Ralf Rothmann «Der Gott jenes Sommers», Suhrkamp

Was für ein Roman! Ganz am Schluss sagt Mädchen Luisa zu Mathilde: „Ich möchte auch Nonne werden.“ „Ach Kind“, sagt die Nonne, „du bist noch so jung. Willst du nicht vorher was erleben?“ „Ich hab alles erlebt“, antwortet Luisa.

Die zwölfjährige Luisa lebt mit ihrer Familie Anfang 1945 in der Nähe von Kiel auf einem ehemaligen Gutshof. Von der einstigen Herrschaftlichkeit des Guts ist nicht viel übrig geblieben. Während in der Ferne die Städte brennen, sammeln sich auf dem Hof Flüchtlinge von überall, in der Hoffnung auf ein Dach und die kommende Zeit zu überleben. Solche, die dem Fatalismus verfallen sind neben jenen, die noch immer an den Endsieg glauben, an die Wunderwaffen, mit denen der Führer den Krieg gewinnen würde. Die junge Frau mit den lackierten Fingernägeln, die im Stall die übrig gebliebenen Kühe melkt, der junge Melker, der noch nicht in den Krieg eingezogen wurde. Luisas ältere Schwester Billie putzt sich heraus und jagt männliche Beute von Fest zu Fest, will sich den trüben Zeiten nicht ergeben, lehnt sich auf gegen alles, was sich ihrer Jugend entgegenstellt. Luisas Mutter, eine Frau, die alle Zärtlichkeit, alles Muttersein in den Kriegsjahren verloren zu haben scheint, treibt ihr Kind wie ein Kalb durch die Zeit. Ihr Vater, der in der Stadt am Meer den tödlichen Bombern bisher entkam, treu einem Vaterland dient, das blind in den Abgrund rennt, ist meist nicht da. Und wenn doch, ertränkt er seinen Schmerz gern im Alkohol, überlässt seine Töchter der Zeit. Einer Zeit, in der es auch keine Schule mehr gibt, weil sie von Bomben getroffen ist, weil ein von seiner Ideologie blinder Lehrer mit der Fahne seines Führers den Fliegern entgegenrannte und erst viel zu spät merkte, dass der Feind in den Flugzeugen sass. 

Nichts ist so, wie es sein sollte. Und das, was im Schein aufrecht erhalten wird, droht einzubrechen.

Luisa liest, liest viel, alles, was ihr in die Hände gerät. Sie wird belächelt von der Schwester, missachtet von der Mutter, vom Vater mit Büchern Kofferraum für Kofferraum aus der zerbombten Stadt versorgt. Nachts brennt lange ein schwaches Licht in ihrer Kammer unter dem Dach. Ein Licht, das dem jungen Melker Walter nicht verborgen bleibt, der sie dafür aber nicht schimpft, sondern eines Tages bei der Geburt eines jungen Stierkalbs ins Vertrauen zieht. Luisa ist allein gelassen, sich selbst überlassen. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Endgültig entgleist Luisas Leben an der Hochzeitsfeier ihrer Halbschwester Gudrun. Ein Hochzeitsfest, das aus dem Ruder läuft, an dem mehr gesoffen als gefeiert wird, als wolle man das Elend des drohenden Untergangs des Tausendjährigen Reichs im Alkoholnebel entkommen. Auch hier bleibt Luisa sich selbst überlassen, zuerst gelangweilt von der öden Hochzeitsfeier ihrer fremd gewordenen Stiefschwester, dann vom betrunkenen Ehemann mehr als nur in die Enge getrieben, von der Mutter genötigt, von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt. Aber niemand hört und sieht, was passiert. Am wenigsten die Mutter, die Augen und Ohren verschliesst, um die Privilegien ihres einflussreichen Schwiegersohns, eines glühenden SS-Offiziers, nicht zu verlieren.

Ein immer tiefer werdender Graben tut sich auf, mitten durch die Familie. Während die einen ein Ende mit Schrecken herbeisehnen, träumen die andern bis zuletzt vom grossdeutschen Endsieg. Ein Roman, der vor der Kulisse einer historischen Katastrophe den Leser an eine Kette menschlicher Katastrophen bindet.

Ralf Rottmann beschreibt ein fast barock anmutendes Sittengemälde aus den letzten Tagen des Krieges. Luisa, das zwölfjährige Mädchen bewegt sich durch die kaputte Landschaft, die Trümmer in Seelen und Räumen, durch ein Panorama des Schreckens, mitten hindurch, was menschliche Abgründe an Zerstörungen anrichten. Ich als Leser ganz nah mit dem Mädchen, dem „Winnetou“ und „Vom Winde verweht“ noch genau so nah und unmittelbar sind, wie eine Wirklichkeit, die sie nicht lesen kann.

Ein Buch über den Krieg. Ein Buch über die Gegenwart, die noch immer mit dem Krieg spielt. Ein Epos des Schreckens, bei dem einzig der Lauf der Sonne trösten kann. Von einem Mädchen, das erfolglos versucht, die Welt zu verstehen.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau