Andreas Maier «Der Kreis», Suhrkamp

Andreas Maier ist ein Meister der Sprache. Wer ihn und sein Schreiben mag, ist vorsichtig, wenn es ums Weiterempfehlen seiner Bücher geht. Dieses Geschenk ist zu kostbar, als dass es unverstanden und ungeliebt weggelegt werden darf!

In seinem neuen Buch «Der Kreis» erzählt Andreas Maier aus seiner Kindheit, nicht wirklich in Romanform, schon gar nicht chronologisch. Sein Grossprojekt ist mit «Der Kreis» einen Band weiter. Der Gang durch seine Heimat wird schlussendlich 11 Bände umfassen, eine Familiensaga aus der Wetterau, ein Selbstportrait, mit viel Fiktion sehr ernst genommen, ein autobiographischer Zyklus. Eine Ich-Figur, die allzu oft mit dem Autor Andreas Maier verwechselt oder gleichgesetzt wird, ein fiktionaler Kosmos angelehnt an die Realitäten der Vergangenheit, ohne Handlung, die den Autor «nur langweilt». Seit Beginn des gross angelegten Projekts stehen die Tiel der 11 Bände fest, der Setzkasten, der aber noch leer ist. Die Romane sind viel mehr eine Ortsbegehung, geographisch und psychologisch, familiär und gedanklich, erzählerische Essays, die mit der vom Verlag aufgesetzten Bezeichnung «Roman» allzu sehr Geschichten erwarten lassen. Mit seinen Büchern will Andreas Maier seine Fragen beantworten, im Roman «Der Kreis» unter anderem die Frage nach der Kunst, was sie sein soll. Maier ist Analytiker und Beobachter seines kindlichen Ichs. Das Buch beginnt mit Streifzügen durch die Bibliothek seiner Mutter, Streifzüge eines Siebenjährigen, der die Welt aus Versatzstücken zu verstehen versucht, schon damals tastend auf der Suche nach dem Kern. Andreas Maier beschreibt das Lesenlernen einer Welt, von innen nach aussen mit den Augen und dem Verstand eines Jungen. Schon spannend deshalb, weil Maier bewusst macht, wie viele Spekulationen die Welt der Erwachsenen bei Kindern provozieren.

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Auf dem Literaturmarkt wird verlangt, mindestens alle zwei Jahre ein Buch zu schreiben, möglichst einen Roman, möglichst dick (aufgetragen). Möge er wenn möglich, auf eine der Long- und Shortlists kommen. Andreas Maier aber will nicht Bücher um jeden Preis «heraushauen». Sein Buch, sein Projekt entzieht sich den gängigen Mustern der Buchmode, erfrischend. «Ich hörte auf, Romane zu schreiben und begann einfach zu schreiben, ohne zu enden, zumindest vorläufig.» Mag sein Projekt manchem wie ein Hamsterrad erscheinen, Andreas Maier taucht mit jedem Band neu, nicht mit dem Anspruch einer Chronologie, erzählt die Figur, dieses Ich immer wieder neu. Es müsse «entstehen», eine Tür aufgehen, zu dem, was er schon lange erzählen wollte. «Es kommt drauf an, was ich nicht erzähle, damit es funktioniert.» Seine Bücher sind «Krankheits- und Glaubensgeschichte», eine Grundlagenklärung, im Wissen darum, welches Privileg er geniesst, als Schriftsteller leben zu können.

Wenn Andreas Maier liest, sind es durchaus Geschichten, aber kleine Geschichten, genauso als sässe er bei einem Glas Weisswein (!) am Tisch mit anderen und würde erzählen, mal dies, mal das. Verstärkt durch die Gestik während des Lesens, seine Rechte, die seinen Vortrag zu dirigieren scheint.

3056_maier_andreasAndreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier wohnt in Hamburg.

