Gianna Lange «Und dann springen wir», FVA

Eine junge Frau springt von einer Brücke. Aber nicht, weil sie Schluss machen will, sondern weil es ein Neubeginn sein soll. Von der „Alten Brücke“ in Mostar, jener steinernen Bogenbrücke über die Neretva, über eine Brücke, die mit ihrer Zerstörung 1993 zum Symbol des Bosnienkrieges wurde. Ein Sprung, der ein Versprechen einlösen sollte.

Gianna Lange schrieb mit ihrem feinmaschigen Debüt ein Stück Literatur, dass es in sich hat. Eine vielschichtige Geschichte über eine junge Frau und ihre Familie. Eine Familie, die zerrissen ist. Über die Gewissheit, dass man sich seiner Herkunft nicht verschliessen kann, dass die Frage nach dem Woher wenigstens jenes Mass an Antworten braucht, um sich von der Enge unbeantworteter Fragen befreien zu können. „Und dann springen wir“ ist ein Roman über eine junge Frau, die sich vom Schweigen, der Verdrängung in ihrer Familie befreien muss.

Elise stirbt, die Mutter von Rosa. Es war ein Leben, dass immer wieder tauchte. Elise sprang immer wieder, ohne je unten anzukommen. Auch wenn es Phasen des Glücks gab, war das Leben mit der Mutter und die Abwesenheit des Vaters für die junge Rosa ein permanentes Minenfeld, bescherte ihr ein Leben in Ungewissheit, übertrug ihr Verantwortung, die die Kraft eines Kindes, einer Jugendlichen übersteigt. Irgendwann entfloh Rosa ihrer Mutter, zog aus, in ein Wohnheim auf der anderen Seite der Stadt. Einen Abstand, den es brauchte, um vor den Katastrophen der Mutter zu entfliehen.

Gianna Lange «Und dann springen wir», Frankfurter Verlagsanstalt, 2025, 192 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-627-02337-9

Man teilt ihr mit, dass die Mutter gestorben ist, nachdem sie an Tuberkulose erkrankte und ins Spital eingeliefert wurde. Obwohl man ihr versicherte, an Tuberkulose würde heute niemand mehr sterben, kam der Anruf dann doch. Mit einem Mal war ihre Mutter weg, unwiederbringlich. Und weil Rosa für die Bestattung ihrer Mutter Geld brauchte, war sie gezwungen, mit ihrem Vater Kontakt aufzunehmen. Einem Vater, der schon lange das Weite gesucht hatte, der wieder heiratete und einen neue Familie gründete, mit dem sie eigentlich nichts mehr zu tun haben wollte.

Mutter und Vater. So sehr sie sich aber von ihrem „Vater“ distanzierte, so sehr wurde Elise in guten Phasen zu einer Freundin. Immer so lange, bis ein neuer Absturz in den Suff oder sonstige Rauschmittel wieder kappte, was Liebe hätte sein können. Wie damals, als Rosa mit ihrer Mutter nach Mostar reiste, an jenen Ort, an dem schon für die Mutter vor Jahrzehnten etwas zurückgeblieben war, einen Ort, der viel mehr war als das Ziel einer Urlaubsreise. Damals standen Elise und Rosa auf der steinernen Brücke in Mostar und wussten nicht, ob sie gemeinsam springen sollten. Irgendwann sprang die Mutter aber dann doch, wenn auch nicht von der Brücke, sondern in Prag auf einer gemeinsamen Reise, einmal mehr in ihren Suff. Sie verschwand mitten in der Nacht aus dem grossen Bett, um im Bad des Hotelzimmers in ihrem Erbrochenen zu liegen, um Rosa einmal mehr in Todesangst zu versetzen. Damals half man ihr. Damals wurde auch mehr als deutlich, dass Rosa, so sehr sie sich nach Familie sehnte, diese verlassen musste, um wieder atmen zu können.

Aber weder der plötzliche Tod ihrer Mutter noch das eigentlich so freundliche Bemühen ihres Vaters genügen für einen Neuanfang. Rosa spürt, dass sie Spuren aufnehmen muss, von denen sie nicht weiss, wohin sie sie führen werden. Unterstützt von ihrer Freundin Emma unternimmt Rosa Reisen dorthin, wo sie ahnt, dass mehr ist. Zurück nach Mostar, zurück zur Brücke, weil da ein Versprechen war – „und dann springen wir“.

Gianna Langes Roman ist ein Familienroman. Ein Wurzelbuch. In ineinnader verschränkten Zeitebenen erzählt die Autorin routiniert und gekonnt aus einem Leben, das seine Spur sucht. Ohne jede Zuordnung von Gut und Schlecht. So ruhelos das Leben von Elise war, so getrieben und anfällig auf Erschütterungen und Verunsicherungen, so gross ist Roses Sehnsucht nach einem festen Anker. Ein zarter Roman voller Wärme!

Interview

Momentan sind autobiographische oder autofiktionale Bücher angesagt. Ich kenne Leute, die die Qualität ihrer Lektüre nach der „Glaubwürdigkeit“, der „Echtheit“, nach dem „Selbst Erlebten“ messen. Gute Bücher sind jene, die davon triefen. Als ich „Und dann springen wir“ las, war es durchaus die Geschichte, die mich fesseln sollte. Aber wenn eine gute Geschichte gut erzählt ist, wenn die Sprache passt, dann relativiert sich „Echtheit“. Ist es nicht die Fähigkeit zur Empathie, die gutes Erzählen ausmacht?
Dem würde ich auf jeden Fall zustimmen. Ich bezweifle, dass sich gute Geschichten ohne eine ausreichende Portion Empathie erzählen lassen. Daher freue ich mich auch, wenn Lesende meinem Roman immer wieder unterstellen, autofiktional zu sein. Das ist er nicht, aber ich fasse es als Kompliment auf, denn die Geschichte wurde in diesen Fällen offensichtlich als authentisch empfunden. Und dafür muss man sich, meiner Meinung nach, in seine Figuren hineinversetzen können, verstehen, was sie empfinden und warum. Ich finde auch nicht, dass es unbedingt „leichter“ ist, selbst Erlebtes authentisch zu erzählen. Oft gelingt es mir ganz gut, ich habe mich aber auch bei der einen oder anderen Geschichte zu nah dran gefühlt, um sie zu entwirren. Oder ich stand mir selbst dabei im Weg, mich zurückzuversetzen. Ich denke, das kennen die meisten Menschen, man möchte nicht alles Erlebte ungefiltert noch einmal erleben.

Prag © Gianna Lange

Rosa macht sich auf eine Reise, auf eine innere und eine äussere. Einer der Anlässe, dass sich Rosa aufmacht, ist der Tod ihrer Mutter. Eine Mutter, die für sie fast immer Elise hiess, in guten Phasen mehr Freundin war und in schwierigen ein Alp. Viele Familiengeschichten sind Emanzipationsgeschichten. Und dabei ist Emanzipation viel mehr als Selbst- und Eigenständigkeit. Ist Emanzipation in Ihrem Roman nicht vielmehr das ganz umfassende Bewusstsein, woher man kommt?
Das fasst es sehr schön zusammen! Emanzipation hat ja immer auch damit zu tun, woher man kommt. Was ist das grosse Ganze eigentlich, von dem ich mich da löse? Und wo möchte ich hin? Es ist für mich das Verstehen, quasi das Aufdecken der Richtung, aus der man kommt, um so die Richtung zu bestimmen, in die man möchte. Und nicht womöglich versehentlich genau dort zu landen, wo man eigentlich gar nicht hin wollte. Vielleicht ist später das, wovon man sich unter Anstrengung gelöst hat, dann doch das, was man für sich selbst wählt. Doch ich glaube, die Wahl lässt sich befreiter und selbstbestimmter treffen, wenn ihr eine Emanzipation vorausgegangen ist.

Vieles in Ihrem Roman kann man metaphorisch verstehen. Rosa ist in Bosnien unterwegs; Abseits der Wege herrschte Minengefahr heisst es, als Rosa auf einer ihrer Reise in einem Bus gewarnt wird. Dieser Satz gilt doch auch für ihr eigenes Leben, das sie doch einfach weiterleben könnte, ohne all die Fragen, Konfrontationen, das Suchen. Waren sie sich dieser Metaphern bewusst oder geschehen sie unbewusst?
Das ist bei mir ein Mischverhältnis. Manche Metaphern habe ich beim ersten Tippen der Worte bewusst eingesetzt. Die Teflonpfanne am Anfang des Romans ist so eine, zerkratzte Teflonschichten sind giftig. Das ist die grosse Sorge einer Frau, die aber freiwillig lauter anderes Gift zu sich nimmt. Es gibt aber durchaus auch Metaphern, die mir erst später aufgefallen sind, die dann entweder noch einen Feinschliff verpasst bekommen haben oder rausgeflogen sind, weil sie doch nicht so gut funktioniert haben. Das ist sowohl in der eigenen Überarbeitung als auch später im Lektorat noch vorgekommen. Ich würde behaupten, mehr Metaphern bewusst als unbewusst ins Buch geschrieben zu haben. Ich werde aber auch immer mal wieder von Interpretationen und Eindrücken Lesender überrascht, da offenbaren sich mitunter ganz neue Deutungen. Das finde ich total spannend.

Ein Familienroman darum, weil sich Rosa aus einer schwierigen Familienkonstellation „distanzieren“ will, nicht weil sie das alles nicht mehr will, sondern weil sie einzuordnen versucht, nicht zuletzt die Gründe dafür, dass sich Elise, ihre Mutter, immer wieder in ihren Abstürzen verliert. Auf der einen Seite das hochstilisierte Idyll der Familie, auf der anderen Seite die Realität vieler Abgründe, Zerrüttungen. Warum werden wir derart beherrscht von der Sehnsucht nach Familie und Zugehörigkeit?
Eine Freundin von mir hat mal einen Satz zu mir gesagt, der hängengeblieben ist. Ich sass auf ihrem Sofa, vollkommen überfordert von einem sich anbahnenden Todesfall innerhalb der Familie, und geisselte mich dafür, mit der Situation nicht besser klarzukommen. Für mich hiess „besser“ damals, dass ich es allein verkraften können muss, weil ich ja nun mal erwachsen war. Und meine Freundin sagte: «Also Gianna, der Mensch ist ja nun mal ein soziales Wesen.“ Sie hat danach noch viel mehr kluge Worte gesagt, aber dieser Einstieg bringt es schon so gut auf den Punkt. Das sage ich mir auch heute noch, wenn ich mal wieder meine, ich müsste ganz allein mit allem zurechtkommen. Wir Menschen sind nicht dafür gemacht, vollkommen und immer allein zu sein. Ich bin eher introvertiert und wirklich gern allein, ich brauche das auch, aber genau so brauche ich meine Herzensmenschen, meine Familie, meine Freund*innen, meinen Partner. Und das ist etwas Universelles, wir alle brauchen unsere Netzwerke, in denen wir sicher sind, in denen wir Unterstützung erfahren, wenn wir darum bitten. Ich weiche den Begriff Familie im Buch bewusst etwas auf, weil ich weiss, dass Familie nicht immer die Blutsverwandtschaft ist. Familie ist für mich ein dehnbarer Begriff mit so vielen Facetten, die man zum Glück auch selbst gestalten kann.

