Eine pralle Literaturlandschaft Spanien in einer leeren Landschaft – Literaturtage Zofingen – Rückblick

Spanien war 2022 Gastland an der Frankfurter Buchmesse, der grössten europäischen Buchmesse. Zum ersten Mal wieder «nach» Corona machten ein Dutzend AutorInnen auf ihrem Heimweg von Frankfurt zurück nach Spanien Halt in Zofingen. So wurden die Literaturtage in Zofingen zu einem Brennpunkt spanischer Geschichte und Geschichten.

Man kennt Spanien hierzulande als Ferienland. Spanien und die Schweiz verbindet wenig, auch wenn in der Vergangenheit die Schweiz für viele Gastarbeiter ein Land der Hoffnung war und Spanien für manch einen Schweizer während des Bürgerkriegs gegen die Francodiktatur Schauplatz für den ganz eigenen Kampf gegen Diktatur und Willkür. Aber Spanien ist wie die Schweiz ein Vielsprachenland. Neben dem Spanischen, das man dort als Castellano bezeichnet und offizielle Landessprache ist, wird galizisch, katalanisch und baskisch gesprochen. Ein Umstand allerdings, der im Gegensatz zur Schweiz, Ursprung für viel Zwiespalt ist und war.

Spanien, ein moderner Industrie- und Agrarstaat, über weite Teile entvölkert, Jahrzehnte gespalten durch extreme Unterschiede zwischen Land- und Stadtbevölkerung ächzt noch immer unter den Nachwirkungen einer Geschichte, die in Bürgerkriegen vielfach zerrissen wurde. Geschichte, die noch lange in die Literatur, in die Geschichten dieses Landes einwirken wird.

Ray Loriga mit «Kapitulation», Dolmetscherin Daniela Dias und Moderator Hanspeter Müller-Drossaart
Ray Loriga «Kapitulation», Culturbooks, 2022, aus dem Spanischen von Alexander Dobler, 200 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-95988-155-5

Ray Lorigas preisgekrönter Roman „Kapitulation“ erzählt als Dystopie die Geschichte einer Flucht. Zehn Jahre sind seit dem Ausbruch eines Krieges vergangen. Der Erzähler hadert und weiss noch immer nicht, wofür seine im Krieg verschollenen Söhne überhaupt gekämpft haben. Er und seine Frau befolgen Befehle und bewirtschaften ihren Hof, bis angeordnet wird, dass alle Bewohner der Gegend ihre Häuser verbrennen und nichts zurücklassen sollen und in die neue Hauptstadt umziehen müssen. Diese Stadt erscheint zunächst als wahres Paradies. Unter einer atemberaubenden Glaskuppel findet sich ein endloses Gewirr aus durchsichtigen Strassenzügen, Gebäuden und Geschäften. Für alles Lebensnotwendige ist gesorgt, und die Frau des Mannes lebt sich schnell in ihr neues Leben ein. Doch der Mann findet keine Ruhe in dieser vollkommenen Transparenz, in der es weder Geheimnisse noch blickdichte Mauern gibt. Wer gegen die unausgesprochenen Regeln verstösst, muss mit den schlimmsten Konsequenzen rechnen, wie der Erzähler bald feststellt. Ein einfacher Mann, der zu verstehen, der zu entschlüsseln versucht. Sinnbildlich für den Zustand der gegenwärtigen Welt. Ray Loriga schrieb den Roman 2017. Er liest sich wie durch die Gegenwart hindurch in eine mögliche Zukunft, sind wir doch mit all dem, was an Überwachung und „Transparenz“ unternommen wird, nicht weit von einer gläsernen Welt entfernt.