NoViolet Bulawayo «Wir brauchen neue Namen», Suhrkamp

Bastard, Chipo, Godknows, Sbho, Stina und Darling ziehen durch eine der unzähligen Blechhüttensiedlungen Simbabwes. Die Kinder, nicht älter als 12, sind sich selbst überlassen, verlassen von Vätern, die spielen oder ihr Glück im Ausland versuchen, vergessen von Müttern, die stumpf wurden in der Sorge ums Überleben. ‹Paradies› heisst die Siedlung der Vertriebenen, Gestrandeten und Gescheiterten, eine Siedlung im Nichts, permanent bedroht, nicht zuletzt von der Willkür des Staates oder der Wut des Mobs.

Weil die einzige Regel dieses Literaturzirkels ist, dass niemand in der Runde das Buch bereits gelesen haben soll, las ich dieses Buch, das sonst wohl leider an mir vorbeigegangen wäre – und bin tief beendruckt!

Paradies; Was für die Erwachsenen Endstation aller Hoffnungen ist, ist für die Kinder trotz permanentem Hunger alles, was sie besitzen; «Wir sind zusammen, und wir sind zu Hause, und alles ist süsser als Nachtisch.» Sie verlassen für Streifzüge die Siedlung, ziehen durch benachbarte Gegenden, die ihnen wie fremde Erdteile erscheinen, plündern Gärten, versuchen in der Gruppe wenigstens die Mägen zu füllen. Schulen gibt es keine mehr, weil die nicht bezahlten Lehrer längst das Weite suchten. Und die Hilfe der NGOs ist ein Hohn, denn sie verschenken Plastikgewehre und Süssigkeiten. Bei den wirklichen Problemen sind die Kinder ganz auf sich selbst zurückgeworfen, erst recht mit Chipo, so alt wie sie, schwanger, stumm, traumatisiert durch die Vergewaltigung in der eigenen Familie, rätselhaft für die Kindergruppe, die helfen will, sic42451h verliert in Spekulationen, wie das Kind in den Bauch gekommen sein soll und sich in eine Beinahe-Katastrophe hineinmanövriert. Alles ausserhalb von Paradies ist «ausserirdisch», Häuser, Strassen und Menschen genauso wie das Geschehen am und im eigenen Körper. Das Leben der Kinder ist losgelassen, bloss Reaktion auf Bedürfnisse. Die junge Autorin NoViolet Bulawayo erzählt aus einer Kindheit wie der ihren, einem scheinbar verlorenen Leben in den Slums, vergessen von einer desillusionierten, resignierten Mutter und einem aus Südafrika zurückgekehrten und an Aids erkrankten Vater. Paradies ist eine Welt, in der die Kinder gemeinsam überleben lernen, nicht im Ort zuhause, sondern in den Gemeinsamkeiten, der Gemeinschaft, der Freundschaft.
Aber Darling wird herausgerissen zu Verwandten in den USA. Was von Aussen wie eine Rettung erscheint, ist schlussendlich die Vertreibung aus dem Paradies. Darling bleibt Flüchtling, bleibt fremd in einem Land, dass sie als Geflohene in die Illegalität drängt, nie ankommen lässt.

«Wir brauchen neue Namen» ist ein Buch, das mich zweifelnd zurücklässt, ein Buch, das schmerzt, nichts beschönt und angesichts der Kraft, die aus dem Roman spricht, mehr als nur nagt angesichts der Massen, die in Bewegung sind! «Wir brauchen neue Namen» beschreibt die Willkür und den Zerfall in Simbabwe nach der Befreiung «von der weissen Herrschaft», zeigt aber gleichzeitig das Elend des Fliehens, das Unverständnis der Zurückgebliebenen und die Scham, es im Land der unbegrenzten Möglichkeiten nicht übers Kloputzen – Scheissjobs hinaus geschafft zu haben. Das Dilemma des Vertriebenen und Geflohenen und nie Angekommenen, von niemandem Willkommenen. Es genügt längst nicht ein Mensch zu sein!