Mostar © Gianna Lange

Im Titel des Buches steckt ein Versprechen. Die „Alte Brücke“ in Mostar ist nicht nur für Rosa ein Symbol für ein Davor und Danach. In Ihrem Buch erzählen Sie unterschwellig auch vom Bosnienkrieg und seinen Auswirkungen bis in die Gegenwart. Sie schieben Schicht um Schicht unter die Geschichte, die Sie an der „Oberfläche“ erzählen, tun das sehr gekonnt. Ist da nie die Gefahr, dass man den Bogen überspannt?
Ich würde sagen, die Gefahr ist immer da. Gerade in Bezug auf die noch immer recht junge Vergangenheit der ex-jugoslawischen Länder habe ich den Text wieder und wieder unter die Lupe genommen. Ich selbst habe die Region durch eine ähnliche Brille betrachtet wie Rosa und Elise, nämlich durch eine westeuropäische. Da waren die Schönheit der Orte und der Landschaft, die gastfreundlichen Menschen, aber auch die unübersehbaren Spuren des Krieges. All das sollte mit ins Buch, all dem wollte ich gerecht werden, ohne dabei ein weiteres, west-eurozentrisches Buch über den Osten zu schreiben. Ich bin dafür im Schreibprozess sehr nah an eigens Erlebtem und Beobachtetem geblieben, um im Text dann nah an den Figuren und ihren Erlebnissen und Beobachtungen zu bleiben. Dabei habe ich unweigerlich hier und da den Bogen auch mal überspannt, aber zum Glück wird ein Text ja noch einige Male und von mehreren Augenpaaren genauestens geprüft, bevor er gedruckt wird. So ist mir am Ende hoffentlich gelungen, was ich mir vorgenommen hatte.

Rosas „Vater“ ist nicht zuletzt eine tragische Figur. Mir hat er bei der Lektüre fast Leid getan, tut er doch viel, um Rosa eine Versöhnung anzubieten, nicht nur er, seine ganze Familie. Eines dieser unterschwelligen Themen in ihrem Roman ist die Adoption, ohne dass Sie daraus ein „Thema machen“. Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und ihren Kindern bieten viel Angriffsfläche. Allein aus der Beziehung zwischen Rosa und ihm hätte man einen Roman schreiben können. Nähe und Distanz ist nicht nur in der Familie heikel. Gilt das nicht auch fürs Schreiben?
Auch dem würde ich zustimmen und es lässt sich auf so vieles anwenden. Die Nähe und Distanz zu sich selbst beim Schreiben, zum Text, zu den Figuren, zwischen den Figuren. In meinem Fall gehören Schreibblockaden zum Schreiballtag und die haben oft damit zu tun, dass mir die eigene Geschichte an dieser und jener Stelle nicht vertraut genug ist. Ich muss dann meistens erstmal herausfinden, woran es liegt, und dann eintauchen. Das kann eine einzelne Figur sein, dann muss ich die sozusagen besser kennenlernen, oder das Verhältnis zwischen Figuren. Meistens hilft es, in die Tiefe zu gehen und diese Feinheiten aufzuspüren, um die Blockade zu lösen und zu wissen, wohin die Geschichte als nächstes führt. Bei vollkommen fiktionalen Elementen ist es für mich oft die zu grosse Distanz, je mehr selbst Erlebtes mit einfliesst, desto eher erlebe ich wiederum den Effekt, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Den kenne ich aber auch im späteren Verlauf, wenn der Text fertig, mehrfach überarbeitet und schon zigmal gelesen ist. Dann stehe ich auch hin und wieder mal mitten im Wald und sehe ihn nicht. Und dann sind wir wieder beim Fazit der vorigen Antwort, es lesen ja zum Glück noch Andere mit, die das grosse Ganze im Blick haben.

Gianna Lange, geboren 1988 in Bremen, studierte Journalistik und Transnationale Literaturwissenschaft in Bremen und London. Sie ist Gründungsmitglied des ‹Lyrikkollektivs gabrieleschreibtgedichte› sowie des Kollektivs für junge Literatur ‹Kollit‹ und Redaktionsmitglied der Literaturzeitschrift ‹Koller‹. Für die ersten Seiten ihres Manuskripts »Und dann springen wir« erhielt sie das Bremer Autor:innenstipendium vom Bremer Literaturkontor. Die Autorin lebt in Bremen und arbeitet im Konzerthaus ‹Die Glocke› sowie beim ‹Musikfest Bremen›.

Beitragsbild © Franziska Evers

Fee Katrin Kanzler „Flipping the bird“, Plattform Gegenzauber

Küßt euch und beißt,
Zwei Otter, in die Dotter, hartgekocht, den Toast.
​​Durs Grünbein


Komm. Du Idiot. Schau nicht, als wären meine Augen aus Dynamit. Sie sind aus Gallerte. Wie die Sülze beim Metzger, wie der Froschlaich am Ufer. Mach das Kopfkino aus. Hör auf das Gurgeln der Amseln. Beweg dich.

Unter Wasser ist es wärmer als oben. Die Sonne steht zwischen den Schlehdornbüschen, noch geht sie früh unter. Pippa lässt sich von der Luftmatratze gleiten, schwimmt in den flachen Uferbereich. Dort hat der See noch etwas Tageswärme gespeichert, nicht viel, noch ist Frühling. Aus der Wiese hängt Hahnenfuß auf den Strand herab, hingekleckste Dotterflecken, und eine Silberweide schleift ihre Zweige über den lehmigen Grund.
Matt folgt Pippa. Je näher er, Bohnenstange, dem Ufer kommt, desto häufiger stoßen seine Knie gegen den Seeboden. Schließlich liegt er neben dem Mädchen, auf die Ellenbogen gestützt, wirbelt Schlamm auf.

Wie du guckst. Wie ein Hund, der sich vergewissert, ob alles in Ordnung ist. Ich wette, dass du noch keine im Bett hattest. In deinem schottischen Dorf, hundert Seelen am Arsch der Welt, Rinder, Schafe, keine Touristen. Ein Himmel voller Möwen, im Sommer zwei, drei Ornithologen zu Gast, und fertig. Jetzt arbeitest du im Schottlandladen, Spirit of Alba, und kommst mit der Großstadt nicht klar. Du fährst alle paar Tage hinaus in die Landschaft, zu Tümpeln wie diesem hier. Seit du da bist, starrst du mich an mit diesem Hundehunger.

Alles an Matt ist größer als an Pippa. In einen seiner Schuhe kann sie beide Füße stecken. Sie hat es ausprobiert, bevor sie ihre zerrissenen Strümpfe abstreifte, bevor sie ins Wasser sprang. Als sie Matts Hand nimmt, durch die trübe Suppe führt, spreizen sich seine Finger. Seine aufgespannte Flosse bedeckt Pippas kompletten Bauch.
Der Wind hat etwas Müll ans Ufer getrieben, das Mädchen fischt einen kleinen, violetten Tetra Pak aus dem Unrat. Wasser, Fruktosesirup, Sauerkirschsaft, Holunderbeerkonzentrat, Limettensaft, Ascorbinsäure. Sie liest Matt das Kleingedruckte wie ein Gedicht vor, bevor sie die Verpackung ins Gestrüpp wirft. Ein Paar Schwingen bringt die Schilfkolben in Bewegung, ein Graureiher steigt in die Luft. Matt lässt seine Hand einige Zentimeter wandern. Hinter den Bäumen lässt sich die Skyline erahnen. Es ist, als hätten sich die Gebäude extra hochgestemmt, als spähe die Stadt eifersüchtig herüber.

Unsere erste Begegnung in der Wunderbar, du warst am Morgen erst aus Edinburgh eingeflogen, ich hielt dir meinen Mittelfinger ins Gesicht. Pippa, Philippa, flipping the bird, sagtest du. Ich fragte dich, ob das eine Songzeile, irgendein Zitat sei. Du hattest es erfunden. Ich beschloss, dass du nur halbseitig ein Idiot bist. Die Hälfte, die Songzeilen produzieren kann, die nach Heidekraut riecht und Klavier spielt, ist in Ordnung. Vertrottelt bist du trotzdem. Entschuldigst dich für jeden Mist. Wenn ich in deine Badeshorts greife, wirst du immer noch dein gehauchtes Sorry auf den Lippen haben. Wenn ich deinen Schwanz anfasse, wirst du die Augen verdrehen wie ein Lobotomierter.

Die Seerosen treiben fette Knopsen an die Oberfläche. Zwei davon sind schon aufgesprungen, zwei Spritzer Monetweiß im Schlammgrün des Sees. Ein Teichhuhn stakt über die Seerosenblätter, viel vorsichtiger, als es müsste.

Im Frühjahr 2025 wird im danube books Verlag (https://www.danube-books.eu/) der Erzählband „Ameisenschnee“ erscheinen, darunter auch der hier erschienene Text.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. 
Ihr Roman »Die Schüchternheit der Pflaume« (FVA 2012) war für den »aspekte«-Literaturpreis für das beste deutschsprachige Debüt des ZDF nominiert. Im Herbst 2016 erschien ihr Roman »Sterben lernen«. 2020 war sie Finalistin des 22. Irseer Pegasus.

