Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp

Es gibt Bücher, die überrollen, verstören und faszinieren mich. «Zitronen» von Valerie Fritsch ist ein solches, ein weiterer Streich einer überragenden Schriftstellerin, eine Literaturperle. Und trotzdem würde ich dieses Buch nicht allen empfehlen, denn es ist schrecklich schön, leuchtet tief in die Abgründe menschlichen Seins!

Während des Lesens stellte sich eine seltsame Mischung aus Erschütterung, Faszination und Freude ein. Wie schafft es Valerie Fritsch ein Buch in einer derart hohen Sprach- und Bildintensität durchzuziehen, vielfach überraschend, beweisend, dass Literatur viel mehr sein kann, als eine gute Geschichte zu erzählen. „Zitronen“ schmeichelt mit Sprache. „Zitrone“ erschüttert mit Einsichten. „Zitronen“ bannt bis zum letzten Satz. „Zitronen“ ist ein Sprachkunstwerk. Der Saft dieser Zitronen brennt sich ein!

Eine Kleinfamilie in der Provinz, in einem windschiefen, vollgestopften Haus am Rande eines Dorfes. Ein Vater, der die Mutter und seinen Sohn schlägt. Mutter und Sohn, die in dauernder Angst leben und sich in einem Band aus Nähe und Zartheit miteinander gegen den übermächtigen Vater verbünden. Sie braucht ihren Sohn, ihr Sohn braucht sie. Der Sohn ist das einzige, was in ihrem Leben Resonanz gibt. Und für den Sohn ist die Mutter die einzige, die ihm Trost für all die vom Vater zugefügten Verletzungen bietet. Die Eltern waren ein Kippbild aus Schutz und Bedrohung, ein janusköpfiges Wesen, das einem erst mit kaltem, dann mit mitleidigem Gesicht ansah. Bis mit einem Mal der Vater, der Mann verschwindet und sich alles verschiebt.

«In jedem Leben gehen Bestimmung und Selbstbestimmung, Glück, Unglück und Zufall mit stiller Wirkmächtigkeit gegeneinander an, zerren an der Linie, die zwischen Geburt und Tod gespannt ist, und wehen die auf ihr Balancierenden wieder und wieder vom Weg.»

Ein Verschwinden, dass auch die Beziehung der Mutter zu ihrem Sohn radikal verändert. Was der Sohn als Rettung für die Mutter in einem Leben aus Angst und Bangen war, öffnet sich zwar, kehrt sich aber um in eine Angst, diesen Sohn an ein eigenständiges, unabhängiges Leben zu verlieren. Nach einer Krankheit, die die Mutter dem noch jungen August noch einmal ganz in seine Nähe brachte, beginnt die Mutter heimlich Medikamente in die Nahrung ihres Sohnes August zu mischen. Sie deckt August mit ihrer Fürsorge zu, so sehr, dass August nicht einmal mehr zur Schule gehen kann und über Wochen und Monate ans Bett gefesselt bleibt, beständig umgarnt von seiner Mutter, die ganz in ihrer Rolle als Schützende und Wissende aufgeht. Die Medikamente, die sie missbraucht, bezieht sie von ihrem Hausarzt.

Valerie Fritsch «Zitronen», Suhrkamp, 2023, 186 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43172-6

Auch nach einem gemeinsamen Urlaub am Meer, im Land der Zitronen, zusammen mit eben jenem Arzt, der zwar konstatiert, dass es dem Jungen mit jedem Tag am Meer besser geht, ändert sich das Leben von August nur marginal. Seine Mutter bringt ihn züruck ins Bett, zurück an ihren Tropf. Bis ein Blitz einschlägt. Bis auch für den Arzt nicht mehr zu leugnen ist, dass Augusts Krankheit bloss das Resultat eines fatalen Medikamentenmix ist. August kommt nach Wien, wird förmlich ausgesiedelt, in eine kleine Wohnung, die ihm der Arzt, der sich seiner Schuld bewusst ist, in der fernen Stadt zur Verfügung stellt.

So sehr ins Mutternest zurückgebunden, so einsam und allein sind die ersten Wochen für August in der fremden Stadt. Er schlägt sich mit Gelegenheitsjobs mehr schlecht als recht durch und baut aus den Versatzstücken fremder Biographien und Lügengeschichten eine eigene Vergangenheit zusammen, mit der er sich sein Dasein formt, ein Leben zwischen Huren und Ganoven. Bis er Ava trifft, eine Künstlerin, eine Verwundete wie er. Bis er in Ava seine grosse Liebe findet und alles dafür tut, diese eine Liebe nicht wieder zu verlieren. Aber August in seiner Angst, auch diese Liebe zu verlieren, schnürt Ava immer mehr die Luft zum Atmen weg. Bis das Unvermeidbare zur Tatsache wird und sich auch diese Liebe von ihm trennt. Bis August spürt, dass er dorthin zurück muss, wo ihn die Fesseln noch immer binden.

