Fee Katrin Kanzler liest, Gallus Frei-Tomic moderiert

am 30. November, 19 Uhr, Raum für Literatur,
Hauptpost / St. Gallen, St. Leonhardstrasse 40 / 3. Stock,
Eintritt 15 CHF / ermässigt 10 CHF / GdSL-Mitglieder gratis

Fee Katrin Kanzlers Sprache pulsiert, strotzt vor Leben. Ihre Geschichte, ihr Plan des Erzählens, erlaubt Wendungen, die Grenzen überschreiten. Ihre beinahe barocke Erzählfreude, die schon mit dem ersten Satz einen Markstein setzt, bezaubert ungemein, selbst wenn die Geschichte an Düsternis zunimmt.

Henry Jean-Toussaint Einstein (Was für ein Name!) lernt auf einer ausufernden Hochzeit ein Mädchen mit wild abstehenden Dreadlocks kennen und lässt sich von ihrem blauäugigen Blick betören. Joe reisst ihn aus seiner Welt. Einer Welt, mit der er sich eingerichtet hatte. Henry, der einmal die Welt retten wollte, um nun in einer Biolimofirma mit Anzug im eigenen Büro zu sitzen. Er, der trotz aller Sehnsucht nach Liebe den Draht zu seiner Frau und erst recht zu seiner dreizehnjährigen Tochter verloren hat. Die draedlockige Joe ist eine Abgewandte, arbeitet in einer Gärtnerei, wo sie mit Grabpflege auf dem Friedhof ihr Lehrlingsgehalt aufbessert. Joe mag den Friedhof, weil sie allein sein will. Joe schenkt Henry etwas von der Nähe, die er zu all jenen verloren hat, die ihm wichtig sein sollten, eine Nähe, die nicht zurückzugewinnen scheint. Dabei sehnt er sich nach nichts mehr, als sein Kind, seine Julia in die Arme zu schliessen.

Und dann reisst es Henry durch das Horn eines rasenden Stiers aus der Welt der Lebenden. Er schwebt wie ein Geist durch die Welt, ohne sich auf sie einzulassen, gleichsam angeekelt und fasziniert. Henry der Vater über die Welt hinaus. Henry als Formation von fliegenden Spatzen, Henry mit einem Mal ganz nah jenen, zu denen er alle Nähe verloren hat.

Fee Katrin Kanzler erzählt auch von Joe, eigentlich Johanna, einer Fünfzehnjährigen, der das Erwachsenwerden zu langsam dauert, die Gegenwart herausfordert, sich nicht weit von ihren in Pflichten eingespannten Eltern in den Dünen am Meer verliert. In den Armen eines deutschen Schriftstellers, Samuel, dem sie vorgibt siebzehn zu sein, in dessen Bett sie schlüpft und verkündet, die Nacht hier mit ihm zu verbringen.

Mag sein, dass der Erzählstrang in Fee Katrin Kanzlers Roman manchmal arg strapaziert wird. Wer sich aber nicht abwimmeln lässt, sich auf die Eigenarten des Textes einlässt, wird reich belohnt. Zum einen auch von der Geschichte, aber noch viel mehr von der Sprache, der unkonventionellen Art, wie sie erzählt. Fee Katrin Kanzler schreibt Perlenketten. An manchen Abschnitten hängt am Schluss ein dunkel schimmernder Edelstein. Es sind Sätze, die man mitnimmt, mit sich herumträgt, die hängenbleiben und eine ganz andere Halbwertszeit besitzen als das Meer der Sprache sonst. Während des Lesens animiert die Autorin eigene Traumbilder, Gefühle, die sich, zumindest bei mir, sonst nur bei Lyrik einstellen. Ihr Roman ist nicht leicht zu verorten. Während des Lesens brechen Bilder aus dem Text, zwingt mich die Lektüre zu einem Halt, als ob ich Luft holen müsste. Wo andere Bücher Sog und Spannung entwickeln, wehen Fee Katrin Kanzlers Bilder zusätzlich wie Böen durch den Kopf. Sie malt mit Sprache; da ein Fleck, eine Kontur, dort eine Linie, eine Textur. Langsam erschliesst sich das Gesamte, mit lyrisch zarten Farben genauso wie mit harten, schroffen Gegensätzen, Überblendungen arrangierend, von denen ich mich gerne verunsichern lasse.

Eine Entdeckung! LESEN und GENIESSEN!

Ein kurzes Interview:

Beim Lesen Ihres Romans passierte bei mir etwas, was sonst nur beim Lesen von Lyrik oder lyrischen Texten geschieht. Bilder, die kamen, waren ganz stark, farbig, manchmal verzerrt, der Realität enthoben. Und trotzdem «glaubte» ich ihrem Text. Ihre Sprache ist so intensiv, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass da jemand schreibt mit einem Glas Wasser nebenbei und sanfter Musik. Wie schaffen Sie es, in ihrem Buch derartige Intensität zu erzeugen?
Tatsächlich meistens ganz schlicht am Schreibtisch mit einem Glas Wasser, Tee oder Kaffee. Manchmal läuft auch wirklich Musik. Sanft ist die allerdings nicht immer. Sprache sehr dicht und bildreich zu weben, auch einem Erzähltext diese musikalisch-lyrische Intensität zu geben, war schon immer mein Ding. Ich feile sehr viel an den Sätzen, justiere, so wie man ein Instrument stimmt. Was dabei vielleicht hilft, ist meine Synästhesie, Wörter sind für mich beinahe wie physische Gegenstände, die Farbe, Klang, Licht, Textur und ähnliche Eigenschaften haben können.

Auf Seite 185 schnüren Sie Ihre Geschichte an einen Fall in einer Ortschaft Markheim, die es nicht gibt, einen Ort, wo sich laut regionaler Presse die Männer mit Stieren anlegen, einer «Torerostadt». Liegt in einer ähnlichen Meldung die Initialgeschichte? Oder was veranlasste Sie, diesen Roman so zu erzählen?
Nein, es gab keine reale Zeitungsnachricht dieser Art. Vielmehr war es die Beziehung zwischen Henry und Joe, aus der sich der Roman entwickelt hat. Der knapp vierzigjährige Verkaufsleiter einer Biolimonadenfirma ist in der Midlife Crisis und trifft das fünfzehnjährige, aufrührerische Gärtnerlehrlingsmädchen. Zwei sehr unterschiedliche Menschen, die allerdings beide im bisherigen Leben enttäuscht wurden, und nun einen Ausbruch hinein in das Leben eines fremden Menschen wagen.

Sie machen es der Leserin oder dem Leser nicht wirklich leicht. Sie springen von Ort zu Ort, von Zeit zu Zeit. Und trotzdem hatte ich nie das Gefühl, etwas zu versäumen, weil immer die Sprache im Vordergrund stand, die Freude darüber, wie da eine junge Autorin fabuliert und zaubert. Hatten Sie einen Plan? Gab es Vorbilder?
Vorbilder kann ich keine nennen. Aber einen Plan hatte ich definitiv. Das ganze Buch ist so aufgebaut, dass langsam und von mehreren Seiten zugleich die Frage gelüftet wird, was zwischen Henry und Joe eigentlich geschehen ist und ob diese beiden Menschen eine Zukunft haben. Stück für Stück lernt der Leser beide Figuren, ihre Lebensumstände, Träume und Probleme kennen und verfolgt, wo ihre Geschichte die beiden hinführt. Das Ganze kulminiert in einer rätselhaften, geradezu überirdischen Erfahrung, die Henry und Joe miteinander verstrickt, und am Ende gibt es eine Auflösung. So viel zur Form. Inhaltlich möchte ich natürlich nicht zu viel verraten.

Fee Katrin Kanzler, 1981 geboren, studierte Philosophie und Anglistik in Tübingen und Stockholm. Sie war Stipendiatin des Klagenfurter Literaturkurses, erhielt den Förderpreis für Literatur der Stadt Ulm und das Jahresstipendium für Literatur vom Land Baden-Württemberg. Sie lebt im Süden Deutschlands. Ihr Romandebüt «Die Schüchternheit der Pflaume» (FVA 2012) wurde für den aspekte-Literaturpreis des ZDF nominiert.

Webseite der Autorin

Florjan Lipuš „Ich schreibe, um mich selbst zu retten.“

Über dem Kärntner Jauntal direkt am Waldrand über der 200Seelen-Ortschaft Sele/Sielach wohnen Maria und Florjan Lipuš. Florjan Lipuš ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Ich besuchte den 80jährigen zusammen mit meiner Frau und staunte über die Zartheit dieses grossen Schriftstellers.

2012 erschien bei Suhrkamp eine Neuauflage des 2003 auf slowenisch erschienenen Romans „Boštjans Flug“ mit einem Nachwort von Peter Handke. Nicht erst damals war mir Florjan Lipuš ein Begriff. Aber seitdem nehme ich mir bei jedem Besuch im Geburtsort meiner Frau nicht weit von dem des Schriftstellers vor, diesen zu besuchen. Aber Florjan Lipuš ist in keinem Telefonverzeichnis zu finden, keine Adresse, im Netz bloss wage Angaben zu seinem Wohnort. Das soll wohl so sein. Florjan Lipuš liebt nichts mehr als die Stille. Also klingelten wir an der Haustür einer Familie Lipuš, an einer Tür zu einem Haus mit grossem Garten. So wie mir mein Schwager, der nicht weit von dem Haus Felder bewirtschaftet, riet. Meine Frau mit einer Tasche, ich mit einem Bündel Bücher unter dem Arm. Kein Wunder war die Frau, die uns öffnete misstrauisch. Ich an ihrer Stelle hätte Zeugen Jehowas vermutet.

Florjan Lipuš, ein grosser, stiller Schreiber, Dichter und Denker, der nirgendwo sonst leben könnte als an diesem ruhigen Ort zwischen Karawanken und Drautal. Jenem Gebiet, das wegen seiner Zweisprachigkeit Deutsch/Slowenisch wie kaum eine andere Gegend in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten geriet. 1937 kam Florjan Lipuš dort zur Welt, ein Kärntner Slowene. „Kärnten ist das einzige Land in Europa, das sich vor einer Sprache fürchtet.“

Florjan Lipuš schrieb Romane und Erzählungen. Sein erster Roman „Der Zögling Tjaž“ (Zmote dijaka Tjaža, 1972) wurde 1981 übersetzt von Helga Mračnikar und Peter Handke, mit dem er gemeinsam ein kirchliches Gymnasium besuchte. Alle Texte Florjan Lipuš drehen sich um seine Heimat, ohne dass er ein Heimatschriftsteller geworden wäre. Niemand schreibt schärfer als er über ein Land „am Arsch der Welt“, im Würgegriff von Zwängen und Normen. Es sind Bilder seiner Kindheit und Jugend, die ihn noch immer drangsalieren, die Verschleppung und den Mord an seiner Mutter 1943 durch die Gestapo, das Zürückgelassensein, die Lieblosigkeit. Lipuš, Sohn einer Magd und eines Knechts misstraut den Menschen, misstraut sich selbst, seinem Glück und erst recht dem Leben als „Künstler“. Seit mehr als 50 Jahren schreibt der Dichter in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses mit Bleistift. Lipuš, der nichts so sehr verabscheut wie Oberflächlichkeit. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde; ich schreibe um gelesen zu werden. Ich schreibe, um mich selbst zu retten. Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück umgebracht wurde, weil man ihr durch eine hinterhältige Falle unterstellen konnte, mit Partisanen zu sympathisieren, dessen Vater bei der Wehrmacht war und der nach dem Tod seiner Mutter allein mit seinem kleinen Bruder im Haus zurückblieb, schreibt gegen das Trauma seiner Kindheit. Er kämpft gegen das Vergessen, das Vergessen von Geschichte. Er schreibt gegen den Schmerz, gegen das Vergessen unter dem tonnenschweren Gewicht einer Jahrhundertkatastrophe. Lesen Sie „Boštjans Flug“ in der wunderschonen Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag, übersetzt von Johann Strutz! Die Zartheit in seiner Person spiegelt sich in der Zartheit seiner Bilder und Sprache.

