Helga Bürster «Luzies Erbe», Insel

Johanne ist bei Luzie, als diese stirbt. Luzie, Johannes Grossmutter, fast hundert, war zeitlebens eine, die nicht viel sprach, das «Masur’sche Schweigen» wie eine schallschluckende Glocke über die Familie hängte. Und nun ist sie tot, nimmt alle Geheimnisse mit hinein in dieses grosse letzte Schweigen. Aber Johanne lässt das, was seit Generationen über der Familie Liebe schluckte, nicht los.

Vier Generationen versammeln sich im Haus von Luzie, als diese aufgebahrt in ihrem Zimmer liegt. Ihre beiden Töchter Helene und Thea, beide selbst in die Jahre gekommen, Helenes Tochter Johanne und später auch deren Tochter Silje, die noch studiert. Erdbestattung oder Urne? Thea und ihr Mann unter dem gleichen Dach schlafen, während Luzie tot daliegt? Während sich unter Luzies Töchter wie so oft der Streit entfacht, flieht Johanne in den Keller, bügelt lieber, als sich den Streitereien der beiden auszusetzen. Johannes Schmerz und Trauer mischt sich mit der Verzweiflung darüber, allein gelassen zu sein, allein mit dem, was nie zur Sprache kam, dem Geheimnis um einen Makel in der Familie, der wie ein eitrig gewordener Splitter aus der Vergangenheit ausstrahlt.

Helene und Thea hätten einen Vater. Aber man sprach von ihm höchstens als Pronomen. Er war ein Geist. Genauso wie Luzies Bruder, der nie aus dem Grossen Krieg zurückkehrte, wie Luzies einstmals Verlobter, der von der Bildfläche verschwand. Luzies Töchter nahmen das Schweigen ihrer Mutter hin, akzeptierten, dass das, was während des Krieges geschah unter dem Deckel des Mazur’schen Schweigens ruhen sollte. Und nun, nach dem Tod ihrer Grossmutter, soll Johanne akzeptieren, was jahrzehntelang sein Gift aussandte?

Auf einem der vielen Schränke in Luzies Haus liegt ein alter metallener Koffer, seit Jahrzehnten, stets bereit, mitgenommen zu werden, aus der Angst, man würde dereinst wieder fliehen müssen. Johanne nimmt den Koffer mit nach unten in den Keller, findet Fotos, Dokumente, Briefe von Luzies Bruder von der Front – und ganz unten in einer Blechdose etwas von dem, was den Deckel lüftet.

Helga Bürster verwebt die Geschichte von Luzies Familie, Luzies Leben während und kurz nach dem Grossen Krieg und jenes des totgeschwiegenen Grossvaters Jurek, jenes polnischen Zwangsarbeiters, in den sich Luzie in den Wirren des Krieges verliebte und aus Rassenschande zwei Kinder wurden. Helga Bürster erzählt, dass der Krieg mit einer Kapitulation nicht vorbei und schon gar nicht ausgestanden ist, wie sehr sich die Verletzungen in jene einfrassen, die nach Mai 1945 das Leben wiederaufnehmen sollten. Johanne nimmt die Spur auf zu jenem Mann, den der Krieg wie einen Kiesel in deutsche Gefangenschaft spülte, an den Hof von Luzies Familie, der die Liebe genauso wie unsäglichen Kummer mitbrachte. «Luzies Erbe» ist, wie Helga Bürster in einem Nachwort schreibt, die Geschichte ihrer eigenen Grossmutter. «Wenn man mit einem solchen Schweigen aufwächst, lernt man zu lauschen», schreibt Helga Bürster. «Luzies Erbe» ist das Erbe von Generationen. Deshalb so wichtig, dass davon erzählt wird. Und Helga Bürster tut dies hervorragend!

© Uwe Stalf

Helga Bürster, geboren 1961, ist in einem Dorf bei Bremen aufgewachsen, wo sie auch heute wieder lebt. Sie studierte Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, war als Rundfunk- und Fernsehredakteurin tätig, seit 1996 ist sie freiberufliche Autorin. Zu ihren Veröffentlichungen zählen Sachbücher und Regionalkrimis, zudem wurden von Radio Bremen/NDR sowie vom SWR einige Hörspiele von ihr ausgestrahlt.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau