Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger

Es gibt Geschichten und Stoffe, bei denen man sich wundert, dass sie so lange schlummerten, so lange warten mussten, bis jemand Literatur aus ihnen macht. Was Margrit Schriber mit ihrem Meisterstück „Die Stickerin“ gelungen ist, ist verblüffend und weht den Wind grosser Gefühle und grosser Leidenschaften in meine kleine Lesestube.

Sie sei dem Stoff vor vielen Jahren über den Weg gelaufen. Und auch wenn andere Bücher zuerst geschrieben werden mussten, reifte der Stoff, bis er sich nicht mehr zurückhalten liess“, erzählte Margrit Schriber anlässlich ihrer Buchtaufe im proppenvollen Saal beim Hotel Hofweissbad, unweit von jenem Ort, an dem die Protagonistin Maria Antonia Räss 1893 zur Welt kam. Im Appenzell Innerrhodischen, auf einem kleinen Bauerngut auf dem Wellenhügel, einem niederen Gehöft, in dessen Webkeller die kleine Maria Antonia schon fünfjährig als flinke Fädlerin auffiel, reist die auserwählte Sechzehnjährige als Schaustickerin in die europäischen Metropolen, als eigentliches Exportgut eines Bauernkantons, im Schatten der Stickereimetropole St. Gallen und erobert später aus ihrer Broderie in New York die Haute Couture und den Geldadel des 20. Jahrhunderts.

Margrit Schriber «Maria Antonia Räss. Die Stickerin», Bilger, 2024, 233 Seiten, CHF ca. 35.00, ISBN 978-3-03762-111-0

Die Gegensätze in Margrit Schribers Roman könnten grösser nicht sein: Hier das beschaulich, niedlich scheinende Appenzellerland, dort die Schluchten New Yorks. Hier die düster feuchten Keller im Hof Grüt, dort die mondäne Broderie im Rockefeller Center. Hier der Geruch nach Ziegen und Kuhmilch, dort der müde Kater auf dem Samtkissen. Margrit Schriber leuchtet das Leben der reichen Tante in Amerika nicht aus. Den reichen Teppich aus Fakten und Fiktion bestickt Margrit Schriber gekonnt zu einem Zeugnis des 20. Jahrhunderts, der Geschichte einer Frau, die sich nicht bestimmen lassen will, ausgewandert aus einem Landstrich, indem das Frauenstimmrecht erst nach dem Tod der Protagonistin 1990 von den Männern gnädigst angenommen wurde, eingetaucht in ein Land der Einwanderer, ein Land, das von Kriegen und Weltwirtschaftskrisen gebeutelt wurde.

„Maria Antonia Räss. Die Stickerin“ ist ein Roman von unbändiger Kraft, auch ein Spiegelbild der Autorin selbst, die ein Leben lang mit den traditionellen Einordungen und Zuschreibungen zu kämpfen hatte. MAR, Maria Antonia Räss regierte zu Lebzeiten unangefochten ein Imperium und verschaffte vielen in ihrem Heimatkanton ein sicheres Einkommen. Sie, die es in Übersee schaffte, aus der Namenlosigkeit Bedeutung zu generieren, eine Vertraute Coco Chanels wurde, eine Muse Walt Disneys, inszenierte ihre Besuche im Appenzellerland stets zu grosszügigen Triumpfzügen, bei denen sie im besten Hotel des Ortes Hof hielt. Die kleine Frau, die die Upperclass der Staaten blendete, gab sich im Heimatkanton als Wohltäterin und heimliche Rächerin an den festgefahrenen Strukturen einer patriarchalischen Welt.

Aber Margrit Schribers Intention war kein Denkmal, kein Geschichtsbuch und keine Tellerwäscherinnenbiographie. Margrit Schriber zeichnet ein Porträt einer ewig suchenden Frau. Sei es die Suche nach Anerkennung, nach Liebe und Geborgenheit, nach Sicherheit und Respekt. Maria Antonia Räss bleibt auch nach der Lektüre des Romans ein Rätsel. Eine stellvertretende Geschichte all jener, die sich auf den mühsamen Weg der Selbstbestimmung machten, die den Kampf nicht scheuten, die sich nie entmutigen liessen. „Die Stickerin“ ist die Lebensgeschichte einer Frau, die sich ihren nie gestillten Sehnsüchten stellte, die aufrecht blieb, sich in keine Schublade drängen liess.

Bühne ihres Romans ist der Rathaussaal im Kantonshauptort Appenzell, in dem sich alle rechtmässigen und ungeladenen Sippenmitglieder zur Erbteilung versammeln. Auf einem Tisch im Saal ist alles zusammengetragen; Gerätschaften, Porzellan, Handtaschen, Fotos, Briefbündel und eine vernagelte Kiste Dom Pérignon, alles, was von dem einstigen Riesenvermögen übrig geblieben ist. Ziemlich wenig angesichts dessen, was sich in den Vorstellungen ihrer Verwandtschaft über die Jahrzehnte als scheinbare Tatsache verfestigte. Erstaunlich wenig für ein Leben, das die Protagonistin in ihren späten Jahren mit viel Pomp inszenierte.

Maria Antonia Räss starb 1980 auf einer ihrer Reisen in ihren Heimatkanton. Begraben wurde sie auf dem Friedhof Eggerstanden, neben der Kirche, die ohne ihr Geld nie so hätte erbaut werden können. Margrit Schriber schreibt sich mit „Die Stickerin“ nicht nur ins Selbstbewusstsein eines kleinen, traditionsreichen Kantons. Margrit Schriber schrieb mit „Die Stickerin“ einen fulminanten Roman über den Kampf einer Frau durch die Zeit.

Vielfach faszinierend!

Interview

Was für ein Roman, was für ein Buch, was für eine Geschichte. Ich war an der Bauchtaufe im Hotel Hofweissbad im Kanton Appenzell Innerrhoden, einem Ort, der wie die Geschichte von Maria Antonia Räss die Geschichte des kleinen Kantons im 20. Jahrhundert repräsentiert, einer Geschichte zwischen Monarchie, Diktatur und Demokratie, eine Geschichte der Industrialisierung, der Moderne, einer Geschichte zwischen Tradition und Aufbruch. War dir von Anfang an bewusst, wie viel Potenzial in diesem Stoff steckt?
Zuerst war da nur diese Maria Antonia Räss und ihre exzentrischen Auftritte als Frau von Welt, die mich beeindruckten. Als ich mich in die Kinderarbeit an einer Stickmaschine vertiefte, begriff ich, dass sehr viele Vorhänge aufgezogen werden müssen. Schliesslich waren 100 ereignisreiche Jahre aufzudecken. Ich musste den Einfluss der Geschichte auf eine Region erforschen, die ich überhaupt nicht kannte. Die Wirkung der Zeit auf Menschen mit einem anderen Lebenshintergrund, einer anderen Kultur, einer anderen Melodie von ihrem Wellenhügel. Aber nicht nur das. Ich musste die Gestaltungskraft dieser Menschen und die Anziehung der Welt auf sie ergründen. Ich durfte mich nicht nur mit Landsgemeinde-Berichten, der wechselnden Wirtschaft und der europäischen Geschichte zufrieden geben. Diese Tochter eines Geissenbauern ist nach New York ausgewandert, hat sich dort auf dem allerbesten Platz positioniert, den Stickenden in der Heimat Arbeit verschafft und sich auch nach China orientiert. Mein Stoff war entsprechend aufregend, anspruchsvoll, vielseitig und spannend.

