkrieg, von einer jungen Frau auf den Spuren ihrer Wurzeln.

Anna Kim trennt ihr biographisches nicht von ihrem politischen Schreiben, das Individuelle und das Politische wäre stets eine Einheit gewesen, weil ihr Aussehen scheinbar nicht das repräsentiert, was ihrer Biographie entspricht, weil man Menschen allzu schnell nach ihrem Äusseren taxiert. 

Logische Konsequenz daraus ist ihr Roman „Geschichte einer Kindheit“, mit dem Anna Kim von Wien nach Gottlieben angereist war.

Wie alle ihre Bücher ein erstaunliches Werk schon deshalb, weil sich Anna Kim nie auf das Kleinräumige, Nationale, Regionale reduzieren lässt, weil ihre Geschichten, die Schauplätze ihrer Romane stets einen global übersetzbaren Hintergrund besitzen, der sich genauso global verortet in den Romanen niederschlägt; ob in Grönland, Kosovo, Korea oder den Nordamerika; ihre Romane sind Suchen nach den Gründen, warum Menschen nicht zur Ruhe kommen, warum Menschen sich und andere stets in Schubladen pressen, grosse Schubladen oben mit viel Raum, enge unten, in die man alles stopft, was man oben nicht haben will. Sozio-politische Themen, die die Autorin, so verriet sie in einem Interview, auch dann nicht loslassen, wenn die Romane zu ende geschrieben sind und ihr Fokus auf Neues ausgerichtet wird.

„Geschichte einer Kindheit“ führt uns in eine us-amerikanische Kleinstadt im im Jahr 1953. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Als Vater ist keiner da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte das Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich einer beinah feindlichen Gesinnung stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichischstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler, durchdrungen sind von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman hat mehrere Stimmen. Zum einen jene der jungen Frau, die einen ruhigen Ort zum Schreiben sucht, die eine Fährte aufnimmt und in Rückblenden zu reflektieren beginnt und von ihrem eigenen Leben erzählt, zum andern die unterkühlten Aktenpassagen, denen tatsächliche Akten zu Grunde liegen, die einen Schriftverkehr dokumentieren, der in schmerzhaft übergriffiger Weise zeigt, wie wenig es bei einer scheinbar objektiven Beurteilung um den jeweiligen Menschen selbst geht. Schon der Titel des Romans „Geschichte eines Kindes“ impliziert, dass Anna Kims Roman exemplarisch sein will.

Warum steht der Mensch so sehr unter dem Zwang, einzuordnen, alles in eine von Werten geprägte Hierarchie zu bringen? Ist das unsere Unfähigkeit, die natürliche Gleichheit von allen zu ertragen? Weil wir Menschen uns als Spitze der Evolution sehen?

In den Akten werden ungeheuerliche Behauptungen aufgestellt, die wie in Beton gegossene Wahrheiten präsentiert werden. Zum Beispiel: Im Durchschnitt ist die Intelligenz der Negerkinder um zwei Prozentpunkte niedriger als die der weissen Kinder.“ Aussagen, die heute zu tiefst schockieren, gleich mehrfach, in ihrer Zeit aber hingenommen wurden. Heute passiert solches Erwachen fast täglich, wenn gefragt wird, ob gewisse Bücher heute noch lesbar sind bis hin in die bildende Kunst, wo Männer wie Picasso auf ihren Sockeln wackeln.

„Geschichte eines Kindes“ ist aber auch der Roman einer jungen Frau, die sich aus welchen Gründen auch immer weigert, ihre Mutterschaft anzutreten. Ein scheinbares Unding, ganz im Gegensatz zu all den Vätern, die nicht bereit sind, ihre Vaterschaft anzutreten.

Anna Kims Roman beschreibt die menschliche Unfähigkeit, das Gegenüber nicht an Äusserlichkeiten zu messen: Warum kannst du mich nicht so akzeptieren, wie ich bin? Eine Schlüsselfrage, die bis in die Weltpolitik hineingeht.

Kurzgeschichte «Die Zähne» von Anna Kim auf der Plattform Gegenzauber

Rezension «Geschichte eines Kindes» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp

„Geschichte eines Kindes“ ist eine wahre Geschichte über ein Kind, dem man das Nest verweigert. Über eine Mutter, die sich ihrer Verdammnis verweigert und ein System, das mit rassistischer Gesinnung scheinbar Gutes tut. Auch wenn die Geschichte in der us-amerikanischen Provinz angesiedelt ist. Solche Geschichten sind globale Gegenwart!

Dass Menschen auf Grund ihres Aussehens taxiert werden, ist noch immer Reflex. In einer Zeit, in der es angesagt wäre, sich immer mehr Gedanken darüber zu machen, ob man nicht selbst diesem automatischen Schubladisieren unterworfen ist. Wir leben im Zwang des Einordnens. Ob hellhäutig oder dunkel, ob dick oder dünn, ob sympathisch oder unsympathisch – wir ordnen ein. Unser Urteil darüber, wie wir taxieren, bestimmt unser Tun, bewusst oder unbewusst. Obwohl es immer mehr Stimmen gibt, laute und leise, die uns auffordern, sich diesen Zwängen und Automatismen entgegenzustellen, bestimmen sie unser Tun und Lassen, bis hinein in die Sprache.

Seit wir von totalitären Gesinnungen wissen, was institutionalisierter Rassismus anrichten kann, seit wir präsentiert bekommen, dass die europäische Kultur seit Jahrhunderten durchsetzt ist von Rassendünkel und dem Glauben, helle Hautfarbe rechtfertige Macht und Unterdrückung, weil Geschehnisse in der Gegenwart zeigen, dass Rassismus noch längst nicht überwunden ist, sind Bücher wie „Geschichte eines Kindes“ von Anna Kim mehr als Unterhaltung. Sie sind Notwendigkeit.

Anna Kim «Geschichte eines Kindes», Suhrkamp, 2022, 220 Seiten, CHF 33.90, ISBN 978-3-518-43056-9

1953, in einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Wisconsin. Carol Truttmann ist jung und bekommt ein Kind. Ein Vater ist nicht da. Aber auch ihre Muttergefühle siegen nicht über den Entschluss, den kleinen Jungen noch in der selben Nacht zur Adoption freizugeben. In der kleinen, konservativen Stadt, in der nichts verborgen bleibt, wäre das schon Skandal genug. Aber der kleine Junge ist nicht „weiss“ wie seine Mutter, sondern „negrid“. Und seine Mutter weigert sich, den Vater zu nennen, obwohl sie von den Sozialdiensten der Stadt immer und immer wieder aufgefordert wird, einen Namen zu nennen, um das Verfahren einer rechtsgültigen Adoption in Gang zu bringen. Der kleine Daniel wird bis zur Adoption in ein Heim gebracht, während eine ganze Maschinerie versucht, einen Pflegeplatz für den dunkelhäutigen Jungen zu finden und eine übereifrige Angestellte des Sozialdienstes keinen Versuch unterlässt, der jungen Mutter wegen des unbekannten Vaters auf den Zahn zu fühlen. Detektivische Nachforschungen, die aus gegenwärtiger Sicht mehr als übergriffig erscheinen, die mehr als verständlich machen können, dass sich eine junge Frau mehr und mehr verweigert.

Man sorgt sich durchaus um den kleinen Daniel. Man ahnt, dass er es in einem rein weissen Umfeld in Zukunft schwer haben wird. Dass auch eine Familie, die den kleinen Daniel adoptieren wird, nicht einfach einen Jungen in ihre Familie aufnehmen wird, sondern sich feindlichen Gesinnungen stellen muss. Anna Kim verdeutlicht das schmerzhaft eindringlich in den Akten des Sozialdienstes der Erzdiözese Green Bay, die in drei Teilen die Nachforschungen dokumentieren. Briefe, Telefonate und Berichte, die schneidend präzise verdeutlichen, wie sehr Behörden und vor allem die österreichstämmige Sozialarbeiterin Marlene Winckler durchdrungen ist von völkischem Gedankengut, der Überzeugung, dass alle nichtweissen Menschen der weissen Rasse unterlegen sind. Die Passagen dieser Akten, die Sprache, die Art und Weise, wie über das Schicksal des kleinen Jungen verhandelt und verfügt wird, schmerzt und macht offensichtlich, wie tief das elitäre Bewusstsein institutionalisierte „Nächstenliebe“ dominiert.

Anna Kims Roman ist vielschichtig. Eine junge Wiener Autorin tritt ein Sommersemester als Writer in Residence in Wisconsin an und findet ein Zimmer bei einer älteren Frau. Die beiden Frauen kommen sich näher, bis die Vermieterin die Geschichte ihres dement gewordenen Ehemanns erzählt, eben jenes Jungen, der im Sommer 1954 zur Adoption freigegeben werden konnte. Eines Mannes, der ein Leben lang, selbst bei der Suche nach einem Pflegeplatz als an Demenz Erkrankter, Rassismus, ob offensichtlich oder latent, erleiden musste.

Anna Kim, in Südkorea geboren und in Deutschland und Österreich aufgewachsen, weiss, was es heisst, taxiert und schubladisiert zu werden. Anna Kims Roman ist keine Anklage, sondern eine Offenlegung ganz subtiler Mechanismen. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte aller Kinder, die nicht dort geboren werden, wo alle so aussehen wie das Kind selbst. „Geschichte eines Kindes“ ist die Geschichte jener Kinder, die nicht herbeigesehnt werden, die man weghaben will. Darüber, dass eine Schwangerschaft zu einem Verdammnis werden kann.

 
Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die große Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

„Das Land hat sich verändert, wir werden nie wieder so sein wie einst.“ Artur Klinaŭ erzählte im Literaturhaus Thurgau

Artur Klinaŭ, Schriftsteller, Architekt, einer der wichtigsten Künstler Weissrusslands ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau, lebt und arbeitet während zweier Monate im Literaturhaus Thurgau. Zusammen mit Moderator Ulrich Schmid, Professor an der HSG und der Vorleserin Rebecca C. Schnyder, las und diskutierte er auf der Bühne des Literaturhauses Thurgau.

Artur Klinaŭ bezeichnet seine Aufenthalte im Ausland, ausserhalb seiner Heimat Weissrussland, nicht als Exil, sondern als Durchgangsreise. Auch wenn es unmöglich scheint, in nächster Zeit gefahrlos in seine Heimat zurückzukehren, verströmt Artur Klinaŭ ungeheure Zuversicht, erst recht, weil er seinen klaren Blick nicht verliert und es versteht, auf dem Boden einer ernüchternden Realität die Hoffnung nicht zu verlieren.

Offener Künstler in einer Diktatur zu sein, ist schwierig genug. Wenn Drohung und Verfolgung, Inhaftierung und Folter zur Tagesordnung werden, wird es immer schwieriger. Bis zu den Massenprotesten in Weissrussland 2020 war es im kleinen Kreis noch möglich, sich kritisch dem Regime gegenüber zu zeigen. Seit der blutigen Niederschlagung dieser Proteste aber hat sich das geändert. Für einen einzigen, falschen Satz kann man im Gefängnis landen.

Artur Klinaŭ nennt den weissrussischen Diktator Alexander Lukaschenka in seinem Buch „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ kein einziges Mal mit seinem Namen, bloss Batka. Sein Buch ist Auseinandersetzung und Abrechnung zugleich, ein Versuch der Einordnung, ein Protokoll der Suche nach seiner für Tage verschwundenen Tochter. Artur Klinaŭ ist davon überzeugt, dass eine Revolution in Weissrussland in der gegenwärtigen Lage aussichtslos wäre. Viele Stimmen im Land sind zwar laut, aber nur die wenigsten haben einen „Plan“, wie eine Zukunft in einem ganz anderen System aussehen müsste, allen voran die Opposition unter Swetlana Tichanowskaja, wo mit Slogans den Menschen in diesem leidgeprüften Land nur der „Kopf verdreht“ wird. Russland würde einen „aufmüpfigen“ Nachbarn sofort schlucken, zumal Weissrussland sich nicht dagegenstellen könnte, auch wenn viele in der protestierenden Masse aufrichtig beseelt waren von den Ideen einer Revolution.

Die Verhaftungen in Weissrussland sind willkürlich, die Gefängnisse voll, die Justiz systemgesteuert, Verurteilungen ein Hohn. Erfahren musste das auch Ales Beliazki, Menschenrechter und Friedensnobelpreisträger, der mehrfach festgenommen, immer wieder verurteilt und inhaftiert wurde. Nicht nur die Gassen im Regierungsviertel der Hauptstadt Minsk sind Sackgassen. Artur Klinaŭ nennt selbst die Architektur in seiner Hauptstadt, eine Retortenstadt, die nach dem 2. Weltkrieg fast vollkommen zerstört war, kafkaesk, „Realität in permanenter Katastrophe“, mit totalitärer Struktur, ohne jeden Raum für Individualität. Diktator Alexander Lukaschenka sträubt sich gegen jede Veränderung, eine Tatsache, die sich bis in die staatsgestützte Kunst spiegelt.

Der Abend mit Artur Klinaŭ hinterliess ein beklemmendes Gefühl, etwas Lähmendes. Bei mir nicht zuletzt darum, weil sich kaum jemand in der Schweiz bewusst ist, wie privilegiert ein Leben hier ist, in einem Land, in dem man sich über Nichtigkeiten echauffieren kann.

Der Abend war auch ein Gedenken an all jene, die in Diktaturen auf der ganzen Welt ihr Leben nicht leben können, weil ihnen mit Knüppeln diktiert wird.

Rezension von „Acht Tage Revolution. Ein dokumentarisches Journal aus Minsk“ auf thurgaukultur.ch

Interview zwischen Artur Klinaŭ und Lukas Bärfuss auf literaturblatt.ch 

«Es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden…» Artur Klinaŭ im Gespräch mit Lukas Bärfuss


bearbeitet und übersetzt von Iryna Herasimovich 

Lukas Bärfuss: Belarus. 207000 Quadratkilometer, damit ungefähr viermal so gross wie die Schweiz. 9,4 Millionen Einwohner. Die Hauptstadt Minsk. Auf dem Index der menschlichen Entwicklung steht das Land auf Rang 53 von etwa 170. Unabhängigkeit seit 1991. Das erste Staatsoberhaupt Stanislau Schuschkewitsch ist im Mai 2022 gestorben. Seit 1994 ist Aliaksandr Lukaschenka an der Macht. Bei der Präsidentschaftswahl 2020 abgewählt, trotzdem an der Macht geblieben. Danach Proteste, Revolution, brutale Unterdrückung. Man geht von 33000 Verhaftungen aus. Und immer noch sollen mehr als 800 politische Häftlinge in den Gefängnissen sitzen.

Eine der Verhafteten war auch Marta, Artur Klinaŭs Tochter. Artur Klinaŭ ist Autor, Architekt, Architekturhistoriker, im deutschsprachigen Raum zuerst bekannt geworden mit einem Porträt der Sonnenstadt der Träume: «Minsk». Ein Buch, das tief in die europäische Geschichte führt, in den Traum des neuen Menschen, in den Stalinismus, in die Killing Fields.

Sie sind Herausgeber. Sie haben sich ein Künstlerdorf aufgebaut, und Sie haben gerade ein Buch publiziert «Acht Tage Revolution». Ein dokumentarisches Journal aus Minsk. Aber bevor wir über all diese Dinge reden, erlauben Sie mir zuerst eine persönliche Frage. Sie sind 1965 geboren. Wie war Ihre Kindheit? Wo sind Sie zur Schule gegangen? Aus welcher Familie stammen Sie? Was war Ihre intellektuelle, geistige Entwicklung?

Artur Klinaŭ: Ich hatte eine glückliche sowjetische Kindheit. Wie ich es in «Minsk. Sonnenstadt der Träume» beschreibe, bin ich in einem Land des Glücks und in einer Stadt des Glücks geboren. Und das war die Wahrheit, weil wir aufrichtig daran geglaubt haben, dass wir in dem besten, schönsten, fantastischsten Land leben.

In diesem Buch gibt es zwei Linien. Die eine Linie ist die Geschichte des kleinen Jungen, der eben im Land des Glücks aufwächst – und es geht dem Jungen da wirklich gut. Und die andere Linie, das ist die desselben Jungen als Erwachsener, der diese Stadt mit einer ganz anderen kritischen Optik betrachtet und feststellen muss, dass im Hintergrund des Glücks etwas ganz anderes war. Hinter der Schönheit, die sich als Dekoration entpuppt, findet er das Leid und die Schrecken der Realität.

Ich komme aus einer einfachen Familie: Mein Vater war Künstler, und zwar ein antisowjetischer. Er konnte gar nichts mit der sowjetischen Macht anfangen, und sein Dissidententum hat er in gewissem Sinne an mich vererbt.

Die Mutter war eine Kommunistin, eine leidenschaftliche dazu. Sie trat auf Parteitagen auf, hatte einen Posten inne, keinen hohen, aber immerhin. In dieser Familie einer Kommunistin und eines Antisowjetschiks verbrachte ich also meine glückliche Kindheit.

Lukas Bärfuss: Ich hatte bei meiner Frage natürlich einen kleinen Hintergedanken. Es ging mir vor allem um die Frage, wie das eine mit dem anderen zusammenhängt. Und vielleicht kann ich das kurz auffächern: Es gibt die Behauptung, dass es am 24. Februar 2022 eine Zeitenwende gegeben habe, dass seither alles verändert sei. Und viele, wenn nicht alle Gewissheiten, die wir auf der politischen Ebene hatten und auf der wirtschaftlichen oder geostrategischen, nicht mehr gültig seien. Wie erleben Sie diese Veränderung in der westlichen Gesellschaft? Ich habe den Eindruck, dass Sie einen Vorsprung haben, dass Sie sehr viel früher diese Desillusionierung über das wahre Wesen der Diktatur und von Putin hatten.

Und noch eine kleine Ergänzung: Es gibt natürlich einen Zusammenhang zwischen der Situation in Belarus, Russland und der Ukraine. Wir können das nur in der Gesamtheit begreifen. Das ist das eine. Und das andere: Man spricht häufig von diesen Ländern als »in Osteuropa liegend«. Aber sie sind natürlich sehr zentral für die europäische Geschichte.

Artur Klinaŭ: Die Zeitenwende, von der heute so oft die Rede ist, muss man natürlich perspektivisch betrachten. Das war und bleibt ein Prozess, während dessen es einige Wendepunkte gibt. Wann dieser Prozess im Kopf von Putin bzw. in seinem System entstand, kann nur er selbst wissen. Ich weiss aber noch, wann ich diese Wende gespürt habe.

Es gab einige Stationen. Zu den ersten kann man zum Beispiel die Münchner Rede von Putin 2007 zählen, oder den Krieg in Georgien. Ich habe aber die Zeitenwende am deutlichsten 2014, mit der Okkupation der Krim und dem Krieg im Donbass gespürt.

Ich kann mich sogar sehr genau an diese Nacht erinnern. Das war im Frühling 2014. Auf einer Duma-Sitzung wurde der Beschluss verabschiedet, dass russische Truppen auch ausserhalb von Russland eingesetzt werden können. Da war mir klar: Die Welt wird nie mehr so wie früher sein. Die neue Epoche bedeutet die Rückkehr der Ordnung, in der keine Normen mehr gelten, keine Vereinbarungen, sondern nur das Recht des Stärkeren. Eine Katastrophe.

Vor diesen Ereignissen haben wir in dem Gefühl gelebt: Lukaschenkas System ist nicht gut, aber auch nicht auf Dauer. Irgendwann geht das vorbei. Und Belarus hat eine Zukunft.

Aber die Ereignisse im Donbass und auf der Krim vermittelten mir das Gefühl: Belarus ist als Nächstes dran nach der Ukraine.

Diese Erfahrung des Bruchs war sehr schwer für mich, das war eine echte existentielle Krise. Ich konnte gar nichts schreiben, da ich verstand, dass all meine Sujets im früheren, friedlichen Leben geblieben waren. Alles kippte um. So habe ich ein Haus in einem verlassenen Dorf gekauft und begann das Künstlerdorf Kaptaruny aufzubauen. Das war eine Art Flucht für mich. Ich wollte vor dem Krieg fliehen, was mir aber nicht gelungen ist.

