Ralf Rothmann «Die Nacht unterm Schnee», Suhrkamp

Es gibt in der Literatur Namen, die versprechen. Namen, die mich selten oder nie enttäuschen. Denen ich deshalb treu bleibe. Namen wie Ralf Rothmann, der mit seinem neusten Buch „Nacht unterm Schnee“ einen zeitlosen Roman über das Verlorensein schrieb.

Wenn in der aktuellen Diskussion über das Gemetzel in der Ukraine als erster Krieg auf europäischem Boden seit dem zweiten Weltkrieg gesprochen wird, dann spricht das für Ignoranz, Unwissen, Verdrängung und Augenwischerei. Auf Zypern stehen sich nach einem blutigen Putsch in den 70ern in Griechenland seit Jahrzehnten bewaffnete Parteien gegenüber und die Balkankriege in den 90ern forderten wohl eine Viertelmillion Opfer. Beides Konflikte, die noch immer weiterschwelen, die noch längst nicht ausgestanden sind. Wir brauchen die Verdrängung wohl schon deshalb, um die Hoffnung auf „bessere Zeiten“, den Glauben, die Menschheit wäre lernfähig, man könnte Konflikte auch unblutig bewältigen, nicht zu verlieren.

In Zeiten, in denen die letzten Täter und Opfer des zweiten Weltkriegs sterben und Geschichte und Geschichten damit endgültig Erinnerung werden, sich mit den Schwarzweissbildern jener Zeit der Schleier des langsamen Verschwindens über jenes Grauen legt, sind Romane wie „Nacht unterm Schnee“ mehr als wichtig. Angesichts der Reaktion vieler, die nichts mehr von Krieg hören wollen und erklären, sie hätten genug davon, ist die Lektüre solcher Bücher neben aktiver Hilfe eine der wenigen Möglichkeiten, sich der eigenen Sicherheit, des unverdienten Privilegs bewusst zu werden.

In „Nacht unterm Schnee“ erzählen zwei Stimmen; Luisa vom Leben in und um Kiel in den letzten Tagen des Krieges und in der Zeit danach – und eine auktoriale Erzählstimme, die von Elisabeth erzählt, die in den letzten Wochen des Krieges schlussendlich in einem bunkerähnlichen Verschlag im Nirgendwo von einem russischen Soldaten gepflegt wird, nachdem sie sich vergewaltigt, erniedrigt und verwundet in einer Blutspur durch den Schnee schleppte. Von der Freundschaft zweier Frauen, die exemplarisch sind, nicht nur für jene Zeit während und nach dem Krieg, sondern bis in die Gegenwart; jenen, die es schaffen, sich in einem eigenen Leben von Zwängen der Gegenwart zu emanzipieren und jenen, die es trotz grösster Anstrengung und Sehnsucht nie schaffen, sich aus der Geschichte zu befreien. „Nacht unterm Schnee“ ist der letzte Band einer Trilogie, der sich nach „Im Frühling sterben“ und „Der Gott jenes Sommers“ mit eben jener Frage der „Leidvererbung“ beschäftigt.

Ralf Rothmann «Nacht unterm Schnee»; Suhrkamp, 2022, 304 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-518-43085-9

Wenn Luisa nicht lernt, arbeitet sie in der Casino-Kneipe, die ihre Mutter nach dem Tod ihres Vaters in Kiel führt, einer Kneipe, in der sich in den Tagen vor und nach Ende des Krieges das Publikum vollkommen ändert, in einer Stadt, die in den letzten Tagen des Krieges arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. In jener Kneipe arbeitet auch Elisabeth. Ein paar Jahre älter als Luisa, aber auch mit einer ordentlichen Portion Lebensmut mehr ausgerüstet. Sie ist zwar verlobt mit dem Melker Walter, aber das hält sie nicht davon ab, mit der einen oder anderen Zuwendung eines Gastes ihren dürftigen Lohn aufzubessern. Überhaupt scheint sich Elisabeth mit jeder Zelle ihres Seins an den Freuden des Lebens festzuklammern, als hätte sie nach dem, was sie zuvor erlebte und was sie mit niemandem je teilte, das Recht, das zu nehmen, was ihr zusteht. Während es Luisa schafft, mit Bildung, einem Studium und der Rückendeckung eines Familienrests sich eine eigene Existenz aufzubauen, ein Leben in Unabhängigkeit, bleibt Elisabeth gefangen in den Nachwirkungen des Krieges, in Abhängigkeiten, einem Gespinst aus Lügen und Täuschungen, rauchend und nicht unempfänglich für den Exzess im Alkohol. Luisa, die den Kontakt zu Elisabeth auch dann nicht verliert, als diese den stillen Walter heiratet, ebenfalls Versehrter in den Wirren des Krieges als SS-Soldat und mit ihm auf einen Hof im schlesischen Missunde zieht und zwei Kinder bekommt, einen gesunden Jungen und später ein Mädchen mit Geburtsfehlern, bleibt kinderlos. Bei einem der Besuche in der kleinen Kate, in der Walter und Elisabeth hausen, als Elisabeth im Krankenhaus liegt und man wegen Geburtsschwierigkeiten um das Leben Elisabeths bangen muss, kommt es zur einen Nacht, in der sich Luisa und Walter in ihrer Leidenschaft verlieren. Eine Nacht, die Jahrzehnte nachhallt.

„Nacht unterm Schnee“ ist die Geschichte zweier ganz unterschiedlicher Frauenschicksale, die aber untrennbar miteinander verbunden und verwoben sind. „Nacht unterm Schnee“ ist aber auch ein Roman über die Sehnsucht, das ewige Suchen nach Liebe und Anerkennung. Ralf Rothmann erzählt mit absoluter Souveränität, schildert Zeiten und Leben, als würde ich als Leser den Rauch in der Casinokneipe oder die dampfenden Kühe riechen. Ralf Rothmanns Erzählen ist ganz nah und doch von einer beinahe zärtlichen Distanz. „Die Nacht unterm Schnee“ entwickelt einen vergegenwärtigenden Sog, der trunken macht.

die noch unvollständige Rothmann-Bibliothek

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin. Ralf Rothmann ist vielfach ausgezeichnet und zählt zu den Grossen der Deutschen Gegenwartsliteratur.

Rezension zu «Der Gott jenes Sommers» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Heike Steinweg

Ralf Rothmann «Der Gott jenes Sommers», Suhrkamp

Was für ein Roman! Ganz am Schluss sagt Mädchen Luisa zu Mathilde: „Ich möchte auch Nonne werden.“ „Ach Kind“, sagt die Nonne, „du bist noch so jung. Willst du nicht vorher was erleben?“ „Ich hab alles erlebt“, antwortet Luisa.

Die zwölfjährige Luisa lebt mit ihrer Familie Anfang 1945 in der Nähe von Kiel auf einem ehemaligen Gutshof. Von der einstigen Herrschaftlichkeit des Guts ist nicht viel übrig geblieben. Während in der Ferne die Städte brennen, sammeln sich auf dem Hof Flüchtlinge von überall, in der Hoffnung auf ein Dach und die kommende Zeit zu überleben. Solche, die dem Fatalismus verfallen sind neben jenen, die noch immer an den Endsieg glauben, an die Wunderwaffen, mit denen der Führer den Krieg gewinnen würde. Die junge Frau mit den lackierten Fingernägeln, die im Stall die übrig gebliebenen Kühe melkt, der junge Melker, der noch nicht in den Krieg eingezogen wurde. Luisas ältere Schwester Billie putzt sich heraus und jagt männliche Beute von Fest zu Fest, will sich den trüben Zeiten nicht ergeben, lehnt sich auf gegen alles, was sich ihrer Jugend entgegenstellt. Luisas Mutter, eine Frau, die alle Zärtlichkeit, alles Muttersein in den Kriegsjahren verloren zu haben scheint, treibt ihr Kind wie ein Kalb durch die Zeit. Ihr Vater, der in der Stadt am Meer den tödlichen Bombern bisher entkam, treu einem Vaterland dient, das blind in den Abgrund rennt, ist meist nicht da. Und wenn doch, ertränkt er seinen Schmerz gern im Alkohol, überlässt seine Töchter der Zeit. Einer Zeit, in der es auch keine Schule mehr gibt, weil sie von Bomben getroffen ist, weil ein von seiner Ideologie blinder Lehrer mit der Fahne seines Führers den Fliegern entgegenrannte und erst viel zu spät merkte, dass der Feind in den Flugzeugen sass. 