Du hattest nie die Intention, eine Biographie zu schreiben. Und trotzdem hat die Buchtaufe unweit des Geburtsorts der Protagonistin bewiesen, wie sehr Du den Nerv dieser Existenz, dieser Zeit getroffen hast. Du hast ein Stück Stellvertretergeschichte geschrieben. Du hast genau soviel Fiktion miteingeschrieben, in das sonst nur undeutliche Bild einer starken Frau hineingestickt, dass sämtliche BesucherInnen dieser Veranstaltung das Gefühl hatten, Du hättest ein Denkmal gesetzt. Auch ein Denkmal für all die Frauen, die in der Fremde vergessen gingen.
Tatsächlich habe ich mich ohne Nebengedanken oder Berechnung durch meinen Stoff hindurch gearbeitet. Und dies mit einer Leidenschaft sondergleichen. Ich verliebe mich in meine Figuren. Ich langweile mich rasch. Meine Figur muss also so sein, dass ich den Kopf nach ihr drehe und nicht mehr wegschauen kann. Ich verschaffe ihr eine Präsenz, die mich erfüllt. Ich will nicht wissen, dass sie zwischen zwei Buchdeckeln lebt. Sie ist ein Teil von mir. Ihr Leben ergibt für mich einen Sinn.

Maria Antonia Räss reiste als Schaustickerin mit sechzehn in die europäischen Metropolen und mit siebenundzwanzig mit nichts als einem Traum und einer Sticknadel aus englischem Stahl ins Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Ausgerechnet aus einem Kanton, in dem die Frauen ein sonst unscheinbares Dasein in der Familie und im Web- oder Stickkeller führten, mit einer Schiffspassage ohne jeden Luxus, ohne Rückfahrkarte. Eine Reise weit, weit weg von allem, was ihre Welt bisher ausmachte. Dein Roman beschreibt auch eine verwundete Frau, ohne Psychologisierung. War es die Lust an dieser offenen, unbeschriebenen Weite?
Da müsste ich mich selber fragen. Warum schreibe ich? Weil es mir unbekannte Wege öffnet? Weil jedes Buch ein Tanz mit dem Leben auf Probe ist? Das Leben lässt wenig Wahl. Was passiert, das passiert. Das Leben ist immer der Ernstfall. Und es ist kurz. Viel zu kurz. Ein Roman ist die tausendfältige Möglichkeit. Eine offene, unbekannte Weite der Phantasie. Das macht Lust, die Augen zu schliessen und loszuziehen. Die Stickerin benutzte dazu ihre Nadel. Ihr Freund Walt Disney nutzte den Zeichenstift. Ich die Tastatur meines Computers. 

Maria Antonia Räss im Micki-Mouse-Car, mit ziemlicher Sicherheit mit Walt Disney

Maria Antonia Räss hatte einen Traum, den sie mit allen Mitteln Tatsache werden lassen wollte. In vielem entspricht ihre Geschichte auch Deiner Geschichte. Deine Reise war eine in ein männer-dominiertes Literaturestablishment, eine Reise, bei der Du noch immer nicht sicher angekommen scheinst. Der Literaturbetrieb ist wie der Modebetrieb eine Welt der Halbgottheiten. Warum verfallen wir so leicht dem Zwang der Schubladisierung, der Macht der Vorurteile, dem Schein des welt“männ“ischen Gestus?
Es ist, wie Du sagst. Und ist es so wie Du sagst, weil zu viele den Kopf nicht nutzen? Ist man zu oberflächlich? Ist es einfacher, andere denken zu lassen, und sich diese Idee dann als eigenes Etikett weithin sichtbar aufzukleben. Es ist bequem, denn das Urteil ist ja vorhanden. Man kann sich bedienen. Zudem ist die Meinung der Gesellschaft eine Macht, wenn nicht gar ein Gesetz. Das eigene Urteil könnte womöglich Ausschluss von der Gesellschaft bedeuten?   

Die Craisy Woman war im Alter eine Diva, ihre Inszenierung ein Schutzpanzer. Wir inszenieren uns alle. In deinem Roman schimmert eine verletzliche, suchende, leidenschaftliche Frau durch. Dieses Durchscheinende hat aber nichts melodramatisches, nichts exhibitionistisches. Es ist derart zart, fast fluid, dass ich versucht bin zu glauben, dass es gar nicht in Deinem Interesse stand, ein scharfrandiges Bild zu zeichnen. Wolltest du so die Bilder den Lesenden überlassen?
Letztendlich: Was weiss man vom Anderen? Was versteht und begreift man vom Anderen? Der Mensch ist sich selbst ein Rätsel. Will man sich überhaupt bis ins letzte verstehen? Der Wind weht unsere Geheimnisse in alle Richtungen. Und es ist gut so. Ich fand heraus, dass Maria Antonia Räss ihre grosse Liebe zu beklagen hatte. Er war Jude und verschwand in einem Lager. Liebe, Hoffnung, Sehnsucht sind Kräfte, die den Menschen zu Ausserordentlichem bewegen können. Sie geben uns ein Ziel. Ich gestand meiner Figur solche Kräfte zu. Denn was die Crazy Woman erreichte, war ausserordentlich. Woher nahm sie diese Kraft? Für mich war die Antwort klar. Die Sippe von Maria Antonia Räss musste begreifen, dass sie das Leben von der «Der reichen Tante» nie ergründen wird. Daraus ergab sich für mich als Autorin etwas Wunderbares, denn die Verwandten griffen nach tausend Fantasiefäden und machten eine Geschichte daraus.

Margrit Schriber, 1939 in Luzern geboren, lebt in Zofingen und in der Dordogne. Sie arbeitete als Bankangestellte, Werbegrafikerin und Fotomodell, bevor sie Schriftstellerin wurde. Ihr umfangreiches literarisches Werk wurde mehrfach ausgezeichnet, zB. 1977 Einzelwerkpreis der Schweizerischen Schillerstiftung oder 1998 Aargauer Literaturpreis.

Folgende Titel sind auf literaturblatt.ch besprochen: «Das Abenteuer, eine Frau zu sein» (2022), «Die Vielgeliebte meines Mannes» (2020), «Glänzende Aussichten» (2018), «Schwestern wie Tag und Nacht» (2014)

Porträt auf SoundCloud

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Simon Froehling «Körper, ein Verb», Plattform Gegenzauber

Und Familie, das sind Schnüre, oder sagen wir: Blutsfamilie, das sind Schnüre, wählen wir rot, sind rote Schnüre über eine Landkarte gespannt, wie im Krimi, und die Fakten, die ich kenne, Stichwort Migration, sind Reissnägel, Länder aufgespiesst, wie mit den Flaggen der Besetzer früher, der Besetzer heute, sind Schottland, sind England, sind Griechenland, sind Deutschland, sind Australien, sind Südafrika, sind immer wieder die Schweiz, und man stelle sich trotz der Statik dieses Bildes die Bewegungen vor von all den Körpern, Mutterkörpern, Väterkörpern, all die Grossmütter, Grossväter und die Söhne und die Töchter und alle Formen dazwischen, bewegt bis heute, tägliche Berührungspunkte per SMS, Email, Telefon, Wie geht es dir, what are you doing?

Ich schreibe, sage ich, I’m writing about the things written into our bodies, into our genes, über die Heimatlosigkeit, über Identitäten, die wie Wasser sind, die Ozeane sind zwischen unseren Kontinenten, jedes Festschreiben eine Fiktion, So bin ich, so bin ich nicht, an diesen Orten, Geburtsort, Bürgerort, Wohnort, verbunden mit Schnüren, die Sehnen sein könnten oder Handlinien, in denen ungefähre Lebenslängen zu lesen sind, die aber sonst keine Antworten bereithalten, zum Beispiel auf die Frage nach gefühlten Geschlechtern, die nichts mit Pronomen in einer Signatur zu tun haben, oder auf die Frage nach der Asexualität meines Bruders, und immer wieder danach, warum wir keine Kinder wollen, meine Schwester und ich, Aren’t you worried you’ll regret it? Eines Tages bereut ihr es bestimmt, und all die anderen Fragezeichen, die eigentlich Symptome sind, als Diagnosen verkleidet, Grossmutters Alkoholismus zum Beispiel, und die Depressionen, die wie Flechten alle Äste unseres Stammbaums überziehen, oder die Frage nach der Ängstlichkeit meiner Mutter sowie jene nur ein Mal laut gestellte nach ihrer möglichen Unehelichkeit, ihrer Hautfarbe, dort zu dunkel, hier zu hell, und Opas Bemerkung zu unserem Vater, seinem Sohn, Wir dachten schon, du kommst mit einer Einheimischen zurück.

Überhaupt, was wir uns alles eingeheimst haben auf dem Weg von dort nach hier, all die Eigenheime hinter elektrifizierten Zäunen, all die SUVs mit ihren gepanzerten Scheiben, die Rassehunde mit ihren spitzen Zähnen, in Objekte umgemünzte Privilegien, um all die Peinigungen wettzumachen, festgeschrieben in unseren Körpern, die mein Körper sind, so dass ich nicht atmen kann am Morgen (hier, wo das Ich erwacht) und mein erstes Gefühl die geerbte Angst von meiner Mutter, sie setzt sich täglich auf meine Brust, in der ausserdem eine lange Leier von Asthma hustet, ausgelöst durch Allergien, durch Anstrengung und überhaupt:

Alles, was sich angesiedelt hat in meinem Körper an Geschichten und Geschichte, selten nachzulesen, über geächtete Körper, verfolgte Körper, Körper lange ohne Stimme und wenn, dann umso schriller, diese History, Herstory, Theystory, die nichts mit Herkunft, mit Abstammung zu tun hat und deren Stein lange vor Stonewall ins Rollen kam, ja all die Steine, die geworfen worden sind und immer noch werden von marschierenden, protestierenden Körpern, all die grossen Brocken, in die Wiege gelegt, in den Weg gelegt, diesen instrumentalisierten, politisierten, verhandelten Körpern, diesen zu weiblichen, zu queeren Körpern, Körper nicht männlich genug, aber trotzdem gut als Arbeitskraft, besteuert und später zur Ruhe gesetzt, ruhig gestellt.

Ruhig Blut!, mahnen meine Ahnen, und die Bilder, die ich sehe, sind das Blut, das wir geben dürfen oder nicht, aus einem Buch, das ich gelesen habe oder nicht, sind die Rechte, die man uns zugesteht oder nicht, sind all die Paragrafen, die jenes verbaten und dieses verbieten bis heute, aus einer Ausstellung, die ich besucht habe oder nicht, sind die Nachkommen, die wir haben wollen, sollen, müssen oder nicht, aus einem Film, den ich gesehen habe oder nicht, und ich sehe, du siehst, wir sehen wieder rot, die Schnüre vermehren sich, Six degrees of separation, schlussendlich haben wir mit der ganzen Welt geschlafen, zu lange geschlafen, nicht genug geschlafen, und jetzt wo ich heiraten darf, wo mein Bruder heiraten darf, meine Schwester heiraten darf in den meisten unserer Länder, das Echo des Standesbeamten auf Schweizerdeutsch zu meinem Vater, später übersetzt von der Trauzeugin meiner Mutter: Wir hätten es schon lieber, Sie würden eine hiesige heiraten.

I got married at the rat house, sagt meine Mutter, When are you finally going to tie the knot? Und ich sage, Ich zähle immer noch, ich Rattenfänger, I’m counting the scars, sie sind unzählig, die Narben, gefrässige Nagetiere, sie sind Hundebisse, sind Beschneidungen, sind diverse Löcher für Piercings, aktuell und verheilt, sind Tätowierungen, ganz viele und eine einzige aus Dachau auf dem Unterarm meiner Stiefgrossmutter, den Ärmel immer wieder hochgezogen, ein Vorhang zum Grauen, damit sich das Bild einbrenne in mir und sie nicht ausscheide aus meiner Geschichte, aus unserer Geschichte, der Geschichte ganz allgemein, und die Narben sind ein falsches Knie, sind ein neues Hüftgelenk, sind unzählige Leistenbrüche und immer wieder Blinddarmoperationen, sind gezogene Weisheitszähne und vereiste Warzen, sind ein amputierter Daumen, sind sexuelle Übergriffe, nicht nur von Männermenschen, über die wir nie, nie sprechen, und sie sind zwei Überfälle mit einer geplatzten Lippe, zwei gebrochenen Rippen und diversen Prellungen, sind Beschimpfungen auf der Strasse, in Klubs, aus Autos heraus, recht oft, von den Leichen nicht zu sprechen, lassen wir die Toten ruhen, meist war es Krebs und, so viel ich weiss, nur einmal Suizid.