Artur Klinau, Lukas Bärfuss und die Übersetzerin Iryna Herasimovich unterwegs in Minsk 2015

Lukas Bärfuss: Waren Sie damals alleine mit diesem Bewusstsein, mit diesem Wissen, mit diesen Einschätzungen? Oder war das eine verbreitete Ansicht über die Zeit?

Artur Klinaŭ: Ich denke, das haben alle gespürt. Selbst die belarussische Macht hat das gespürt. Zum ersten Mal haben Sie damals ernsthafte Versuche unternommen, sich mit dem Westen anzufreunden und gewisse Garantien vom Westen zu bekommen. Und eine Zeit lang lief das gut. Belarus driftete nach und nach in Richtung Europa und das war ein sehr positiver Prozess. Dann kam dieser Prozess zum Stillstand 2020, mit der Revolution in Belarus.

Das ist kein einfaches und kein eindeutiges Thema. Vielleicht enttäusche ich jetzt viele, aber ich muss sagen, dass ich dieser Revolution von Anfang an mit grosser Skepsis entgegenblickte. Zu risikoreich war die Situation für das Land. Ich wusste, das wird kein gutes Ende nehmen. Erst jetzt wird deutlich, dass das ebenso zu dem grossen Plan des Kremls gehörte.

Lukas Bärfuss: Ich möchte noch kurz einen Schritt zurückgehen: Sie haben gesagt, dass es ein Bewusstsein gab 2014, dass sich etwas verändert hat, sogar in der belarussischen Führung. Wollen wir jetzt versuchen, das extrem komplizierte Verhältnis vom Regime in Belarus zu jenem in Moskau noch ein bisschen zu erörtern?

Artur Klinaŭ: Das ist ein sehr komplexes Thema, die Beziehungen zwischen Belarus und Russland. Man muss vor allem sagen, dass die Gefahr einer Vereinnahmung, auch vor 2014 schon da war. Allerdings waren die Methoden damals anders. Da hat man eine Inkorporierung durch politische Vereinbarungen und durch Wirtschaft angestrebt. 2014 entstand die Gefahr, dass die Inkorporierung ohne jeglichen rechtlichen Rahmen verläuft, als direkte Annexion. Belarus musste die ganze Zeit vor dem Maul des Raubtiers balancieren.

Dabei hatte Belarus nie so viel Potenzial, sich zu wehren, wie es mit der Ukraine der Fall ist. Auch wenn das unglaublich schwer ist, aber die Ukraine hat eine Chance, der russischen Expansion Widerstand zu leisten. Im Fall von Belarus ist diese Chance gar nicht gegeben. Das Land ist 16 Mal kleiner als Russland, die Eroberung wäre blitzschnell gegangen.

Der einzige Weg, den ich für Belarus sah, war der Weg einer Evolution, einer schrittweisen Bewegung Richtung Westen. Nach und nach. Und deswegen war ich sehr skeptisch, als die Revolution 2020 kam, weil ich an die schrittweise Annäherung an den Westen geglaubt habe, eine Annäherung auf allen Ebenen, auf der Regierungsebene, auf der gesellschaftlichen Ebene etc.

Die belarussische Revolution hatte gar keine Chance, zu gewinnen. Auch wenn wir uns hypothetisch vorstellen, dass das Regime gefallen wäre, wären die russischen Truppen doch einmarschiert.

Lukas Bärfuss: Aber es gab ja diese Wahlfälschung und das war nicht die erste Wahlfälschung. Und die Repressionen waren ja auch nichts Neues. Was ist in diesem August 2020 passiert? Was ist dann passiert, dass die Menschen in Belarus diese Situation nicht mehr akzeptiert haben, wie bei den Wahlen zuvor? Was war in diesem Moment anders, dass das zu dieser Revolution gekommen ist?

Artur Klinaŭ: Wenn es um die belarussische Revolution geht, ist es notwendig, zwei Linien auseinanderzuhalten. Zum einen das Szenario, das vom Kreml bzw. von kremlnahen Kreisen inspiriert wurde, eine Art gelenkte, kontrollierte Revolution. Und die zweite Linie bilden die Ereignisse nach den Wahlen, die keiner Kontrolle unterlagen, und die Reaktion auf die Gewalt waren.

Es ist schwer, darüber zu sprechen, weil es in der Revolution natürlich viele Menschen gab, die ganz aufrichtig dabei waren, die sich von der Macht sehr gekränkt fühlten und empört waren. Auch wenn sie die Gefahr seitens Russlands sahen, konnten sie nicht schweigen, sie mussten auf die Strasse gehen.

Aber im Frühjahr 2020 war es für mich offensichtlich, dass der Kreml eine Destabilisierung in Belarus anstrebt. Er wollte die Annäherung von Belarus an den Westen unterwandern und das Land fest an Moskau binden. Aber nicht alles ist gelungen. Der Aufstand an sich konnte wie gesagt vom Kreml nicht kontrolliert werden. All die Zusammenhänge sind sehr komplex und verwoben.

Das war ein klassisches Schema, das seit Jahrtausenden von Imperien benutzt wird. Das Prinzip heisst »teile und herrsche«. Der Kreml wollte sowohl die belarussische Gesellschaft als auch die Macht schwächen, um diese Territorien an die ehemalige Metropole zu binden.

Lukas Bärfuss: Erlauben Sie mir einen ganz kurzen Ausflug in ein mir persönlich sehr am Herzen liegendes Terrain, nämlich die Sprache. Sie beschreiben sehr anschaulich, was mit der Sprache in einer Diktatur passiert. Die Sprache der Diktatur selbst. Welche Funktion hat die Sprache in einem solchen Moment? In einem solchen Regime? In einer solchen revolutionären Situation?

Artur Klinaŭ: Ich hatte das Glück, sozusagen in zwei totalitären Systemen zu leben. Und ich kann sagen, dass die Sprache des sowjetischen Systems sich sehr unterscheidet von der Sprache des modernen diktatorischen Systems. Die Sprache des sowjetischen Systems war sehr schlicht, sie hat sich vereinfacht bis zu einer Leere. Ich denke an die Parolen, die wir an den Hausmauern hatten, zum Beispiel »Wir sind für den Frieden auf der ganzen Welt« oder »Unser Ziel ist Kommunismus«. Das war eine sehr arme Sprache.

Die Sprache des neuen Totalitarismus ist ganz anders. Sie muss sich in dem Zeitalter der Information behaupten, wo es viel Infomüll gibt, den diese Sprache zu übertönen hat. Sie ist nicht mehr in einem leeren Raum. Nun gibt es Werbung, soziale Netzwerke etc. Deswegen muss sie andere Methoden nutzen. Eine von denen ist zum Beispiel der Rückgriff auf eine einfache und starke Emotion, und zwar auf Hass. Die Sprache des neuen Totalitarismus ist die Sprache des Hasses. Sie versucht, die Gegenseite zu entmenschlichen. Dabei können diese Gegenseite alle sein: Frauen, Feministinnen, Homosexuelle, Nationalisten, Imperialisten, Ukrainer – alle werden in einen Topf geworden. Wer nicht zu der Sekte gehört, ist auf der Gegenseite, er wird gehasst.

Das macht einen grossen Unterschied zur Sprache der Sowjetunion. Die Sowjetunion war zwar auch belagert von Feinden, aber da ging es eher um Verachtung, als um Hass, und man hatte ein gewisses Mitgefühl mit den Arbeitern in westlichen Ländern, die unter den Imperialisten leiden mussten. Der Hass war konkret gerichtet gegen die Haie des Imperialismus, aber nicht gegen alle Menschen.

Ein weiteres wichtiges Merkmal der neuen Sprache des Totalitarismus ist, dass sie paradox ist. Sie operiert die ganze Zeit mit sehr paradoxen Aussagen wie zum Beispiel »Frieden ist Krieg«, »Das Gute ist das Böse«, »Das Schwarze ist das Weisse« und so weiter.

Lukas Bärfuss: Wo haben wir das gelesen? In welchem Buch? Bei George Orwell, oder?

Artur Klinaŭ: Ja, genau.

Lukas Bärfuss: Was mich immer wieder beschäftigt, ist die Vorstellung, dass Sie in all diesen Jahren ganz unmittelbar und sehr direkt diese Diktatur an ihrem Leibe zu spüren bekamen… Wie behält man sich die Autorität über das eigene Denken? Wie gelingt Ihnen diese Luzidität und diese Genauigkeit?

Artur Klinaŭ: Das ist ein Problem. Im damaligen totalitären System, das in einer gewissen informationellen Leere war, brauchte man keine laute Stimme, um gehört zu werden, auch ein Flüstern war zu hören. Jetzt, in diesem informellen Durcheinander, in diesem Infomüll ist es sehr schwierig für einen Autor, so laut zu schreien, dass er gehört wird. Deswegen spielt ein Schriftsteller jetzt eine viel geringere Rolle. Auch wenn es gelingt, in dieser Situation zu schreien, gibt es keinerlei Garantie, dass man von den Menschen gehört wird, an die man sich wendet. Von den »kompetenten Organen«, dem Geheimdienst, aber schon. Selbst in diesem Infomüll verfolgen sie sehr genau, wer da was geschrieben, wer da was geflüstert hat. Im digitalen Zeitalter ist es sehr einfach, eine Gesellschaft zu kontrollieren.

Lukas Bärfuss: Es ist immer wieder erschreckend, lieber Artur Klinaŭ, wie lehrreich die Gespräche mit ihnen sind. Und ich würde wirklich gerne über den Hass und über die Methoden dieses Hasses, mit Ihnen reden. Aber ich kann nicht aus diesem Gespräch hinausgehen, ohne über das Exil gesprochen zu haben. Die Erfahrung des Exils ist der menschlichen Geschichte eingeschrieben. Sie ist Teil der Literatur. Sie ist auch sogar Teil der christlichen Heilsgeschichte, Abraham und Ovid, und Büchner in Zürich, und Else Lasker-Schüler in Zürich, und ewige Schande über diese Stadt und über die Fremdenpolizei in diesem Kanton. Wir schulden den Exilierten viel, aber das wird ihnen in ihrem Alltag nur wenig helfen. Und meine Frage ist: Wie ist Ihre Situation zurzeit?

Artur Klinaŭ: Ich halte mich nicht für einen Exilierten. Wenn es um mich geht, sage ich, ich bin auf einer kreativen Dienstreise. Ich möchte unbedingt zurück und habe das auch vor. Vor allen Dingen, weil ich dort das Künstlerdorf Kaptaruny habe, das ich gar nicht für lange Zeit verlassen kann.

Aber es ist im Moment schwierig, sich in der Welt zu befinden, egal wo man ist, in Belarus oder hier, weil man diese Katastrophe sieht. Und man fühlt sich nicht imstande, irgendwas dagegen zu unternehmen. Man fühlt sich ohnmächtig und diese Ohnmacht paralysiert und demoralisiert.

Für Belarus ist das eine existenzielle Katastrophe. In der Ukraine ist die Lage ganz schwer, da herrscht Krieg, aber die Ukrainer haben eine Vision von der Zukunft, sie haben eine Zukunft. Sie wissen, wohin sie gehen.

In Belarus haben wir das nicht. In Belarus haben wir eine Sackgasse. Es gibt keine Vision von der Zukunft. Alle Wege sind zu. Das ist nicht nur eine politische, sondern auch eine moralische Katastrophe. Belarussen werden als Co-Aggressoren gebrandmarkt. Dabei ist Belarus viel mehr Geisel und Opfer als Aggressor.

Um in dieser Situation nicht wahnsinnig, nicht alkoholsüchtig zu werden, sich nicht aufzuhängen, nicht depressiv zu werden, brauche ich einen gewissen Rahmen. Mir hilft, wenn ich mir ein grosses neues Projekt überlege, in das ich eintauchen und in dem ich überleben kann. So war es 2014 mit Kaptaruny. Jetzt schreibe ich an einem grossen Buch. Vielleicht wird es sogar eine Reihe sein. Das ist eine Forschungsarbeit über Imperien, über die Ideen, die in Imperien herrschen, über die Machtverhältnisse, über die Grundlagen der Macht in Imperien.

Lukas Bärfuss: Wie reich ein Gespräch ist, sieht man immer daran, wie unerlöst man bleibt, wenn die Zeit aufgebraucht ist. Und da sind wir jetzt. Ich finde, Sie sollten sich beeilen mit diesem Buch. Ich will es nämlich lesen. Ich bin sehr dankbar, dass Sie Zeit hatten, auf Ihrer kreativen Dienstreise auch einen Zwischenstopp in Zürich zu machen. Ich habe das Gefühl, es warten noch 100000 Fragen und wir sollten das fortsetzen und warum eigentlich auch nicht in Kaptaruny?

Artur Klinaŭ: Ich hoffe sehr, dass wir das bereits in einem Jahr bei unserem Festival Literature Intermarium tun können.

(Das Gespräch fand am 5. Mai 2022 im Literaturhaus Zürich statt und war eine Kooperationsveranstaltung mit dem Slawischen Seminar der Universität Zürich und der Hochschule der Künste Bern. Die schriftliche Fassung ist ein Vorabdruck aus dem im Frühjahr 2023 erscheinenden Themenheft «Befragung am Nullpunkt. Unabhängige Kultur in Belarus zwischen Repression und Aufbruch», hg. von Iryna Herasimovich, Nadine Menzel und Nina Weller.)

