Mit Martina Clavadetscher am Tisch

«Martina Clavadetscher zählt zu den originellsten und wagemutigsten Stimmen ihrer Generation», schreibt Manfred Papst in der NZZ am Sonntag. Mit Sicherheit. Und nicht erst seit ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams». Dass die Schriftstellerin einem ausgesuchten Kreis von Leser:innen so viel Nähe zuliess, war ein ganz besonderer Genuss.

«Literatur am Tisch» soll nicht nur für die Leser:innen zu einer besonderen Begegnung werden, sondern auch für die eingeladenen Schriftsteller:innen. Weil alle Gäste das Buch gelesen haben, weil man im kleinen Kreis darüber spricht und das Buch, den Roman deshalb ganz besonders genau und aufmerksam las, vielleicht sogar mehrmals, werden Gespräche über den Inhalt, über Leseeindrücke, Gewichtungen, die Sprache zu ganz besonderen Gesprächen, vertiefen sich immer weiter und erreichen Schichten, die bei Lesungen der üblichen Art nie erreicht werden können.

«Was für ein zauberhafter Abend mit zauberhaften Menschen: das Essen, der Wein, das spannende Gespräch zu meinem Buch, interessant, inspirierend, wir haben die Zeit vergessen und fast den Zug verpasst – danke für dieses «Literatur am Tisch»; genau so soll es sein! Herzlich M. Clavadetscher»

Aber auch die Autor:innen schwärmen nach solchen Veranstaltungen. Sie erfahren Wirkung, erleben direkt, was die Lesenden bewegt, befremdet, welche Fragen sie sich stellen, was sie beeindruckt oder verunsichert. Dass Martina Clavadetscher mit ihrem Roman viel mehr als blosse Unterhaltung liefern will, wird einem schon nach wenigen Seiten in ihrem Roman klar. «Die Erfindung des Ungehorsams» zwingt Leser:innen, sich ganz hineinzugeben. Und wer sich dann auf eine Begegnung mit der Autorin, auf eine Veranstaltung wie «Literatur am Tisch» einlässt, wird mit Perspektiven und Einsichten belohnt, die sonst verborgen bleiben.

© Janine Schranz

«Ihre natürliche, unkomplizierte, authentische Art hat mich gleich von Beginn weg begeistert. So ehrlich und spontan und auf Augenhöhe mit ihr über ihr Werk zu plaudern, hat mir sehr gut gefallen.  
Dank dem engagierten Austausch in unserer tollen und aufmerksamen Runde, durfte ich wieder viele neue Facetten in diesem Roman entdecken.» T. Hanselmann

«Es war ein sehr schöner Abend mit einer sehr klugen und ebenso sympathischen Martina Clavadetscher. Einmal mehr habe ich erfahren, wie bereichernd es ist, sich an eurem Tisch auszutauschen. Wunderbar auch, dass sich alle trauen ihre Leseerfahrungen mitzuteilen und dass die Autorin interessiert ist an den Feedbacks.» E. Berger

«Ein anspruchvolles Buch, das fasziniert, verwirrt und sprachlich begeistert! Martina Clavadetscher schaffte es auf eine sehr sympatische Weise auf unsere Fragen einzugehen, Hintergrundinformationen zu geben, unseren Gedankengängen zu folgen und sich darüber zu freuen! Dass sie zum Schluss eine meiner Lieblingsstellen vorlas, freute mich sehr!» D. Lötscher

«Zusammen mit der erfolgreichen Autorin, Martina Clavadetscher, durften wir bei Speis und Trank einen geselligen, lehrreichen Abend bei Gallus und Irmgard erleben. Bei den interessanten Ausführungen der Autorin und der Diskussion mit meinen Kolleginnen und Kollegen vom Lesekreis wurde mir wieder einmal mehr bewusst, wie wertvoll solche Begegnungen sind. Sie tragen wesentlich zum besseren, vertieften Verständnis des Gelesenen bei. «Die Erfindung des Ungehorsams» von Martina Clavadetscher wurde so von verschiedenen Seiten her beleuchtet und wohl jedem von uns nähergebracht. Ich danke der Autorin und den Gastgebern, Gallus und Irmgard, herzlich für den bereichernden literarischen Abend.» C. Blumer

«Das gelesene Buch hat sich mir – im hautnahen Austausch mit der Autorin – noch einmal ganz anders erschlossen. Was für ein Glück für jede Leserin und jeden Leser, mit einer Autor:in direkt ins Gespräch kommen zu können.» M. Sachweh

Das nächste «Literatur am Tisch» findet am 29. Juli, um 18 Uhr mit der Schriftstellerin Zora del Buono in der Kartause Ittingen statt. Die Anzahl der Gäste ist limitiert, damit ein Gespräch, bei dem man sich einbringen kann, auch wirklich stattfinden kann. Im Anschluss an «Literatur am Tisch» liest Zora del Buono um 20 Uhr aus ihrem Roman «Die Marschallin» im Museumskeller oder bei schönem Wetter im Klostergarten.