Auf literaturblatt.ch erscheint bald eine Besprechung zu seinem bei Jung und Jung erschienen Roman «Seelenruhig».

Charles Lewinsky «Der Wille des Volkes», Nagel & Kimche

«Melnitz» von Charles Lewisnky, der 2006 erschien oder auch seine späteren Romane – alles Meisterwerke, souverän erzählt, akribisch recherchiert und intelligent konstruiert. Jedes Mal Grund genug, um sich auf einen neuen Lewinsky zu freuen. Nur dieses eine Mal kommt keine Freude auf. Nicht nur, weil «Der Wille des Volkes» ein Krimi ist. Warum ich das Buch trotzdem zu Ende las? Ich musste.

Der pensionierte Journalist Kurt Weilemann, der sich selbst einen alten Sack schimpft, trifft sich im Park, wo man mit grossen Figuren Schach spielt, mit seinem ebenfalls in die Jahre gekommenen Journalistenkollegen Derendinger. Derendinger bat um dieses Treffen. Erst wartet Weilemann, bis Derendinger wie aus dem Nichts auftaucht und von Dingen spricht, die Weilemann nur schwer in Zusammenhänge einordnen kann. Kaum da, verschwindet Derendinger wieder, um zwei Stunden später tot in der Limmat zu liegen. Angeblich vom Lindenpark gesprungen, obwohl selbst ein Spitzensportler die Distanz vom Ufer bis zur Limmat mit einem einzigen Satz nicht hätte überwinden können. Selbstmord, wird von der Presse berichtet. Als sich auch noch eine geheimnisvolle jüngere Frau bei Weilemann meldet und diesen bittet, das zu tun, was die Polizei nicht tun will, ist Weilemanns Drang nicht mehr zu bremsen. Erst recht nicht, weil alles in diesem Land auf den Tod des grossen Wille wartet, des grossen Demokraten. Erst recht nicht, weil Weilemann im Laufe seiner Ermittlungen auch im Vorzimmer seines Sohnes sitzt und er diesen verdächtigt, mit dem grossen Filz des Landes unter einer Decke zu stecken. Erst recht nicht, weil er auf ein Buch stösst, das ein Verbrechen vorwegnimmt, dass die herrschende Volkspartei und ihren sterbenden Führer in arge Bedrängnis führen könnte. Und erst recht nicht, weil jene junge Frau, die sich als seine Vertraute gibt, im alten Weilemann Gefühle weckt, die tot zu sein schienen.
Ein Krimi; es gibt Tote, die Handlung ist ein durchdacht inszeniertes Verwirrspiel, es gibt Gute und Böse… Charles Lewinsky verortet den Krimi in Zürich, allerdings in naher Zukunft, klug und witzig. Weilemann ist ein schrulliger Alter, ein aus der Zeit gefallener, ein einsamer, alter Fährtenleser, umgeben von Apparatschiks, einer feindseelig, entseelten Gegenwart.

Und trotzdem. Ich mag «Der Wille des Volkes» nicht. Lewinskys mit Abstand schwächstes Buch. Dabei hätte ich dem literarischen Tausendsassa durchaus zugetraut, mich mit einem Krimi aus den Socken zu hauen. Aber die Geschichte ist dünn, langfädig, ohne Salz und Pfeffer. Die Figur des einsamen Ermittlers auf den Spuren eines grossen Verbrechens ist mager, schafft es nicht, lebendig zu werden. Konflikte wie jenen von Kurt Weilemann mit seinem Sohn, der sich mit dem Establishment der Politik arrangiert, sind zahn- und fantasielos. Nicht dass literweise Blut fliessen, Skandale aufgedeckt werden müssten. Aber diese Geschichte ist blutleer. Die Chance eines literarischen Grossmeisters, dem Establishment einen Spiegel vorzuhalten, vergeben.

Charles Lewinsky schreibt gut, kann viel. Der schnoddrige Erzählton passt zum schnoddrigen Weilemann. Lewinsky teilt auch aus, kritisiert unverblümt vieles in jener nahen Zukunft, dass man unschwer auch in der Gegenwart erkennt. Da schwingt Lust mit. Selbst im grossen Wille, der sterbend in einem Spital mit allerlei Schläuchen am Leben gehalten wird, ist offensichtlich ein schweizer Politriese der Gegenwart zu erkennen.
Aber all das genügt nicht. Die Geschichte läuft sich zu Tode. Es fehlt das Feuer(werk).

Lesen sie lieber Charles Lewinskys kolossalen Roman „Andersen“. Die Geschichte eines Folterchefs, dem die Fähigkeit zur Empathie gänzlich fehlt. Ein Fehlen, dass diesen zum Meister macht. Andersen ist Geburtshelfer der Wahrheit, weil die Wahrheit stets Last ist, die man mit sich herumträgt und doch viel lieber los sein will. Es sei viel interessanter, eine Figur zu erfinden, die weit von ihm entfernt sei, meinte der Autor. Der Roman wurde zu einer Versuchsanordnung mit der Frage: Wenn es frühere Leben gibt, was wäre, wenn man sich an sie erinnern würde? Das Böse aus der Geisterbahnperspektive ist interessanter als das Gute. Lewinsky spielt in diesem überraschenden Roman mit Bildern, mit dem Schauer des Bösen. „Ganz im Gegensatz zu allen anderen Büchern, die ich schrieb, war die Figur dieses Romans mit einem Mal da und zwang mich zu schreiben. Und mit dem Schreiben entwickelte sich die Geschichte, die keine Botschaft haben muss, beim Leser aber etwas auslösen soll. Was, das kann ich nicht bestimmen, nur hoffen, das es passiert.“ Ein ungeheuer gutes Buch, mit dem Charles Lewinsky es 2016 verdient hätte, den Schweizer Buchpreis zu gewinnen!

Charles Lewinsky wurde 1946 in Zürich geboren. Er arbeitete als Dramaturg, Regisseur und Redaktor. Er schreibt Hörspiele, Romane und Theaterstücke und verfasste über 1000 TV-Shows und Drehbücher, etwa für den Film „Ein ganz gewöhnlicher Jude“, (Hauptdarsteller Ben Becker, ARD 2005). Für den Roman „Johannistag“ wurde er mit dem Schillerpreis der Zürcher Kantonalbank ausgezeichnet. Sein Roman „Melnitz“ wurde in zehn Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, u.a. in China als Bester deutscher Roman 2006, in Frankreich als Bester ausländischer Roman 2008. Lewinskys jüngsten Romane wurden für die bedeutendsten deutschsprachigen Buchpreise nominiert: „Gerron“ für den Schweizer Buchpreis 2011, „Kastelau“ für den Deutschen Buchpreis 2014 und „Andersen“ für den Schweizer Buchpreis 2016.

Webauftritt Charles Lewinsky

Titelfoto: Sandra Kottonau

Tim Krohn «Bäcker am Ofenpass»

Der Ofenpass ist beliebt bei Jungs mit schweren Maschinen. Na ja, nicht nur der Ofenpass, der ist nur einer von vierzig Passstrassen im Umkreis von hundertfünfzig Kilometern, und sommers jagen die Jungs (Was heisst Jungs, das Durchschnittsalter liegt bei 70.) dort gern Rekorde. Deshalb wollte Hein, als er vor einigen Jahren auf der Höhe des Ofenpasses kurz austreten musste, dafür auch nicht extra ins Restaurant, sondern querte, nachdem er die Maschine geparkt hatte, nur eben die Strasse, um sich ins Gebüsch zu schlagen. Dort treffen allerdings gleich so einige Wanderwege zusammen, entsprechend gross war das Geläuf. Während Heins Not immer grösser wurde, folgte er dem dünnsten Weglein und hoffte, recht bald zu einem ungestörten Plätzchen zu kommen. Sein Problem war, dass inzwischen ein grosses Geschäft rief, das hiess den Overall ausziehen, und sowas macht man macht man doch lieber im Privaten.
Nachdem er eine ganze Weile dem Schafsberg entlang gegangen war, entdeckte er in der Bergflanke eine Höhle, die er auch gleich eroberte. Mit herrlichem Blick über die Bündner Alpen gab er seinem Drang nach. Doch schlagartig wurde er dabei todmüde, schlief ein und wachte erst in tiefer Nacht wieder auf.
Es war kalt – er kauerte noch immer mit barem Hinterteil an einen Felsvorsprung gelehnt –, und aus dem Berg vernahm er ein Rumoren. Während er sich noch bemühte, die steifen Glieder zu strecken, sah er sich plötzlich von weissen, matt aus sich heraus leuchtenden Gestalten umringt, Bäckergesellen offenbar. Da blieb er doch lieber hocken und hoffte, dass sie ihn übersahen.
Das schienen sie auch zu tun.„Was backen wir heute?“, fragte der eine die anderen.
„Schaiblettas“, schlug der zweite vor.
„Wer heizt den Ofen ein?“, fragte wieder der erste.
Der ist schon heiss“, stellte der dritte fest, „ich muss ihn nur noch öffnen.“ Und während er das sagte, schlug er dem Hein mit einer Brotschaufel ganz unspektakulär die Schädeldecke ab. Jetzt konnte Hein sich überhaupt nicht mehr regen, selbst wenn er gewollt hätte. Und offenbar glomm in seinem Schädel wirklich eine Glut, denn seit jenem Schlag war die Höhle in mattes, rotes Licht getaucht. Er musste mit ansehen, wie die Gesellen in einer Vertifung im Fels, einer Art Wanne, Mehl, Zucker, Eier und Nüsse, dass es nur so stob, dann formten sie daraus Plätzchen und backten sie dort, wo Heins Hirn sitzen musste.
Das ging hurtig, und der Anblick hatte auch einen gewissen Zauber. Kurz vergass Hein tatsächlich, wie es um ihn stand, stellte wiederum der erste der Gesellen fest: „Genug gebacken für heute. Wer schliesst den Ofen?“
„Ich“, sagte der dritte, schlug Hein – klack! – die Schädeldecke zu, und im selben Augenblick waren sie verschwunden.
Hein wartete noch eine Weile, dann regte er sich behutsam, tastete den Schädel ab, der zu seiner grossen Erleichterung doch heil schien und sah sich um, im Licht des Feuerzeugs. Die Kekse schienen die Gesellen mitgenommen zu haben, das bedauerte er etwas. Doch dann entdeckte er, dass von seinem Geschäft ein warmer Schimmer ausging: ganz offensichtlich war es vergoldet!
Da nun sein Schädel doch tüchtig brummte, kroch Hein kurz aus der Höhle, um sich tüchtig strecken zu können. Dabei sah er, dass die Gegend dicht verscheit war, und noch immer fielen Flöcklein, fein wie Mehlstaub.
Er robbte zurück, schob sein vergoldetes Geschäft in die Tasche und suchte den Rückweg. Der Schnee leuchtete so hell in der Nacht, dass er den Weg gut fand.
Und weil ihm nicht danach war, mit seiner Suzuki 600 auf einer verschneiten Strasse zu fahren, klopfte er den Wirt der Herberge aus dem Schlaf, der schob ihn unkompliziert ins Massenlager ab. Hein war noch ganz aus dem Häuschen, und als er einen entdeckte, der offensichtlich schlaflos lag, ging er zu ihm und erzählte die aufregende Geschichte. Natürlich zeigte er auch sein vergoldetes Geschäft.
„Wenn das massiv ist, bist du ein gemachter Mann“, sagte der andere, nachdem er das Geschäft in der Hand gewogen hatte.
Daran hatte Hein noch gar nicht gedacht. Er schlug den goldenen Klumpen übers Knie, um zu sehen, was geschah. es zerbrach, und dabei zeigte sich leider, dass es doch nur vergoldet war. Die Stücke rollten unter die Pritschen, es stank gehörig, der andere schimpfte ihn einen Idioten und schlug auf ihn ein, und darüber wieder erwachten die anderen. Zuletzt prügelten sie ihn gemeinsam aus dem Schlafsaal. Das Ende vom Lied war, dass Hein von da an keine Pässe mehr fahren konnte, sein Hirn blieb überaus empfindlich – sei’s von den Schlägen oder den Ereignissen in der Höhle –, der kleinste Höhenunterschied war schmerzhaft. Liftfahren ging gerade noch.
„Und was lernst du daraus?“, fragte seine Freundin, als er heimkam?
„Was soll ich daraus lernen?“, fragte er zurück. „Von nun an gehe ich eben aufs Klo.“ Aber vor allem ärgerte er sich, dass er sein Geschäft nicht einem Museum übergeben hatte, denn in den kommenden Jahren las er immer wieder von Künstlern, die mit Kacke berühmt geworden waren.