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aus dem Russischen von Volker Weichsel und Thomas Weiler

Artur Klinaŭ, geboren 1965, Schriftsteller und Architekt, gilt als einer der wichtigsten Künstler seines Landes und lebt gegenwärtig im Exil. Er ist Stipendiat der Kulturstiftung des Kantons Thurgau 2022.

Lukas Bärfuss, geboren 1971 in Thun, ist Dramatiker, Romancier und Publizist. Lukas Bärfuss ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und lebt in Zürich. Am 23. Februar ist Lukas Bärfuss Gast im Literaturhaus Thurgau.

Iryna Herasimovich wurde 1978 in Minsk geboren und ist seit 2009 freiberufliche Übersetzerin. Seit 2018 kuratiert sie den über­setzerischen Teil des Forums «Literature Intermarium» im Künstlerdorf Kaptaruny. Sie arbeitet auch als Dramaturgin und Kuratorin im Bereich bildende Kunst und ist Mitglied der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung.

Beitragsbilder © Maxim Korostelyov

Ralf Rothmann «Die Nacht unterm Schnee», Suhrkamp

Es gibt in der Literatur Namen, die versprechen. Namen, die mich selten oder nie enttäuschen. Denen ich deshalb treu bleibe. Namen wie Ralf Rothmann, der mit seinem neusten Buch „Nacht unterm Schnee“ einen zeitlosen Roman über das Verlorensein schrieb.

Wenn in der aktuellen Diskussion über das Gemetzel in der Ukraine als erster Krieg auf europäischem Boden seit dem zweiten Weltkrieg gesprochen wird, dann spricht das für Ignoranz, Unwissen, Verdrängung und Augenwischerei. Auf Zypern stehen sich nach einem blutigen Putsch in den 70ern in Griechenland seit Jahrzehnten bewaffnete Parteien gegenüber und die Balkankriege in den 90ern forderten wohl eine Viertelmillion Opfer. Beides Konflikte, die noch immer weiterschwelen, die noch längst nicht ausgestanden sind. Wir brauchen die Verdrängung wohl schon deshalb, um die Hoffnung auf „bessere Zeiten“, den Glauben, die Menschheit wäre lernfähig, man könnte Konflikte auch unblutig bewältigen, nicht zu verlieren.

In Zeiten, in denen die letzten Täter und Opfer des zweiten Weltkriegs sterben und Geschichte und Geschichten damit endgültig Erinnerung werden, sich mit den Schwarzweissbildern jener Zeit der Schleier des langsamen Verschwindens über jenes Grauen legt, sind Romane wie „Nacht unterm Schnee“ mehr als wichtig. Angesichts der Reaktion vieler, die nichts mehr von Krieg hören wollen und erklären, sie hätten genug davon, ist die Lektüre solcher Bücher neben aktiver Hilfe eine der wenigen Möglichkeiten, sich der eigenen Sicherheit, des unverdienten Privilegs bewusst zu werden.

In „Nacht unterm Schnee“ erzählen zwei Stimmen; Luisa vom Leben in und um Kiel in den letzten Tagen des Krieges und in der Zeit danach – und eine auktoriale Erzählstimme, die von Elisabeth erzählt, die in den letzten Wochen des Krieges schlussendlich in einem bunkerähnlichen Verschlag im Nirgendwo von einem russischen Soldaten gepflegt wird, nachdem sie sich vergewaltigt, erniedrigt und verwundet in einer Blutspur durch den Schnee schleppte. Von der Freundschaft zweier Frauen, die exemplarisch sind, nicht nur für jene Zeit während und nach dem Krieg, sondern bis in die Gegenwart; jenen, die es schaffen, sich in einem eigenen Leben von Zwängen der Gegenwart zu emanzipieren und jenen, die es trotz grösster Anstrengung und Sehnsucht nie schaffen, sich aus der Geschichte zu befreien. „Nacht unterm Schnee“ ist der letzte Band einer Trilogie, der sich nach „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ mit eben jener Frage der „Leidvererbung“ beschäftigt.

Ralf Rothmann «Nacht unterm Schnee»; Suhrkamp, 2022, 304 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-518-43085-9

Wenn Luisa nicht lernt, arbeitet sie in der Casino-Kneipe, die ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters in Kiel führt, einer Kneipe, in der sich in den Tagen vor und nach Ende des Krieges das Publikum vollkommen ändert, in einer Stadt, die in den letzten Tagen des Krieges arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. In jener Kneipe arbeitet auch Elisabeth. Ein paar Jahre älter als Luisa, aber auch mit einer ordentlichen Portion Lebensmut mehr ausgerüstet. Sie ist zwar verlobt mit dem Melker Walter, aber das hält sie nicht davon ab, mit der einen oder anderen Zuwendung eines Gastes ihren dürftigen Lohn aufzubessern. Überhaupt scheint sich Elisabeth mit jeder Zelle ihres Seins an den Freuden des Lebens festzuklammern, als hätte sie nach dem, was sie zuvor erlebte und was sie mit niemandem je teilte, das Recht, das zu nehmen, was ihr zusteht. Während es Luisa schafft, mit Bildung, einem Studium und der Rückendeckung eines Familienrests sich eine eigene Existenz aufzubauen, ein Leben in Unabhängigkeit, bleibt Elisabeth gefangen in den Nachwirkungen des Krieges, in Abhängigkeiten, einem Gespinst aus Lügen und Täuschungen, rauchend und nicht unempfänglich für den Exzess im Alkohol. Luisa, die den Kontakt zu Elisabeth auch dann nicht verliert, als diese den stillen Walter heiratet, ebenfalls Versehrter in den Wirren des Krieges als SS-Soldat und mit ihm auf einen Hof im schlesischen Missunde zieht und zwei Kinder bekommt, einen gesunden Jungen und später ein Mädchen mit Geburtsfehlern, bleibt kinderlos. Bei einem der Besuche in der kleinen Kate, in der Walter und Elisabeth hausen, als Elisabeth im Krankenhaus liegt und man wegen Geburtsschwierigkeiten um das Leben Elisabeths bangen muss, kommt es zur einen Nacht, in der sich Luisa und Walter in ihrer Leidenschaft verlieren. Eine Nacht, die Jahrzehnte nachhallt.

„Nacht unterm Schnee“ ist die Geschichte zweier ganz unterschiedlicher Frauenschicksale, die aber untrennbar miteinander verbunden und verwoben sind. „Nacht unterm Schnee“ ist aber auch ein Roman über die Sehnsucht, das ewige Suchen nach Liebe und Anerkennung. Ralf Rothmann erzählt mit absoluter Souveränität, schildert Zeiten und Leben, als würde ich als Leser den Rauch in der Casinokneipe oder die dampfenden Kühe riechen. Ralf Rothmanns Erzählen ist ganz nah und doch von einer beinahe zärtlichen Distanz. „Die Nacht unterm Schnee“ entwickelt einen vergegenwärtigenden Sog, der trunken macht.

die noch unvollständige Rothmann-Bibliothek

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin. Ralf Rothmann ist vielfach ausgezeichnet und zählt zu den Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.

Rezension zu «Der Gott jenes Sommers» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Heike Steinweg

Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, Nobelpreis 2022

2022 heisst die Literaturnobelpreisträgerin Annie Ernaux. Für einmal eine fast einhellig positiv kommentierte Entscheidung der Schwedischen Akademie, auch wenn man sich in den Medien im Nachgang wie die Geier auf das politische Engagement der Autorin stürzte. Aber den wenigen Misstönen zum Trotz: Annie Ernaux repräsentiert als Nobelpreisträgerin eine Stimme, die sich ganz nah ins 20. Jahrhundert schrieb, unmittelbar.

Auch in „Das Ereignis“ schreibt sich Annie Ernaux in die eigene Geschichte zurück. „Wer weiss, ob Erinnerung nicht bedeutet, auf den Grund der Dinge zu sehen“ heisst es vor dem Roman – ein Zitat von Yûko Tsushima, einer japanischen Schriftstellerin, die ebenfalls stark autobiographisch schrieb. Annie Ernaux war 1963 23-jährig schwanger. Ungewollt, mitten im Studium, in einer Zeit, als in Frankreich ein Schwangerschaftsabbruch unter Strafe stand, unter Strafe für alle; die Schwangere, Ärztin oder Engelmacherin, selbst für jene, die einen solchen Akt in die Wege leiteten. Wer 1963 in Frankreich ungewollt schwanger war und händeringend nach Hilfe suchte, stiess auf eine Wand der Angst, des Schweigens und der Scham.

Annie Ernaux «Das Ereignis», Suhrkamp, 2021, aus dem Französischen von Sonja Finck, 104 Seiten, CHF 25.90, ISBN 978-3-518-22525-7

Für Annie Ernaux muss diese Erinnerung in mehrfacher Hinsicht zu einer schriftstellerischen Notwendigkeit geworden sein. Zum einen war das Ereignis eine Zäsur in einem noch jungen Leben, dass damals dachte, alles im Griff zu haben. Zum andern war und ist sich sowohl die Frau, die Schriftstellerin, wie auch die Kämpferin für die Rechte der Frau bewusst, was mit jenem Schritt in und mit ihrem Körper passierte. Annie Ernaux beschreibt die verschiedenen Momente des Verlusts derart plastisch, dass es einem schaudert. Seien es die Momente des Alleinseins mit einer Entscheidung, die sie damals gerne geteilt hätte, sei es die beschämende Suche nach Hilfe, die Abweisung all jener, die sonst eigentlich zu Beistand verpflichtet wären, der Gang in Hinterhöfe, der Schmerz, die Leere, die unsäglich Angst, gleich in mehrfacher Hinsicht für eine Entscheidung büssen zu müssen.

So schmal das Buch ist, hundert Seiten, so schwergewichtig ist nicht nur der Inhalt, die Auseinandersetzung, sondern auch die Sprache, die absolut ehrliche und unmittelbare Nähe ihres Schreibens, die ungeheuerliche Blösse preisgibt. Annie Ernaux schrieb das Buch Ende 1999, mehr als ein Vierteljahrhundert nach dem Ereignis. Ein Ereignis, dem sie sich stellen muss, das ihr alles abverlangte damals und es noch einmal tat, als sie sich den Erinnerungen mit aller Konsequenz stellte. „Das Ereignis“ ist weder Erklärungsversuch noch Entschuldigung. Annie Ernaux geht es weder um das eine noch um das andere. „Das Ereignis“ ist die schonungslose Auseinandersetzung mit sich selbst, das Verhindern von Vergessen, die Tatsache, dass sich damals Weichen stellten, die bis in die Gegenwart wirken, dass sie sich auch Jahrzehnte später immer und immer wieder jenem Ereignis stellen muss.

Während pseudoklerikale, reaktionäre und konservative Kräfte ganze Demonstrationszüge mobilisieren können, amerikanische Bundesstaaten den Schwangerschaftsabbruch kriminalisieren, selbst dann, wenn Frauen das Opfer von Gewalt sind und auch in Europa Tendenzen sichtbar werden, die der Selbstbestimmung der Frau entgegenwirken, wird ein Buch wie dieses zu einer Stimme, die mit aller Deutlichkeit klarmacht, wie schwerwiegend ein solcher Entscheid ist, wie fatal es sein kann, wenn Frauen in solchen Situationen keine Optionen zur Verfügung stehen, wie grauenvoll es sein muss, bis eine Frau aus lauter Verzweiflung mit einer Stricknadel hantiert.

„Das Ereignis“ ist ein Ereignis!

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Romane sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden. Sie wurde mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Nobelpreis für Literatur.

Sonja Finck übersetzt aus dem Französischen und Englischen, darunter Bücher von Jocelyne Saucier, Kamel Daoud, Chinelo Okparanta und Wajdi Mouawad. Für ihre Ernaux-Übersetzungen wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis ausgezeichnet.
 

Rezension von «Die Frau» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Rezension von «Der Platz» von Annie Ernaux auf literaturblatt.ch

Mein kurzes Fazit zum Film: Absolut sehenswert, mit einer beeindruckenden Hauptdarstellerin, eine gelungene Literaturverfilmung.

Beitragsbild © Catherine-Hélie Gallimard

Januar bis April 2023 – das neue Programm im Literaturhaus Thurgau

«Das schöne Gottlieben und eure liebe Gesellschaft geht mir nicht aus dem Kopf – überall schwärme ich davon.» Norbert Scheuer

«Danke für Wortraum und Seewind und Weitsicht und Wein, danke fürs Klangexperiment und einen Ort zum Wiederkehren. Schönste Bühne weitumher.» Simone Lappert

«Besonders schön war es, im Bodmanhaus aus dem Buch zu lesen, das zu guten Teilen auch dort entstanden war. Geschrieben im leeren Haus, vorgelesen vor vollen Rängen, vor Menschen, die seit langer Zeit wieder einmal ihre Gesichter zeigen durften.» Peter Stamm

Literaturhaus Thurgau

Eine pralle Literaturlandschaft Spanien in einer leeren Landschaft – Literaturtage Zofingen – Rückblick

Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.

Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.

Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.

Ray Loriga mit «Kapitulation», Dolmetscherin Daniela Dias und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart
Ray Loriga «Kapitulation», Culturbooks, 2022, aus dem Spanischen von Alexander Dobler, 200 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-95988-155-5

Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.

José Ovejero mit «Aufstand», Moderatorin Monika Schärer
José Ovejero «Aufstand», Edition Nautilus, aus dem Spanischen von Patricia Hansel, 328 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-96054-296-4

Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation:
„…Papa, noch hast du Zeit:
Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst;
leg den Vampirumhang ab;
setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“
José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.

Elena Medel «Die Wunder», Suhrkamp, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 2022, 221 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43028-6

„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt.
Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere.
Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.

Elena Model mit «Die Wunder»
Vincente Valero «Krankenbesuche», Berenberg, 2022, aus dem Spanischen von Peter Kulten, 107 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-949203-39-8

Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza.
Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet.
Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute.
„Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.

Miqui Otero «Simón», Klett-Cotta, 2022, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 448 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98074-5

Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet.
Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist.
Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen.
„Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.

Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.

Rezension «Singe ich, tanzen die Berge» von Irene Solà

Ein literarischer Doppelstern im Literaturhaus Thurgau; Julia Weber & Heinz Helle

Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.

Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.

zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler

Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.

Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.

Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.

«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz

Rezension von «Die Vermengung» von Julia Weber auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wellen» von Heinz Helle auf literaturblatt.ch

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat

Vielleicht hat Julia Weber mit ihrem zweiten Roman „Die Vermengung“ etwas erschaffen, was einmalig ist. Der Titel ihres Romans ist nicht nur Überschrift, sondern Programm. „Die Vermengung“ vermengt biografisches mit fiktionalem Schreiben, die Sicht nach Innen mit jener nach Aussen, ist Roman über Frausein, Menschsein, Muttersein und Schriftstellerinnensein.

Julia Webers Roman ist keine Nabelschau. Solche mag ich nicht. Und doch schreibt Julia Weber über eine Julia, verheiratet mit H (Heinz Helle). Beide sind Schriftsteller und Eltern von B, einem Mädchen, das bereits in die Schule geht. Julia schreibt, H schreibt. Julia ist Mutter, H ist Vater. Sie wohnen zusammen in einer nicht übergrossen Wohnung mitten in Zürich. Sie schreibt in „freien“ Zeiten zuhause, er in seiner kleinen Kammer, die er irgendwo in der Nähe gemietet haben. Sie haben sich eingerichtet, das Leben als Paar, Eltern und Schreibende. Bis klar ist, dass Julia ein zweites Kind mit sich trägt. Bis klar ist, dass nach der Geburt alles anders ist und es mehr braucht als bloss eine Umgewöhnungsphase. Wird sie weiter schreiben können? Wird sie das eine zugunsten des andern „abbrechen“ müssen, so wie es in der Geschichte des Frauseins über Jahrhunderte passierte? Reicht es, einen fürsorglichen und einfühlsamen Mann an ihrer Seite zu wissen, um all dem gerecht zu werden, was sich mit bei kleinen Kindern intensivieren wird? Julia fühlt sich bedrängt, in die Enge getrieben. Eine Mischung aus Verzweiflung, Mutlosigkeit und Ängsten zieht sie in tiefe Trauer, in einen Kampf, der ihre Existenz gleich mehrfach bedroht.

Julia Weber «Die Vermengung», Limmat, 2022, 352 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-03926-041-6

Julia Weber bleibt aber nicht eindimensional. Sie verknüpft ihre Auseinandersetzung mit ihrem Schreiben, der Geschichte, mit der sie sich während und nach der Schwangerschaft auseinandersetzt, mit den Figuren dieser fiktiven Geschichte, Ruth, Linda und Karl machen in ihrer Fiktion Ähnliches durch; Schwangerschaft, Zukunftsängste, Stürme in ihren Beziehungen. Aber die reale Julia kommuniziert mit ihren Romanfiguren. Sie schreiben sich, beschwören einander, mischen sich ein. Die reale Familienkonstellation spiegelt sich in der fiktiven und umgekehrt. Dabei ist Julia Webers Schreiben über das Schreiben weit mehr als das Protokollieren einer „Buchwerdung“. Die Geschichte, an der die Autorin schreibt, ist das Spielfeld eine Wahrscheinlichkeit. Die Personen in ihrer Geschichte treten aus der Fiktion heraus und mischen im Realen mit.

«In jener Nacht verstand ich, dass sich alles vermengt, dass ich die Kunst bin, die ich mache, und die Kunst ist ich. Ich bin die Mutter dieses Kindes, und das Kind hat mich als Mutter. Wir werden ineinander und auseinander herauswachsen, und die Kunst wird neben uns her wachsen und auch in uns hinein.»

In einer weiter Ebene mischen sich auch noch weitere Beziehungen in „Die Vermengung“ ein; eine Freundin, die ihre Eizellen einfrieren lässt, weil ihr Wunsch, Mutter zu werden, den Vater noch nicht gefunden hat. Oder die Mutter, die ihr mitteilt, man habe einen Krebs in ihrer Brust gefunden. Julia Weber vermengt all die „Bedrohungen“ einer Frau in einem Roman, der mich bei der Lektüre schwindlig macht. Keineswegs, weil er unübersichtlich geschrieben oder nur schwer lesbar wäre. Julia Webers Roman ist in einer Sprache geschrieben, die sich mühelos ebenso klar wie verspielt zeigt. „Die Vermengung“ ist ein Roman, den man mit Bleistift hinter dem Ohr liest, der mit tiefer Sehnsucht geschrieben wurde, nicht nur den Moment, sondern die Welt zu verstehen, Ordnung in Gefühle zu bringen, die einem in ihrer Heftigkeit bedrohen können. Julia Webers fiktionale Figuren in ihrem Roman eskalieren stellvertretend. Die Briefe zwischen Ihr und ihrem Mann zeugen von jener Ernsthaftigkeit, die ich einer Gegenwart, die sich verliert, nur wünsche. 

Julia Webers Experiment der Vermengung hätte leicht scheitern können. Aber weil die Autorin die Vielstimmigkeit ihres Stimmenorchesters so virtuos dirigiert, gelingt ihr ein grosses symphonisches Werk, das getragen wird von Grossherzigkeit, Mut und der Sehnsucht nach Wahrhaftigkeit.

Julia Weber wird 1983 in Moshi (Tansania) geboren und zieht 1985 mit ihrer Familie nach Zürich. Nach der Schule macht sie eine Lehre als Fotofachangestellte und absolviert die gestalterische Berufsmaturität. Von 2009 bis 2012 studiert Julia Weber literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel/Bienne. Im Jahr 2012 gründet sie den Literaturdienst (www.literaturdienst.ch ) und ist 2015 Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe „Literatur für das, was passiert“ zur Unterstützung von Menschen auf der Flucht. Im Frühjahr 2017 erscheint ihr erster Roman «Immer ist alles schön» beim Limmat Verlag in Zürich. «Immer ist alles schön» wird mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, unter anderem mit dem internationalen Franz-Tumler-Literaturpreis, der Alfred Döblin Medaille der Universität Mainz, 2017 steht der Roman auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises.

Beitragsbild © Ayse Yavas