Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt

Wie weit hat sich der Mensch von seiner Welt entfremdet? Ist das, was wir Leben nennen, das, was der Bestimmung jener entspricht, die immer mehr das Gefühl haben, es sei Kampf und Abmühen gegen Einsamkeit und dem Gefühl des Verlassenseins? Britta Boerdner fühlt dem „modernen“ Menschen auf den Zahn, schreibt sich in Sphären, die weh tun.

Elena ist umgezogen. Aber sie ist mehr aus ihrem alten Leben ausgezogen, als in einem neuen Zuhause angekommen. Sie ahnt, dass sich die neue Ordnung in ihrem Leben nur dann einrichten lässt, wenn sie sich dem stellt, was sich in Mehrfachschlingen in den vergangenen Monaten um sie festzurrte. Elena ist aus dem alten Leben geflohen, einem Leben, das ihr lange Zeit alles bedeutete, dass sie auszufüllen schien, über das sie sich definierte, das sich ganz selbstverständlich vor ihr auszubreiten schien.

Aber sie musste die Reissleine ziehen, um sich aus der Umklammerung zu befreien. Es war der Zwang in den freien Fall, ein Schritt ohne Alternative, hinaus aus der Sicherheit, bei der sie sich an ihre Kompetenz, ihre Position, ihren Erfolg zu halten wusste.

«Es gibt keine Ziele, die zu erreichen sind, damit die Beziehung funktioniert – weil wir keine Beziehung haben. Wir können uns frei fühlen.»

Elena arbeitete in einer mittelgrossen IT-Firma in einer Kaderposition, einer Branche, die sich permanenten Umwälzungen ausgesetzt weiss, was sich auch in einer permanenten Anspannung in der Firma ablesen lässt. Für ein besonders heikles Geschäft stellt man ihr einen Consulant, einen Berater zur Seite, den sie sich selbst aus einem Meer von Bewerbern aussuchen kann. Einen um einige Jahre jüngeren Mann, mit dem sie sich aber auf viel mehr einlässt, als das, was beruflich im Büro oder auch einmal in einem Lokal stattfindet. Man trifft sich nach der Arbeit im Hotel, in scheinbar sicherer Distanz zur Welt, die die beiden erkennen könnte. Er ist sportlich, dynamisch, kommt zur Sache, schenkt ihr das, was sie glauben lässt, es gehöre dazu, mache ein Teil des Lebens aus, das ihr zusteht. Er ist verheiratet.

«Manchmal frage ich mich, ob ich mir die Liebe überhaupt noch zutraue.»

Britta Boerdner «Es geht um eine Frau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2022, 256 Seiten, CHF 35.90, ISBN 978-3-627-00299-2

Damals glaubte Elena, ihrer selbst entsprechend eingerichtet zu haben. Eine Wohnung in einem schmucken Stadthaus, eine Arbeit, eine Stelle mit Perspektive und entsprechender finanzieller Sicherheit. Elena glaubte an dieses Leben, auch wenn sie in stillen Momenten spürte, wie filigran, wie zerbrechlich das Gefüge zu werden drohte, nicht zuletzt deshalb, weil sie sich immer mehr in ihrer Einsamkeit verlor, weil etwas in ihr ahnte, dass das nicht alles sein konnte.

Bis zu jenen Tagen im November, als man sie zu ihrem Chef rief und sich mit einem Mal abzeichnete, dass nichts so bleiben würde, wie sie es sich eingerichtet hatte. Elena wird aus ihrem Leben hinauskatapultiert, rettet sich in ein neues Leben, einen anderen Stadtteil, weit weg von der alten Kulisse, in eine Neubauwohnung, ein Leben, von dem sie hofft, sie würde die Kontrolle zurückgewinnen.

«Manchmal denke ich, wir wollen nichts von der Traurigkeit wissen, die in uns allen steckt.»