José Ovejero mit «Aufstand», Moderatorin Monika Schärer
José Ovejero «Aufstand», Edition Nautilus, aus dem Spanischen von Patricia Hansel, 328 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-96054-296-4

Der Roman „Aufruhr“ von José Ovejero ist eine zärtliche Liebesgeschichte zwischen Vater und Tochter, die nicht mehr miteinander reden können, weil sie in verschiedenen Welten leben, weil die Tochter diesen einen Vater nicht haben will und einem Vater, der seine Tochter verloren hat. Eine Tochter, die sich um jeden Preis emanzipieren will und von zuhause abhaut. Anna will ganz in der Gegenwart leben. Der Vater hingegen will die Gegenwart nur überleben, will und muss sich anpassen, das Unrecht mit Lügen, mit Unwahrheiten kompensieren. Anna will aufbrechen. Während Anna sich einem anarchistischen Leben verschreibt, verlieren sich Vater und Tochter immer mehr in Welten, die sich in nichts zusammenfügen. Anna schreibt Gedichte, Signale an einen Vater, die einzige Form der (einseitigen) Kommunikation:
„…Papa, noch hast du Zeit:
Entsteige diesem Sarg, in dem du schläfst;
leg den Vampirumhang ab;
setz dich der Sonne aus, auch wenn sie dich versengt…“
José Ovejero interessiert sich für Risse und Spannungen. Was sind Gründe und Ursachen, dass junge Menschen in besetzten Häusern nach neuen Lebensentwürfen suchen? Warum muss Leben zu einem Protest werden? Ovejero recherchiert tief, schlüpft nicht in die Personen, die er beschreibt, sondern in ihre Welt, ihre Umgebung, ohne blosser Tourist ihrer Existenz zu sein.

Elena Medel «Die Wunder», Suhrkamp, aus dem Spanischen von Susanne Lange, 2022, 221 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-518-43028-6

„Die Wunder“, der Debütroman von Elena Medel führt in die Vorstädte Spaniens. Am 8. März 2018 fand in ganz Spanien ein Frauenstreik statt. Frauen sämtlicher Generationen und gesellschaftlicher Schichten riefen auf Spaniens Strassen lautstark nach ihren Rechten. Sie machten sich im Kampf zu Schwestern, Millionen von Schwestern. Dieser Streik bildet den eigentlichen Erzählrahmen, aus dem die junge Autorin ihre Geschichte, ihre Geschichten erzählt.
Ein Motiv des Romans ist die Frage, wie sehr Geld Leben beeinflusst. Zwei Frauen, Enkelin und Grossmutter, die einander nicht kennen, deren Wege sich nie kreuzten. Zwei Frauen am Existenzminimum, deren Geldsorgen ihr ganzes Leben durch und durch dominieren. Zwei Frauen, eine älter, die sich kämpferisch zeigt, eine Frauengruppe gründet und sich im Streik engagiert und eine junge Frau, angepasst, in ihrem Leben eingeschnürt. Zwei Leben, die sich in ihrem Ausdruck genau entgegengesetzt zur traditionellen Vorstellung spiegeln, fixe Vorstellungen, über die ich als Leser immer wieder stolpere.
Elena Medels Roman überzeugt durch grandiose Beschreibungen und Feinanalysen der spanischen Gesellschaft, jener Menschenschicksale, denen das Geld nie reicht.

Elena Model mit «Die Wunder»
Vincente Valero «Krankenbesuche», Berenberg, 2022, aus dem Spanischen von Peter Kulten, 107 Seiten, CHF 31.90, ISBN 978-3-949203-39-8

Vincente Valero lebt und wirkt als Schriftsteller, Essayist, Lyriker, Journalist und Lehrer auf der „Ferieninsel“ Ibiza. Eine grosse europäische Stimme, deren Klang es aber bisher nur ganz zaghaft über spanische Grenzen schaffte, trotz der wunderschönen Bücher, die der Berenberg Verlag vom Autor herausgibt. Durch Vincente Valero wird Ibiza das, was Ibiza eigentlich ist, weit mehr als eine Urlaubs- und Rambazamba-Insel im Mittelmeer. Ibiza war beispielsweise lange Sehnsuchtsort Generationen von Kunstschaffenden, vielen Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
Vincent Valero, der sich zuerst als Lyriker einen Namen machte, schreibt erst seit einigen Jahren Prosa, weil es, wie er erzählte, Geschichten gibt, die unbedingt erzählt werden müssen. Seit 2014 widmet sich Vincente Valero nun der Prosa, einer konzentrierten Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts mit dem Fokus auf die spanische Provinz, die Insel Ibiza.
Sein Roman „Krankenbesuche“ ist weniger Roman als eine geschichtliche Betrachtung über den Zustand des Krankseins, einen Zustand, der in vielen Fällen damals mehr „Auszeit“ zu sein schien als „Angstzeit“. Ein heiteres Buch mit langen, kunstvoll mäandernden Sätzen eines Autors, der mit grosser Lust und Freude in den Wellen der Sprache badet.
Demokratie und Tourismus haben Spanien im 20. Jahrhundert völlig verändert. Vielleicht hat der Tourismus die Demokratie in Spanien sogar begünstigt und unterstützt, war Spanien unter der Diktatur Francos weit weg vom kosmopolitischen Charakter des Landes heute.
„Krankenbesuche“ ist ein betörender Roman über eine Insel, von der wir alle wissen, dass sie schön ist. Vincente Valero aber gibt ihr jene Schönheit, die nichts mit den Hochglanzfotos von Reisführern zu tun hat.

Miqui Otero «Simón», Klett-Cotta, 2022, aus dem Spanischen von Matthias Strobel, 448 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98074-5

Miqui Otero, der sich auch als Journalist einen Namen machte, bezeichnet sich als Chronist Barcelonas. Er schreibe Geschichten seit er sechs Jahre alt ist, erzählt der Autor auf der Bühne der Zofingen Literaturtage. „Simón“ erzählt die Geschichte zweier Cousins am Rande Barcelonas, von der Kindheit bis tief ins Erwachsensein, vom Paradies bis zur totalen Desillusionierung. Zwei Cousins, die das Tor zur Welt in Büchern suchen und finden. Die beiden verstehen Bücher als „Liebesbriefe“ an das Leben. Simón bekommt antiquarische Bücher von seinem zehn Jahre älteren Cousin Rico, Bücher, in denen immer wieder Textstellen unterstrichen sind. Textstellen, die für Simón zu Wegzeichen werden, lange über den Moment hinaus, als Rico aus dem Leben Simóns verschwindet.
Die beiden Cousins sind zwei grosse Schwindler. So wie Literatur immer Schwindel ist. Wahrheiten werden verschoben, ohne dass sie damit zu Unwahrheiten werden, auch dann wenn Wahrheit Fiktion ist.
Der Erzähler wendet sich an mich als Leser, der Erzähler im Buch aber auch an Miqui Otero, den Autor. So entsteht ein Geflecht aus Stimmen, Kommentaren, Hinweisen und Versprechungen. Der Erzähler zwinkert mir zu und Miqui Otero klammert sich an mich, ihn mit aller verfügbaren Ironie ernst zu nehmen.
„Simón“ ist ein literarisches Panorama, eingetaucht in überbordende Fantasie und Fabulierlust, prägnanter Charakteren , verschlungener Biographien und schillerndem Humor, gespickt mit grandiosen Wahrheiten.

Was für ein Literaturfest in Zofingen! Vielen Dank allen im Organisationsteam: Sabine Schirle, Julia Knapp, Daniel Huber, Urs Heinz Aerni, Aleksandra Janz und Mike Wacker.

Rezension «Singe ich, tanzen die Berge» von Irene Solà

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus

„Krumholz“ ist ein Stück Wald, in dem Agatha ihr Leben liess. Aber vielleicht auch das Leben der beiden Protagonisten, deren Leben nie gerade verlief, das wie ein krummes Stück Holz abgerissen vom Ganzen weggeworfen wurde. Flavio Steimann ist ein Meister der stimmungsvollen Sätze, die in fast barockem Glanz so ganz anders klingen wie das Einerlei des Mainstreams.