Tim Krohn, geboren 1965, lebt als freier Schriftsteller in Santa Maria Val Müstair. Seine Romane «Quatemberkinder» und «Vrenelis Gärtli» machten ihn berühmt. 2015 veröffentlichte Tim Krohn bei Galiani den hochgelobten Erzählband «Nachts in Vals». Der Auftaktband des ›Menschliche Regungen‹-Projekts «Herr Brechbühl sucht eine Katze» war wochenlang in den Schweizer Bestsellerlisten. Zuletzt erschien der zweite Band «Erich Wyss übt den freien Fall».

Georg M. Oswald «Alle, die du liebst», Piper

Das braucht es! Romane wie «Alle, die du liebst», die einen Lesesonntag zu einem wirklich guten Tag werden lassen. Perfekte Unterhaltung, Spannung bis zur letzten Seite, ein Plot, der mit Aktualität fest verknüpft ist, eine Sprache, die scharf zeichnet und das Gefühl, dass die Geschichte etwas mit meinem Leben zu tun hat.

So wie Hartmut Wilke im Roman ist Georg M. Oswald Anwalt. Beide sind über 50 und erfolgreich. Hartmut Wilke als Anwalt in Steuerfragen, Georg M. Oswald seit zwei Jahrzehnten als Schriftsteller verschiedenster Genres. Sonst allerdings hoffe ich für den Autor, dass sich die Gemeinsamkeiten damit eingrenzen lassen. Hartmut Wilkes Leben ist aus den Fugen geraten. Die Liebe seines Lebens hat sich von ihm getrennt und führt einen gnadenlosen Scheidungskrieg. Zu seinen drei erwachsenen Kindern hat er den Draht verloren. Jenen zu seinem ältesten Sohn Erik schon lange. Seine um zwei Jahrzehnte jüngere Freundin Ines lässt ihn zweifeln, was die Gründe ihrer Beziehung sein könnten. Und von seiner Kanzlei erhält er einen Anruf, der ihn in die ehrgeizigen «Klauen» einer jungen, aufstrebenden Staatsanwältin in Sachen Steuerbetrug treiben soll. Sein Erfolg, seine Reputation, sein Haus, das grosse Auto und die siebenstellige Knautschzone auf der Bank; nichts hilft mehr, den freien Fall des erfolgsgewohnten Anwalts aufzuhalten.

Als Erik, der älterste Sohn, jener, der kein Ding zu einem guten Ende zu bringen schien, ihn vor Jahren um Geld bat, um an der kenianischen Küste eine Bar zu kaufen, schlug Hartmut die Bitte seines Sohnes in den Wind. Es war für beide das letzte Kapitel einer langen Kette von Enttäuschungen und für beide Grund genug, den Kontakt sterben zu lassen. Bis das Drängen seiner Freundin Ines und die Reise nach Kenia Gründe genug waren, den heimischen Schlamassel zurückzulassen und wenigstens zu Erik zurückzufinden. Hartmut und Ines reisen trotz Warnungen des Auswärtigen Amtes nach Kenia auf Kiani Island im Indischen Ozean. Ein Ort, der trotz seines paradisischen Aussehens nicht darüber hinwegtäuschen kann, dass er im Würgegriff verfeindeter Warlords und einer korrupten Polizei ist. Eine Reise vom Regen in die Traufe.

Die Welt ist voller Siegertypen, denen stets der Erfolg Recht gibt, die nichts und niemanden zu hinterfragen brauchen, am wenigsten sich selbst. Die erste, die Hartmut von seinem Thron stürzt, ist Carla, seine Frau. Als sie erfährt, dass ihr Mann seine Libido auf eine wesentlich Jüngere aus seiner Kanzlei richtet und sie schamlos belügt, setzt sie ihn nicht nur vor die Tür, sondern kündigt an, ihn förmlich auszuweiden. Was einst die Liebe seines Lebens war, hatte er verraten. Nichts und niemand scheint ihn mehr vor den Verwüstungen eines Ehe- und Berufskriegs zu schützen.

Hartmut und Ines reisen nach Kenia. Erik erwartet sie nach einer beschwerlichen Reise in seinem noblen Zuhause, einem Ferien- und Fluchtressort im Meer für Reiche und reiche Flüchtlinge. Schon am ersten Tag, als ein ganzes Hotel auf einen Mister Jack zu warten scheint, einen gefallenen Anwalt, der sich auf der Insel durch Beziehungen und Geld unentbehrlich machte und dem es zu huldigen gilt, macht sich Unbehagen breit. Was ungut beginnt, potenziert sich in seiner Unberechenbarkeit. Alles scheint sich dem «deutschen» Verständnis von Recht und Ordnung zu entziehen. Nichts ist so, wie es sich Hartmut erhofft. Auch vor paradiesischer Kulisse reissen die Ankerketten, die Ereignisse überstürzen sich. Endgültig, als auf der Insel geschossen wird. Was als Versöhnungsreise begonnen hatte, wird zur wilden Konfrontation zweier Welten, die gegensätzlicher nicht sein könnten.