„Es geht um eine Frau“ ist die Geschichte der Einsamkeit. Die Geschichte einer Entfremdung. Die Geschichte einer Gesellschaft, die sich an einer künstlichen Welt orientiert, einer Welt, die mit einem Mal abreissen, wegkippen kann. Elena ist die erfolgreiche, dynamische, permanent aktive Frau, die mit einem Mal feststellen muss, dass nichts von dem bleibt, was ihr einstiges Leben ausmachte. Es leben zwar 8 Milliarden Menschen auf diesem Planeten. Aber nie in der Geschichte der Menschheit zuvor muss „Einsamkeit“ zu einem eigentlichen Krankheitsbild der Gesellschaft erklärt werden. Britta Boerdner schreibt ganz nah an eine Existenz heran, die sich verliert, die zusehen muss, wie man ihr den Boden unter den Füssen wegreisst, wie das Leben sie hinabkippt. Elena fehlt all das, was ihr helfen würde, eine Krise durchzustehen. In ihrem Leben war nie Zeit und Raum für Beziehungen, Freundschaften, ein Zuhause, Bindung.

„Es geht um eine Frau“ ist eine fein gestrickte Gesellschaftsanalyse. Ein Roman, der mir in die Knochen fuhr, der mich zur Selbstanalyse zwingt. Ja, es geht um eine Frau. Aber es geht um uns, um mich!

Interview

Ja, tatsächlich „Es geht um eine Frau“. Aber es geht um uns alle, die wir nicht merken, wie sehr wir in einem Hamsterrad rennen, wie sehr wir gefangen sind, wie weit weg wir vom Leben entfernt sind, wie sehr wir uns mit Schein begnügen. Hofft man beim Schreiben eines Romans auf „Bewusstseinserweiterung“, sei es bei sich selbst oder bei jenen, die das Buch lesen?
Natürlich mache ich mir beim Schreiben Gedanken darüber, wie dieses oder jenes aufgefasst werden könnte. Aber ich gehe dabei nicht programmatisch vor im Sinn von Effekt, von Aha-Erlebnissen, die ich bei den Leser*innen hervorrufen will. Wenn der Stoff berührt und zu einer gedanklichen Auseinandersetzung führt oder zu einem emotionalen Erkennen – dann ist das natürlich perfekt, das wünscht sich wahrscheinlich jede Autorin, jeder Autor. Dann stößt der Text auf Resonanzräume oder er öffnet sie. Vielleicht könnte man das auch ganz klassisch als Leerstellen im besten Iser’schen Sinn bezeichnen: Textsegmente, die aneinanderstossen und von den Leser*innen gefüllt und in Beziehung zueinander gebracht werden müssen. Wenn man diese Arbeit der Leser*innen Bewusstseinserweiterung nennen mag, bin ich dabei, und diese Räume zu schaffen ist auch Teil meiner Arbeit. Allerdings ist dabei nicht meine Absicht, zu lehren oder zu belehren.
Andererseits ist es so, dass ich vieles noch nicht weiss, wenn ich mit dem Schreiben beginne. Natürlich weiss ich, was mein Thema ist. Aber ich stosse erst nach und nach dazu vor, alles zu erfassen. Dabei fügen sich Dinge zueinander oder ergänzen einander, von deren Verbindung ich zuvor noch nichts wusste. Daher lege ich auch keinen Plot fest, an dem ich mich ausrichte, denn das würde mir etliche Entwicklungen nehmen, ich müsste ihn zu oft umschreiben. Generell ist es so, dass sich manche Passagen wie von selbst schreiben, ich weiss dann, das stimmt so, das ist gut, da braucht es kaum noch Änderungen. In diesen Zuständen – die bei mir leider meist nicht sehr lange dauern – ist das Bewusstsein tatsächlich auf eine Weise erweitert. Ich würde es auch als Bewusstseinsverschiebung bezeichnen: Ich habe dann eine absolute Gewissheit darüber, dass es stimmig ist, was ich gerade schreibe, aber ich bin mir während des Schreibens meiner selbst nicht bewusst. Ich bin nur noch Werkzeug, Hebel, ausführende Kraft. Das alles geschieht sehr schnell und muss ausgenutzt werden, solange es geht. Ein wirklich bemerkenswerter Zustand, auf den ich natürlich immer hoffe. Manche nennen es Flow, ich benutze diesen Ausdruck aber nicht gerne. Für mich klingt das oft so, als müsse man sich nur hinsetzen und dann passiert es irgendwie und alles Weitere ist ein Kinderspiel. Das ist nicht so. Eine unablässige Beschäftigung mit dem Personal und dem, was passieren könnte, ist die Voraussetzung dafür. Einerseits Kontrolle also, Anstauen, andererseits dann völliges Loslassen. Erst dann kann etwas fliessen.

© Britta Boerdner

Ihr Roman ist ein Buch über die Einsamkeit. Elena hat sich verloren. Mag sein, dass zwischendurch etwas Einsicht aufblitzt. Abe vor einer wirklichen Richtungsänderung scheint sie sich zu fürchten, denn ein „Neubeginn“ setzt Einsicht nicht unbedingt voraus. Oder täusche ich mich?
Nein, keine Täuschung, das stimmt schon so. Elena vermeidet. Sie ist getrieben von dem Wunsch, alles hinter sich zu lassen und es dadurch auflösen zu können. Den Schock, in dem sie sich durch das vorangegangene verheerende Geschehen befand, hat sie durch eine beinahe obsessive Suche nach einer neuen Wohnung verdrängt. Auch das Sentenzenhafte, mit dem sie ihre frühere Arbeitswelt und ihre Haltung darin reflektiert, ist reine Kopfsache, es führt nicht zu einer inneren Erkenntnis. Sie befindet sich in einem Schwebezustand, in einer Unsicherheit, die sie durch Alkohol und Beschäftigung zu übergehen versucht. Sie fotografiert, sie schaut Filme und Serien. Das ist ihr als Gegenpol zum früheren Leistungsprinzip genug Neubeginn. Man könnte auch sagen, es geht ihr noch nicht schlecht genug für eine wirkliche Richtungsänderung. Sie könnte sich ja auch professionelle Hilfe suchen. Da sie aber gewohnt ist, sich permanent zu übergehen und damit zumindest beruflich erfolgreich war, kommt sie nicht auf diese Idee. Ihre Furcht vor der Konfrontation ist die Furcht vor Kontrollverlust.
Die Idee zu „Es geht um eine Frau“ kam mir, als ich zum ersten Mal durch das Europaviertel gestreift bin, ein grossteils sehr luxuriöses neues Quartier in Frankfurt am Main, der Stadt, in der ich lebe. In seiner blendend weissen Symmetrie und Sterilität, mit seinen unbelebten Strassen strahlt es eine unglaubliche Leere aus. Mit dieser Leere und diesem Blendwerk wollte ich etwas machen. Ich habe mich gefragt, wie jemand gestimmt sein könnte, der dort hinzieht. Und ich wusste, es müsste jemand sein, der ebenfalls leer ist, bezugs- und beziehungslos. Das Innen sollte also wie das Aussen sein. Ja, es ist ein Buch über die Einsamkeit, aber auch ein Buch über die Frage der Verantwortung für das eigene Leben und das Leben anderer.

Da ist die Welt, die Blase, in der sich ihre Firma bewegt. Eine Welt ausserhalb scheint es nicht zu geben. Sie nimmt zwar die Hitze des Sommers wahr. Aber alles bleibt Kulisse, selbst die Beziehung zu M., die nicht wirklich eine Beziehung ist, mehr ein Instrument zur Befriedigung entsprechender Bedürfnisse. Elena hat sich verloren. Aber eigentlich haben wir uns in einer künstlichen Realität verloren. 