«Es gab nichts, was es nicht gab, aber es gab vieles, was es nicht hätte geben dürfen.»

Aber um den Zauber dieses Romans zu ergründen, sollte man sich viel mehr der Sprache zuwenden. Was Valerie Fritsch mit „Zitronen“ schafft, gelingt nur ganz wenigen. Meist ist die Sprache der Träger einer Geschichte. Aber bei Valerie Fritsch ist die Geschichte der Träger eines Sprachteppichs aus Farben, Gerüchen, Geräuschen und Melodien, die seinesgleichen suchen. Zum einen spürt sie sich in die Seelenlandschaft eines Gefesselten, zum andern bebildert sie die Welt dieses Gebeutelten, eines jungen Mannes, der mit Strategie krank gemacht wird. Ihr Schreiben ist im wahrsten Sinne des Wortes schaurig schön. Valerie Fritsch schreibt in Sätzen, die mich wie Winde umschmeicheln, die den Schrecken in helle Farben verwandeln, die einen Alp sublimieren.

Ich verneige mich tief vor der Kunst dieser Autorin! Lange her, dass mich Lesen so sehr berührte!

Interview

Natürlich geht es um einen krankhaften Zustand, den die Medizin „Münchhausen-Stellvertretersyndrom» nennt, eine ganz fiese Form der Kindsmisshandlung. Mütter, die in ihrem Umfeld als perfekt, maximal fürsorglich gelten und sich hingebungsvoll um angebliche Krankheiten ihrer Kinder kümmern. Krankheiten, die sie selbst herbeiführen. Aber du legst den Fokus auf das Kind, auf August, zeigst, dass dieses zurückgebundene Leben für immer gezeichnet ist. Und trotzdem wolltest Du viel mehr als die Nacherzählung eines Befreiungsversuchs. Du bist eine Reisende. Doch eigentlich erstaunlich, dass dein neuer Roman eine ganz besondere Reise ist.
Und auch sie begann mit Distanz, denn angefangen hat es damit, dass mir viele allgegenwärtige Phänomene fremd und fern waren und ich ihnen näher kommen wollte, um sie zu verstehen. Drei Jahre lang bin ich durch eine Welt hinter der Welt gereist, jene oft unsichtbare der Gewalt, habe intime Gespräche mit Opfern und Tätern geführt, mit Mördern Kaffee getrunken und durfte durch Schlüssellöcher in viele nicht lineare Leben schauen. Herausgekommen ist ein seltsames Buch über Gewalt und Zärtlichkeit, vor dem ich meine Lektorin am Ende nur gewarnt habe: es ist wild geworden.

»Der schlimmste Augenblick jedes Sommers ist sein Ende.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

So sehr die Familie über Jahrhunderte idealisiert und von Politik und Religion immer wieder kräftig instrumentalisiert wurde, so sehr „Familie“ zu einem Traum, einem Ziel, einem Paradies werden kann, so sehr kann „Familie“ Hölle werden. Eine Hölle, die von den betroffenen Kindern mit stoisch scheinender Selbstverständlichkeit ertragen wird. August ist ein ewig Verwundeter. Warum begeben sich Menschen in einen Tunnel, bei dem es keine Umkehr gibt?
Selbstverständlichkeit ist eine hinterhältige Kategorie, sie ist das, was man kennt. Geschlossene Machtsysteme können überall entstehen, Türen zugesperrt, Vorhänge zugezogen werden. Wenn dann noch genug Menschen rundum die Augen verschließen, schaffen es auch die eigenartigsten und schrecklichsten Zustände als Normalität zu gelten, sogar für die Betroffenen. Man trägt schwer an den früheren Verwundungen, sie zerstören mitunter den Vertrauensindex zur Welt. Und es kann in existentiellen Krisensituationen zu einer Logik des Misslingens, einer Folgerichtigkeit der schlechten Entscheidung, sogar dem Glück der bösen Tat kommen: es fühlt sich das objektiv Falsche dann subjektiv richtiger an alles anderes. 

In seiner Zeit in der Stadt, nach seiner ersten grossen Befreiung, muss sich August in seiner Selbstständigkeit zuerst zurechtfinden. Auch mit einem Leben, das sich nach Geschichte sehnt, nach erzählbarer Geschichte. Literatur ist Geschichte. Zusammengetragenes, Versatzstücke, Er- und Gefundenes. August erzählt „Lügengeschichten“, bastelt sich seine Vergangenheit immer und immer wieder neu zusammen. Eine befreundete Schriftstellerin meinte einmal, die Schriftstellerei sei der einzige Betrug, in dem man schadlos lügen kann. Wir hadern mit Wahrheiten, wissen, dass nichts so vieldeutig ist wie die Wahrheit. Tun wir der Lüge unrecht?
Ich denke, die Lüge hat mitunter ihre Berechtigung, außerdem ist sie angenehm eindeutig, manchmal sogar schonend und zartfühlend gemeint. Ganz ohne sie kommt der Mensch nicht aus. Wer würde es schon ertragen, auf einem Familienfest pausenlos mit allen ernstgemeinten Wahrheiten und angestauten Werturteilen beworfen zu werden zwischen Schweinsbraten und Dosenpfirsichkompott? Wer allgemein genug Wahrhaftiges in seinem Leben hat, muss es mit der Wirklichkeit nicht immer so genau nehmen.

»Die Mehrzahl der Toten hatte ihr Bett in riesigen Schränken aus Stein, schlief dort in Schubladen, über- und nebeneinander angeordnet und sorgfältig beschriftet, damit man nicht durcheinanderkam. Es war ein Setzkasten für die Ewigkeit.
Und er erzählte, wie er früher mit den anderen Kindern in den leeren Grabkammern der steinernen Kästen gesessen war, wie sie in den obersten gekrümmt gehockt waren unter der niedrigen Decke wie in Nestern, in den Ecken Vorräte von Süßigkeiten anlegten und Amarettini und Zuckerschlangen aßen zwischen den Toten. Wie sie einander Gespenstergeschichten zuflüsterten.«
Text & Foto © Valerie Fritsch

Du nennst das Dorf, in dem August aufwächst, das „Dorf, das sich mit Enttäuschungen auskannte“. Auch das Wort „Ent-Täuschung“ birgt doch eigentlich etwas Positives. Wird man nicht von Täuschungen befreit?
Enttäuschung ist eine Funktion der Erwartung, sagen die Philosophen. Zu sehen, dass etwas anders ist, als man gedacht und gehofft hat, ist möglicher Weise befreiend, wenn man resilient ist, aber doch in den meisten Fällen zuerst einfach sehr unschön. 

Zwischen August und Ava wächst eine grosse Liebe. Aber auch diese Liebe zerbricht, weil August die Grenze nicht spürt zwischen Zuwendung und Umklammerung, zwischen Hingabe und Besessenheit. Doch eigentlich ganz ähnlich wie die Liebe seiner Mutter damals. Leben ist ein permanenter Befreiungsversuch. So sehr wir uns nach Liebe sehnen, nach einem Spiegel, der uns vor der Einsamkeit bewahrt, so sehr verlieren wir uns in Abhängigkeiten, der Befreiung entgegengesetzt. Hatte August je eine Chance?
August nimmt das Wünschen nach seiner tragischen Kindheit zum Ausgleich besonders ernst: er wünscht sich unbescheiden und glühend die große Liebe, das große Geld, das große Glück, er will leben bis zum Umfallen. 
Diese Kindheit ist nichts vom Rest des Lebens Abgekoppeltes, es ist die Zeit, in der wir Schritt für Schritt zu dem Erwachsenen heranwachsen, der dann entscheidet, wer man sein will und kann. Für eine eigene Identität bedarf es immer einer Kraftanstrengung, und für eine Flucht aus alten Mustern und Systemen einer umso größeren. Unmöglich ist aber nichts, das ist das Schöne am Menschsein. Und das Schreckliche. 

Am meisten fasziniert mich an deinem Roman die Sprache, die Machart, der Ton, was dein Buch in mir evoziert. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man ein Buch wie das Deinige, so einfach in losen Stücken zusammensetzen kann. Wie gelingt es Dir, dass ich glaube, du hättest Dein Buch in einem Zug, wie im Sprachrausch geschrieben?
Tatsächlich kommt es mir an guten Tagen vor, als würde ich am Schreibtisch zwischen Teetassen und Bücherstapeln mit den Buchstaben komponieren auf der Tastatur. Es hat etwas geheimnisvoll Melodiöses. Ich höre die Sätze. Es ist manchmal wie ein Flow in Zeitlupe: das mag ich sehr.