Georg M. Oswald spielt geschickt mit Spannung, unerwarteten Wendungen, den Hoffnungen des Lesers und dem Reiz, seinen Protagonisten in ein immer grösser werdendes Desaster fallen zu lassen, ohne je die Bodenhaftung zur Realität zu verlieren. Spannungsliteratur mit Niveau!

Georg M. Oswald, geboren 1963, arbeitet seit 1994 als Rechtsanwalt in München. Seine Romane und Erzählungen zeigen ihn als gesellschaftskritischen Schriftsteller, sein erfolgreichster Roman »Alles was zählt«, ist mit dem International Prize ausgezeichnet und in zehn Sprachen übersetzt worden. Zuletzt erschienen von ihm der Roman »Vom Geist der Gesetze« und der Band »Wie war dein Tag, Schatz?«.

Rolf Hermann «Das Leben ist ein Steilhang», Der gesunde Menschenversand

Nichts und niemand repräsentiert in der aktuellen Literaturszene der Schweiz die neuen Kräfte besser und beeindruckender als die Reihe «edition spoken script» vom Luzerner Verlag «Der gesunde Menschenversand». Guy Krneta, Jens Nielsen, Pedro Lenz, Michael Fehr, Nora Gomringer, Ariane von Graffenried und viele andere, darunter auch der Walliser Gebirgspoet Rolf Hermann.

Bei all den Veröffentlichungen unter dieser Reihe war zuerst das mündliche Erzählen, die Performance auf der Bühne, die Prüfung vor dem Publikum, erst dann das Buch. Und was bisher bis zum Band 23 gewachsen ist, macht sich nicht nur im Bücherregal ausgesprochen gut!
Rolf Hermanns Texte sind skurrile Steilvorlagen. Seine Protagonisten, die Walliser, von denen fast alle Texte im Band «Das Leben ist ein Steilhang» erzählen, erleiden stoisch und mit Gelassenheit, allem gegenüber mit einer ordentlichen Portion Hilflosigkeit, was an den steilen Felshängen der Walliser Täler entspringt.
Es sind Geschichten um ein Tal, ein Volk, seine Familie, eine Sippe, die ihren Anfang vor 200 Jahren in diesem Tal hart verdienen mussten. Rolf Hermanns „Urahne“, zugezogen aus dem Üsserwallis, versuchte sich ein Leben lang als Fremder zu integrieren. 50 Jahre lag bat dieser vergeblich um Einbürgerung, die ihm erst mit 72 zugesprochen wurde, weil man dachte, er würde es wohl eh nicht mehr lange machen. Weit gefehlt. Neun Monate später gab es einen Nachfahren, der der erste sein sollte in einem langen Fächer einer Sippe, die Rolf Hermann zum «Einheimischen» machte.

Rolf Hermann fabuliert ums Fremdsein, sein Zuhause, die schrulligen Alten, die es im Jetzt kaum mehr zu geben scheint (mit Sicherheit aber in den Walliser Tälern!). Träfe Texte, die triefen. Hymnen über Nachbarn, die liebsten Feinde!
Rolf Hermann verklärt nie, reisst dafür umso mehr auf, lässt tief blicken in die Risse der Gesellschaft. Texte, die glücklicherweise nicht einfach nach Pointen jagen.

Zusammen mit den sphärischen (in keiner Weise esoterisch gemeint) Klängen des Gitarristen Oli Hartung war die Performance auf der Bühne der Hauptpost St. Gallen wie ein Roadtrip durch das sonnenverbrannte Wallis, eine glühend aufgeheizte Landschaft. Eine saloppe Fahrt mit dem offenen Cadillac, im Gepäck eine Jagdflinte, vorbei an rot gefärbtem Gras, dramatischen Bildern und scharfen, kantigen Felsen, die den Zuhörer zu ritzen scheinen.

Soll ich mir das antun? In Walliser Dialekt geschrieben, einer Sprache, von der ich kaum ein Wort verstehe, wenn zwei Einheimische miteinander sprechen? Sollt man? Ja, unbedingt! Viele Texte im Buch sind von Ursina Greuel ins Deutsche übertragen – und alle anderen Texte, die ursprünglich bleiben, schaffen es trotzdem, ihre Wirkung zu entfalten. Es sind mehr als Texte! Es ist Sound, Musik, uriger Walliser Groove!

Ä bsundri Gaab
Där Maa va miinär Groostanta, där Schüül, isch mit du Jaaru immär gliichgültigär cho. Am Ässtisch zum Biischpil hätt är schich jädäd Maal hinnär därä grppssu Zitig värschanzt und alläs schtillschwiigund gässu, waa mu miini Groosstanta vorgsäzzt hätt. Äsoo cha das nit wiitärgaa, hätt miini Groosstanta gideicht und dum Schüül nummu no Chazzufüettär üffgitischt. Abär nit ämaal das hätt där Schüül gmärkt. Är hätt eifach wiitärgässu, und zwar äsoo lang, bis miini Groosstanata iru Schüül niimä va irär Chazz hätt chännu unnärscheidu. Und will miini Groosstanta schoo immär di bsundri GAab hätt ka, übärall nummu ds Güeta z gsee, hätt schi schich vor allum gfreibt, dass schi jäzz äsoo nä blizzgschiidi Chazz hätt.

Eine besondere Gabe
Jules, der Mann meiner Grosstante, wurde mit den Jahren immer gleichgültiger. Am Esstisch zum Beispiel verschanzte er sich jedes Mal hinter einer grossen Zeitung und ass stillschweigend alles, was ihm meine Grosstante vorsetzte. So kann das nicht weitergehen, , dachte meine Grosstante und tischte Jules nur noch Katzenfutter auf. Aber auch das merkte Jules nicht. Er ass einfach weiter, und zwar so lange, bis meine Grosstante ihren Jules nicht mehr von ihrer Katze unterscheiden konnte. Und weil meine Grosstante schon immer die Gabe hatte, überall nur das Gute zu sehen, freute sie sich vor allem darüber, dass sie jetzt eine so blitzgescheite Katze hatte.

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium in Fribourg und Iowa, USA, verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo «Die Gebirgspoeten». Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit einem Literaturpreis des Kantons Bern (2015).

Ida Hegazi Høyer «Das schwarze Paradies», Residenz

Dr. Ritter gab es wirklich! Er verliess 1929 Deutschland, hatte das Grossstadtleben satt, die Enge und den Lärm. 1000 km vor der südamerikanischen Küste auf der vulkanischen Insel Floreana liess er sich absetzen. Eine unbewohnte Insel, die zu den Galapagos zählt, mitten im Pazifik, ein vermeintliches Paradies.

Schon vor 90 Jahren war es der Traum vieler auszusteigen. Alles abstreifen, allen Mief, alles Erstarrte, alle Korsetts. Damals der Traum von der unbewohnten Insel, heute noch immer, auch wenn die Distanzen nicht mehr so unüberbrückbar scheinen, ausser man meldet sich für eine Mission auf den Mars.

Ida Hegazi Høyer stiess bei einer Reise auf die Galapagos-Inseln auf die Geschichte des abenteuerlichen Misanthropen Dr. Friedrich Ritter. Eine Geschichte, die die Autorin fesselte, weit über das hinaus, was sich wirklich zugetragen hatte. Ida Hegazi Høyer behauptet mit Recht, dass die Geschichte universell zu lesen ist. Eine Geschichte darüber, wie sehr die Sehnsucht einen Traum über die Wahrheit hinausträgt, wie weit die Wirklichkeit dem Traum hinterherhinkt und wie sehr sich der Mensch anzupassen weiss, wenn die Schere zwischen Traum und Wirklichkeit immer weiter auseinander klafft.

Im Roman heisst der Aussteiger und Aussiedler Dr. Carlo Ritter. Er hatte genug, wollte weg, wollte auf eine einsame Insel, nur noch vegetarisch leben und dabei 140 Jahre alt werden. Das würde durch ihn und sein ausserordentliches Leben bewiesen werden. Mit 345 kg Gepäck; Zucker, Tabak, Werkzeug, Textilien, Hausrat, Lebensmittel, Saatgut, Büchern, Schreibutensilien, einem Stück Seife und einem Stahlgebiss. Am schwarzen Strand der Insel zurückgelassen entledigte er sich zuallererst seiner Kleidung. Er ist nackt und endlich allein.
Aber schon die ersten Tage werden zum Debakel. Tiere fressen seinen Reis, lassen sich nicht vertreiben. Auf der Insel hat kein Tier Angst vor dem zweibeinigen Wesen. Ritter findet keinen geeigneten Unterschlupf. Alles wird nass. Er, der als Krönung der Schöpfung auf der Insel über sich selbst und die verkommene Welt triumphieren wollte, fühlt sich als Nichts, ohne Zuschauer, völlig deplatziert, von der Natur verhöhnt und dem Wahnsinn näher als dem Paradies. Er scheitert kläglich, seine 345 kg Zivilisation in Sicherheit zu bringen. Er scheitert am Versuch, Pflanzen zur Selbstversorgung anzubauen (ausser Tomaten). Er scheitert an der Absicht, auf der Insel als Vegetarier zu leben, bis ihn der Hunger zwingt, Spatzen zu essen.

Ritter schreibt Berichte. Was er schreibt, hat mit der erlebten Wirklichkeit auf der Insel allerdings wenig gemein. Und weil die Berichte von der Insel verschwinden und als Reportagen in Europas Zeitungen erscheinen, macht sich ein Jahr später ein junges Ehepaar auf die Reise zur gepriesenen Insel. Heinzel Wittermann und seine schwermütige und schwangere Ehefrau Marie. Die Naivität der jungen Leute steht der des einstigen Auswanderers Dr. Ritter in nichts nach. Auch sie wollten an ein Paradies glauben, daran, dass nun endlich alles so werde wie in den wunderbaren Schilderungen Dr. Ritters.
Und als noch ein paar Monate später eine Baroness mit ihren Männern ihre Ankunft auf der Insel inszeniert und sich zur Königin und Herrscherin über das Eiland ausruft, beginnen die Magmakammern des menschlichen Gefüges auf der Vulkaninsel zu bersten.

Ida Hegazi Høyer blickt mit den Augen der Siedler auf die Zeichen und Auswirkungen des Geschehens. Auf der Bühne dieser kleinen Insel, die Sprache der Insel selbst, die so ganz anders tickt als das Vorstellbare. Ida Hegazi Høyer ist nicht interessiert an langen, durcherzählten Handlungssträngen, sondern an den vielen Augenblicken, in denen die Insel die Siedler auf ihre Plätze verweist. Sie spielt mit den Urtypen der Gesellschaft; dem totalen Individualisten, der Führerin, den Willenlosen und der Familie, dem kleistmöglichen «Staat». Ein Roman aus der Wirklichkeit, wie eine grosse Versuchsanordnung. So wie die Anordnung auf der Insel 1000 km vor dem Festland Versuche einer Neugestaltung von Gesellschaft waren, so ist das Buch das Mikroskop mit dem Brennpunkt mitten im unglückseeligen Geschehen. Ida Hegazi Høyer erzählt nicht einfach nach, bläht die Fakten mit etwas Fantasie auf zu einer unterhaltsamen Geschichte. «Die schwarze Insel» ist sprachlich opulent, überschäumend und sinnlich erzählt. Sätze von unglaublicher Kraft. Sätze, die mehr als abbilden und wiedergeben, sondern mit der Resonanz in mir sämtliche Sinne erfassen, die Haut kräuseln lassen. Fantastisch wahr!