Frankfurter Europaviertel © Britta Boerdner 

Ganz zu Beginn Ihres Romans schreiben sie „Schlafen wollte ich und aufwachen wie neu geboren“. Mit tatsächlicher Auseinandersetzung, mit Konfrontation hat das nichts zu tun. Obwohl das angesichts der tragischen Ereignisse an ihrem Arbeitsplatz mehr als angemessen wäre. Elena flieht. Wie ein Kind, das die Decke übers Gesicht zieht und „Du siehst mich nicht“ ruft. Spiegelt der Roman Pessimismus?
In gewisser Weise ja. Elena flieht auch ganz zum Schluss wieder. Da wechselt sogar der Tonfall, da blitzen in ihren Gedanken banale Ausdrucksweisen auf, Selbstberuhigung durch Lachhaftes und eine stichworthafte Nennung möglicher Reiseziele. Alles zusammen eine Oberflächlichkeit, die fast hysterisch zu nennen ist. Mir schien es einfach nicht richtig und auch zu scheinheilig, ein gutes Ende zu schreiben, eines, das von Innehalten, Selbstwahrnehmung, Mut und einer bewusst daraus entstehenden Veränderung handelt. Hört sich wunderbar an, ein solch möglicher Schluss, nicht wahr? Es ist aber nicht so einfach, sich neu zu definieren, wie es in diversen Ratgebern oder Magazinen empfohlen wird. Ändere deinen Style und entdecke dein wahres Ich, Tu endlich das, was du schon immer wolltest, Lerne, Grenzen zu setzen und es wird dir besser gehen und solche Sachen. Vielleicht fügt sich manchmal ein inneres Bild zu einer Erkenntnis, und man denkt, ah, so ist das also mit mir, jetzt verstehe ich. Doch dieses Verstehen muss auch behalten werden und geht doch allzu oft wieder verloren, weil die alten Mechanismen einsetzen. Weil der Alltag alles wieder schluckt, die Anforderungen zu mächtig sind. Tatsächlich etwas Zusammenhängendes von sich zu erfahren ist ein langer Prozess, da ist es mit einem Aha-Moment hie und da nicht getan. Die eigenen Anfälligkeiten, Verführbarkeiten und Schwächen zu erkennen ist schmerzhaft. Nicht jede*r lässt das zu. Und auch, weil jemand, der sich rauszieht und sagt, ich schaff das nicht, ich kann da nicht mehr mitmachen, auch immer noch als Angriff auf die Verhältnisse oder einfach als schwacher Mensch gesehen wird.

Ich hatte im Oktober eine Lesung im Goethe-Institut in Rom, dabei entspann sich ein lebhaftes Gespräch auf meine Frage hin, ob Burnout und Depression in Italien ein gesellschaftliches Thema ist. Die Antwort war ein klares Nein. Burnout sei zwar im Zusammenhang mit Covid im Bereich der Pflegekräfte auch in den Medien diskutiert worden, aber im allgemeineren und auch im privaten Bereich sei es kein Thema. Auf meine weitere Frage, ob man darüber einfach nicht spräche oder ob es wirklich nicht vorkomme, waren die Antworten so schwammig, dass ich mir kein klares Bild davon machen konnte. Ich liess es mal dahingestellt.

Ihr Roman liest sich auch als Kritik an einer Leistungsgesellschaft, die kaum mehr Energie und Freiräume zulässt, um sein Leben für einmal aus einer anderen Perspektive zu sehen. Ist Schreiben eine Art der Entschleunigung?
Ja und nein. Schreiben zwingt mich einerseits dazu, genau hinzuschauen und gleichzeitig den Dingen ihre Eigenzeit und Entwicklung zuzugestehen. Wenn ich schreibe, beschäftige ich mich unablässig mit dem Stoff, dann laufe ich durch die Stadt oder suche mir etwas, das Impulse setzt, Besuche von Ausstellungen etwa oder Musik und Filme. Meistens kann ich durch diese Anregungen einen Bezug zu meinem Thema herstellen, dann blitzt in den besten Momenten etwas auf, woran ich vorher noch nicht dachte. Das ist tatsächlich eine Art Entschleunigung durch eine andere Art der Wahrnehmung, die in einem eng getakteten Alltag nicht möglich ist. Durch das Schreiben gebe ich die normale Gangart auf und bin doch gleichzeitig viel enger mit meiner Umgebung verknüpft. Nichts mehr mit Entschleunigung zu tun hat allerdings das Editieren. Das ist das „andererseits», die beinharte Arbeit, die viel Kraft kostet, und zwar ganz zeitgebunden.

Britta Boerdner, geboren in Fulda, studierte nach einer Ausbildung zur Buchhändlerin Amerikanistik, Germanistik und Historische Ethnologie. Ihr Debütroman «Was verborgen bleibt» erschien 2012 bei der FVA. Für «Am Tag, als Frank Z. in den Grünen Baum kam» (FVA 2017) erhielt sie das Inselschreiber-Stipendium der Sylt Foundation und das Stipendium des Hessischen Literaturrates in der Emilia Romagna. Britta Boerdner lebt in Frankfurt am Main.

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Beitragsbild © To Kuehne