Klar, es gibt den süffigen Wein, den süssen, den herben, den vollen, den trockenen. Wäre „Krumholz“ ein Wein, dann wäre es Portwein, schwer und nur in keinen Schlucken zu geniessen. Zwar las ich den Roman im Liegestuhl an einem breiten Fluss, aber im Wissen darum, dass ich dem Geschenk dieses Buches nicht gerecht werde. Da ist wohl eine Story, gar verbürgt und in seiner Abfolge amtlichen Akten nachempfunden. Was den Roman aber so genussreich macht, ist seine opulente Sprache, die Kontraste und Farben überzeichnet, das Lesen zu einem Schmaus mit jenen Sinnen wachsen lässt, die im Kopf Farben, Formen, Rhythmen und Empfindungen evozieren. Mag sein, dass meine Beschreibungen hymnisch werden. Aber als ich das Buch gelesen hatte, hatte ich das Gefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein. Ich hätte es langsamer lesen sollen, immer wieder weglegen, die Lektüre zu einem Zeremonie machend. Eben wie bei Portwein, und zwar mit jenem von der teuren Sorte.

Flavio Steimann «Krumholz», Edition Nautilus, 2021, 195 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96054-247-6

Agatha kommt Ende des 19. Jahrhunderts zur Welt, irgendwo im Nirgendwo, in einer Bauernfamilie, die eh schon ums Überleben kämpft. Bei der Geburt entscheidet sich der junge Arzt, den die verzweifelnde Hebamme herbeiholt, für das Leben des Neugeborenen. Die Mutter stirbt, der Vater zerbricht. Der Hof geht vor die Hunde. Und als klar wird, dass das kleine Mädchen taub ist und der Vater es nicht mehr schaffen wird, gibt man das Mädchen vorübergehend Verwandten in Obhut, bis sich die Ämter melden und man das Mädchen in eine «Armen- und Idiotenanstalt» steckt. Wie Flavio Steimann, der auch als Theaterautor erfolgreich ist, das Geschehen in jenen Gemäuern beschreibt, zum Beispiel als der Störmetzger eine Sau schlachtet und die Schlachterei zu einem opulenten Szenenspektakel macht, zwingt mich der Autor am Ende der Lektüre noch einmal zu den markierten Stellen zurückzukehren, um noch einmal in den Bildern zu baden.

Als Agatha alt genug ist, um für ihren eigenen Lebensunterhalt aufzukommen, schickt man sie in eine der vielen Textilfabriken, die am Anfang des 20. Jahrhunderts aus dem Boden schiessen. Ganz allmählich beginnt die junge Frau die Welt zu erkennen, bis man bei einer der damaligen mobilen Reihenuntersuchungen bei ihr Tuberkulose diagnostiziert und die junge Frau auf einen Hof auf dem Land zur Erholung schickt. Und weil sie nicht arbeiten soll, zieht sich Agathe in den nahen Wald ins „Krumholz“ zurück, aus dem sie eines Tages nicht mehr zurückkehrt.

Im zweiten Teil des Romans erzählt Flavio Steimann von Innozenz Torecht, genannt Zenz. Zenz ist ein Vagabund, ein Herumtreiber, dauernd auf der Flucht, vor sich selbst, seiner Vergangenheit, dem Hunger, den Ämtern, mal in Paris als Modell in den Diensten eines Künstlers, mal als Halbwilder in den Wäldern. Bis zu jenem Tag, als er eine junge Frau im Wald antrifft, eine junge Frau, die die Begegnung mit dem Streuner und Ruhelosen mit ihrem Leben bezahlt. Man wird ihm habhaft, steckt ihn ins Gefängnis, macht ihm den Prozess und einen Kopf kürzer.

Flavio Steimann erzählt zwei Leben, die sich fatal kreuzen. Von zwei Menschen, denen die Gesellschaft von Beginn weg den Stempel des Verlierers auf die Haut brennt, die man auf die Seite der Bösen, Missratenen, vom Teufel Besessenen drängt, mit Unterstützung der Kirche und des Staates, in einer Zeit, die doch eigentlich im Aufbruch steckte. Aber Menschen, und vor allem die Armen, Rechtlosen, sind Material.