You need to keep it together, reiss dich zusammen, also zurren wir die Schnüre fest (hier, wo das Ich wieder stirbt) und unser Kokon, das sind ein möglichst gebildeter Geist und dazu die gelaserten Augen, sind das neue Gebiss, die begradigten Zähne, sind die falschen Brüste und das Bodybuilding, sind das bisschen Botox immer wieder, sind die Fruchtsäure-Peelings und das Make-up, ganz dezent, der Nagellack und das getönte Haar, sind die Bitte nach Berührung, Please touch us, touch our sick body, our young body, our ancient body, our white, Black, yellow body, touch our soft skin, our old skin, our dry, scaly, flaky skin, denn bald sind wir Schmetterlinge, bald schimmern, bald flattern unsere Flügel und lösen Wirbelstürme aus, und bald, bald sind wir Wind.

 

schreibanleitung
(oder: im kreuzgang des grossmünsters zu zürich)

klopfe nicht an wo du nicht willkommen zu ungeheuerlich 
die sünden deines fleisches deiner liebe gar lass sie los 
die vermeintliche schuld trete die tür ein (all die scham) 
besetze den laubengang pflanze ungefragt 
deine masse in den fremden garten 
lege geometrien an grosskariert und kwer 
staple hoch sehe hell erfinde himmelsrichtungen 
begehe hochverrat an den falschen ahnen 
lüfte deine ängste und beim brunnen 
brich und meinetwegen bete zu göttinnen 
gerade erst geboren bewässere pflücke 
entsteine schäle aus alten häuten 
neue hoffnungen stehle wünsche 
vom boden des beckens münze sie um 
stelle die rohre trocken im winter darfst du 
ruhen die 5. jahreszeit kommt bestimmt 
sollen sie pathos! schreien vom turm 
deine ernte die gewissheit 
es gibt ein zentrum, und es hält

 

Simon Froehling, geboren 1978, ist schweizerisch-australischer Doppelstaatsbürger. Neben rund einem Dutzend Theaterstücken und Hörspielen hat er zwei Romane veröffentlicht («Lange Nächte Tag» 2010, «Dürrst» 2022) und war sowohl für den Ingeborg-Bachmann-Preis als auch den Schweizer Buchpreis nominiert. Neben seiner Arbeit als freier Autor ist er als Dramaturg und Stellvertretender Künstlerischer Leiter am Tanzhaus Zürich tätig. Der vorliegende Text wurde zuerst in Literatur + Kritik, Ausgabe Nr. 575/576 vom Juli 2023, im Otto Müller Verlag, Salzburg, veröffentlicht.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Dieter Kubli/Bilgerverlag

Szenische Lesung und Gespräch zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ mit Florian Vetsch, Dagny Gioulami und Klaus-Henner Russius

Zusammen mit Dagny Gioulami und Klaus Henner Russius gestaltete Florian Vetsch eine szenische Lesung zu Paul Bowles› Bühnenstück „Der Garten“ (Tanger 1967), einem Stück, das eine tiefgründige Geschichte um einen Mann und seinen Garten am Rand einer Oase erzählt. 

«Welch schönen Abend konnten wir Paul Bowles› Theaterstück THE GARDEN im Literaturhaus Thurgau widmen, Dagny, Henner und ich! DANK für die hervorragende Bewirtung, die unübertreffliche Gastfreundschaft und all die Gespräche!» Florian Vetsch

Paul Bowles, geboren 1910 auf Long Island, 1999 gestorben in Tanger,  war ein US-amerikanischer Schriftsteller und Komponist. Autor von vier Romanen, Short Stories, Reiseberichten, autobiografischer Prosa, Gedichten und einem umfangreichen Briefwerk. Sein Roman „The Sheltering Sky“ (1949; dt. „Himmel über der Wüste“) wurde durch Bernardo Bertoluccis Verfilmung (1990) zu einem zweifachen Welterfolg – er zählt zu den Schlüsselromanen des 20. Jahrhunderts. In New York, wo er 1938 die Schriftstellerin Jane Auer heiratete, arbeitete er als Rezensent und komponierte für den Broadway. 1947 wanderte er, angetrieben von einem Traum, nach Tanger aus; 1949 folgte ihm seine Frau Jane Bowles. Das Paar unterhielt einen legendären Salon, den zahlreiche illustre Persönlichkeiten frequentierten. Paul Bowles wurde zur Legende, zum „Titan von Tanger“, dessen Bücher, um nur wenige zu nennen, Truman Capote, Tennessee Williams, Jack Kerouac, Susan Sontag und Patricia Highsmith magnetisch nach Tanger zogen. Paul Bowles‘ Übersetzungen haben eine Handvoll marokkanischer Erzähler im Westen zu viel beachteten Autoren gemacht, darunter Mohamed Choukri und Mohammed Mrabet. Mit seinem Tod am 18. November 1999 endete in Tanger eine Ära. 

Florian Vetsch ist das, was man einen Literaten nennt. Wer ihn ihn seinem Zuhause in St. Gallen besucht, ihm in seiner Schreib-, Studier- und Leseklause an seinem Schreibtisch gegenübersitzt, riecht die Literatur förmlich. Zwischen jenen Regalen, die viel mehr sind als eine blosse Büchersammlung, die längst zu einem Archiv der Besonderheiten geworden sind, sitzt ein Mann, dem Sprache zum Elexier geworden ist, der sich durch leidenschaftliche Vertiefung längst zu einem Kenner jener Literaturen machte, die in der Gegenwart aus dem Fokus der Lesenden zu rutschen drohen. Florian Vetsch, selbst Lyriker, Sprachkünstler, Herausgeber, Essayist und Kritiker ist Kenner der US-amerikanischen Beatliteratur und Übersetzter ihrer Fixsterne wie Allen Ginsberg, Ira Cohen oder eben Paul Bowles, der zu Lebzeiten jene Szene befeuerte und über seinen Tod hinaus das marokkanische Tanger zu einem ganz eigenen Gravitationsfeld machte. 

Ein Mann arbeitet still und zufrieden in seinem der Wüste mittels Wassergräben abgerungenen Garten und bewundert oft bis nach Sonnenuntergang dessen Schönheit. Seine Frau vermutet, dass er einen Schatz in seinem Garten vergraben habe. Um ihn gesprächig zu machen, wendet sie sich an eine Hexe, die ihr ein schwarzmagisches Gift für ihren Gatten mitgibt. Die Frau verabreicht diesem aber eine Überdosis. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verlässt die Frau das Dorf und flieht zu ihrer Familie. Doch das Gift hat den Mann lediglich in einen komatösen Zustand versetzt, aus dem er wieder erwacht; das Gift hat ihn aber das Gedächtnis gekostet. Als der Imam den wieder zu Kräften Gekommenen in seinem Garten besucht und ihn ermahnt, freitags in die Moschee zu kommen und Allah für seinen Garten zu danken, versteht der Mann nicht, worum es geht. Alsbald geht das Gerücht um, er habe seine Frau umgebracht, in Stücke zerlegt und in seinem Garten vergraben. Aus dieser Konstellation entwickelt sich für den ahnungslosen Mann eine tödliche Spirale…

Eine Geschichte um Leidenschaft und Besitz, ein Lobpreis eines jeden Gartens, von Orten, an denen es wächst und gedeiht, von den Bedrohungen durch Neid, Missgunst, Fundamentalismus und Instrumentalisierung, ein Lehrstück über die Fallstricke der Ehe und die Abgründe menschlicher Schwächen.