«Wichtige Männer warten lassen»

Webseite der Autorin 

Beitragsbild @ Thomas B. Jones 

«Welche Frau bin ich dann?» Laura Vogt liest und diskutiert im Literaturhaus Thurgau und an den Weinfelder Buchtagen 2023

Laura Vogt ist mutig. Mutig, wie sie sich mit den Themen ihres neuen Romans «Die liegende Frau» auseinandersetzt, wie sie sich in Untiefen wagt und wie sehr sie sich mit ihrem Buch in meine, in die Intimsphäre von LeserInnen vorwagt. Alle ihre Roman bisher beschäftigen sich mit Familie. In immer neuen Spiegelungen und direkten Konfrontationen setzt sich Laura Vogt mit einem Konstrukt auseinander, ob Familie oder Ehe, dass wie kaum ein anderes Sozialgefüge von tektonischen Verschiebungen betroffen ist.

Selbst Mutter von zwei Kindern weiss sie sehr genau, wie sehr Tradition und Freiheit aneinander reissen.
Dass an diesem Abend eine junge Frau und ein älterer Mann auf der Bühne sassen, hätte einiges an Zündstoff mit sich bringen können. Glücklicherweise knallte es nicht. Ihr Roman tut es aber ganz bestimmt.

Der Titel ihres neuen Romans liess mich, bevor ich das Buch gelesen hatte, mit all den Gemälden aus verschiedenen Epochen assoziieren, auf denen eine mehr oder weniger nackte Frau liegt. In Laura Vogts Roman liegt auch eine Frau, Nora. Sie liegt in ihrem ehemaligen Kinderzimmer, spricht zu Beginn des Romans mit niemandem, hat sich in sich selbst zurückgezogen. Meret, ihre noch ganz kleine Tochter, wird von ihrer Mutter Anni betreut. Ein seelischer Zusammenbruch. Wenn man so will, ein Burnout. Aber ‹Mutter› und ‹Burnout› scheint nicht kompatibel, obwohl Statistiken dagegensprechen. Und schon steckt man mitten in den Zwängen und Festschreibungen von Rollenverständnissen.

„Die liegende Frau“ dreht sich um Romi, ihre Mutterschaft, ihre Beziehungen, ihre Familie, ihre Herkunft. „Die liegende Frau“ dreht sich aber auch um drei Freundinnen; Romi, Nora und Szibilla. Über Romis Lieben zu Phil und Dennis. Schon allein diese Aufzählung macht bewusst, in welch feingliedrigem Netz sich sich die Schriftstellerin bewegt.
Romi ist Mutter und schwanger. Der Vater der beiden Kinder ist Phil. Eine Beziehung, in der ausgesprochen war, dass man nicht mit dem Anspruch beständiger Monogamie leben würde. Der Roman ist die offene Auseinandersetzung mit Beziehungsmustern.
Romi liebt Phil, den Vater ihrer Kinder. Romi liebt aber auch Dennis, den sie noch nicht lange kennt. Phil und Dennis wissen voneinander. Und während Dennis sich nach Romi sehnt, tut das Phil auch, auch wenn in die Menage à trois trotz Offenheit schmerzt.

Den Roman als Roman über den Sinn und Unsinn eines Treueversprechens zu reduzieren, wird dem Roman «Die liegende Frau» bei weitem nicht gerecht. Der Roman ist ein klares Abbild dessen, was ‹Beziehung› heute einschliesst. Wie soll und kann Familie funktionieren, nachdem Rollen über Jahrhunderte fix verteilt waren? Das Aufbrechen dieser Rollen hat die Schwierigkeiten nicht minimiert.


Was mich beeindruckt, ist die Komplexität ihres Romans, der die Komplexität der Themen perfekt widerspiegelt.

„Schön, einen weiteren Abend im Literaturhaus verbracht zu haben, lieber Gallus – es war mir eine Freude, über Gesellschaft zu sprechen, über Rollenbilder und Veränderungen, über Liebe und die Möglichkeiten von Literatur. All das schwingt weiter … Bis bald!“ Laura Vogt

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt

Wie weit hat sich der Mensch von seiner Welt entfremdet? Ist das, was wir Leben nennen, das, was der Bestimmung jener entspricht, die immer mehr das Gefühl haben, es sei Kampf und Abmühen gegen Einsamkeit und dem Gefühl des Verlassenseins? Britta Boerdner fühlt dem „modernen“ Menschen auf den Zahn, schreibt sich in Sphären, die weh tun.

Elena ist umgezogen. Aber sie ist mehr aus ihrem alten Leben ausgezogen, als in einem neuen Zuhause angekommen. Sie ahnt, dass sich die neue Ordnung in ihrem Leben nur dann einrichten lässt, wenn sie sich dem stellt, was sich in Mehrfachschlingen in den vergangenen Monaten um sie festzurrte. Elena ist aus dem alten Leben geflohen, einem Leben, das ihr lange Zeit alles bedeutete, dass sie auszufüllen schien, über das sie sich definierte, das sich ganz selbstverständlich vor ihr auszubreiten schien.

Aber sie musste die Reissleine ziehen, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Es war der Zwang in den freien Fall, ein Schritt ohne Alternative, hinaus aus der Sicherheit, bei der sie sich an ihre Kompetenz, ihre Position, ihren Erfolg zu halten wusste.

«Es gibt keine Ziele, die zu erreichen sind, damit die Beziehung funktioniert – weil wir keine Beziehung haben. Wir können uns frei fühlen.»

Elena arbeitete in einer mittelgrossen IT-Firma in einer Kaderposition, einer Branche, die sich permanenten Umwälzungen ausgesetzt weiss, was sich auch in einer permanenten Anspannung in der Firma ablesen lässt. Für ein besonders heikles Geschäft stellt man ihr einen Consulant, einen Berater zur Seite, den sie sich selbst aus einem Meer von Bewerbern aussuchen kann. Einen um einige Jahre jüngeren Mann, mit dem sie sich aber auf viel mehr einlässt, als das, was beruflich im Büro oder auch einmal in einem Lokal stattfindet. Man trifft sich nach der Arbeit im Hotel, in scheinbar sicherer Distanz zur Welt, die die beiden erkennen könnte. Er ist sportlich, dynamisch, kommt zur Sache, schenkt ihr das, was sie glauben lässt, es gehöre dazu, mache ein Teil des Lebens aus, das ihr zusteht. Er ist verheiratet.

«Manchmal frage ich mich, ob ich mir die Liebe überhaupt noch zutraue.»

Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 256 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-627-00299-2

Damals glaubte Elena, ihrer selbst entsprechend eingerichtet zu haben. Eine Wohnung in einem schmucken Stadthaus, eine Arbeit, eine Stelle mit Perspektive und entsprechender finanzieller Sicherheit. Elena glaubte an dieses Leben, auch wenn sie in stillen Momenten spürte, wie filigran, wie zerbrechlich das Gefüge zu werden drohte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich immer mehr in ihrer Einsamkeit verlor, weil etwas in ihr ahnte, dass das nicht alles sein konnte.

Bis zu jenen Tagen im November, als man sie zu ihrem Chef rief und sich mit einem Mal abzeichnete, dass nichts so bleiben würde, wie sie es sich eingerichtet hatte. Elena wird aus ihrem Leben hinauskatapultiert, rettet sich in ein neues Leben, einen anderen Stadtteil, weit weg von der alten Kulisse, in eine Neubauwohnung, ein Leben, von dem sie hofft, sie würde die Kontrolle zurückgewinnen.

«Manchmal denke ich, wir wollen nichts von der Traurigkeit wissen, die in uns allen steckt.»

„Es geht um eine Frau“ ist die Geschichte der Einsamkeit. Die Geschichte einer Entfremdung. Die Geschichte einer Gesellschaft, die sich an einer künstlichen Welt orientiert, einer Welt, die mit einem Mal abreissen, wegkippen kann. Elena ist die erfolgreiche, dynamische, permanent aktive Frau, die mit einem Mal feststellen muss, dass nichts von dem bleibt, was ihr einstiges Leben ausmachte. Es leben zwar 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Aber nie in der Geschichte der Menschheit zuvor muss „Einsamkeit“ zu einem eigentlichen Krankheitsbild der Gesellschaft erklärt werden. Britta Boerdner schreibt ganz nah an eine Existenz heran, die sich verliert, die zusehen muss, wie man ihr den Boden unter den Füssen wegreisst, wie das Leben sie hinabkippt. Elena fehlt all das, was ihr helfen würde, eine Krise durchzustehen. In ihrem Leben war nie Zeit und Raum für Beziehungen, Freundschaften, ein Zuhause, Bindung.

„Es geht um eine Frau“ ist eine fein gestrickte Gesellschaftsanalyse. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, der mich zur Selbstanalyse zwingt. Ja, es geht um eine Frau. Aber es geht um uns, um mich!