Ida Hegazi Høyer, geboren 1981 auf den Lofoten im nördlichen Norwegen, stammt aus einer dänisch-ägyptischen Familie und lebt in Oslo. Ihr Debütroman „Under verden“ erschien 2012, seitdem hat sie vier weitere Romane veröffentlicht. Für ihren dritten Roman „Unnskyld“ (2014) erhielt sie den Literaturpreis der Europäischen Union 2015, im selben Jahr zählte sie das Morgenbladet zu den zehn besten norwegischen Autoren unter 35. „Das schwarze Paradies“ (orig.: „Fortellingen om øde“) erschien 2015 und stand wochenlang auf allen nationalen Bestenlisten. Übersetzt wurde «Die schwarze Insel» von Alexander Sitzmann.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Wie magisch war „Magischer Realismus“ in Zürich wirklich?

„Zürich liest 2017“
Eine Überfülle an Literatur in Zürich? Spüre ich etwas davon, dass „Zürch liest“, wenn ich aus dem Zug in Zürich steige? Vielleicht müsste ich randalieren, einen Zug per Notbremse zum Halten zwingen, ein Riesenaufgebot an Polizei provozieren, so wie beim Risikofussballspiel zwischen Basel und Zürich. Müsste geschriebene Kunst nicht etwas mehr, als gefällig mit Sprache winken? Wo bleibt die Schärfe, der Mut, der Biss in der Spektakelstadt Zürich?

In einem der Flaggschiffe des Zürcher Literaturfestivals „Zürich liest 2017“, im Literaturhaus Zürich, lasen am Samstag Mariana Leky aus ihrem Bestsellerroman „Was man von hier aus sehen kann“ und Sten Nadolny aus „Das Glück des Zauberers“. Beide wurden sie mit ihren Romanen von ihren jeweiligen Moderationen zum „Magischen Realismus“ gezählt, der Verschmelzung von magischer Realität und realer Wirklichkeit. Aber wie magisch war dieser Abend im Literaturhaus Zürich denn wirklich?

Mariana Lekys Roman ist ein Dorfkosmos rund um Selma, die feststellen muss, dass immer, wenn sie nachts von einem Okapi träumt, jemand im Dorf innert 24 Stunden stirbt. Eine scheinbare Tatsache, die ein ganzes Dorf umtreibt. „Schon einmal ein Okapi gesehen?“, fragte die Auorin. „Irgendwie zusammengesetzte Tiere, irgendwie aus bekannten Einzelteilen zu einem neuen, nicht wirklich passendem, zusammengesetzt.“ Das Okapi ist das „Wappentier“ des Romans. So, wie viele die Menschen im Buch in ihren „Einzelteilen“ nicht wirklich zusammenpassen, sieht das Okapi zusammengesetzt aus. Mariana Leky erzählt langsam und genau, verstärkt durch ihre sprachliche Präzision meinen Blick. Sie versteht es, Menschen darzustellen, die langsam und doch mutig sind, etwas, was im realen Leben nicht zusammenzupassen scheint. Mariana Leky erzählt von Luise und ihrer Wunschgrossmutter Selma. Von Eltern, die nie da sind, wenn sie gebraucht werden und über einen grossen Bogen von der 22 Jahre alt gewordenen Luise, die auf der Suche nach ihrem verloren gegangenen Hund Alaska einen 25jährigen buddhistischen Mönch trifft, der zum Mann ihres Lebens wird, sie, die Verstockte, sie, die für einmal die Initiative ergreift. Nicht wie der Optiker im Dorf, der seine Liebe zu Selma, Luises Grossmutter, über Jahrzehnte in einem Bündel Liebesbriefe mit sich herumträgt.
Ergreifende Literatur, wunderbar leicht erzählt. Ein zartes Buch über die wirklich wichtigen Dinge des Lebens. Nur oberflächlich betrachtet Wohlfühlliteratur. Mariana Leky macht im Kleinen Grosses auf. Es passieren durchaus tragische Dinge, aber ohne dass mit der Axt geschwungen wird. Tragik von Komik flankiert. Nicht dass am Schluss alles gut sein müsste. Aber Mariana Lekys Buch tut gut.

Etwas, was Sten Nadolny so nicht gelingen will. Nadolny erzählt in zwölf langen Briefen, die der grosse Zauberer Pahroc seiner Enkelin Mathilde schreibt, von 111 Jahren eines grossen Zaubererlebens und eines schrecklichen Jahrhunderts. Mag sein, dass das „Zauberthema“ arg strapaziert ist und ich als Nadolny-Leser mit jedem Roman des Autors jene absolute Faszination zurückwünsche, die ich seit drei Jahrzehnten seit seinem unübertroffenenen Buch „Entdeckung der Langsamkeit“ erwarte. Sten Nadolny bemüht sich, paart Witz mit Düsternis, Schrecken mit Komik, Magie mit der Grausamkeit von Krieg, Schmerz und Verzweiflung. Sehe ich den mittlerweile über 75 Jahre alt gewordenen auf der Bühne erzählen und funkeln, nimmt er mich noch immer für sich ein. Selbst das mir fremde Thema, das er zu einer Metapher für intelligente, kreative und bewegliche Menschen gesehen haben will, die permanent in der Gefahr seien, zu einer Minderheit zu werden. Heute erst recht, in einer Zeit von Engstirnigkeit und Borniertheit, wo blanker Hass und dumpfer Nationalismus Politik machen. Dem Roman fehlt die Tiefe, vielen Szenen der Atem. Wenn Sie ihn noch nicht gelesen haben, lesen Sie „Die Entdeckung der Langsamkeit“ – epochal!

Magisch waren die beiden Gäste auf der Bühne, magisch und literarisch aber nur der Roman von Mariana Leky.

Und die Magie einer Stadt, die liest? Zürich liest nicht mehr oder weniger als andere Städte, mit oder ohne Literaturfestival. Zürich liest in geschlossenen Räumen, still für sich, alle jenen Recht gebend, die Literatur Eliten und Abgeschotteten zuordnen. Schade.