Gerade weil einem das Geschehen manchmal fast mittelalterlich dünkt und die Geschehnisse parallel mit den Errungenschaften der aufkommenden Psychologie einhergehen, reisst die Geschichte mit. Dass mich Flavio Steimann dabei fast überbordend in den Strudel seiner Sprache hineinzieht und dabei alle Regeln der Sprachbescheidenheit elegant umschifft, macht «Krumholz» zu einem Sonderling. So wie Portwein. Allen schmeckt er nicht! Aber mir!

Interview

Der Inhalt ist authentisch, beruht auf einem «Fall» aus dem Jahr 1914. Wie sind sie auf den Stoff gestossen? Solche Geschichten offenbaren sich ja meist durch aktives Suchen, wenn auch auf der Suche nach etwas ganz anderem.
Es war in der Tat so: Ich habe aus Interesse Akten zum Prozess gegen den Vierfachmörder Matthias Muff besorgt und bin dabei quasi als Beifang auf das Urteil über Wütschert gestossen. In groben Zügen war mir seine Geschichte bereits bekannt; in der Dokumentation durch die Behörde mit dieser speziellen formaljuristischen und gleichzeitig selbstgerechten Ausprägung aber hat mich die Sache dann nicht mehr losgelassen, insbesondere auch, weil das weibliche Opfer als Objekt des Delikts nur in wenigen Worten erwähnt wird. Um die Idee nicht am Faktischen ersticken zu lassen, habe ich das dünne Büchlein mit dem Urteil des Luzerner Obergerichts nach der Lektüre lange Zeit liegen lassen, bis sich eine Art Vergessen einstellte; ich wolle mich bewusst wieder vom authentischen Fall lösen und ihn nur noch modellhaft verwenden. Geblieben ist letztendlich der Umriss als Plot mit seinen beiden Hauptfiguren, die ich aber fiktional gestaltet habe – unter Beibehaltung gewisser Schnittmengen mit dem historischen Personal, wo ich es für wesentlich und adäquat erachtete.

Die Geschichte, der ganze Roman lebt vom Kontrast. Auf der einen Seite eine Gesellschaft im Aufbruch, der Wechsel von einer reinen Agrar- zu einer Industriegesellschaft, das Aufbrechen der Psychologie, der Kunst. Und auf der anderen Seite eine Gesellschaft, die noch immer in ganz klare Muster trennt; unten und oben, gut und böse, Privileg und Material. Auch in Agatha und Zenz offenbaren sich diese Kontraste. Lieben Sie den Kontrast?
Verschiedenheit, Ambiguität und Ambivalenz machen den Reiz der verschiedenen Literaturen und damit auch des Lesens aus. Jedes gelungene Erzählen lebt in irgendeiner Form von Unterschieden, Gegenteilen und Kontrasten – im Guten wie im Schlechten. Was in meinen Texten, nicht zuletzt aus eigener Erfahrung, dazukommt, ist die Realität des sozialen Gefälles, sowohl was den Lebensstandard als auch die Geistesschulung betrifft. Diese Diskrepanz ist auch auf unserer modernen Welt bei Weitem noch nicht überwunden. Ganz im Gegenteil. Hinsichtlich Armut, Bildungsmangel und Ausgrenzung sind Aga und Zenz gewissermassen Zwillinge. Trotz unterschiedlicher Charaktere leben aber beide ganz unten, und das Delikt macht die Fatalität ihrer Lebenskatastrophen zudem unabwendbar und endgültig.

Mein Deutschlehrer warnte uns einst vor einem übermässigen Gebrauch von Adjektiven. Trotzdem hätte mein Deutschlehrer wahrscheinlich Freude an ihrem Roman gehabt, denn es gibt nichts Heikleres im Schreiben, als eben diese Sorte Wörter richtig einzusetzen. Aber weil sie ihr Erzählen in einen so ganz eigenen Sound eintauchen, stört die Würze nicht. Es ploppt in den Rezeptoren! Drängte sich das von Beginn weg auf?
Literarische Texte schreibe ich mit der Feder unbeeinflusst von formalen Überlegungen aus der Hand heraus und folge dabei einer Intuition, die mir ohne ein gewolltes Zutun Duktus und Klang vorgibt. Das Beschriebene oder Erzählte wird somit Ergebnis eines unkontrollierten generativen Schreibakts und nicht eines absichtsvollen Konstruierens. Strukturelle Analysen auf der Metaebene mache ich keine, somit fehlt mir ein klar definiertes Bewusstsein für die Art meines Schreibens, und allfällige Überhänge von einzelnen Wortarten nehme ich nicht wahr. Dennoch: Einleuchtenden, nachvollziehbaren Vorschlägen zu Lektoratseingriffen entziehe ich mich nicht; letztlich gibt es aber so viele verschiedene Rezeptionen und Urteile wie Lesende, und jene sind nicht selten diametral, immer aber breit gestreut.