12828_bulawayo_noviolet-1NoViolet Bulawayo, geboren 1981 in Simbabwe, zog im Alter von achtzehn Jahren in die Vereinigten Staaten. 2011 gewann sie den Caine Prize for African Writing. Ihr Romandebüt «Wir brauchen neue Namen» ist ein weltweiter Erfolg. NoViolet Bulawayo heisst eigentlich Elizabeth Zandile Tshele und lebte bis zum 18. Lebensjahr in Bulawayo in Simbabwe. Ihren Namen wählte sie sich in Erinnerung an die Stadt, in der sie aufwuchs, und an ihre Mutter: „Mit Mutter zu Hause“.

NoViolet Bulawayo über «Wir brauchen neue Namen» (Video)

Webseite der Autorin

img_1062Aufs nächste Mal lesen wir wieder ein vielversprechendes Buch:

 

21. Literaturfestival Leukerbad: Sprachgewalt aus dem Osten – Kissina und Sorokin

Julia Kissina aus der Ukraine, lange Jahre in Moskau lebend, und die beiden grossen Russen Victor Jerofejew und Vladimir Sorokin: laute Stimmen aus dem Osten, opulent, der Zeit enthoben, verspielt und gleichsam kritisch, der russischen Seele den Spiegel vorhaltend.

Wo sich Schweizer Literatur allzu oft mit der persönlichen Befindlichkeit herumschlägt, schien diese zumindest bei diesen drei Gästen in Leukerbad kaum ernstzunehmendes Thema zu sein. Die russische Seele scheint weiträumiger zu sein, gewohnt, in weiten Dimensionen zu empfinden. Blicke sind viel mehr nach aussen gerichtet als nach innen gerichtet, über die Realität hinaus ins Surreale, die Sprache nicht bloss zum Skizzieren, um mögliche Realitäten entstehen zu lassen, sondern mit grellen Farben weit über die Grenzen hinausspritzend, nicht zögerlich, nicht vorsichtig und nicht zurückhaltend! Mit grossen Gesten, selbstbewusst, Raum einnehmend.

Kissina[1]Julia Kissina, 1966 in Kiew geboren, gehörte in den Achtzigern und Neunzigern zur neuen russischen Avantgarde zusammen mit Vladimir Sorokin. Julia Kissina schafft mit Literatur das, was kein Hollywoodfilm, keine Massenmusik, kein grelles Bild, kein gefälliges Theaterspektakel vermag. Sie evoziert Bilder, die sich mit ihrem Geschehen, in Kulissen, Farben und Gerüchen wie durch ein Kaleidoskop in meinem Kopf dauernd neu erfinden, ineinande42532[1]rgreifen, nicht wirklich fassbar. Ihre Geschichte flackert, gibt den einen Moment in aller Deutlichkeit preis, um ihn im nächsten Abschnitt zu kippen. Die Autorin ist mit einer Art des Wahrnehmens gesegnet, einem ganz besonderen Sensorium, das mir selbst und wohl den meisten Menschen verwehrt bleibt. Keine Ahnung, ob zu ihrem Segen! Aber wenn ich lese, was und wie sie schreibt, spüre und höre ich in mir, dass es Zwischentöne geben muss, von denen ich in meinem Alltag nicht einmal eine Ahnung habe.

Seit 1995, als von Vladimir Sorokin «Die Schlange» erschien, legt kaum ein russischer Autor so sehr seine Finger in die offenen Wunden der russischen Seele. Sorokin ist ein Thermometer des ruautor_1177[1]ssischen Befindens, das Buch trotz seines Geschehens in der Zukunft eine Antiutopie. Sorokins neuer Roman «Telluria» das Panorama einer dramatisch veränderten Welt, eine «Discokugel» aus 50 verschiedenen Spiegeln zusammengesetzt, 50 Bilder über grosse Träume, Alpträume, über den Kampf um Tellurianägel, eine Droge, die in den Scheitel getrieben, den Alltag und die Umwelt viel näher werden lassen.

