Tim Krohn «Herr Brechbühl sucht eine Katze», Galiani

Als mich die Presseabteilung des Galiani Verlags via Mail fragte, ob ich Tim Krohns «Herr Brechbühl» weiterlesen konnte, schrieb ich zurück: «Ich bin an den letzten Seiten – und voller Regungen. Doch genau das, was passieren soll. Ich wanke zwischen heller Begeisterung, grossem Erstaunen, tiefer Bewunderung und leisem Entsetzen.

Begeisterung

Ich mag Menschen mit verrückten Ideen, solche, die mit Begeisterung andere begeistern. Ich mag von einer Idee besselte Menschen, erst recht dann, wenn es keine Verlierer zu geben scheint. Die Idee, eine Romanserie zu schreiben, über 777 menschliche Regungen über mindestens 3000 Seiten, auf 10 Bände angelegt, muss schon sehr begeistern, sowohl für den Autor wie als Lesende, um am Text zu bleiben. Das ist kein Experiment, sondern eine Expedition mit ungewissem Ausgang. Das schafft Tim Krohn nur, wenn die Personen, deren Leben er im ersten Band zu stricken beginnt, mich als Leser berühren, wenn sie mich etwas angehen, wenn ich ihnen nahe komme, wenn ich das Gefühl habe, dass die Welt dort meine Welt ist, in der ich lebe, auch wenn sie mir nicht immer gefällt. Wer im Vorsatz des Buches alle 777 menschlichen Regungen liest und sich vor Augen führt, dass sie alle dem Autor zugetragen wurden und dieser sie zu Überschriften seiner Kapitel machte, darf sich über die Richtung der Geschichte nicht wundern. Diese 777 menschlichen Regungen sind die Welt, oder zumindest ein aufschlussreicher Teil dessen. Ich schrieb Tim Krohn, nachdem ich sein Buch gelesen hatte: «Ein gutes Buch. Ein guter Anfang. Wäre es ein Menü, wärs doch erst der Apéro, ein Versprechen, um die Neugier zu entfachen. Wer schaut im TV Teil 2, wenn Teil 1 kein Versprechen gibt. Und wer liest noch 2500 Seiten, wenn er nicht gepackt ist? Bei Donna Leon ist es Blut, das nach jedem Buch versickert.» «Das sind schöne Zeilen, tausend Dank! Ich bin auch ganz hin und her gerissen von gefühlen wie Dankbarkeit – all den Menschen gegenüber, die, wie du, so und kompliziert und herzlich auf mein Spiel eingegangen sind -, Aufregung, denn die ersten Reaktionen auf das Buch sind so herzlich wie oder noch herzlicher als die auf die einzelnen Geschichten -, und zudem etwas bange, denn wenn auch die ersten 200 geschrieben sind, so liegt – sofern bis zuletzt Menschen mitspielen – noch ein langer Weg vor mir und meiner Familie.»  Hier entsteht mehr als ein Buch, mehr als eine Buchserie. Hier entsteht Begegnung. Was nicht heissen soll, dass in dieser Form des Entstehens das Heil läge. Es ist die Einmaligkeit. Tim Krohn begeistert mich mit und schafft es mit meiner Regung Nr. 149′ dass das Buch, die Serie auch ein bisschen mein Buch, meine Serie ist.

Erstaunen

Wer liest heute noch Bücher mit mehr als 1000 Seiten? Meist nur Fantasy-Freaks und Unerschrockene. Langeweile wird missverstanden. Die Buchserie «Menschliche Regungen» braucht lange Weile. Keine Clips, kein Shot, kein Klick.
Die Italienerin Elena Ferrante siedelt ihren Vierteiler «Meine geniale Freundin» in Neapel an: Mord, Suizid, Gewalt, Schulden, Betrug, drastisch, dramatisch, unglaublich. Tim Krohns Haus steht im Kreis 5 in Zürich. Die Ingredienzien seiner Geschichte sind nicht ungleich, nur die Dosis um einiges geringer, dafür viel näher und weniger unglaublich. Das Einzige, was nach «grosser Kelle» riecht, ist die Absicht, die Geschichte 10 Bände lang werden zu lassen. Und das grosse Erstaunen ist jenes, wenn ich am Ende des ersten Bandes doch das Gefühl habe, ein Buch zu Ende gelesen zu haben. Ich werde nicht stehen gelassen, weil ich 460 Seiten lang bestens unterhalten wurde.

Bewunderung

Ich bewundere den Mut, auch wenn die Finanzierung auf viele Schultern verteilt wurde und man viel versprochen bekommt. Kommissar-Brunetti-Fans, die den 30. Fall eines Kommissars in Venedig lesen, könnten auch ein paar Folgen auslassen oder auch nur ein paar aus der langen Reihe lesen. Aber wer würde mit «Menschliche Regungen Band 5» beginnen, wenn bereits 1500 Seiten «vergangen» sind?
Das braucht auch Mut für einen Verlag wie Galiani in einer Zeit, in der Zahlen drücken und kaum mehr jemand Geld verdient mit Literatur. «Tim Krohn bringt alle Geschichten in einen grossen Zusammenhang und liefert mit den daraus entstehenden Serien-Romanen eine grosse Chronik der Gefühle unseres Zeitalters.»
Bewunderung für die Sprache. Tim Krohns Sprache überzeugt mit Klang, Sound. Das Buch ist voller Poesie, auch wenn einzelne Settings wenig Romantik ausstrahlen. Tim Krohns Sprache ist farbig, nicht bunt, nicht grell. Tim Krohn schreibt in die Tiefe des Menschen, lässt gleichzeitig vieles offen, was auch nötig ist, wenn ich für 3000 Seiten «gebucht» sein soll.

Entsetzen

Während des Lesens befremdete mich die Häufigkeit von Sexszenen. Es wird ganz ordentlich gerammelt, ein Umstand, den ich einem normalen Genossenschaftshaus im Kreis 5 selbst in Zürich in der Intensität nicht zusprach. Wer aber während des Lesens noch einmal einen Blick auf die 777 menschlichen Regungen im Vorsatz des Buches wirft und sich die Mühe machen würde, alle eingesandten Begriffe, die auf den ersten Blick etwas mit Sexualität zu tun haben könnten, zu markieren, wundert sich nicht. Auch das ein Spiegel der Zeit, den Tim Krohn mit seinem Buch nicht korrigieren muss.

Er lohnt sich, das Abenteuer einzugehen. Lesen Sie!

Bücher für Weihnachten

Noch ein paar Ideen für eine entspannte Weihnachtszeit? Geschenksideen?Vielleicht sogar ein Buch für NichtleserInnen? Das gibt es! Oder Bücher fürs stille Örtchen? Warum nicht! Oder schmucke Bändchen fürs Nachttischchen? Kurz vorgestellt einige Tipps:

9783869711324Kat Menschik ist eine herausragende Illustratorin. Der Galiani Verlag Berlin hat den Mut, zusammen mit der Illustratorin eine ganze Reihe kleiner, literarischer Schmuckstüche herauszugeben. Bücher, die in allen Belangen überzeugen: inhaltlich, weil von grossen Autoren, optisch, weil in Menschik-Manier illustriert, haptisch, weil hochwertig produziert und buchtechnisch, weil die Bücher mit farbigem Schnitt, tiefgepresstem Umschlag jedes Büchernarrenherz höher schlagen lassen. Wenn Sie also jemandem eine Freude machen wollen, der schon alles gelesen hat, dann sind es diese Perlen. Bücher, die man gar nie ins Bücherragal schieben möchte!
Band 1 sind Franz Kafkas 1919 zum ersten Mal erschienen Erzählungen unter dem Titel «Ein 9783869711423Landarzt». Seltsame Geschichten wie eben jene vom Landarzt, von seltsamen Menschen in seltsamen Situationen. Illustriert von der Künstlerin Kat Menschik verdichten sich Lesegefühle, potenziert sich das schon magische Leseerlebnis Kafkas geheimnisvoller Geschichten.
Band 2 ist William Shakespeares Stück «Romeo und Julia». Wohl jeder kennt die tragische Liebesgeschichte, die 1597 zum ersten Mal zur Aufführung gekommen sein soll. Eine der Urgeschichten aller menschlichen Tragödien. Kat Menschiks Illustrationen sind nicht einfach Bilder zum Theater, sondern Nahaufnahmen, fein, über das Detail hinaus gesehen.
Jedes dieser Schmuckbändchen ist in seiner eigenen Sprache gestaltet, im gleichen Format, mit farbigem Schnitt, «ein Fest für Geist und Sinne». Kat Menschik «Franz Kafka – Ein Landarzt», «William Shakespeare – Romeo und Julia», Galiani