Valerie Fritsch, geboren 1989, arbeitet als freie Autorin und bereist die Welt. Beim Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb 2015 wurde sie mit dem Kelag-Preis und dem Publikumspreis ausgezeichnet. 2020 erhielt sie den Brüder-Grimm-Preis für Literatur. Sie lebt in Graz und Wien.

«Herzklappen von Johnson & Johnson», Rezension

Webseite der Autorin

Beitragsbild © oxyblau/Suhrkamp Verlag

«Durch und durch» – Valerie Fritsch an den Weinfelder Buchtagen

Dass Valerie Fritsch mit ihrem 2020 erschienenen Roman „Herzklappen von Johnson & Johnson» die 5. Weinfelder Buchtage beehrte, war ein Geschenk! Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.

Alma, die Protagonistin, ist schon ein Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste. 

So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt wird, so sehr der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem und verdrängtem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren ist. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schafft herauszuwachsen.

Und dann, als Emil zur Welt kommt, «kroch ihr eine grundlegende Erschütterung durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt dass sich Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emil dem Schmerz gehörte.

Es ist die Geschichte, die fasziniert, die Sprache, bis in einzelne Sätze, die sich einbrennen: «Es war ein Haus wie ein Einmachglas, das noch die entferntesten Jahre haltbar gemacht hatte. Ein Behälter für den alten Schmerz.» Oder Teilsätze wie «als wären sie einander durch die Haut gefallen.» Fliegen dir solche Sätze einfach zu? Manchmal sogar eigene Wortschöpfungen, wie das schöne Wort «Baumkronenschüchternheit».

Ihr Schreiben erinnert mich an segantinischen Impressionismus. Wohl keine Aussenlandschaften, aber spektakuläre Innenlandschaften, fast tropfenweise aufgetragen, zart und innig, in seiner Gänze aber wuchtig und kräftig. 

«Obwohl Alma es besser wusste, war sie überrascht, dass einen das Suchen nicht auch zum Finden berechtigte.» 

Lesen ist Suchen mit Finden!

«Manchmal sind Buchstaben in guten Händen, geborgen in der Präzision und Zärtlichkeit eines archetypischen Lesers: danke für die schöne Begegnung, lieber Gallus.» Valerie Fritsch

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp

Valerie Fritschs neuer Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» ist eine sprachliche Offenbarung, kein Unterhaltungs-Kurzfutter, keine Strandlektüre für den Halbschlafmodus. Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.

Alma ist schon als Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste. 

Alma ist eingeklemmt in die Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie und die permanente Verunsicherung, die all das ausstrahlt, was sie zu verstehen versucht; das Leben ihrer Eltern, in das sie als Mitspielerin gezwungen ist, das Schweigen ihres Grossvaters, das immer mehr zu einem tiefen Abgrund wird, dass das, was wirklich entscheidend ist und war, ausserhalb ihres Wirkungsradius passiert. «Über ihre eigene Rolle rätselte sie oft.»

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp, 2020, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42917-4

So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt, so sehr wird der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Alma fühlt diesen Schmerz, der sie zu bremsen scheint, den sie, je älter sie wird, desto körperlicher wahrnimmt. Eine immerwährende Verunsicherung, die sich auch nicht verflüchtigt, als sie den Fotografen Friedrich kennen und lieben lernt. «Die Zeit wirkte wie ein Brennglas für den Schmerz.» Das Haus der Grosseltern wurde zu einem Behälter eines alten, durch Schweigen haltbar gemachten Schmerzes. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren war. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schaffte herauszuwachsen.

Und dann, als Emil zur Welt kommt, «eine grundlegende Erschütterung kroch ihr durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Emil wird zur Störung, einer Störung, die ihre Umwelt mit Unverständnis quittiert. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt sich mit Emils Geburt Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emils Geburt dem Schmerz gehörte.

Und weil Alma spürt, dass die grossen Antworten und Einsichten nur dort zu klären sind, wo der Schmerz seinen Ursprung nahm, macht sich Alma nach dem Tod ihrer Grossmutter zusammen mit ihrer Familie auf eine grosse Reise. Eine Reise weit weg, tief hinein.

«Herzklappen von Johnson & Johnson» ist derart sprachmächtig geschrieben, dass ich unweigerlich mein Lesetempo der sprachlichen Intensität anpassen musste. So gab es Abschnitte, die ich nicht einfach ein zweites Mal las, weil ich sie inhaltlich nicht verstanden hätte, sondern weil der Genuss des Lesens, die Entfaltung des Sounds nur durch die Lesewiederholung in seiner Totale genossen werden konnte.