Interview

Ja, tatsächlich „Es geht um eine Frau“. Aber es geht um uns alle, die wir nicht merken, wie sehr wir in einem Hamsterrad rennen, wie sehr wir gefangen sind, wie weit weg wir vom Leben entfernt sind, wie sehr wir uns mit Schein begnügen. Hofft man beim Schreiben eines Romans auf „Bewusstseinserweiterung“, sei es bei sich selbst oder bei jenen, die das Buch lesen?
Natürlich mache ich mir beim Schreiben Gedanken darüber, wie dieses oder jenes aufgefasst werden könnte. Aber ich gehe dabei nicht programmatisch vor im Sinn von Effekt, von Aha-Erlebnissen, die ich bei den Leser*innen hervorrufen will. Wenn der Stoff berührt und zu einer gedanklichen Auseinandersetzung führt oder zu einem emotionalen Erkennen – dann ist das natürlich perfekt, das wünscht sich wahrscheinlich jede Autorin, jeder Autor. Dann stößt der Text auf Resonanzräume oder er öffnet sie. Vielleicht könnte man das auch ganz klassisch als Leerstellen im besten Iser’schen Sinn bezeichnen: Textsegmente, die aneinanderstossen und von den Leser*innen gefüllt und in Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Wenn man diese Arbeit der Leser*innen Bewusstseinserweiterung nennen mag, bin ich dabei, und diese Räume zu schaffen ist auch Teil meiner Arbeit. Allerdings ist dabei nicht meine Absicht, zu lehren oder zu belehren.
Andererseits ist es so, dass ich vieles noch nicht weiss, wenn ich mit dem Schreiben beginne. Natürlich weiss ich, was mein Thema ist. Aber ich stosse erst nach und nach dazu vor, alles zu erfassen. Dabei fügen sich Dinge zueinander oder ergänzen einander, von deren Verbindung ich zuvor noch nichts wusste. Daher lege ich auch keinen Plot fest, an dem ich mich ausrichte, denn das würde mir etliche Entwicklungen nehmen, ich müsste ihn zu oft umschreiben. Generell ist es so, dass sich manche Passagen wie von selbst schreiben, ich weiss dann, das stimmt so, das ist gut, da braucht es kaum noch Änderungen. In diesen Zuständen – die bei mir leider meist nicht sehr lange dauern – ist das Bewusstsein tatsächlich auf eine Weise erweitert. Ich würde es auch als Bewusstseinsverschiebung bezeichnen: Ich habe dann eine absolute Gewissheit darüber, dass es stimmig ist, was ich gerade schreibe, aber ich bin mir während des Schreibens meiner selbst nicht bewusst. Ich bin nur noch Werkzeug, Hebel, ausführende Kraft. Das alles geschieht sehr schnell und muss ausgenutzt werden, solange es geht. Ein wirklich bemerkenswerter Zustand, auf den ich natürlich immer hoffe. Manche nennen es Flow, ich benutze diesen Ausdruck aber nicht gerne. Für mich klingt das oft so, als müsse man sich nur hinsetzen und dann passiert es irgendwie und alles Weitere ist ein Kinderspiel. Das ist nicht so. Eine unablässige Beschäftigung mit dem Personal und dem, was passieren könnte, ist die Voraussetzung dafür. Einerseits Kontrolle also, Anstauen, andererseits dann völliges Loslassen. Erst dann kann etwas fliessen.

© Britta Boerdner

Ihr Roman ist ein Buch über die Einsamkeit. Elena hat sich verloren. Mag sein, dass zwischendurch etwas Einsicht aufblitzt. Abe vor einer wirklichen Richtungsänderung scheint sie sich zu fürchten, denn ein „Neubeginn“ setzt Einsicht nicht unbedingt voraus. Oder täusche ich mich?
Nein, keine Täuschung, das stimmt schon so. Elena vermeidet. Sie ist getrieben von dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen und es dadurch auflösen zu können. Den Schock, in dem sie sich durch das vorangegangene verheerende Geschehen befand, hat sie durch eine beinahe obsessive Suche nach einer neuen Wohnung verdrängt. Auch das Sentenzenhafte, mit dem sie ihre frühere Arbeitswelt und ihre Haltung darin reflektiert, ist reine Kopfsache, es führt nicht zu einer inneren Erkenntnis. Sie befindet sich in einem Schwebezustand, in einer Unsicherheit, die sie durch Alkohol und Beschäftigung zu übergehen versucht. Sie fotografiert, sie schaut Filme und Serien. Das ist ihr als Gegenpol zum früheren Leistungsprinzip genug Neubeginn. Man könnte auch sagen, es geht ihr noch nicht schlecht genug für eine wirkliche Richtungsänderung. Sie könnte sich ja auch professionelle Hilfe suchen. Da sie aber gewohnt ist, sich permanent zu übergehen und damit zumindest beruflich erfolgreich war, kommt sie nicht auf diese Idee. Ihre Furcht vor der Konfrontation ist die Furcht vor Kontrollverlust.
Die Idee zu „Es geht um eine Frau“ kam mir, als ich zum ersten Mal durch das Europaviertel gestreift bin, ein grossteils sehr luxuriöses neues Quartier in Frankfurt am Main, der Stadt, in der ich lebe. In seiner blendend weissen Symmetrie und Sterilität, mit seinen unbelebten Strassen strahlt es eine unglaubliche Leere aus. Mit dieser Leere und diesem Blendwerk wollte ich etwas machen. Ich habe mich gefragt, wie jemand gestimmt sein könnte, der dort hinzieht. Und ich wusste, es müsste jemand sein, der ebenfalls leer ist, bezugs- und beziehungslos. Das Innen sollte also wie das Aussen sein. Ja, es ist ein Buch über die Einsamkeit, aber auch ein Buch über die Frage der Verantwortung für das eigene Leben und das Leben anderer.

Da ist die Welt, die Blase, in der sich ihre Firma bewegt. Eine Welt ausserhalb scheint es nicht zu geben. Sie nimmt zwar die Hitze des Sommers wahr. Aber alles bleibt Kulisse, selbst die Beziehung zu M., die nicht wirklich eine Beziehung ist, mehr ein Instrument zur Befriedigung entsprechender Bedürfnisse. Elena hat sich verloren. Aber eigentlich haben wir uns in einer künstlichen Realität verloren. 

Frankfurter Europaviertel © Britta Boerdner 

Ganz zu Beginn Ihres Romans schreiben sie „Schlafen wollte ich und aufwachen wie neu geboren“. Mit tatsächlicher Auseinandersetzung, mit Konfrontation hat das nichts zu tun. Obwohl das angesichts der tragischen Ereignisse an ihrem Arbeitsplatz mehr als angemessen wäre. Elena flieht. Wie ein Kind, das die Decke übers Gesicht zieht und „Du siehst mich nicht“ ruft. Spiegelt der Roman Pessimismus?
In gewisser Weise ja. Elena flieht auch ganz zum Schluss wieder. Da wechselt sogar der Tonfall, da blitzen in ihren Gedanken banale Ausdrucksweisen auf, Selbstberuhigung durch Lachhaftes und eine stichworthafte Nennung möglicher Reiseziele. Alles zusammen eine Oberflächlichkeit, die fast hysterisch zu nennen ist. Mir schien es einfach nicht richtig und auch zu scheinheilig, ein gutes Ende zu schreiben, eines, das von Innehalten, Selbstwahrnehmung, Mut und einer bewusst daraus entstehenden Veränderung handelt. Hört sich wunderbar an, ein solch möglicher Schluss, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, sich neu zu definieren, wie es in diversen Ratgebern oder Magazinen empfohlen wird. Ändere deinen Style und entdecke dein wahres Ich, Tu endlich das, was du schon immer wolltest, Lerne, Grenzen zu setzen und es wird dir besser gehen und solche Sachen. Vielleicht fügt sich manchmal ein inneres Bild zu einer Erkenntnis, und man denkt, ah, so ist das also mit mir, jetzt verstehe ich. Doch dieses Verstehen muss auch behalten werden und geht doch allzu oft wieder verloren, weil die alten Mechanismen einsetzen. Weil der Alltag alles wieder schluckt, die Anforderungen zu mächtig sind. Tatsächlich etwas Zusammenhängendes von sich zu erfahren ist ein langer Prozess, da ist es mit einem Aha-Moment hie und da nicht getan. Die eigenen Anfälligkeiten, Verführbarkeiten und Schwächen zu erkennen ist schmerzhaft. Nicht jede*r lässt das zu. Und auch, weil jemand, der sich rauszieht und sagt, ich schaff das nicht, ich kann da nicht mehr mitmachen, auch immer noch als Angriff auf die Verhältnisse oder einfach als schwacher Mensch gesehen wird.

Ich hatte im Oktober eine Lesung im Goethe-Institut in Rom, dabei entspann sich ein lebhaftes Gespräch auf meine Frage hin, ob Burnout und Depression in Italien ein gesellschaftliches Thema ist. Die Antwort war ein klares Nein. Burnout sei zwar im Zusammenhang mit Covid im Bereich der Pflegekräfte auch in den Medien diskutiert worden, aber im allgemeineren und auch im privaten Bereich sei es kein Thema. Auf meine weitere Frage, ob man darüber einfach nicht spräche oder ob es wirklich nicht vorkomme, waren die Antworten so schwammig, dass ich mir kein klares Bild davon machen konnte. Ich liess es mal dahingestellt.

Ihr Roman liest sich auch als Kritik an einer Leistungsgesellschaft, die kaum mehr Energie und Freiräume zulässt, um sein Leben für einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ist Schreiben eine Art der Entschleunigung?
Ja und nein. Schreiben zwingt mich einerseits dazu, genau hinzuschauen und gleichzeitig den Dingen ihre Eigenzeit und Entwicklung zuzugestehen. Wenn ich schreibe, beschäftige ich mich unablässig mit dem Stoff, dann laufe ich durch die Stadt oder suche mir etwas, das Impulse setzt, Besuche von Ausstellungen etwa oder Musik und Filme. Meistens kann ich durch diese Anregungen einen Bezug zu meinem Thema herstellen, dann blitzt in den besten Momenten etwas auf, woran ich vorher noch nicht dachte. Das ist tatsächlich eine Art Entschleunigung durch eine andere Art der Wahrnehmung, die in einem eng getakteten Alltag nicht möglich ist. Durch das Schreiben gebe ich die normale Gangart auf und bin doch gleichzeitig viel enger mit meiner Umgebung verknüpft. Nichts mehr mit Entschleunigung zu tun hat allerdings das Editieren. Das ist das „andererseits», die beinharte Arbeit, die viel Kraft kostet, und zwar ganz zeitgebunden.

Britta Boerdner, geboren in Fulda, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und Historische Ethnologie. Ihr Debütroman «Was verborgen bleibt» erschien 2012 bei der FVA. Für «Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam» (FVA 2017) erhielt sie das Inselschreiber-Stipendium der Sylt Foundation und das Stipendium des Hessischen Literaturrates in der Emilia Romagna. Britta Boerdner lebt in Frankfurt am Main.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © To Kuehne

Marie-Alice Schultz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt

Marie-Alice ist Künstlerin. Sie schreibt, zeichnet und malt. Und mit allem macht man sich eine Vorstellung dessen, was ein inneres Auge sieht. Alles skizziert Vorstellungen. Dass Vorstellung dann doch nie dem entspricht, was das Leben zeichnet, davon erzählt „Der halbe Apfel“.

© Marie-Alice Schultz

So sehr vor Jahrzehnten in Sachen Familie und Beziehung, Geschlechter und Zugehörigkeit alles in Stein gemeisselt, eine göttliche Ordnung unumstösslich schien und unendliches Leid erzeugte, unsäglicher Zwang gefangen machte, so schwer lastet heute die allzeit wache Alternative, der Ruf danach, alles abzustossen, sich durch nichts und niemanden eingrenzen zu lassen. Nicht dass ich mich zurücksehnen würde. Aber jede Befreiung macht die Suche nach der eignen Ecke, der eigenen Identität, der eigenen Aufgabe, dem eignen Patz nicht leichter. Es wurden Fesseln gesprengt, Tür und Tor geöffnet, damit die Suche aber nur viel schwerer gemacht.