img_0135Ein Buch fürs Klo? Der Autor dieses Buches möge mir verzeihen. Aber jeder Bücherfreund muss auch am stillen Örtchen beweisen, dass man mit Stil, Muse und Kultur jene Zeit versüssen kann, erst recht dann, wenn Sitzungen etwas länger dauern. Stefan Keller, Journalist und Herausgeber, bekannt geworden mit seinem Buch «Grünigers Fall» über die Taten des in Ungnade gefallenen St. Galler Polizeihauptmanns und Flüchtlingsretters, öffnet in seinem neusten Buch «Bildlegenden» sein und fremde Archive. Stefan Keller ist Historiker und sammelt alte Bilder und Dokumente, kauft sie auf Flohmärkten und Brockenhäusern. 66 Bilder, Postkarten und Artefakten, literarisch kurz und knapp kommentiert, Zeitzeugnisse aus Ostschweizer Geschichte und darüber hinaus, nicht bloss erklärt, sondernd feinsinnig einander gegenüber gestellt, manchmal erhellend, manchmal nur angetippt. Viel mehr als ein zufällig arrangiertes Foto- und Kuriositätenalbum. Ein schön gestaltetes Büchlein im Querformat, das man gerne offen liegen lassen möchte. Stefan Keller «Bildlegenden, 66 wahre Geschichten», Rotpunktverlag

img_0136Als ich ein kleiner Junge war, gab es nichts, was mich mehr faszinierte, als Seefahrergeschichten. Abenteuer in den sieben Weltmeeren, Legenden von Piraten und ihren Schätzen, von verlorenen Orten, den Rändern der Zivilisation. Der mare Verlag Hamburg, dessen Bücher alle irgendwie mit Meer oder Wasser zu tun haben, schenkt all jenen, die mit Phantasie entdecken wollen, ein ganz besonderes Buch. Ein Buch zum wegfahren, abtauchen, überfliegen. Dirk Liesemer, Journalist, auch für die Zeitschrift «mare», erfand dreissig imaginäre Inseln und erzählt dazu von ihren wechselvollen Geschichten, Geschichten nicht nur von Inseln, sondern von Menschen, die an diesen Inseln fast allesamt scheitern. «Das Lexikon der Phantominseln» ist ein wunderlicher Reiseführer durch die Welt der Fantasie. Zweifarbig gedruckt, mit Karten, farbigem Schnitt und Lesebändchen lehrt Dirk Liesemer vielleicht nicht so sehr Geographisches, dafür umso mehr über die Abgründe der menschlichen Seele. Dirk Liesemer «Das Lexikon der Phantominseln», mare

img_0078Ich lebe in einer kleinen Stadt in der Ostschweiz. Bis vor hundert Jahren war Amriswil ein Bauerndorf. Mit der Eisenbahn und der Industialisierung wuchs Amriswil schnell. In ihrer Blütezeit bekam man wohl fast alles im Dorf. Es gab kleine Läden, Handwerker, mehrere Metzgereien… Heute stirbt ein Laden nach dem andern. Dafür wuchern an allen Ecken Kebabbuden, Krimskramsläden, noch ein Friseur, Hörgräte… «Handwerkstätte» ist eine Hommage an fast vergessene Berufe; den Rosshaarmatratzenmacher in Niederbipp, den Buchdrucker in Vättis, den Seiler in Winterthur, der Büstenmacherin in Küssnacht am Rigi und die Sackdruckerin in Heimiswil… Portraits mit Bild und Text, mit Adressen und Internetauftritten, ein Nachschlage- und Inspirationsbuch für all jene, die sich nicht begnügen mit Massen- und Stangenware. Eine gelungene Zusammenarbeit zwischen der Zeitschrift «Schweizer Familie» und dem Rotpunkt Verlag! Kathrin Fritz / Maurice K. Grünig «Handwerkstätten», Rotpunktverlag

Linus Reichlin «Manitoba», Galiani

In irgendeiner Weise werden Indianer immer zu Helden. Wohl am meisten bei Kindern in Geschichten, Bilder von Indianern, später aus Filmen und noch später gar mit angelesen Ideologiefetzen. So sehr das Indianersein verklärt und glorifiziert wird, so sehr leidet der Indianer selbst an der Wirklichkeit.