Es hätte eine Kampfschrift für die Verlorenen, Unterdrückten werden können. Und doch, trotz aller sprachlichen Nähe, bleiben sie beim Schreiben in erstaunlicher Distanz, halten sich mit jeglicher Interpretation zurück. Auf der einen Seite sprachliche Opulenz, auf der anderen Seite erzählerische Distanz. Wieder ein Kontrast?
Wenn man so will. Ich verstehe mich als Erzähler und nicht als Erklärer von Geschichten. Weil ich davon ausgehe, dass es ohnehin keinen Plot, keine Romanidee gibt, die nicht schon auf der Welt wäre, ist für mich in allererster Linie die Form, der sprachliche Zugriff auf das Gewählte entscheidend. Dieser bestimmt letztlich auch den Standpunkt und die Haltung der Autorschaft: Bei aller Empathie für mein Personal will und kann ich nicht aktiver Anwalt oder gar Interpret sein: Wertungen, Urteile, psychologische Einordnungen sollen nicht Elemente meiner Prosa sein. Zuzustimmen oder abzulehnen, Nähe oder Distanz zum Roman und seinen Figuren zu finden, ist in jedem Fall Angelegenheit des Lesepublikums.

Ihr vorheriger Roman „Bajass“ und „Krumholz“ sind verwandt. Ist das Programm?
In einem bestimmten Sinne, ja! Zusammen mit „Aperwind“ (1987) sind diese letzten Werke in einer weiten Klammer trilogisch zu verstehen. Die Bücher sind im Wesentlichen in drei verschiedenen Bereichen verortet, die auch Gegebenheiten und Biografien meines familiären Hintergrunds geprägt haben: Die technischen Errungenschaften der anbrechenden Moderne und die damit verbundene Emigration sowie die Reduktion des Menschen auf seine Arbeitskraft. Angesiedelt habe ich diese Texte bewusst in einer Periode des vielfältigen Aufbruchs vor und nach der Jahrhundertwende von 1900 – es gab da, neben viel anderem, Eisenbahnprojekte, die Erfindung der drahtlosen Telegrafie und der Kunstseide, die Blüte der Atlantikschifffahrt mit dem Traum von Amerika – fundamentale dramaturgische Elemente, die in meinem Erzählen mehrschichtig als Hintergründe oder Treiber wirken.

Flavio Steimann, geboren 1945 in Luzern, ist seit 1966 literarisch und als Theatermacher tätig und veröffentlichte Romane, Erzählungen, Kurzgeschichten und Theaterstücke. Er wurde ausgezeichnet mit dem Förderpreis von Stadt und Kanton Luzern, mit dem Schweizerischen Schillerpreis und mit dem Förderpreis der Marianne und Curt-Dienemann-Stiftung Luzern. Sein Roman «Bajass» erschien 2014 und wurde 2020 in Luzern als Theaterfassung uraufgeführt.

Shumona Sinha «Erschlag die Armen!», Edition Nautilus

«Die Erde war eine Muttersau, die ihre allzu zahlreichen Ferkel nicht mehr ernähren konnte. Grunzend watete sie im Schlamm.» Die in Indien geborene und in England lebende Schriftstellerin Shumona Sinha verlor 2011, nach der Veröffentlichung dieses Romans, ihre Arbeit als Dolmetscherin bei der Französischen Asylbehörde. Ganz offensichtlich stach Shumona Sinha zu tief ins fette Fleisch der Muttersau.