Anmeldung zu «Literatur am Tisch» mit Zora del Buono hier.

Beitragsbilder © Janine Schranz

1000mal Literatur – 1000mal literaturblatt.ch

1000 Artikel auf der Literaturplattform «literaturblatt.ch». 1000mal war das Buch im Zentrum. 1000 Aufrufe, Bücher zu lesen – und zwar die richtigen. Rezensionen, Interviews, Berichte, Veranstaltungshinweise und viele Gastbeiträge von Schriftstellerinnen und Schriftstellern. 1000mal Danke!

«Ich bin gerade im Urlaub und geniesse es, den Literaturbetrieb ganz weit wegzuschieben, aber Ihre Literaturseite hat mit all dem, was mich daran nervt und herausfordert, so gar nichts zu tun. Wunderbar», schrieb Mareike Krügel, nachdem ich ihr meine Rezension zugesandt hatte. Auch für mich wunderbar, denn durch Begegnungen bei Lesungen und Interviews wird aus der Lektüre eines oder mehrerer Bücher ein kostbares Stück Vertrautheit, manchmal gar eine Freundschaft. Mein grösster Lohn für das Schreiben!

Danke Ruth Loosli

Vor etwas mehr als fünf Jahren ging mein erster Bericht online. Niemand las ihn, als er erschien, denn niemand kannte das, was damals ganz zaghaft seinen Anfang nahm. Damals, es war eine schwere Zeit für mich, eine eigentliche Lebenskrise, schrieb und zeichnete ich schon meine «analogen» Literaturblätter, organisierte Lesungen, darunter Hauslesungen bei uns zuhause im Wohnzimmer und verschiedene Lesekreise. Die Webseite sollte eine Werbeplattform sein, ein kleines Nebengeleise. Aber es kam ganz anders. Heute investiere ich den grössten Teil meiner Literaturvermittlung in literaturblatt.ch. Nicht nur weil hier mein Publikum am grössten ist, sondern weil die Plattform längst zur Grundlage meines Engagements geworden ist.

Ich verneige mich vor der Literatur, der Kunst, die so oft ganz uneigennützig, nur seiner selbst Willen geschieht. Vor all jenen, die sich mit ganzer Kraft und unsäglicher Leidenschaft und Disziplin an die Erschaffung der Welt machen, denn in der Kunst spiegelt sich die Wirklichkeit.

Ich würde mich freuen, wenn es zum 1000sten Bericht auf literaturblatt.ch einige Reaktionen gäbe, die ich dann wiederum veröffentlichen darf. -> info@literaturblatt.ch!

«Tausend! Potztausend. Der Tausendfüssler hat weniger Beine als gemeinhin angenommen. Tausend Beiträge auf Literaturblatt.ch sind viel mehr Arbeit, als man denken sollte. Ja, Arbeit. Wer wüsste das besser als wir, die schreiben? Erst kommt die Denkarbeit. Lesen und denken, das ginge ja noch. Wenn man nur nicht die Gedanken in Worte fassen müsste. Und dann auch noch Worte finden über die Worte und Sätze der anderen. Das ist eine ganz eigene Disziplin. Über Literatur schreiben. Oscar Wilde war der Ansicht, dass sei sogar eine grössere Kunst als das literarische Schreiben selbst. In jedem Fall erfordert es Kenntnis und Verständnis, den Kopf und das Herz. Und ein bisschen verrückt muss man sein. Ein Tausendsassa. Herzlichen Glückwunsch Gallus Frei-Tomic. Schön, dass Sie auf wunderbare Art vom Hundertsten ins Tausendste gekommen sind. Auf tausend mehr! Ihre Daniela Engist.»

Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat

Pina ist jung, fremd im Land, geflüchtet, kennt niemanden. Elsa ist alt, hat ein ganzes Leben in diesem Land gelebt und fürchtet sich nicht vor dem nahen Tod. Pina liess sich vermitteln, soll Elsa auf dem letzten Stück ihres langen Lebens begleiten, im Haus von Elsa leben, helfen, pflegen, in dauerndem Kontakt zu Luzia, Elsas Tochter, die fest eingespannt ist in ein Leben, dass ihr für die Mutter nur wenig Zeit und Freiheiten lässt.

Yusuf Yeşilöz hätte eine Geschichte über eine illegal arbeitende Pflegekraft schreiben können, die es zu Hauf gibt. Tat es aber nicht. Yusuf Yeşilöz hätte einen Roman über die Flucht einer jungen Frau aus einem muslimischen Land, deren immer konservativer werdende Regierung Freiheiten und Öffnungen mit Repression unterdrückt, schreiben können. Tat er so ganz nebenbei, als wäre es ein Unterton. Yusuf Yeşilöz hätte eine reissende Story schreiben können über Ausbeutung, Einsamkeit und Isolation. Wollte er nicht.

«Wasser findet immer einen Bach, in dem es fliessen kann.»

„Nelkenblatt“ ist eine ganz behutsam, beinahe zärtlich erzählte Geschichte zweier Frauen, die man zusammengeführt hatte, eine Schicksalsgemeinschaft auf einem kleinen Stück Lebensweg, auf dem es keine Alternativen mehr gibt. Elsa weiss, dass ihr Leben nicht mehr lange dauern wird und Pina, dass es der einzige Weg ist, eine bezahlte Aufgabe zur haben, ein Stück Sicherheit in einem Land, in dem sie zwar angekommen, aber noch lange nicht zuhause ist. „Nelkenblatt“ ist auch eine Liebesgeschichte zweier ungleicher Frauen, die beide in ihrer Art für die andere da sein wollen, da sein müssen. Während Pina alles tut, um den Vorgaben Elsas gestrenger Tochter Luzia gerecht zu werden, um das ruhig und still gewordene Leben der alten Frau so angenehm wie möglich zu gestalten, findet Elsa in Pina ein Gegenüber, das nicht hetzt, nicht fordert, Zeit hat und zuhört. Elsa und Pina beginnen zaghaft zu erzählen. Pina, weil Elsa sie dazu ermuntert und Elsa, weil sie die Bilder teilen will, die sie auf dem letzten Abschnitt ihres langen Lebens begleiten. 

Yusuf Yeşilöz «Nelkenblatt», Limmat Verlag, 2021, 160 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03926-012-6

Elsa erzählt von ihrem Mann, von dem sie sich trennte, der aber immer Teil ihrer Familie blieb. Von ihren Kindern, jenen, die gingen und jenen, die blieben. Von den guten und den schweren Momenten eines Lebens, das sie abschliessen, das sie auf keinen Fall in die Länge ziehen will, das ihr schwer geworden ist. Pina erzählt ihr von ihrem Zuhause, das sie verliess, dem Land, aus dem sie fliehen musste. Von der Zeit, in der die Familie wegen der kranken Mutter das Dorf, in dem sie gross wurde, verlassen musste, um in die Stadt zu ziehen, den Spitälern, der medizinischen Versorgung näher. Wie sie wegen der Schule in eine andere Stadt ziehen musste und das Sterben ihrer eigenen Mutter nur aus der Ferne mitbekam. Vom Schwert, der sich tief in ihrer Seele einnistete.

Pina und Elsa leben zusammen im Haus der alten Frau, wissend, dass der Tod nah ist, dass es jeden Moment soweit sein kann. Elsa auf Erlösung und Erleichterung wartend und hoffend. Pina in der leisen Angst, auch diesmal nicht am richtigen Ort zu sein.

Yusuf Yeşilöz erzählt in leisen Tönen, als wolle er in seinem Erzählen keine Wirbel erzeugen. Genauso wie Elsa in ihren letzten Tagen und Pina in ihrer Art zu helfen. Yeşilözs Sprache ist der Spiegel des Geschehens, sein Roman wie ein ganz ruhiges Kammerstück zweier Frauen, das nur dann aufgewirbelt wird, wenn Luzia, die Tochter Elsas, die durch Organisation helfen will, Durchzug verursacht, den ruhigen Fluss aufmischt. Aber selbst die Figur dieser Tochter bleibt sympathisch, weil sie Hilflosigkeit und Lähmung zeigt, die angesichts der Unvermeidbarkeit eines Endes auf die Frauen zukommt.

Und nicht zuletzt schreibt Yusuf Yeşilöz in einem Sound, den seine kurdische Herkunft in eine ganze eigene Färbung eintaucht. Die Art seines „Geschichtenerzählens“ taucht Sätze und Szenerien in ein ganz besonderes Licht, ein Licht, das Yusuf Yeşilöz von weit her in dieses Land getragen hat und sich als Schatz erweist!

Interview 

Nelken sind Blumen, die ich mit Beerdigungen, mit Grabschmuck in Verbindung setze. Grossmutterblumen. Was bedeuten sie für dich? Was bedeuten Gartenblumen überhaupt für dich? Bist zu Gärtner? 
Ich bin ein schlechter Gärtner. Der Titel Nelkenblatt ist auf die erste Szene im Buch zurückzuführen. Elsa «checkt» ihre künftige Betreuerin. Als diese sagt, dass ein Herz so zerbrechlich sei wie Nelkenblatt, ist das für Elsa eine gute Referenz, dass ihre Betreuerin zu ihr freundlich sein wird. Diese zarte (auch Gallus beschreibst es so) Atmosphäre sollte das ganze Buch begleiten.