«Ein Urgrossvater, dessen Identität nicht zweifelsfrei feststand, konnte mir keine Heimat sein; wenn es um Herkunft ging, konnte man nicht sagen ich glaube, Herkunft musste eindeutig sein.»

Er, der erzählt, weiss nicht wirklich, warum er die Reise in den us-amerikanischen Norden, nach Washakie im Bundesstaat Wyoming macht, erst recht nicht mehr, nachdem er von der Reise zurückgekehrt zu schreiben beginnt, unsicher darüber, ob mehr gewonnen oder nicht viel mehr das wenige zerstört wurde. Zum einen war da die Recherche, ein paar Wochen abgeschiedenes Leben in einer Hütte im kanadischen Manitoba, zum andern die Lust nach Klarheit über eine Familienlegende, nach der die Urgrossmutter einen stolzen indianischen Krieger vom Stamm der Arapaho zum Mann nahm und er nun als Achtelindianer wissen wollte, ob nachzuforschen sei, was aus dem verlorenen Familienteil geworden war. Andererseits war die Reise eine Flucht vor den emotionalen Wirren um die Trennung von seiner Frau Hanna. «Wie konnten sich zwei Menschen, die ihr Innerstes in gemeinsame Schwingungen versetzen konnten, nicht mehr lieben? Ich weiss es nicht. Aber wir konnten es. Wir konnten einander nicht mehr lieben.» Und dann noch sein ebenfalls schreibender Sohn, der mit seinem Erstling jenen Erfolg hatte, der ihm zu fehlen schien.

9783869711317Ein Mann, der sich abkoppelt, nun auf der Suche nach Herkunft, weil die Gegenwart zu kollabieren drohte, auf den Spuren seiner Herkunft, die letztlich auch nicht durch Stammbäume und Gentechnik zu klären sind. Und nicht zuletzt eine Flucht mit Fluchthelfern, Tabletten gegen Herzrhythmusstörungen, Hilfe für einen aus dem Tritt geworfenen, der als Preis dafür mit langen, heftigen und fremden Träumen zu kämpfen hat. Vater und Sohn weit voneinander entfernt, verbrüht durch Verletzungen, falsch verstanden und im entscheidenden Moment alleine gelassen. Für mich als Leser vielleicht eine der stärksten Szenen im Roman: Der Vater früher zurück aus den Staaten an der Preisverleihung zu Ehren seines Sohnes schlussendlich sitzen gelassen, weil die Festgesellschaft ohne ihn weitergezogen war.

«Manitoba» ist jenseits aller Rührseeligkeit auch ein Buch über die Begegnung mit Indianern, die unter dem Deckmantel der Missionierung von Menschen mehr als nur zu leiden hatten. Vielleicht auch von der aus der innerschweizerischen Enge geflohenen Urgrossmutter des Erzählers. Indianer, die für ihr Anderssein bestraft wurden. In nordamerikanischen Schulen, in der die Urgrossmutter unterrichtete, schon dafür, dass die Kinder heimlich in der Sprache ihrer Eltern flüsterten. Was waren die Beweggründe jener Frau damals? Warum reiste sie wenige Jahre später wieder zurück ins Stauffacherdorf Steinen im Kanton Schwyz? Während er fährt, nachfragt und sucht, liest er Urgrossmutters spätes Tagebuch, einen niedergeschriebenen Erklärungsversuch, den sie als alte Frau kurz vor ihrem Tod niederschrieb und Quell vieler neuer Geheimnisse wurde.

Linus Reichlin spannt den Bogen von Steinen bis in die Wälder Kanadas, von den Alteingesessenen hier und da. Ein Buch über die Hoffnung nach klärender Distanz und distanzierter Klärung, ein Protokoll des Schreibens und Scheiterns, darüber, dass eben doch nur Geschichten ein Ende haben.

autor_1312Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman »Die Sehnsucht der Atome« erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman »Der Assistent der Sterne« wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010/Kategorie Unterhaltung gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman »Er« schrieb der Stern »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien »Das Leuchten in der Ferne«, ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan – »das ist große Literatur, und dann auch noch spannend erzählt« (FAZ).