Der bei Bilger herausgebrachte Prachtband „Der Garten / The Garden“, herausgegeben und übersetzt von Florian Vetsch, gestaltet von Dario Benassa, ist materialisierte Leidenschaft für Literatur und ein Stück Kosmos, das mit Paul Bowles in Tanger bis in die Gegenwart wirkt. Ein Buch, durchdrungen von der atmosphärisch aufgeladenen Stimmung rund um den Dreh- und Angelpunkt einer ganzen Szene. Ein Buch, durch das Wüstensand zu rieseln scheint, in dem man den Kif riecht und Zeugnis ablegt von einer Welt, die im Gegensatz zur Gegenwart von ultimativer Konfrontation durchsetzt ist.

Dagny Gioulami (*1970 in Bern, lebt in Zürich) studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater in Zürich und war auf vielen Bühnen engagiert. Seit 2000 schreibt sie Libretti und Theaterstücke, u.a. für das Opernhaus Zürich. Von 2010 bis 2013 studierte sie am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Ihr erster Roman „Alle Geschichten, die ich kenne“ erschien 2015 und wurde mehrfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Literaturpreis des Kantons Bern und stand auf der Shortlist des Rauriser Literaturpreises. 

Klaus Henner Russius (*1937 in Danzig, lebt in Zürich) absolvierte eine Schauspielausbildung an der Max-Reinhardt-Schule in Berlin. In der Folgezeit hatte er Engagements in Göttingen, Düsseldorf, St. Gallen und Mannheim. Seit 1985 ist er als freischaffender Schauspieler unterwegs, unter anderem in Heidelberg, Frankfurt, Düsseldorf, Bonn und Zürich. In dieser Zeit zeigte er vielbeachtete Einmannproduktionen, hatte Sprechrollen an zahlreichen Opernhäusern und verschiedene Filmrollen. In den letzten Jahren arbeitete er als Regisseur und wurde bekannt für seine grossen Lesereihen, unter anderem von Gottfried Kellers Zürcher Novellen, Homers Odyssee und Texten von Anton Tschechow und Imre Kertész.

Beitragsbilder © Gallus Frei

Urs Augstburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger

Würde man die Romane Urs Augstburgers mit „Bergroman“ etikettieren, würde man seinen Büchern ebenso wenig gerecht werden wie mit „Ökoroman“ oder „Unterhaltungsroman“. Urs Augstburgers Romane sind nahe an der Zeit, virtuos erzählt und zusammen mit seinen Auftritten der verschriftlichte Teil eines Gesamtkunstwerks.

Nach dem ersten Teil seiner Trilogie „Das Dorf der Nichtschwimmer“ erzählt Urs Augstburger in „Das Tal der Schmetterlinge“ wieder von einem Stück aktueller Geschichte, die beim Erzählen bis in die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg greift. Von einem Dorf im Berner Oberland, von Althäusern, einem still gewordenen Dorf im Schatten einer mächtigen Felswand, die ein explosives Geheimnis birgt. Nach dem letzten Krieg wurden in weit verzweigten Kavernen im Innern des Felsmassivs, wie an verschienenen anderen Orten in der Schweiz, explosives Kriegsmaterial gelagert. Obwohl es kurz nach dem Krieg zu einer fatalen Explosion gekommen war, die Althäusern in Schutt und Asche legte und nicht nur Tote und Verwundete forderte, sondern Generationen traumatisierte, verschwieg man der Bevölkerung, dass selbst nach dem verheerenden Unglück noch immer hunderte Tonnen im Berg wie eine Zeitbombe ticken. Man baute das Dorf an gleicher Stelle wieder auf und demonstrierte mit der Anwesenheit von Soldaten im Wiederholungskurs Sicherheit. Bis kurzfristig eine Versammlung im Ort einberufen wird und eine Bundesrätin beruhigen soll.

Urs Augsburger «Das Tal der Schmetterlinge», Bilger, 2023, 390 Seiten, ca. 39.00 CHF, ISBN 978-3-03762-103-5

Die Szenerie dieses Buches erinnert sehr an die Geschehnisse rund um die Katastrophe im Bernischen Mitholz, als im Dezember 1947 durch unkontrollierte und völlig überraschende Explsionen in einem Munitionslager im Fels tonnenschwere Felsbrocken durch die Luft geschleudert wurden und riesige Stichflammen eine Explosion begleiteten, die noch in über hundert Kilometern Entfernung registriert wurde. Die Detonationen brachten nicht nur Tod und Verletzungen und zerstörten grosse Teile des Dorfes Mitholz. Weil noch immer riesige Mengen hochexplosiven Materials im Berg lagern, wird man gezwungen sein, zumindest einen Teil der momentanen Bevölkerung des Dorfes umsiedeln zu müssen. Ein Prozess, bei dem Regierung und Verantwortliche über Jahrzehnte ein „Spiel mit offenen Karten“ verweigerten.

Urs Augstburger transformiert die Geschehnisse in ein fiktives Dorf, ein Dorf, das mit sofortiger Wirkung geräumt werden muss, in dem sich die Geschehnisse überstürzen und nichts darüber hinwegtäuschen kann, dass die Felswand hinter dem Dorf zum Inferno werden wird.

Meret Sager, eine inovative Wissenschaftlerin und Sartupgründerin, die sich um Nachhaltigkeit und zukunftsgerichtete Energiegewinnung bemüht, wird von einem geheimnisvollen Auftraggeber nach Althäusern gerufen. Sie soll in einem Seitental unweit des Dorfes ein ernergieautarkes Dorf planen und bauen. Meret Sager ist sich nicht sicher, ob sie nur für ein versponnenes Grossprojekt gelockt wurde, oder ob hier in den Bergen genau das umgesetzt wird, was in ihren Augen unumgänglich ist. Meret ist nicht gezwungen den Auftrag anzunehmen und weil der geheimnisvolle norwegische Geldgeber, der sich im Schloss unweit des Dorfes eingerichtet hatte, durch Corona unabkommlich ist, rutscht Meret in ein Dazwischen, in dem sich die nicht mehr ganz junge Frau klar werden muss, wie ihre eigene Zukunft aussehen soll.

„Im Tal der Schmettlinge“ erzählt in zwei Strängen, von den Geschehnissen damals, als in den Jahren nach dem Krieg Althäusern fast ganz zerstört wurde und das Leben vieler Familien aus der Bahn warf, vom noch fünfzehnjährigen Res, dem die Explosion nicht nur einen Grossteil seiner Familie wegriss, sondern jene Liebe, die die seines Lebens hätte werden können. Vom Wiederaufbau eines Dorfes und der scheinheiligen Sicherheit, die Militär und Regierung an den Tag legten, um die weiter drohende Katastrophe hinter dem Fels zu verbergen. Und in der unmittelbaren Gegenwart, in der immer wieder auftretenden Gewässerverschmutzungen und langsam durchsickernde Tatsachen nicht mehr verheimlichen lassen, dass eine erneute Katastrophe unmittelbar bevorsteht. Von einer starken Frau mit einer Vision, von jahrzehnte langer Schuld, von versuchter Wiedergutmachung und einem Land, einem Staat, die sich schwer tun, sich nicht wieder gutzumachenden Fehlern zu stellen.

Mag sein, dass das eine oder andere des Romans reichlich konstruiert erscheint. Ich hätte dem Roman mehr Unaufgelöstes gegönnt, jene unfertige Dramatik, die die Realität ausmacht. Aber „Das Tal der Schmetterlinge“ ist sattes Kino, Spannung pur und in seiner Erzählweise erfischend unschweizerisch.

Interview

Die Bergwelt hat es Ihnen ganz offensichtlich angetan, längst nicht erst mit „Das Tal der Schmetterlinge“. Auf der Einen Seite suggeriert die Begwelt Ewigkeit, Beständigkeit, Festigkeit. Auf der anderen Seite demonstrieren Ihre Romane sehr oft, dass dieser Fels alles andere als ewig starr ist. Und dass das Starre etwas mit den Menschen dort macht. Ich als Unterländer kann nur schwer verstehen, dass man sein Haus unter einer steilen Felswand bauen kann, mit oder ohne Munition dahinter. Steckt in Urs Augstburger ein Bergler?
Oh ja, ich bin rund drei Monate im Jahr in Disentis und immer wieder in all den andern Bergregionen. In Disentis meist im Winter, dort entstanden viele meiner Bücher. Und tatsächlich, auch ich fühle mich am Fuss einer Wand immer wohl, eher beschützt als erdrückt. Früher zumindest. Wenn man Zeit in diesen Bergdörfern verbringt, kommt man bald mal hinter die Klischees. Im Klimawandel sind die Bergler derzeit die ersten, die bitter erfahren müssen, dass gerade bei ihnen nichts für ewig ist. Schon in meinem Roman Wässerwasser von 2009 sahen sich die Romanfiguren gezwungen, den alten Glauben vom Reich der armen Seelen im ewigen Eis neu zu denken, weil das ewige Eis bald verschwunden sein wird. Der sagenhafte Zug der armen Seelen den Berggräten entlang hinauf zu den Gletschern verliert so sein Ziel. Und zugleich beginnen diese scheinbar unerschütterlichen Berge auch noch zu bröckeln. Die Bergler sind die ersten von uns, die all diese Veränderungen am eigenen Leibe erfahren. Jetzt schon. Auch wenn sie es nicht immer zugeben. Aber sie leben zu sehr mit und von der Natur, als dass sie sich noch etwas vormachen können.

Ihr Roman führt ein Stück unrühmliche Geschichte zum Vorschein; die Fähigkeit von Regierung und Bürokratie, in diesem Land die Dinge im Verborgenen zu lassen. Kein speziell eidgnössisches Verhalten. Ob CS-Skandal, Fischenaffäre oder wie in ihrem Roman die Mitholz-Geschichte. Schönreden und Verschweigen – eine urmenschliche Fähigkeit? Eine Überlebensstrategie?
Das Munitionsdepot in Mitholz war tatsächlich eine der Inspirationen zum Tal der Schmetterlinge war. Und ja, dort ist für mich das grösste Rätsel, weshalb das Militär siebzig Jahre lang – siebzig! – verheimlicht hat, dass 3’000 Tonnen Munition im Berg liegen. Die Hälfte der ursprünglichen Gesamtmenge. Dass dem Militär damals niemand ernsthaft auf die Finger schaute, ist begreiflich, im und nach dem 2. Weltkrieg war das Militär allmächtig. Als hätten die Verantwortlichen damals das Unglück und ihre Verantwortung dafür schnellst möglichst verschleiern wollen, bauten sie das Dorf wieder auf, am alten Ort, direkt vor der Felswand. Als sei nichts geschehen. Eine unglaubliche Fahrlässigkeit, für die nun wieder die Opfer von damals oder ihre Nachkommen büssen müssen.

Die Katastrophe in Althäusern kündigte sich schon lange an, sei es mit dem Aussterben vieler Schmetterlingsarten, dem immer wieder auftretenden Fischsterben. Halvorsen, der norwegische Superreiche im Hintergrund plant ein Dorf zur Umsiedlung der Althäuser Bevölkerung, ein Musterdorf, den Prototypen zukünftiger Dörfer. Aber eigentlich ist doch auch das Augenwischerei, denn den Bedrohungen kann man sich nicht (mehr) durch Flucht entziehen. Nicht einmal mit der Flucht auf den Mars.
Doch was sollen wir tun? Was sollen wir in zehn, zwanzig Jahren unseren Kinder erzählen? Wir hätten aufgegeben, als es vielleicht noch Möglichkeiten gegeben hatte? Wir dürfen uns von denen nicht lähmen lassen, die den Klimawandel noch heute verleugnen, um ihre Partikularinteressen nicht zu gefährden und weiter ungestört Geschäfte zu machen. Wir müssen so viel wie möglich tun. Angenommen, alle Dörfer und vor allem die Städte würden ab sofort ökologisch umgebaut werden, sich dem beschriebenen Ökodorf annähern, dann wäre schon viel erreicht und der Temperaturanstieg könnte noch etwas begrenzt werden. Angenommen, es würden endlich genügend Anreize geschaffen, jedes Haus, jeden Wohnblock energiefreundlicher zu machen … Man darf sich ja nicht vorstellen, was man beispielsweise mit den CS-Milliarden im Energiebereich erreichen könnte. Das Militär wiederum spürt durch den Krieg in der Ukraine derzeit Rückenwind und will an allen Fronten aufrüsten, egal, wo es Sinn macht, und wo nicht. Gleichzeitig sorgen sich die Mitholzer, die wegen des Militärs ihre Heimat und ihr Heim verlassen müssen, noch immer, ob sie überhaupt zu ihren Entschädigungen kommen.

Meret Sager, die Protagonistin in der Gegenwart glaubt als Wissenschaftlerin an die Segnungen durch die Technik, glaubt an die Utopie einer Zukunft, die mittels technischer Errungenschaften den Kampf gegen das drohende Desaster aufnehmen kann. Es gibt nicht viele AutorInnen, die sich in der Literatur diesen Fragen stellen, zumindest nicht in der „ernsten“ Literatur. Ist doch eigentlich erstaunlich. (Ich pesönlich glaube, dass uns Wissenschaft und Technik helfen können. Aber vor allem wird er in Zukunft eine Frage des Verzichts werden.)
Diese Themen finden generell in der Schweiz und im ganzen deutschsprachigen Raum zu selten in literarische Stoffe. Schon gar nicht in spannende erzählte Stoffe. Ich wohl immer wieder versuchen, die perfekte literarische Parabel darauf zu finden. Der Kampf gegen den Klimawandel ist das wichtigste Thema unserer Zeit und ich staune, wie wenige darüber schreiben. Zu Ihrer Anmerkung: Verzicht liegt leider nicht in der Natur des Menschen, schon gar nicht in der der Männer, muss ich zu unserer Schande sagen. Verzichten werden wir erst, wenn wir dazu gezwungen sind. Das wird schon bald der Fall sein. Doch Verzicht allein wird nicht nützen, deshalb brauchen wir zugleich visionäre WissenschaftlerInnen, die gerade in den Bereichen der Brennstoffzellen und der Wasserstoff-Technik die Innovation vorantreiben. Dort sehe ich grosse Chancen.

Meret, die junge, dynamische, lösungsorientierte, anpackende Frau. Halvorsen, der alte weisse, reiche Mann im Hintergrund. In Ihrem Roman finde ich viele starke Frauenfiguren und viele Männer, die nur am Rand, marginal in die Geschichte eingreifen. Hätte die Geschichte auch mit vertauschter Rollenverteilung geschrieben werden können?
Nein. Das hat mit dem zu tun, was ich vorher angetönt habe. Männer können nicht verzichten, sind selten selbstlos, ich nehme mich da gar nicht aus. Frauen überlegen sie viel intensiver, welche Welt sie ihren Kindern überlassen, sie handeln grundsätzlich nachhaltiger. Hoffnung habe ich nur dank ihnen. Halvorsen ist der alte, reiche Mann im Hintergrund, ja. Spät hat er seine Lektion gelernt, immerhin aber, er will eigentlich das Richtige tun. Weil er jetzt, am Ende seines Lebens sieht, dass er zu lange das Falsche getan hat. Dass er aus Norwegen kommt, ist nicht zufällig. Das hat mit meinen eigenen Geschichten zu tun, aber auch mit der Wirtschaftsgeschichte des Landes. Dank des Erdöls ist es reich geworden, dank dieses Reichtums könnte es führend werden in der Greentech-Revolution. Im Grunde absurd! Aber wenn solche Länder wie Norwegen, wie die Schweiz auch, nicht voran gehen, wer soll es dann tun?

Der Schriftsteller Urs Augsburger zusammen mit Monika Schärer, Filmemacherin, Moderatorin und Journalistin, mitten in «Das Tal der Schmetterlinge – live!»

Urs Augstburger, geboren 1965 in Brugg, Journalist, lebt und schreibt in Ennetbaden und Disentis. 1997 erschien sein erster Roman «Für immer ist morgen». Mit «Graatzug» (2007) schrieb sich Urs Augstburger endgültig in die Herzen der Leserinnen und Leser. «Wässerwasser» schloss 2009 die Bergtrilogie ab und führte sie dreissig Jahre in die Zukunft. Nach einem Verlagswechsel 2012 erschien sein vielbeachteter Alzheimer-Roman «Als der Regen kam» bei Klett-Cotta. Ebenfalls dort 2015 der Roman «Kleine Fluchten» und 2017 der brandaktuelle Medienthriller «Helvetia 2.0», der den Griff der Rechtspopulisten nach der Medienmacht widerspiegelte. «Das Tal der Schmetterlinge» ist nach «Das Dorf der Nichtschwimmer» und der Rückkehr zu Bilger der zweite Teil einer Trilogie, die Schweizer Geschichte und Geschichten über sieben Jahrzehnte und drei Generationen erzählt.

Webseite des Autors

Paul Bowles «Der Garten» – ein Denkkristall – eine szenische Lesung im Literaturhaus Thurgau

Die Schauspieler Dagny Goulami und Klaus Henner Russius bringen ihn an dem Abend im Literaturhaus Thurgau zusammen mit dem Herausgeber und Übersetzer Florian Vetsch zum Leuchten.

Die Entstehungsgeschichte von The Garden, dem einzigen Theaterstück des US-amerikanischen Schriftstellers Paul Bowles (1910–1999), ist in der Tat bemerkenswert:

Im Herbst 1966 war Bowles in Bangkok angekommen, um ein Buch über Thailand zu schreiben. Da der gesundheitliche Zustand seiner Frau, der Autorin Jane Bowles (1917–1973), instabil war, hatten die beiden beschlossen, dass sie während Pauls Aufenthalt in Asien bei ihrer Mutter in Florida leben würde. Doch Jane bekam bald den Rappel und beschloss bereits im August, nach Tanger zurückzureisen, wo sie seit 1948, Paul seit 1947 lebte. Dort angekommen, bereute sie ihren Entschluss bitter; eine Welt brach über ihr zusammen, Ängste bedrängten sie, fixe Ideen, Mutlosigkeit, Schreibblockaden, Sehschwierigkeiten, Lähmungen – immer wieder aus dem Ruder laufender Alkoholkonsum und unkontrollierte Medikamentencocktails verschlimmerten ihre Lage nur. Mit ihrer verfrühten Rückreise hatte sich die kranke Schriftstellerin „in eben die Lage gebracht, die wir so dringend hatten vermeiden wollen“, schrieb Paul Bowles in seiner Autobiografie Without Stopping (1972). Er machte sich grosse Sorgen um Jane, mit deren Ärztin Dr. Roux er im Austausch war, und beschloss, seinen Thailandaufenthalt, der auf ein Jahr geplant gewesen war, frühzeitig abzubrechen und nach Tanger zurückzukehren. Dass Bowles die Reise nach Tanger per Schiff antreten und kein Flugzeug nehmen sollte, war für seine Art zu reisen bezeichnend.

In dieser Situation erreicht ihn in Chiang Mai Joseph McPhillips‘ Brief mit der Idee, die Short Story The Garden in Tanger auf die Bühne zu bringen. Obschon er anfangs die Idee verwirft, reizt ihn die Vorstellung, und er beginnt das Stück Szene für Szene zu schreiben und es McPhillips in Tranchen zu schicken.

Die Entstehung des Stücks widerspiegelt eine verloren gegangene interkontinentale Brief- und Telegrammkultur, eine andere prädigitale Zeitlichkeit, in der Bowles nichtsdestotrotz alle Szenen rechtzeitig liefert. Doch noch durch seine Aerogramme hindurch ist die Ansteckungskraft von McPhillips zu spüren: Dessen Begeisterungsfähigkeit war der Motor des Ganzen.

Joseph McPhillips (1936–2007) hatte seit 1964 die Aufführungen der Theatergesellschaft der Amerikanischen Schule von Tanger geleitet; bis zu seinem Tod realisierte er für deren Bühne zahlreiche Stücke von der Antike bis zur Postmoderne. Dabei kombinierte er die Professionalität der hinzugezogenen Spitzenleute mit der Hingabe und dem Enthusiasmus der Studenten zu einer einmaligen Symbiose. Dies entsprach der produktiven Auffassung des Princeton-Abgängers von einer elitären Theaterpädagogik, welche den intrinsischen Kräften der Jugend durch qualitativ hochstehende Bühnenbildner, Designer, Autoren, Komponisten etc. Flügel verleihen sollte.

Paul Bowles: «THE GARDEN» – Dokumentation über Entstehung und Uraufführung von Paul Bowles‘ einzigem Bühnenstück DER GARTEN, aus dem Amerikanischen übersetzt und herausgegeben von Florian Vetsch, gestaltet von Dario Benassa, Bilgerverlag, 2022, 184 Seiten, durchgehend farbig illustriert, CHF 56.00, ISBN 978-3-03762-094-6

Die Short Story The Garden spielt in einem kleinen Dorf am Rand einer Oase in der Sahara. Ein Mann arbeitet still und zufrieden in seinem der Wüste mittels Wassergräben abgerungenen Garten und bewundert oft bis nach Sonnenuntergang dessen Schönheit. Seine Frau vermutet, dass er einen Schatz in seinem Garten vergraben habe. Um ihn gesprächig zu machen, wendet sie sich an eine Hexe, die ihr ein schwarzmagisches Gift für ihren Gatten mitgibt. Die Frau verabreicht diesem aber eine Überdosis. Im Glauben, ihn getötet zu haben, verlässt die Frau das Dorf und flieht zu ihrer Familie. Doch das Gift hat den Mann lediglich in einen komatösen Zustand versetzt, aus dem er wieder erwacht; das Gift hat ihn aber das Gedächtnis gekostet. Als der Imam den wieder zu Kräften Gekommenen in seinem Garten besucht und ihn ermahnt, freitags in die Moschee zu kommen und Allah für seinen Garten zu danken, versteht der Mann nicht, worum es geht. Alsbald geht das Gerücht um, er habe seine Frau umgebracht, in Stücke zerlegt und in seinem Garten vergraben. Aus dieser Konstellation entwickelt sich für den ahnungslosen Mann eine tödliche Spirale…

Bowles‘ anfängliche Ablehnung von McPhillips’ Ansinnen zeigt sein vornehmes Understatement: Zwar nicht als Autor, aber auch nicht nur als Zuschauer im Publikum, sondern als Komponist von Bühnenmusik zu Stücken etwa von Tennessee Williams und Orson Welles, als jahrelanger Broadway-Kritiker sowie als Übersetzer von Bühnenstücken u.a. von Jean-Paul Sartre und Federico García Lorca war Bowles mit dem Theater in vielerlei Hinsicht mehr als vertraut. Diese Erfahrungen kamen ihm zugute, als er die Szenen für The Garden unterwegs, wie aus dem Ärmel geschüttelt, niederschrieb – anfangs noch ohne den Text der Short Story, die er 1963 geschrieben hatte, vor Augen zu haben.

1963 hatte Bowles den Sommer in einem schönen, von einem früheren Besitzer aus Bombay indisch eingerichteten Haus an der portugiesischen Ufermauer der Medina von Asilah verbracht – das rund 40 km südlich von Tanger gelegene Städtlein ist bis heute eine Perle am Atlantik. Das Haus liege, wie er am 17. April an William S. Burroughs schrieb, südlich von Raisulis Palast und sei, mit den Wellen, die sich unter den Fenstern auf dem Sand brächen, ein wundervoller Aufenthaltsort für den Sommer. Jane besuchte Paul 1963 in Asilah ab und an mit ihrer Begleiterin Cherifa. Damals sprühte sie noch vor Witz und brillierte mit einem blitzschnellen, messerscharfen Verstand. Doch als Paul Anfang März 1967 endlich in Tanger ankam, traf er seine Frau in einem verzweifelten, völlig zerrütteten Zustand an. Auf Dr. Roux‘ Anraten brachte er sie Mitte April nach Malaga, wo sie ins Sanatorium des Heiligen Herzens, eine psychiatrische Klinik für Frauen, eingewiesen wurde. Paul besuchte sie häufig; erst Ende Juli jedoch sollte es ihr wieder so gut gehen, dass sie nach Tanger zurückkehren konnte. So war Bowles während der letzten Proben und der Aufführung von The Garden allein im Inmueble Itesa, dem Apartmenthaus im Quartier Ain Hayani, wo die Bowleses seit 1960 auf zwei Stockwerken wohnten. Zweifellos war er froh um die Ablenkung, welche die Zusammenarbeit mit der tangerinen Künstlerclique und den Jugendlichen von der „Amschotan“ ihm in der Sorgenzeit bescherte!

Der Hauptprotagonist von The Garden ist, um einen Begriff von Helmut Salzinger einzubringen, kein „Gärtner im Dschungel“: Er lässt die Natur nicht einfach machen, sondern greift in deren Gang ein. Er trotzt der Wüste am Rand einer Oase Land ab, bewässert es durch das Ziehen von Gräben, macht es zu einem biodivers reichhaltigen, fruchtbaren Garten. Dabei betrachtet er diesen nicht primär als Nutzobjekt, sondern als Selbstzweck. Das ästhetische Erlebnis, das ihm der Garten jeden Abend bei Sonnenuntergang schenkt, wenn er die Schleusen öffnet und das Wasser durch die Seguias fliesst, die kontemplative Ruhe, die er tagsüber in ihm findet – dies alles ist ihm wichtiger als der Gewinn, den der Garten abwerfen könnte.

Da der Mann das Ästhetische über das Ökonomische stellt, mag die Parabel The Garden dem einen oder anderen Leser das Scheitern des Künstlers oder des ästhetischen Menschen überhaupt in der Gesellschaft vorführen. In einem weiteren Ansatz deckt die Geschichte die nihilistische Wirkung des islamistischen Fundamentalismus schonungslos auf.

Paul Bowles‘ Geschichte The Garden ist auf jeden Fall ein Denkkristall.

Florian Vetsch