Über Pins Herkunft gibt es Hinweise. 3890 km entfernt und der Name Samhirada. Samhirada scheint im Internet nicht zu existieren. Deine Heimat aber, „Kurdistan“, ist ziemlich genau so weit entfernt. Warum nur Andeutungen? 
Ich wollte hier keine genaue Herkunft nennen. Pina könnte von überall sein, Kurdistan, Iran, Irak oder Jordanien oder Algerien. Es ist eine junge Frau, die du vielleicht auch am Bahnhof in Kreuzlingen oder Amriswil vom weiten sehen kannst. Unter den in die Schweiz Geflüchteten sind auch viele Frauen dabei – im Gegensatz zu früher. Auf dem Weg zu einem selbständigen und gleichberechtigten Leben hat sie für «ihr Ticket» sehr viel bezahlt. Übrigens auch in Westeuropa haben Frauen für Gleichberechtigung lange gekämpft und sie kämpfen noch.

Es sind Gegensätze, die sich auf ganz zarte Weise gegenüberstehen, als wäre es eine Bühne, ein Kammerstück: alt und jung, fremd und schon immer da, abgeschnitten und eingebunden, an einem Anfang und an einem Ende. „Gegensätze“ ist aber durchaus ein Yeşilöz’sches Thema – oder? 
Ja. Ich möchte deine Frage als Antwort formulieren.

„Nelkenblatt“ ist ein Buch über Liebe, Freundschaft, das Zuhause und den Tod. Sterben und Tod lassen wir gerne draussen und beschäftigen uns erst damit, wenn die Konfrontation ansteht, wenn sie unvermeidbar ist. Wenn Literatur eine Aufgabe hat, dann die der Konfrontation. Alles andere ist seichte Unterhaltung. Oder ist Kunst ohne Aufgabe? 
Der Literatur werden viele Aufgaben zugewiesen, manchmal leider zu viele. Für mich ist sie eine Nahrung, etwa der Zucker im Apfel.

Pina ist geflohen, weil sie „erneuern“ wollte. Elsa ist stets geblieben, weil sie bewahren wollte. Wo ist dein Zuhause? 
Mein Zuhause ist dort, wo ich mich wohl und so akzeptiert wie ich bin fühle.

Yusuf Yeşilöz, geboren 1964 in einem kurdischen Dorf in Mittelanatolien, kam 1987 in die Schweiz. Heute lebt er mit seiner Familie in Winterthur und arbeitet als freier Autor, Übersetzer und Filmemacher. Seine Bücher wurden mehrfach ausgezeichnet und in mehrere Sprachen übersetzt. Sein Roman «Hochzeitsflug» wurde 2020 von Gitta Gsell unter dem Namen «Beyto» verfilmt.

Webseite des Autors

Joachim B. Schmidt: Post von Island 2

Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“, seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.

Joachim B. Schmidt schreibt neben Romanen, Erzählungen, Filmrezensionen, Reiseberichten und Reportagen in den kommenden Monaten Postkarten von Island. Analoge Kleinkunstwerke für digitale Geniesser:innen! In einer Welt, in der man kaum mehr zum Stift greift, um Post- und Ansichtskarten aus allen Ecken der Welt zu senden, in der das Reisen einen schalen Beigeschmack bekommen kann und das Regal am Kiosk nur noch Karten zeigt, die vor Jahrzehnten produziert wurden, sind «Postkarten» auf literaturblatt.ch ein Zeichen dafür, dass die analoge Welt noch immer existiert.

Untitled 2003 (Foto der Postkartenvorderseite)

Georg Guðni (1961 – 2011) spielte in den 80er Jahren als einer der ersten zeitgenössischen isländischen Landschaftsmaler eine herausragende Rolle in der lokalen, isländischen Kunstszene. Anstatt, wie es damals im Trend war, das menschliche Dasein zum Thema seines Schaffens zu machen, malte er Natur pur. Mit dieser Haltung hat er dem Genre der Landschaftsmalerei und dem Medium der Malerei selbst neue Impulse gegeben.
Seine Landschaftsbilder folgen einer geometrischen Konstruktion, bleiben aber gleichzeitig offen für persönliche Erfahrungen. Aufgrund ihrer reflektierenden und kontemplativen Wirkung fungieren sie als Spiegel der mentalen Landschaft des Rezipienten.
Die Bilder von Georg Guðni haben immer einen Bezug zu einem gesellschaftlichen Kontext. Die Natur, wie er sie zeigt, ist vereinfacht und bis zu einem gewissen Grad auch objektiviert, aber seine Werke zeigen keine Illusion. Vielmehr wirken sie stark atmosphärisch und sind an ihrer formalen, geschliffenen Schlichtheit erkennbar.
Seine Werke wurden vielfach in Einzelausstellungen sowie in Gruppenausstellungen in den nordischen Ländern und Westeuropa sowie in den Vereinigten Staaten, Südamerika und China ausgestellt.
Georg Guðni wurde 1961 in Reykjavik geboren. Er studierte am Isländischen College of Art and Crafts und machte 1987 seinen Abschluss an der Jan van Eyck Akademie in Holland. Er starb 2011 im Alter von nur 50 Jahren.