Sorokin, ein Mann, der, während er spricht, oft nach Worten zu suchen scheint, Atem schöpft, um einen kurzen Moment nachzudenken, beinahe unsicher, der Kultautor aus Russland. Wenn dann aber seine Begleiterin übersetzt, was er 9783462048117[1]sagt, staune ich über die Klarheit, die Deutlichkeit seiner Worte; wenig, wie in Stein gehauen. Sorokin erschafft einen eigenen, phantastischen Kosmos, der phasenweise mehr an Computerspiele und die Bilder von Hyronimus Bosch erinnert, als an die russisch reale Gegenwart. Ein Text mit 50 Augen, einem grossen Fazettenauge, das versucht, die Welt neu und anders zu sehen. Es braucht Mut, den Roman zu lesen.

Julia Kissina «Elephantinas Moskauer Jahre», Suhrkamp (Video zum Buch)
Vladimir Sorokin «Telluria», Kiepenheuer & Witsch

Hans-Ulrich Treichel «Tagesanbruch», Suhrkamp

«Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen. Es gibt Dinge, die verschweigt man sogar den Toten.»

Die Pietà – eine Mutter hält ihren sterbenden oder toten Sohn in ihren Armen, Sinnbild dafür, dass Muttersein auch mit dem Tod von Töchtern und Söhnen nicht endet. Die latente Angst und Sorge aller Eltern, dass die Nachgeborenen zuerst sterben könnten. Die Mutter entlässt ihren toten Sohn aus ihren Armen, bettet ihn in seinem Zimmer, das er krank geworden wieder zu dem seinigen machte. Die Mutter entlässt aber nicht nur ihren Sohn, sondern mit ihm eine Geschichte und den letzten Rest Familie, jene Geschichte, über die man nicht spricht, nicht mit dem Mann, schon gar nicht mit dem Sohn. Während die Mutter neben ihrem toten Sohn auf den Morgen wartet, schreibt sie auf, was nie ausgesprochen werden konnte, was sie über Jahrzehnte verborgen als Urschmerz mit sich herumtrug. Ihr Mann, als er noch lebte ein Versehrter ohne rechten Arm, der mit Hilfe seine Frau der Behinderung trotzte und sie, die ihre Versehrtheit aus dem grossen Krieg verschlossen mit sich herumtrug, sprachen niemals aus, was sie wohl zusammenschweisste aber füreinander verloren und fremd werden liess. Hans-Ulrich Treichels Erzählung sind Bilder aus dem Leben einer Frau, die mit einer ganzen Kette von «wäre» und «hätte» an ein unfreiwillig gelebtes Leben gebunden war. Da blickt eine Generation auf die nächste, eine Mutter auf das Leben ihres Sohnes, um festzustellen, dass sich die Welt unbemerkt weiterdrehte.
«Zwei Beschämte, die nicht mehr zueinanderfanden und auch durch das gemeinsame Kind nicht erlöst werden sollten, weil es vielleicht gar kein gemeinsames war.»

Treichel_Hans_Ulrich_2013sw187_c_HeikeSteinweg_SVHans-Ulrich Treichels Romane und Erzählungen beschäftigen sich alle unspektakulär mit Verlust und Verlorenheit. Nichts desto trotz sind sie ein Weckruf zur Offenheit, ein Mahnmal für Ehrlichkeit und Offenheit, genau jene Eigenschaften, die unsere Gesellschaft in Zukunft noch viel dringender brauchen wird.
Hans-Ulrich Treichel, 1952 in Versmold/Westfalen geboren, lebt in Berlin und Leipzig. Er studierte Germanistik an der Freien Universität Berlin und promovierte 1984 mit einer Arbeit über Wolfgang Koeppen. Seit 1995 ist Hans-Ulrich Treichel Professor am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Seine Werke sind in 28 Sprachen übersetzt und erschienen fast alle bei Suhrkamp.