Genau davon handelt „Der halbe Apfel“ von Marie-Alice Schultz. Ein Roman, der nicht durch Action, Spannung und einen ausgesuchten Plott glänzt, aber einer, der Fragen stellt, die beissenden Fragen der Gegenwart, deren Versuche, Antworten zu finden, mitunter nicht weniger Leid hervorrufen als die Fesseln der Vergangenheit.

© Marie-Alice Schultz

Ben ist gegangen, als sich Pia nicht entscheiden konnte, sich nicht für ihn entscheiden konnte, obwohl er unzweifelhaft der Vater eines Kindes war. Ben verschwand, weil er von seinem Leben, weil er von Pia etwas anderes erwartet hatte, und weil Pia nicht geben konnte, was Ben hätte haben wollen. Denn Pia mochte Vinz ebenso. Und als die gemeinsame Wohnung von Pia, Ben und Vinz zu eng wurde und sich Ben nicht länger mit Erklärungen trösten konnte, ging er weg, um nach sieben Jahren wieder aufzutauchen. Wie aus dem Nichts. Nicht weil ihn Pia zurückgerufen hätte, nicht weil er sich neben Vinz nun bessere Chancen ausrechnete, sondern weil er glaubte, Janis würde ihn als Vater brauchen.
Aber dem instabilen Gefüge macht Bens Erscheinen nichts leichter. Ganz im Gegenteil. Das bisschen Normalität, die nur mit Mühe festgehaltene Familienkonstellation bricht gänzlich auseinander, denn jetzt geht Pia. Damals als sie Mutter wurde, war sie sich all dessen nicht bewusst, was sie verlieren würde. Nicht nur an Raum, sondern an kreativer Kraft, die nichts mehr zustande bringt. Pia bricht auf und aus. Pia mag nicht mehr halten, was über Jahre nur mit maximaler Anstrengung zurückgehalten werden konnte.

„Verziehen hat sie ihm nie ganz, aber verstehen konnte sie. Dass man sein eigenes Leben verlässt, weil es droht, einen zu überfordern. Weil man weiss, dass die kommenden Monate sich bereits jetzt dunkel andeuten, ein Scherenschnitt, der das Scheitern vorwegnimmt.“

Marie-Alice Schulz «Der halbe Apfel», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 280 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00294-7

Und Marie-Alice erzählt. Die Erzählerin aus dem fernen Hamburg. Die Freundin. Die Schriftstellerin, die genauso sucht und zweifelt, nicht weiss, wohin ihr all die Möglichkeiten hinzeigen, sei es in ihren Beziehungen, ihrer Arbeit am Text, ihren Bildern oder dem Schmerz um eine Mutter, die sie an den Tod verloren hatte. Eine Mutter, die der Fixstern einer ganzen Familie war und mit ihrer entschlossenen Lebensart all das zu verkörpern schien, was den Planeten um sie herum zu fehlen schien. Eine Mutter, die mit ihrem überraschenderen Tod eine Leere hinterliess, die nichts und niemand auffüllen konnte.
Marie-Alice sucht, sucht nach Spuren und Zeichen, nach Erklärungen und Antworten. Marie-Alice versucht, Ordnung zu schaffen. In den gebeutelten Hausstand ihrer Freunde in Wien und ihre aus dem Gleichgewicht geworfene Familie in Hamburg. 

© Marie-Alice Schultz

„Der halbe Apfel“ ist eine Beziehungskiste im wahrsten Sinne des Wortes. Aber für einmal ganz und gar nicht abwertend gemeint. Als Marie-Alices Mutter starb und man ihr im Krankenhaus die Hinterlassenschaft übergab, war da ein halber Apfel, verpackt in einer kleinen Plastiktüte. Die eine Hälfe hatte ihre Mutter gegessen, die andere war übrig geblieben. Ein halbes Leben war gelebt, die andere Hälfte blieb zurück. Ihr Mutter hatte von dem Apfel gegessen, in den sich Marie-Alice nicht zu beissen traut.

„Der halbe Apfel“ ist ein fein gesponnenes Psychogramm, unaufdringlich und ehrlich. Der Roman gespickt mit knappen, witzigen, würzigen Dialogen, die Geschichte der Versuch, in die verschiedensten Leben Ordnung zu bringen. 

„Der halbe Apfel“ ist ein behutsames Buch über Freundschaft und Familie. Aber auch über Mutterliebe und die schmerzhafte Gewissheit, mit dem Tod eines geliebten Menschen, einer Mutter erst recht, unsäglich viel verloren zu haben. Ein Eingeständnis. „Der halbe Apfel“ ist ein Roman wie ein langer Abend in Freundschaft!

© Marie-Alice Schultz

Marie-Alice Schultz, geboren 1980 in Hamburg, studierte Theaterwissenschaften und Germanistik in Berlin sowie Bildende Kunst in Wien. 2016 war sie Stipendiatin der Schreibwerkstatt der Jürgen-Ponto-Stiftung und Teilnehmerin des 20. Klagenfurter Literaturkurses. Für ihren Debütroman «Mikadowälder» (2019) wurde sie mit dem Hamburger Förderpreis für Literatur ausgezeichnet. Die Autorin lebt in Hamburg.

Beitragsbild © Henning Christiansen

44. Solothurner Literaturtage: Ein überzeugendes Comeback!

Nach pandemiebedingtem Unterbruch strahlen die 44. Solothurner Literaturtage über alle Erwartungen hinaus. Ein dreitägiges Fest der Literatur, der kulturellen Vielfalt und der Freundschaften. Und fast 20000 BesucherInnen!

Mag sein, es hatten alle Hunger und Durst. Es war, als würde über allem das Wort „Endlich“ stehen. Durchaus im doppelten Sinn. Zum einen war da die Freude, dass es dieses Festival in der einem so lieb gewordenen Form überhaupt wieder gegeben hat. Zum andern war man sich bewusst, dass es der äusseren Einflüsse genug gäbe, die einem solchen Festival an die Gurgel springen können.
Es war ein Fest – ein Fest des Wiedersehens, ein Fest der Begegnungen, ein Fest der Freude, ein Fest der Hoffnung, ein Fest des Buches, ein Fest der Kunst – ein Fest der Freundschaft. Und niemand hatte Lust, sich dieses Fest verderben zu lassen, schon gar nicht, wenn das Wetter zum verlässlichen Freund wird. Ich erinnere mich an Austragungen der Solothurner Literaturtage, an denen heftigst darüber diskutiert wurde, wen man versäumt habe, einzuladen, wer vergessen ging, wie gross der angerichtete Schaden sei. Diese Diskussionen fanden kaum statt, auch wenn man hätte diskutieren können.

«Ein eindrücklicher Beweis, wie klar und doch vielschichtig Lyrik sein kann, wie sehr einem Sprachkunst in Ekstase versetzen kann, wie leidenschaftlich Lyrik beim Schreiben und Lesen Lebenslust erzeugen kann!» Rolf Hermann «In der Nahaufnahme verwildern wir»

Es gab wie immer von allem einiges, von Spoken Word, zum Beispiel die junge Sarah Elena Müller, der das Publikum artig applaudierte, obwohl sie all den Gutbetuchten einen grellen Spiegel vorhielt, Lyrik wie der von Simone Lappert, die bewies, das Dichtung einen Körper zum Instrument werden lassen kann und dieses Instrument ein Stadttheater zum Wabern bringt, grosse Namen der Belletristik wie jener von Nino Haratischwili, die mit ihrer Art des Erzählens nicht nur in ihren Büchern bannt, bis hin zu Kinder- und Jugendbuchliteratur, die es meisterhaft versteht, Geschichten sinnlich werden zu lassen. Kleine Verlage und grosse, grosse Namen und unbekannte. Als Ganzes war das Programm durchaus gelungen, auch wenn der ganz grosse Gast aus Übersee, Joshua Cohen, eben preisgekrönt durch den Pulitzer-Preis, seine Teilnahme absagen musste.

«Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.» Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht»

Auffällig war, wie sichtbar das Aufbrechen von Grenzen war. Musik beispielsweise wird immer offensichtlicher nicht einfach zu einer Begleitung, einer Auflockerung. Vielen AutorInnen gelingt es eindrücklich, mit Musik Sinne zu öffnen, Bilder und Eindrücke zu verstärken, manchmal alleine durch die eigene Stimme, die Rhythmus und Tonalität in ganz andere Sphären hieven kann. So sah man Michael Fehr auf der Bühne des Stadttheaters sitzen und singen, ohne Begleitung, nur mit sich und seiner Stimme! Da wird jemand zu Musik! Oder in Formation, unterlegt durch einen eigentlichen Soundtrack.

Lange forderte man das Ende der klassischen „Wasserglaslesung“, schien es nicht mehr zu genügen, dass Schreibende aus ihren Werken lesen und Fragen dazu beantworten. Glücklicherweise gibt es diese noch immer, auch jene kauzigen Urgesteine der Literatur, bei denen man nie so richtig weiss, ob sie Zuhörende an der Nase herumführen oder die Performance der einzige Weg durch das Buch ist.

«Frank Heer vermischt Genre ebenso lustvoll wie Handlungsstränge. Und alles ist unterlegt vom satten Sound einer Generation, die noch glaubt, dass mit der Kraft der Musik etwas zu erreichen ist.» Frank Heer «Alice»


Auch bei den Formaten ist man selbst nach der 44. Austragungen noch immer auf der Suche nach Verbesserungen. So platzierte man die „Gratislesungen“ auf der Aussenbühne vor die breite Treppe der St. Ursenkathedrale. Was für ein Anblick, wenn bei der Lesung von Julia Weber aus ihrem Roman «Die Vermengung» auf der Treppe vor der beeindruckenden weissen Kalksteinfassade regelrechte Arenastimmung aufkommt und der Eindruck, Literatur breite sich über eine ganze Stadt aus!