Interview mit Valerie Fritsch

Als ich Sie das letzte Mal an einer Lesung traf, waren sie in den Vorbereitungen für eine lange Reise gen Osten, eine Reise, die man dann in den Sozialen Medien auch immer wieder einmal mit Fotos mitverfolgen konnte. Eine Recherchereise. Wie viel von diesem Roman ging damals schon mit auf die Reise?
Die Idee einer Familiengeschichte, die in Schmerzkapseln, in Abwesenheiten und Entfernungen erzählt wird, stand damals schon, und diese Reise, die die Protagonisten gegen Ende machen, um der Kriegsvergangenheit des Grossvaters sprichwörtlich hinterherzureisen, wollte ich erleben, mir jeden Kilometer selbst zumuten, um die Distanzen ermessen zu können: 16 000 sind es geworden. 

Ein zentrales Thema in Ihrem neuen Roman ist der Schmerz, ein Zustand, ein Gefühl, mit dem sich viele Menschen nur ungern oder am liebsten gar nicht aussetzen. Erst wenn man dazu gezwungen wird, konfrontiert einem der Schmerz unweigerlich. Aber selbst dann geht es um Vermeidung, Überwindung und Kampf. Ihre sprachliche Auseinandersetzung aber klingt durchaus lustvoll. Ein Widerspruch?
Ich denke, es ist eine präzise, organische Sprache, die der Plastizität, der heimlichen und unheimlichen Wirkmächtigkeit des Schmerzes versucht gerecht zu werden, der körperlichen und der abstrakten Zerbrechlichkeit, der niemand ganz entkommt. In der Macht von Schmerz kann auch Lust stecken, zumindest aber ist es ein Begriffspaar, das jedes Leben bestimmt, in seiner Gegenüberstellung, oder in seiner Gleichzeitigkeit. 

Sie fotografieren und schreiben. Alma, die Protagonistin, zeichnet, ihr Mann Friedrich fotografiert. Alle setzen sich durch ein vertieftes Sehen mit Welt auseinander. Wie weit verändert der fotografische Blick Ihr Sehen?
Wenn man wild entschlossen und genau schaut, sieht man viel. Die Augen wachsen förmlich mit dem Sehen. Man entdeckt im Allerkleinsten Schlüssel, die in grossen Geschichten sperren. Und man kann, wenn man genug gesehen hat, hernach die Bruchteile, Einzelheiten, Texturen der Welt zu einem grossen, fühlbaren Ganzen wieder sprachlich zusammzimmern mit Buchstaben, so dass der Leser alles in Bildern wiederfindet. 

Ihr Roman ist auch ein Familienroman. Wie jede und jeder wird Alma ungefragt in eine Familie hineingeboren. Sie erzählen, als ob der Schmerz selbst die Genstruktur einer Familie Schaden nehmen würde, so sehr, dass sich an Almas Sohn Schmerzunempfindlichkeit manifestiert, ein Gendefekt. Mag sein, dass ein Zusammenhang abenteuerlich erscheint. Oder doch nicht?
Inwieweit sich Erfahrungen in den Genen zeigen, ist eine neue Wissenschaft, die noch am Anfang steht, aber oft auf Überraschendes stösst. Es gibt beispielsweise ein Experiment mit Mäusen, in denen man den Tieren beibringt, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, und auch wenn man die Eltern sofort nach der Geburt von den Jungen trennt, haben diese die gleiche – erfahrungsbasierte – Angst vor dem schönen Blumenduft. Für die Herzklappen von Johnson & Johnson ist das Genphänomen ein Kunstgriff, das Kind eine Gegenfigur des Schmerzes, auch wenn es dieser Defekt, der die Schmerzrezeptoren vollständig ausschaltet und einen unempfänglich macht für jedes physische Leid, tatsächlich medizinisch beschrieben existiert. 

Alma macht sich auf eine Reise, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Wer Antworten, Erklärungen, Deutungen sucht, macht sich immer auf die Reise, wenn auch nicht zwingend räumlich. Almas Reise ist keine Reise zur Überwindung, weder Schmerz- noch Angstüberwindung. Und doch eine Reise der Klärungen. Wie weit war das Schreiben dieses Buches eine Reise? Eine Reise in die Ungewissheit?
Jedes Buch ist eine Reise, ein rollender Zug, in dem man sich setzt, aus dem man nicht aussteigen kann, und von dem man nicht weiss, wo genau er ankommen wird. Wie herrlich!

© Jasmin Schuller

Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien «Winters Garten» im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.

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Beitragsbild © Martin Schwarz