Joachim B. Schmidt liest im Literaturhaus Thurgau aus «Kalmann». © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, aufgewachsen als Bauernsohn am Heinzenberg, lebt und arbeitet seit 2007 als Autor, Journalist und Reiseleiter auf der Vulkaninsel Island. Schmidts aktueller Roman «Kalmann» wurde mit einem Werkbeitrag der Pro Helvetia ausgezeichnet und erschien im Herbst 2020 bei Diogenes. Seine letzten drei Romane «In Küstennähe» (2013), «Am Tisch sitzt ein Soldat» (2014) und «Moosflüstern» (2017) sind im Landverlag erschienen. Schmidt lebt mit seiner isländischen Partnerin und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Webseite des Malers Georg Guðni

Joachim B. Schmidt: Post von Island 1

Webseite von Joachim B. Schmidt

Mareike Krügel «Schwestern», Piper

Lone liegt auf der Intensivstation im Koma. Ein unerklärlicher Frontalzusammenstoss auf gerader Strecke mit einem Traktor. Eine Frau, eine Hebamme, die immer alles direkt angegangen ist, wird mit einem Mal lebensgefährlich ausgebremst. Iulia, ihre jüngere Schwester, eigentlich Bankkauffrau, nimmt die Tasche ihrer Schwester und fährt zu den Frauen, die auf Lone warten.

Vielleicht müsste man diesen Roman mit einem Warnschild versehen. „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“ Aber in einer Zeit, in der Frauen ihre Kinder eh bestens vorbereitet, eingelesen und vorgewarnt bekommen und Geburten kaum noch einfach geschehen lassen, werden all jene bestätigt, denen Gebärstationen wie Durchlauferhitzer erscheinen.

Lone ist nicht mehr Hebamme in einem Spital, schon länger nicht mehr. Als sie es noch war, schied sie mit Gepolter aus und machte sich selbstständig. Kein leichtes Unterfangen, wenn Geburtshäuser und freie Hebammen um ihr Überleben kämpfen müssen, weil Versicherungen nicht bereit sind, das Risiko mitzutragen. Ein Risiko, das untrennbar zu einem ganz natürlichen Vorgang gehört. Lone ist dann da, wenn Mütter nicht mehr ins Schema passen, wenn die Angst die Freude auf das Kind verdeckt. Lone ist auch dann da, wenn alle Stricke reissen und Grenzen überschritten werden müssen. Vor allem für jene, die sie auf ihrer Liste hat, auf jener Liste, die Iulia in die Hände bekommt, vor der sie ahnt, dass das Warten der Frauen einer Not entspringt.

Mareike Krügel «Schwester», Piper, 2021, 336 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05856-8

Iulia ist verheiratet mit Niels. Und Niels ist Pfarrer. Iulia weiss, dass sie eine Rolle zu spielen hat; jene der Mutter, jene der Ehefrau, jene der Gemahlin eines Pfarrers und jene der Bankfrau, zwischen Schalter und Direktion. Während Lone auf der Intensivstation liegt und niemand weiss, was von jener Lone bleiben wird, die sie einmal war, während der Vater und die Stiefmutter am Bett der Patientin wachen und eigentlich erwarten, dass Iulia auch die Rolle, der sich sorgenden Schwester am Bettrand zu spielen hätte, besucht Iulia die verwaiste Wohnung ihrer Schwester, um festzustellen, dass das abrupt unterbrochene Leben ihrer Schwester im Gegensatz zu ihrem eigenen Leben aus lauter Notwendigkeiten besteht. Dass Frauen, Familien auf sie warten, sie brauchen. Iulia packt die Taschen ihrer Schwester, setzt sich in ihr Auto und klappert die Adressen ab, nach denen sie erst eine Weile suchen muss.

Zwei Schwestern. Aus dem gleichen Stall. Mit fast identischen Vorzeichen. Zwei Leben, die einst ganz nah waren und sich immer mehr ins Gegensätzliche verloren. Aber Lone ist Iulias grosse Schwester, das grosse Gestirn an ihrem Himmel, ein Fixstern. In Iulias wohlgeordnetem Leben ist die chaotische Komponente der Schwester ein Gegengewicht. Aber in dem Moment, als Lone im Spital zu schwinden droht, bricht Iulias filigranes Gefüge in sich zusammen; der Beruf, die Ehe, sogar das Bild der perfekten Familie.