«Ich biss mir auf die Lippen und fragte mich, ob es stimmte, ob ich hassen könnte, ob ein schlafender Hass plötzlich aus mir herausgebrochen war und sich mit aller Gewalt über diesen Mann entladen hatte.» Es mag Hass gewesen sein, aber mit Sicherheit Wut und blanker Zorn, der die junge Frau in «Erschlag die Armen!» dazu trieb, einem Migranten in der U-Bahn eine volle Flasche Rotwein über den Kopf zu schlagen. Nun sitzt sie in einer Zelle oder einem Büro Herrn K. gegenüber und versucht sich selbst zu erklären, was sie dazu trieb, einem Mann aus dem gleichen Land wie sie eine Glasflasche überzuziehen. An Handlung ist das in diesem schmalen Roman fast alles, nebst den vielen kleinen Miniaturen, die wie grelle Blitzlichter schildern, was in der Zwischenwelt der Geflohenen geschieht.

droits cédés à l'Olivier jusqu'au 4 décembre 2016

«Zwischen der endlosen Kolonne von Männern und mir eine hohe Mauer errichten. Abgewertete Männer, Zwerge, gelähmt vor Angst oder gar vor Hoffnung, bloss noch Nummern auf einer Warteliste oder einer Akte, Männer, die ihr Verlangen nach dem weissen Horizont, dem europäischen Traum, zu teuer bezahlt hatten.» Eine Mauer zwischen diesem Elend und der Stadt aus Glanz. Eine Mauer zwischen ihr und der Behörde, die in einer wabernden Gallerte aus Lüge, Verdrehung, Falschheit und Abstumpfung versinkt. Es ist nicht die Geschichte, die bannt, sondern die tobende Wut einer Entnervten, einer Wutentbrannten, einer in Sprache und Stand Missbrauchten. Es sind die Sätze,geb_SU die sich mir als Leser einbrennen und Wunden ritzen, Sätze, die mich zwingen, sie wieder und wieder zu lesen, weil sie messerscharf zeigen, wohin sich eine aus den Fugen geratene erste Welt manövriert. Sie, die Dolmetscherin, eine Frau der Sprache, instrumentalisiert von allen Seiten, verzweckt in einer verzwickten Lage, verlassen vom Glauben, Sprache würde der Wahrheit dienen. «Die Lüge drang in die Sätze ein wie das Wasser ins Hinterland, tausend Greifarme nahmen die Erde in Beschlag, salziges Wasser bedeckte die süsse Haut der Erde wie der Speichel eines Ungeheuers.» «Erschlag die Armen» ist ein Buch des blanken Schmerzes, der Verzweiflung darüber, nichts richtig machen zu können, über eine junge Frau, von der das Zittern Besitz ergreift, ein Zittern, das auf den Leser übergreifen kann, ein Buch von einer Verlorenen, einer Fremden in einem Apparat, einer Fremden unter Landsleuten, einer Fremden vor sich selbst.

geb_SUEnde August 2016 erscheint wieder bei Edition Nautilus ihr Roman «Kalkutta», die Geschichte von Trisha, die nach vielen Jahren in Frankreich anlässlich der Einäscherung ihres geliebten Vaters zurückkehrt in ihre Geburtsstadt Kalkutta. Im verlassenen Haus der Familie, in dem sie aufgewachsen ist, schicken die Möbel und vertrauten Gegenstände aus alten Tagen ihre Gedanken auf eine Zeitreise in die Vergangenheit. Indem Trisha sich in die Kratzer und Risse dieser Objekte, der Möbel, des Hauses versenkt, ersteht die Vergangenheit mehrerer Generationen einer Familie wieder auf, und damit auch die kollektive, politische Vergangenheit Westbengalens – von der britischen Kolonialzeit bis zur jahrzehntelangen kommunistischen Regierung seit den späten 1970er Jahren.

vs_literaturfestival_overShumona Sinha liest am Literaturfestival in Leukerbad vom 1. bis 3. Juli und am Open-Air-Literaturfestival Zürich am 12. Juli im Alten Botanischen Garten.