«Rebecca Gislers erstaunliches Debüt verblüfft nicht durch seine Geschichte, sondern durch die Sprache, die hohe Kunst schmeichelnder Sätze, die Frische verspielter Satzkaskaden. Wer sich als literarischer Gourmet versteht, lese diesen Roman!» Rebecca Gisler «Vom Onkel»


So viele Menschen wie schon lange nicht mehr besuchten dieses Festival der geschriebenen Bilder. Der Organisation der Solothurner Literaturtage gelang das, was eigentlich nur schwer zu schaffen ist; eine repräsentative Nabelschau der CH-Literatur, angereichert mit grossen Namen aus dem Ausland. Aber es waren nicht Landesgrenzen, die man demonstrativ überschritt, sondern jene der Künste. Etwas, was angesichts der Grenzenlosigkeit in der aktuellen Geschichte Signal sein könnte.

«Ein Roman, der mir das Blut in den Kopf treibt, der mich schwindlig macht, der mich hin- und herschlägt zwischen Entsetzen, Verunsicherung und dem Schmerz darüber, in der Gegenwart der Hölle ein schönes Stück näher gekommen zu sein.» Julia von Lucadou «Tick Tack»

Wer nicht an den Solothurner Literaturtagen war – lesen Sie! Kaufen Sie Bücher! Lesen ist vielfach sinnlich. Und wenn auch kein Buch die Welt zu retten vermag; Literatur schenkt unendliche Weiten! Besuchen Sie die vielen Festivals, die übers Jahr stattfinden. An solchen Festivals, an Lesungen und Darbietungen rund um die Literatur entsteigt den Büchern der Dschinn, der fast jeden Wunsch in Erfüllung bringen kann.

«Ob nun ein simpler Eingriff im Kopf direkt, mit Medikamenten, eine politische oder gar militärische Operation. Meret begehrt auf, in ihrem Innern, gegen Aussen. „Ein simpler Eingriff“ ist die Emanzipationsgeschichte einer jungen Frau in den Machtstrukturen der Gesellschaft, der Tradition, der Geschichte.» Yael Inokai «Ein simpler Eingriff»


An einer Lesung von Urs Mannhart aus seinem hellsichtigen Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“, sass eine Frau neben mir, die während der Lesung zeichnete. Die hier wiedergegebenen Zeichnungen sind ein Geschenk der Zeichnerin Charlotte Walder, entspringen einer spontanen Begegnung und symbolisieren wunderbar, was ein solches Festival leisten kann: Viel mehr als Berührungen!

«Urs Mannharts neuer Roman „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“ schlägt mir arg in die Kniekehlen. Ein Roman über die mutmassliche Unvernunft des Menschen.» Urs Mannhart „Gschwind oder Das mutmasslich zweckfreie Zirpen der Grillen“

Reservieren Sie sich den 19. bis 21. Mai 2023!

(Eingefügt in den Text sind all jene Rezensionen auf literaturblatt.ch, die mit den AutorInnen an den 44. Literaturtagen in Solothurn korrespondieren.)

Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht», FVA

Nino Haratischwili ist eine grosse Erzählerin. Sie zeichnet mit satten Farben, komponiert mit ebenso sattem Sound. Und doch ist nichts dick aufgetragen. In Zeiten wie diesen, in denen sich die Gewalt wie ein Schwarm Heuschrecken über ein ganzes Land legt und alles Leben frisst, ist ein Roman wie „Das mangelnde Licht“ die einzig wahre Medizin, die Hoffnung nicht zu verlieren!

Als meine Frau und mich 2014 Nino Haratischwilis 1300 Seiten dicker Roman „Das achte Leben (Für Brilka)“ in die Ferien auf eine Insel in der Nordsee begleitete, rissen wir uns den Schmöker zur Lektüre beinahe aus der Hand. Immer wenn meine Frau eine Lesepause einlegte, schnappte ich mir das Buch – und umgekehrt. Wir waren zwar auf dieser Insel, aber auch auf einer georgischen Reise durch das 20. Jahrhundert, fasziniert, bezaubert, in Leben eingetaucht.
Nach „Die Katze und der General“ erschien nun Nino Haratischwilis dritter monumentaler Roman „Das mangelnde Licht“. Nino Haratischwilis Werk darf aber bei weitem nicht nur an diesen drei dicken Büchern gemessen werden, erschienen doch zuvor schon preisgekrönte Romane und Theaterstücke. Aber so wie die drei dicken Bücher im Regal den Blick auf sich ziehen, so bündeln sie auch die Aufmerksamkeit auf eine Autorin, die zwar in den drei Romanen immer wieder von Georgien erzählt, aber immer wieder aus anderer Perspektive. Georgien und seine Geschichte ist viel mehr als Horizont und Geschichte in allen drei Romanen, die keine Fortsetzungsromane sind und ganz eigene Geschichten erzählen. Georgien ist einer der Protagonisten. Ein Land, das immer wieder von der Geschichte zerrieben wurde. 

Nino Haratischwili «Das mangelnde Licht», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 832 Seiten, CHF 45.00, ISBN 978-3-627-00293-0

„Das mangelnde Licht“ erzählt die Geschichte von vier Freundinnen, die jung und voller Pläne waren, als nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Georgien in einem Vakuum zu versinken drohte, Unabhängigkeitsbestrebungen, kriegerische Auseinandersetzungen, grassierende Korruption das Land in ein Trümmerfeld verwandelten, das zur Spielwiese von Clans mit mafiösen Strukturen wurde. Dina, Nene, Ira – und Keto, die die eigentliche Erzählerin der Geschichte ist, eine Geschichte, die ganz langsam aufbricht, denn Nene, Ira und Keto sind zwei Jahrzehnte nach den Geschehnissen in Tbilissi (Tiflis) nach Brüssel an eine pompöse Ausstellung mit den Fotografien von Dina eingeladen. Schwarzweissfotografien, die das Leben jener Tage abbilden, ihre Freundschaft, ihre Familien, die Gewalt in den Strassen, den Krieg an den Grenzen, ihre Heimat, eine Zeit, die nicht mehr ist und die Frauen an der Eröffnung dieser grossen Ausstellungen zu Objekten macht, denn Dina ist nicht mehr. Dina, die zu einer Ikone der Geschichte wurde, als Fotografin ebenso wie als Kämpferin, überlebte ihren Schmerz nicht. Ihr Tod war damals ein Grund, der die drei anderen Frauen auseinandertrieb und erst an dieser Ausstellung wieder zusammenführt. Eine Ausstellung mit Fotos für die Gäste, Fenster in Abgründe für die drei Frauen, vor allem für Keto, die mich als Leser mit ihren Rückblenden immer tiefer in Geschehnisse mitnimmt, die mir die Geschichten hinter den Hochglanzfotografien erzählen.

So wie der Film „Once Upon a Time in Amerika“ in Hollywoodmanier ein „männliches“ Gangsterepos erzählt, ist „Das mangelnde Licht“ die Geschichte einer Frauenfreundschaft, die an eben solchen Gangsterstrukturen zerbricht. „Once Upon a Time in Georgia“ erzählt aus weiblicher Perspektive die Geschichte von vier Frauen, denen die Freiheit von allen Seiten permanent genommen wird. Sei es vom Staat, von familiären Strukturen und Traditionen, sei es von der Geschichte und unabwendbaren Umständen und Zwängen. Dina, die Fotografin, ist der eigentliche Dreh- und Angelpunkt der Geschichte, eine Frau, die letztlich an mangelndem Licht zugrunde geht.

Klar fasziniert die Geschichte, die Dichte all der Binnengeschichten, die Konstruktion des Romans, die Rahmenhandlung ebenso wie all die weitschweifenden Geschichten hinter den Fotografien. Nino Haratischwili schafft es aber auch, dass Georgien, das Land und seine Geschichte, nicht einfach Kulisse ist, Staffage für ein Melodrama à la Hollywood. „Das mangelnde Licht“ bringt Licht in eine Zeit, in Zeiten wie diese, wo durch brutale Angriffskriege Staaten in Schutt und Asche gelegt werden, nicht nur Häuser und Strassen, sondern Strukturen, Kultur, Ordnung und letztlich auch Gesetz. Wo Kriege Leben unwillkürlich auslöschen, Familien auseinandergerissen werden und brutale Gewalt Menschen in ein Leben zwingt, das sie eigentlich verabscheuen.

Nino Haritischwilis literarischer Epos ist ein monumentales Sittengemälde. Ihr Roman wie „Bilder einer Ausstellung“ ein literarischer Gang durch eine Fotoausstellung der besonderen Art. Nino Haratischwili zieht mich mit in unsägliche Tiefen, überzeugt mich mit einem satten Sound, einer Vielstimmigkeit, die mich bei der Lektüre manchmal schwindlig macht.
Ich freue mich auf den Besuch der Autorin an den diesjährigen Solothurner Literaturtagen!

Nino Haratischwili, geboren 1983 in Tbilissi/Georgien, ist preisgekrönte Theaterautorin, –regisseurin und Romanautorin. Ihr grosses Familienepos «Das achte Leben (Für Brilka)», in 25 Sprachen übersetzt, avancierte zum weltweiten Bestseller, eine grosse internationale Verfilmung ist in Vorbereitung. Ihr Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Anna-Seghers-Literaturpreis, dem Bertolt-Brecht-Preis und dem Schiller-Gedächtnispreis, ihr Roman «Die Katze und der General» stand auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2018. Heute lebt die Autorin in Berlin.

Beitragsbilder © Dina Oganova

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», FVA

Köcherbäume sind in Namibia heimisch, dem ehemaligen Deutsch-Südwestafrika, und gedeihen nur schwer in einem Dresdner Villenviertel, schon gar nicht, wenn sie dort links und rechts des Eingangs einbetoniert sind, mit Chemikalien vor dem Verrotten bewahrt, als Erinnerung an eine Zeit, die man eigentlich lieber vergessen lassen will.

Iva kehrt in dieses Haus zurück. Ein Haus, das leer geworden ist und bloss noch von einer polnischen Haushälterin bewohnt wird. Ivas Vater liegt im Krankenhaus, angeschlossen an lebenserhaltende Maschinen, ohne Chance, je wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Und weil es das Ende von Evas Vater sein wird, weil die Mutter das Haus längst fluchtartig verlassen hatte und Evas Geschwister mit dem Gemäuer und dem alten Mann darin nichts mehr zu tun haben wollten, tritt sie ein in ein Leben, in das sie eigentlich nicht mehr zurückkehren will. Warum nicht zuhause bei ihrem Mann Roy und ihrem Jungen Shlomo bleiben? Warum nicht einfach alles seinen Gang nehmen lassen? Warum ein Leben unterbrechen, um in ein Leben zurückzukehren, das man einst mit wehenden Fahnen zurückliess?