Nichts ist so, wie es sein sollte. Und das, was im Schein aufrecht erhalten wird, droht einzubrechen.

Luisa liest, liest viel, alles, was ihr in die Hände gerät. Sie wird belächelt von der Schwester, missachtet von der Mutter, vom Vater mit Büchern Kofferraum für Kofferraum aus der zerbombten Stadt versorgt. Nachts brennt lange ein schwaches Licht in ihrer Kammer unter dem Dach. Ein Licht, das dem jungen Melker Walter nicht verborgen bleibt, der sie dafür aber nicht schimpft, sondern eines Tages bei der Geburt eines jungen Stierkalbs ins Vertrauen zieht. Luisa ist allein gelassen, sich selbst überlassen. Jeder ist sich selbst der Nächste.

Endgültig entgleist Luisas Leben an der Hochzeitsfeier ihrer Halbschwester Gudrun. Ein Hochzeitsfest, das aus dem Ruder läuft, an dem mehr gesoffen als gefeiert wird, als wolle man das Elend des drohenden Untergangs des Tausendjährigen Reichs im Alkoholnebel entkommen. Auch hier bleibt Luisa sich selbst überlassen, zuerst gelangweilt von der öden Hochzeitsfeier ihrer fremd gewordenen Stiefschwester, dann vom betrunkenen Ehemann mehr als nur in die Enge getrieben, von der Mutter genötigt, von Kopfschmerzen und Übelkeit geplagt. Aber niemand hört und sieht, was passiert. Am wenigsten die Mutter, die Augen und Ohren verschliesst, um die Privilegien ihres einflussreichen Schwiegersohns, eines glühenden SS-Offiziers, nicht zu verlieren.

Ein immer tiefer werdender Graben tut sich auf, mitten durch die Familie. Während die einen ein Ende mit Schrecken herbeisehnen, träumen die andern bis zuletzt vom grossdeutschen Endsieg. Ein Roman, der vor der Kulisse einer historischen Katastrophe den Leser an eine Kette menschlicher Katastrophen bindet.

Ralf Rottmann beschreibt ein fast barock anmutendes Sittengemälde aus den letzten Tagen des Krieges. Luisa, das zwölfjährige Mädchen bewegt sich durch die kaputte Landschaft, die Trümmer in Seelen und Räumen, durch ein Panorama des Schreckens, mitten hindurch, was menschliche Abgründe an Zerstörungen anrichten. Ich als Leser ganz nah mit dem Mädchen, dem „Winnetou“ und „Vom Winde verweht“ noch genau so nah und unmittelbar sind, wie eine Wirklichkeit, die sie nicht lesen kann.

Ein Buch über den Krieg. Ein Buch über die Gegenwart, die noch immer mit dem Krieg spielt. Ein Epos des Schreckens, bei dem einzig der Lauf der Sonne trösten kann. Von einem Mädchen, das erfolglos versucht, die Welt zu verstehen.

Ralf Rothmann wurde am 10. Mai 1953 in Schleswig geboren und wuchs im Ruhrgebiet auf. Nach der Volksschule (und einem kurzen Besuch der Handelsschule) machte er eine Maurerlehre, arbeitete mehrere Jahre auf dem Bau und danach in verschiedenen Berufen (unter anderem als Drucker, Krankenpfleger und Koch). Er lebt seit 1976 in Berlin.

Titelfoto: Sandra Kottonau