Amanda Lasker-Berlin «Iva atmet», Frankfurter Verlagsanstalt, 2021, 320 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-627-00285-5

Amanda Lasker-Berlin nimmt mich an der Hand und mit in dieses Haus, hinter Türen, vorbei an Wänden, die mit ausgestopften Tierköpfen verhängt sind, in Zimmer, aus denen das Leben längst entwichen ist, in denen aber unverdaute Erinnerungen sabbern. Erinnerungen an Evas Grossmutter, die man zusammen mit den beiden Köcherbäumen aus Namibia in Deutschland einsetzen wollte, nachdem sie als Kind das Land fluchtartig verlassen musste. Ihr Land, das Land, das die Wilden ihr genommen hatten, in dem Deutschland als Kolonialmacht zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Aufstand der einheimischen schwarzen Völker brutal niederschlug, Völkermord beging. Eine Grossmutter, die mit ihrem Mann während der Naziherrschaft zu den Parteibonzen gehörte und sich schamlos am Reichtum der verschleppten und ermordeten Juden bereicherte. Erinnerungen an eine Mutter, die einst mitten in der Nacht mit blutendem Gesicht in Evas Zimmer stand und von Iva eine Entscheidung forderte; mitkommen oder bleiben, jetzt gleich.

Iva fährt von ihrer Familie weg, weg von ihrem Mann und ihrem kleinen Kind. Weg von Roy, der aus einer so ganz anderen Familie stammt als sie selbst, dessen Vater in einer schmuddeligen Wohnung in einem Hochhaus Akten, Fotos und Berichte sammelt, die unter anderem die verbrecherische Vergangenheit Ivas Familie dokumentieren sollen. Shlomo, Iva und Roys Junge heisst nicht aus einer Laune heraus Shlomo. Ein Name aus der Geschichte Roys Familie, ein Name, der „Friede“ bedeutet. Sie fährt zum Haus ihrer Familie, in der sich das Schweigen schon seit Jahrzehnten eingenistet hat, in der man nicht nur Köcherbäume tot einbetoniert, sondern auch die Geschichte und Geschichten, die dahinter stecken. Auch die Geschichte Ivas Geschwister Jette und Alexander. Jette, die dort wo die Köcherbäume herkommen nach Spuren sucht und Alexander, der am Gewicht seines Vater zerbrochen ist und erst zurück ins Haus seines Vaters kommt, als dessen Sterben absehbar und unausweichlich ist.

Was heisst es, als Kind aus einer Familie zu stammen, die sich in der Vergangenheit schuldig gemacht hatte? Ivan sitzt im Krankenhaus am Bett ihres sterbenden Vaters. Von ihm sind keine Antworten mehr zu erwarten. Aber selbst wenn er stirbt, wird das, was sich über Generationen an blutigen Spuren nicht leugnen lässt, weiter wirken, wie radioaktiver Abfall.

Amanda Laker-Berlin erzählt behutsam und unspektakulär. Ohne dass die Geschichte aufzublasen wird, begleite ich eine Frau, die ringt und sucht, die sich dem stellt, was hinter Fassaden verborgen bleiben soll. Der Völkermord im damaligen Deutsch-Südwestafrika, die Schoah, der Nationalsozialismus, Themen die im Roman „Iva atmet“ nicht bloss einfach Kulisse und Katalysator sind, sondern der Grund, auf dem das Haus aufgebaut ist. Iva atmet schwer!

Interview

Auf dem Umschlag ihres Buches ist ein Köcherbaum abgebildet. Aber umgekehrt, sodass er aussieht wie ein Lungengeflecht. Ihr Roman heisst „Iva atmet“. Iva hat immer einen Asthma-spray bei sich. Es ist nicht nur der Stress, der ihr den Atem nimmt. Das Verschwiegene, Unausgesprochene, letztlich das Lügen nimmt ihr den Atem. Was nimmt Ihnen den Atem?
Den Atem nimmt es mir, wenn ich die starken Ausprägungen des Klimawandels wahrnehme und dann überlege, wie stark sich die Lebensweise verändern muss. Die Überflutungen in Deutschland diesen Sommer, haben allen vor Augen geführt, dass die Katastrophen auch uns treffen und in Zukunft weiter treffen werden. Mich beschäftigt, wie es möglich ist, Krisen und Veränderungen als Gesellschaft zu meistern, ohne das es zu Radikalsierungen und Ausschlussmechanismen kommt. Auch die Coronakrise hat mir teilweise den Atem genommen. Sie schon jetzt so viele Verwüstungen in der Kulturbranche hinterlassen. Und ich wünsche, dass vieles wieder- oder neuhergestellt werden kann.

Die Grossmutter malte. Sie malte die südwestafrikanische Idylle. Sie selbst malten auch und erklären in einem Interview, dass das Schreiben Ihnen mehr Wege in die Tiefe gebe, das Malen durch die Ränder der Leinwand begrenzt sei. Sie schreiben auch Theater. Dort ist das Geschehen durch die Möglichkeiten der Bühne begrenzt. Steht beim Malen wie beim Schreiben nicht über allem die Frage, ob man Tiefe will oder lieber an der Idylle koloriert?
Ich glaube eigentlich nicht, dass Geschehen durch technische Möglichkeiten auf der Bühne oder durch Grenzen von Leinwänden beschränkt ist. Die Bildenden Kunst, das Theater und die Literatur können sich immer so weit ausbreiten, wie die Phantasie und die Bereitschaft es zu lassen. Sie sind schliesslich vermittelnde Elemente zwischen Rezipierenden und Agierenden. Ich wünsche mir oft mehr Bereitschaft sich auf Kunstwerke einzulassen und zu erforschen, wie viel sich in ihnen verbirgt. Für mich persönlich ist das Schreiben der künstlerische Weg, durch den ich mich am kraftvollsten in die Tiefe sprengen kann.

Wahrscheinlich gibt es in jeder Familie Geheimnisse. Und auch Geheimnisse, über die man nicht spricht. Aber Geschehnisse, die gar keine Geheimnisse sind, aber mit Bedacht als solche behandelt werden, weil man genau weiss, wie viel Gefahr von ihnen droht, sind die schlimmsten. Geheimnis aufbrechen um jeden Preis?
Das ist schwierig. Ich denke, dass jeder Mensch Geheimnisse haben muss. Sie sind schliesslich auch Schätze. Wenn diese Geheimnisse, aber andere Menschen direkt tangieren, halte ich einen offenen Umgang für wichtig. Gerade in einer Familie wie der von Iva. Dort wird die Vergangenheit ja nicht vollständig verschwiegen. Die NS-Zeit wird zelebriert und die Ideologie weitergetragen. Was in dieser nicht stattfindet ist eine Reflektion und das Überdenken der eigenen Perspektive.  Ich halte das Reflektieren von Zusammenhängen und Diskutieren von Ereignissen für essenziell.

Roy, Ivas Mann, sagt ihr einmal: „Seitdem ich dich kenne, bist du auf der Flucht, Iva.“ Dabei ist der Mensch mit seinem aufrechten, aber mit dem Alter immer schwerfälligeren Gang ein denkbar schlechtes „Fluchttier“. Therapien alles Art florieren, weil wir uns von alleine dem nicht stellen, wovor wir fliehen. Ist Schreiben eine Gegenbewegung zur Flucht?
Ja, ich denke schon. Schreiben und auch Lesen sind Auseinandersetzungen. Sie können die Angst, das Unbehagen vor Themen nehmen. Bei mir beobachte ich oft, dass ich mich mit Thematiken beschäftige, die mir auf unterschiedlichste Weisen Angst machen. Wie in meinem ersten Roman „Elijas Lied“ die Ideologie der Neuen Rechten. Beschäftigung und das Schreiben mit solchen Themen hilft einen vernünftigen Blick auf Veränderungen und Entwicklungen zu bekommen. Gleichzeitig löst es natürlich keine gesellschaftlichen Probleme, aber erschafft Denkräume, die Anstöße geben können.

Wie sind sie auf den Völkermord im heutigen Namibia gestossen? Kein Thema, das in der Deutschen Literatur einen gossen Hallraum hätte!
Das stimmt. Und das hat mich verblüfft. Ich habe mehr oder weniger zufällig von dem Genozid erfahren und mich erschrocken, wie wenig ich darüber wusste. In meiner Schulzeit war die deutsche Kolonialgeschichte etwas kaum Erwähntes. Auch in meinem Studium war sie kein Thema und das hat mich sehr irritiert. Deshalb habe ich angefangen zu recherchieren. Ich denke, dass zu diesem Thema noch viel geschrieben, gedacht und gesagt werden muss. Und das vor allem die Opferverbände mehr Gehör bekommen müssen. 

Amanda Lasker-Berlin, geboren 1994 in Essen, inszenierte mit 18 Jahren ihr erstes Theaterstück. Nach einem Studium der Freien Kunst an der Bauhaus-Universität in Weimar studiert sie Regie an der Akademie für Darstellende Kunst Baden-Württemberg. Ihre Theaterstücke und Prosa wurden bereits mehrfach ausgezeichnet, «Elijas Lied» wurde mit dem Debütpreis der lit.COLOGNE 2020 ausgezeichnet und für Das Debüt 2020 – Bloggerpreis für Literatur nominiert. Sie lebt in Frankfurt am Main.

Videoporträt 

Beitragsfoto © Nora Battenberg-Cartwright

Julia Malik «Brauch Blau», FVA

Das Leben ein einziger Alptraum? Vom ersten bis fast zum letzten Satz ist „Brauch Blau“ eine Achterbahnfahrt ohne absehbares Ende. Eine Lektüre, die mich einnimmt und fesselt, die ungeschönt zeigt, wie feindlich das Leben sein kann, wie sehr man sich im Überlebenskampf an Dingen zu halten versucht, die einem mit sich in die Tiefe zu reissen drohen.

Sie wacht in einem Hotelzimmer auf, das sie im Moment des Aufwachens nicht zu kennen glaubt. Alles ist fremd, sogar ihr Körper, der nicht zu ihrem Denken passt. Nach und nach schaltet sich Erinnerung dazu, auch die an ihre Kinder, die bei ihr hätten sein müssen. Sie rafft die Kleider zusammen, taumelt aus dem Zimmer in eine Welt, die wie Kulisse wirkt, sucht ihre Kinder, ihre Wohnung, ihre Stimme, ihre Arbeit, ihre Geschichte, ihr Leben.

Alles im Leben der jungen Frau ist aus den Fugen geraten. Herbert, der Vater der beiden Kinder, hat sie sitzen gelassen, weil er ein besseres Leben gefunden hat, auf das er nicht verzichten will. Ihr fehlt Geld, denn das bisschen, das sie zuweilen mit ihrem Singen verdient, reicht längst nicht mehr, sie und die Kinder über die Runden zu bringen. Rechnungen bleiben liegen, sie klaut Lebensmittel im Supermarkt. Sie rennt von Vorsingen zu Vorsingen, von Absage zu Absage, als ob sich ihr alles verschliessen würde. Und wenn sie sich traut, ihrer Mutter anzurufen, schlägt ihr die Kälte ihrer Mutter noch einmal ins Gesicht.

Julia Malik «Brauch Blau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-627-00271-8

„Eingebettet in die Familie“ klingt idyllisch, suggeriert den Traum, den Wunsch, den man in jede Zelle eingebrannt mitbekam. Julia Malik erzählt, wie ein Traum zum Alptraum wird, wie man sich trotz allen Bemühens nicht aus den Fängen und Klauen von Familie lösen kann, nicht einmal für einen kurzen Moment des Blaumachend. Jedes noch so gut gemeinte Tun zieht einem nur noch tiefer in den dröhnenden Sog von Kindergeschrei, Forderungen, endlosen Diskussionen, Missverständnissen, immer weiter weg von sich selbst, dem was die junge Frau eigentlich tun will; eine gute Mutter sein, eine gute Sängerin sein, eine gute Liebende sein, ein guter Mensch sein.

Das rauschhafte Sein auf den Opernbühnen der Welt steht in krassem Kontrast zur unkontrollierbaren Welt, der Realität. Was sich nach den Proben und Aufführungen durch einen Joint, eine Tablette, ein bisschen Gras zudecken lässt, rächt sich als Mutter und Organisatorin eines Lebens, das ausser Kontrolle geraten ist. Der jungen Frau gelingt es nicht mehr, in ihrem Leben zu agieren, alles ist auf Reaktion reduziert. Selbst wenn sich auf ihrer verzweifelten Jobsuche eine Tür zu öffnen scheint, ein bisschen Perspektive möglich wird, wird ihr das Heft aus der Hand genommen, reduziert sich das Leben auf den Moment.

Manche mögen sich fragen, warum man sich einen solchen Tripp antun sollte. Julia Malik setzt mich in einen Tunnel, in eine geschlossene Rutsche, in der ich ohne mein Dazutun in die Tiefe sause. Sie zwingt mich, mich mit den Existenzen jener auseinandersetzen, die verzweifelt versuchen, das Leben in den Griff zu bekommen; Alleinerziehende, KünstlerInnen ohne fixes Einkommen, Sitzengelassene und Verlassene, nicht nur verlassen von Liebe und Sicherheit, sondern verlassen von all den Vorstellungen und Träumen, die man einst zu Maximen machte.
Weil Julia Malik ein Sperrfeuer der Sprache zündet! Sie protokolliert nicht, schildert nicht von Aussen, sondern von Innen, gemischt mit all den Bildern, die von objektiven Wahrnehmungen abgekoppelt scheinen. So nah, dass mir manches beinah unerträglich, das Gelesene beinah zum eigenen Schmerz wird.
„Brauch Blau“ ist die Metamorphose einer jungen Mutter und Künstlerin, der es erst im letzten Satz gelingt, das Alte abzustreifen.

Beeindruckend!

© Lottermann and Fuentes

Interview mit Julia Malik

Das Irgendwie-Leben einer alleinerziehenden, zweifachen Mutter zwischen drohender Armut, Rausch und Kater, permanentem Überlebenskampf, totaler Isolierung und ekstatischer Sehnsucht hat nichts gemein mit plakativem Familienidyll, trautem Heim und wohliger Sicherheit. Und doch ist das Schicksal der jungen Frau das jener Frauen, die in ihrer Not fast ersticken, niemals die Kraft hätten, ihre Stimme zu erheben. Ist ihr Roman Manifest?
Haha, ich hoffe doch, dass mein Roman so ein Manifest ist der Menschen, die durch eine Familie nicht in eine Idylle versinken, sondern sich dem stellen, was die Widersprüche zwischen der eigenen Hingabe, emotional und künstlerisch, körperlich natürlich auch, und dem Funktionieren als Elternteil herausfordern. Ich habe das oft erlebt, selbst, und beobachtet, bei anderen, ausserdem ist man ja dadurch, dass man nach einer Geburt auf einmal die nächste Generation ist, nicht plötzlich erwachsen, man will doch trotzdem wild sein können, ist doch immer noch getrieben, auch von irrationalen Sehnsüchten und natürlich dem normalen Chaos aus Familie, Zuhören, Einkaufen, Steuererklärungen, Geldverdienen, Kindergeburtstagen, Geburtstagen der Freundinnen, länger arbeiten und wenn die Kinder dann auf einmal eine neue Regenhose brauchen, gerät alles ins Kippen. Das geht nämlich ganz schnell, dass ein Chaos hereinbricht, wenn die Summe aller einzelnen Aufgaben für einen alleine viel zu viel ist. Und was passiert da in einem drin? Das hat mich interessiert. 

Ihr Roman ist eine sprachliche und dramatische Achterbahn, einmal realistisch klar, dann traumhaft verzerrt. Er reisst mich als Leser auf der ersten Seite schon in die Urangst aller Mütter, die Kinder zu verlieren und endet mit einer Art Häutung, als wärs der Beginn einer Metamorphose. Fürchteten Sie sich vor dem totalen Absturz? Wäre der nicht zumutbar gewesen?
Ja, natürlich fürchte ich mich vor dem totalen Absturz, alles andere wäre ja eine Verharmlosung, ein totaler Absturz ist genau das. Ich fürchte mich davor, aber es hat mich mehr interessiert, den Kampf und ihre Versuche und auch ihre Möglichkeiten kennenzulernen, als das Elend zu erforschen. Meine Hauptfigur lässt sich, obwohl sie dort schon ist, nicht hineinfallen, sie will einfach nicht aufgeben und sie beansprucht auch ihr Glück. Sie lernt, sich etwas zu nehmen, ein Verhalten, das ich oft an Männern beobachtet habe und sehr interessant fand. Das ist wohl auch mein innerer Tarantino gewesen, der sagte, jetzt macht sie das aber einfach, jetzt marschiert sie einfach rein und endet das Sozialdrama. Sie bleibt ja trotzdem einer psychologischen Logik verpflichtet, sie zwingt nur all ihre Willensstärke zusammen und ändert ihre Gedankenmuster, ihre Handlungen und ihren Weg und das ist ja durchaus möglich.

Die Protagonistin ist Sängerin ohne festes Engagement, hofft auf eine Rolle auf einer grossen Bühne und ist zu fast allem bereit, eine Rolle zu ergattern. Die Welt draussen in der Realität und die Welt der Illusionen auf der Bühne? Die Welten scheinen diametral auseinander zu liegen. Das ganze Spektrum zwischen Sein und Schein?
Ja, die Welten liegen diametral auseinander und sind beide wahr, genau wie ihr Leben diametral verschieden ist, das, was sie als Frau ausmacht, was sie zum Leben braucht, wie eine Pflanze und das, was ihr Alltag von ihr verlangt.

Sie will eine Rolle in „Norma“ einer tragischen Oper von Vincnzo Bellini. Eine Priesterin, die zwei heimliche Kinder versteckt hält, hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Status. Sie selbst sind erfolgreiche Schauspielerin, Mutter, Musikerin und Schriftstellerin. Priesterin und Dienerin?
Ja, ich glaube, ich fürchte, ich hoffe, ich bin auch Priesterin und Dienerin. Ich diene demütig meinem Schreiben und meinen Kindern und natürlich meinen Leidenschaften; der Musik und dem Spielen – und die eine oder andere Messe passiert dabei wohl auch. Manchmal vergesse ich mich und nehme ich mich ungeheuer ernst. Dann wird mir etwas heilig, wahrscheinlich eher aus Versehen … und dann gibt es Entscheidungen, die radikal und schmerzhaft sind, von der auch die Norma erzählt, die man aushalten muss, was eigentlich auch nach der Musik von Bellini verlangt. 

„Brauch Blau“, sagt der kleine Sohn, als er eine rote Serviette vorgesetzt bekommt. „Brauch Blau“, sagt die Mutter, weil sie nicht das gewünschte Leben vorgesetzt bekommt. Eine Frau, die die Enge nicht mehr erträgt. Ist Muttersein nicht die einzige Rolle, die man nie ablegen kann?
Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich kann man sogar das Muttersein ablegen, wenn man das will. Es gibt ja Menschen, mehr Männer, aber sicher auch Frauen, die ihre Kinder verlassen, sie verlassen können. Für mich ist das definitiv nicht möglich, ich will das auf keinen Fall, ich möchte meine Kinder erleben. Aber in Gedanken passiert das natürlich schon, momentweise, das ist ja das Spannende in der Kunst, dass man sich etwas Anderem komplett hingibt und sein Leben vergisst. Wie schön ist es dann für mich, wieder aufzutauchen und Waffeln zu backen und mit meinen Kindern Lego zu spielen.

© Julia Malik

Julia Malik, 1976 in Berlin geboren, ging für das Schauspielstudium an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Anschliessend folgten Engagements an verschiedenen Theatern, unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Hannover und am Théâtre National du Luxembourg. Sie dreht Film- und Fernsehproduktionen, arbeitet an dem Kinofilm «LASVEGAS» und spielt Geige in der Berliner Band «Hands Up – Excitement!». «Brauch Blau» ist ihr erster Roman.

Hands Up – Experiment! You’re next successful experience – Tour Teaser 2018

Julia Malik: Selbstbehauptung einer Frau / Interview bei Geistesblüten