Bin ich, was ich will? Kenne ich die Menschen, die mir am nächsten sind? Ist das Gegenteil von Ordnung wirklich Chaos? Wie weit schnüre ich mich selbst ein und fürchte mich vor den kleinsten Ausbrüchen? Weiss ich, was ich will? Mareike Krügel stellt die grossen Fragen, die man allzu oft mit Bedacht verdrängt, weil sie uns herausfordern. Weil sie Risiko bergen. Weil sie Konsequenzen haben könnten. „Schwestern“ ist ein Roman über die Liebe. Nicht zuletzt über jene zu sich selbst. Und das Eingeständnis, sich verrannt zu haben. Ikarus lehrt uns, nicht allzu weit hinauf zu fliegen. Aber aus lauter Angst, beim Fliegen die Federn zu verlieren und dabei den Boden nie zu verlassen, das darf es nicht gewesen sein. Iulia beginnt zu fliegen.

Interview

Meine Frau und ich haben fünf Kinder. Schön, dass sie mittlerweile zwischen 26 und 36 sind und die Kurve geschafft haben. Auch wenn sich die Erinnerungen an die intensive Familienzeit verklären, spätestens dann, wenn man ein Wochenende zusammen mit den beiden Enkelkindern verbracht hat, weiss man wieder, wie es gewesen sein muss, damals.
Deshalb ist mein Verständnis gross, dass sie nicht einfach Schubladen voller Texte haben, meine Bewunderung aber ebenso gross, dass dann aber in hoher Kadenz doch immer wieder ein Buch von Ihnen erscheint. Wie schaffen Sie die Mehrfachbelastung? Gäbe es eine Mareike Krügel ohne das Schreiben?

Die Mehrfachbelastung macht mir deutlich zu schaffen, das muss ich zugeben. Es mangelt mir allerdings nicht an Schreibzeit – das ist eher eine Frage der Disziplin und Organisation, denn Stunden hat der Tag eigentlich genug. Es mangelt mir an Denkzeit. Gute Romane müssen nicht nur vorausgedacht und sorgfältig konstruiert werden – finde ich jedenfalls -, sondern brauchen viel Reifezeit, in denen der Stoff und die Figuren sich setzen oder entwickeln können. Wenn mir dann ständig das Leben dazwischenkommt und das Gehirn keine Musse hat, stecke ich schnell fest.

Meine Lösung ist, mich in möglichst reizarmer Umgebung aufzuhalten. Schleswig-Holstein ist dafür der ideale Ort. Hier ist es derart langweilig, dass meine Fantasie keine Konkurrenz durch die Realität bekommt.

Ob es mich ohne das Schreiben gäbe, weiss ich nicht. Das müsste ich wohl ausprobieren, und vermutlich wäre ich überrascht. Aber ich bilde mir ein, das Schreiben, wie auch das Lesen, Zuhören und Erzählen, zu brauchen. Mein Drang zu schreiben und mich in Geschichten aufzuhalten, wird jedenfalls mit zunehmenden Alter nicht weniger, sondern eher mehr.

„Schwester“ ist eine Liebesgeschichte an die Schwester. Aber auch eine Liebesgeschichte an einen Beruf, den der Hebamme. Lore ist mehr als eine Hebamme. Oder vielleicht das Abbild dessen, was Hebamme einmal war. Nicht wie heute eingekeilt in eine perfektioniertes Gesundheitssystem, Krankenkassen und Versicherungen, idealisierter Geburt und der schwindenden Risikobereitschaft aller. Ist die Hebamme eines der Opfer einer industrialisierten Gesundheitsmaschinerie?

Eine Gesundheitsmaschinerie hat sich in meinen Augen definitiv entwickelt, aber sie erscheint mir nicht industrialisiert. Im Endeffekt stehen an allen entscheidenden Stellen Menschen, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, nach bestem Wissen zu helfen und zu heilen. Sie alle stehen unter Druck, aber sie profitieren auch von verbesserten Strukturen und evidenzbasierten Vorgaben. Ich bin höchst dankbar für das Gesundheitssystem und die Krankenkassen. Es gibt nur immer eine Kehrseite, die man nicht wegreden darf und an der unermüdlich verbessert werden sollte.

Hebammen spüren diese zwei Seiten der modernen Medizin ebenfalls. Sie können sich absichern, sind eingebunden in ein System, das ihnen einen Platz einräumt, und müssen nicht mehr ausserhalb oder sogar in Konkurrenz dazu stehen. Das ist auch eine gute Entwicklung. Ich glaube, das der Beruf der Hebamme sehr romantisiert wird –  Hebammen haben durchaus aktiv an den düsteren Kapiteln der Medizingeschichte mitgewirkt.

Vielleicht ist Lone also eher ein Abbild dessen, was eine Hebamme sein könnte, was diesen Beruf auch heute oder womöglich eben gerade heute auszeichnet. Wenn man das im Blick behält, kann man vielleicht die Gratwanderung schaffen zwischen medizinischer Absicherung und individueller Gesundheit.

Lore und Iulia (Warum nicht Julia?) sind ungleiche Schwestern. Schwestern, die sich durch ihre Ungleichheit aus den Augen verloren, deren Leben keine Überschneidungen mehr kannte. Brüder und Schwestern sind etwas Seltsames. Man kann sie sich nicht aussuchen. Und selbst wenn man sich verloren hat, selbst wenn man sich hasst, bleibt eine Verbindung. Iulia kehrt zu ihrer Schwester zurück, auch wenn nicht direkt an ihrer Seite. Sie transformiert sich, bricht auf. Ist ihr Buch eine Ermunterung?

Ich habe keine Intention beim Schreiben eines Buches ausser der, eine Geschichte zu erzählen und Antwortmöglichkeiten auf meine eigenen Fragen zu suchen. Gerne darf man diesen Roman aber als Ermunterung verstehen, sich mit der – wie Sie es treffend nennen – seltsamen Verbindung auseinanderzusetzen. Sich ihrer bewusst zu werden. Wenn eine Figur innerhalb eines Familien-Systems sich verändert, verschiebt sich das ganze System. Oft auch im Erwachsenenalter, wenn die Familienmitglieder schon längst ganz eigene Leben führen.

Als vor einigen Jahren mein Bruder starb, habe ich die Person, die seine Freunde mir beschrieben, kaum erkannt. Er war ausserhalb der Herkunftsfamilie ein ganz anderer Mensch. Diese Erfahrung hat mich sehr beschäftigt und auch demütig gemacht. Iulia bekommt im Roman die Chance, ihre Schwester auf neue Art kennenzulernen, und dabei verändert sich ihr Blick auf sich selbst. Auch sie ist schliesslich nicht festgelegt auf eine einzige Rolle oder ein Lebensmuster, auch wenn ihre Herkunft sie das lange hat glauben lassen.

(Iulia wird mit I geschrieben, damit der Bezug zu ihrer Namenspatronin, der Tochter des Augustus, deutlich wird, und auch, damit der Name eine Umständlichkeit hat, ein Hindernis, das ihr quasi von ihren Eltern mitgegeben wurde, während ihr Bruder – Justus – die Schreibweise zugewiesen bekam, die nie buchstabiert werden muss.)

Mareike Krügel Arbeitsplatz © Mareike Krügel

Iulia ist die Frau eines Pastors. So brav, angepasst und untergeordnet, dass es zusammen mit ihrem Beruf als adrett gekleidete Bankfachfrau fast karikiert anmutet. Ihr Mann ist ein gänzlich guter Mann, Vorbild einer ganzen Gemeinde. Und sie mit ihm ebenso dazu verdammt. Ist man als Mutter nicht auch verdammt?

Diese Frage bringt mich zum Lachen, weil sie so direkt ist. Kann man es besser formulieren? Ich glaube nicht. Man ist als Mutter verdammt. Oder als Elternteil womöglich, denn auch das Vatersein bringt ja einen Haufen an gesellschaftlichen und individuellen Erwartungen mit sich, und wer auch nur einen Hauch Perfektionismus in sich hat, kann schnell das Gefühl bekommen, verdammt zu sein. Aber wie bei der Rolle der Pastorenfrau oder des Pastors selbst liegt auch eine Befriedigung darin, die Sache eben gut zu machen. Ein grosses Problem des Mutter- oder Vaterseins liegt für mich darin, dass die Bestätigung so gut tut, dass sie süchtig machen kann. Dann wird das Gute-Mutter-Sein zum Selbstbild. Fast möchte ich jeder Familie wenigstens ein Kind wünschen, das so viel Persönlichkeit mit auf die Welt bringt, dass es die Eltern ganz schnell von dem Trugschluss kuriert, wer ein braves Kind hat, hat alles richtig gemacht.

„Schwester“ ist kein Buch für junge Leute, die die Absicht haben, Kinder zu bekommen, die eine undefinierbare Angst vor Spitalluft mit sich tragen und Risiko möglichst minimieren wollen. Bräuchte ihr Buch nicht den Warnhinweis „Für alle Frauen, die unmittelbar vor einer Geburt stehen, ist die Lektüre dieses Romans ungeeignet.“?

Ich selber kann mich gut erinnern, dass die einzigen Romane, die ich vor den Geburten meiner Kinder lesen mochte, die von Jane Austen waren. Für alles andere war ich zu empfindlich. Ich bin zuversichtlich, dass Menschen, die unmittelbar davor stehen, ein Kind zu bekommen, spätestens wenn Iulia die Intensivstation betritt, das Buch zur Seite legen und sich andere Lektüre suchen.

Im Übrigen hatte ich vor der Geburt meines Sohnes nur eine einzige Bekannte, die mir ganz offen von ihren Geburten erzählte. Ich war schockiert und überzeugt, dass sie eine Ausnahme sein musste. Denn nicht einmal im Vorbereitungskurs war etwas anderes als euphemistische Umschreibungen zu hören für das, was drumherum und im Fahrwasser einer Geburt so alles passiert. Ich glaube fest, dass in der Möglichkeit, viele Geschichten zu dieser existentiellen und höchst individuell empfundenen Situation zu hören oder zu lesen, die Chance liegt, Selbstvertrauen zu entwickeln und handlungsfähig zu bleiben, wenn es schwierig wird. Eine gute Geburt ist eine, während der sich weder Väter noch Mütter ausgeliefert gefühlt haben.

Das Leben besteht aus verpassten Chancen und Möglichkeiten. Was tun Sie dagegen?

Ich schreibe Romane. Etwas anderes fällt mir nicht ein. In den Zeiten, in denen ich nicht schreibe, trauere ich den verpassten Chancen hinterher, hadere und nerve meinen Mann, ohne zu merken, dass ich gerade weitere Chancen verpasse. Ich ertrage das alles einigermassen, indem ich den Figuren in meiner Fantasie erlaube, etwas zu erleben.

Mareike Krügel wurde 1977 in Kiel geboren. Seit 2003 hat sie vier Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Kappeln. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Webseite der Autorin

Rezension von «Sieh mich an» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Peter von Velbert

Hildegard E. Keller mit «Was wir scheinen» im Literaturhaus Thurgau

Was es bedeutet, wenn Leidenschaft, Feuer und Begeisterung sich von der Bühne in den Zuschauerraum ergiessen, wenn nach einer Lesung alle beseelt und inspiriert den Nachglanz der Veranstaltung geniessen, das erlebte man bei der Lesung von Hildegard E. Keller mit ihrem Roman «Wie wir scheinen» über Hanna Arendt.

Ein letzter Sommer 1975 im Tessin. In Tegna, einem etwas abgelegenen Dorf unweit von Locarno, will Hannah Arendt noch einmal die Ruhe und Abgeschiedenheit in sich aufnehmen. Ausruhen vor der letzten grossen Reise. «Was wir scheinen» ist viel mehr als nur eine Biographie über eine Frau, die sich mit ihren Schriften exponierte und beinahe zerrieben wurde in den Mühlsteinen der Öffentlichkeit. «Was wir scheinen» (Der Titel ist der Anfang eines Gedichts von Hannah Arendt!) ist der Roman über eine Frau, die aufräumt, resümiert, nicht nur in ihren Papieren und Schriften, auch in ihren Erinnerungen, weil sie im Sommer 1975 genau spürt, dass es ihr letzter Sommer sein wird.

Von 2008 bis 2017 war Hildegard E. Keller in den USA, unterrichtete, auch Menschen, die von ehemaligen Flüchtlingen des zweiten Weltkriegs stammten. Zwischen zwei Welten, zwei Sprachen, zwei Kontinenten hat die Autorin über die Philosophin Hannah Arendt zu forschen begonnen und gewagt, der Frau auf dem steinernen Denkmal ihre Lebendigkeit zurückzugeben, einen frischen Blick auf die Frau, die man zu oft bloss auf die eine Schrift, die eine Reise, die eine Begegnung reduziert. Einen Blick auf die Frau, die Denkerin, die Dichterin, Privat- und Ehefrau, auf eine Freundin.

Was war der Preis, den Hannah Arendt zu bezahlen hatte für das Buch «Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen», dass 1963, zwei Jahre nach dem Prozess in Jerusalem gegen den SS-Obersturmbandführer Adolf Eichmann erschienen war, die Reduzierung ihrer Arbeit auf den Begriff der «Banalität des Bösen»? Hildegard E. Keller spürt in ihrem Roman sehr nah der Frau nach, die auf dem steinernen Sockel allzu leicht vergessen wird, einer Frau, die von sich selbst sagte, sie sei eigentlich ein schüchterner Mensch.

Ein starker Abend mit zwei starken Frauen auf der Bühne. Grossen Danke an Hildegard E. Keller und die Moderatorin Cornelia Mechler.

«Der Untersee ist eine glückliche Landschaft. Am 1. Juli durfte ich im Fünfsterne-Literaturhaus meinen Roman WAS WIR SCHEINEN vorstellen, auf dem Podium mit der hellwachen, begeisterungsfähigen Cornelia Mechler. Gallus und Brigitte schmeissen den Laden aufs Allerbeste. Der Abend war unvergesslich, ich danke Gallus und seinem Team von Herzen.» Hildegard E. Keller

Thommie Bayer «Die Begegnung von Henne und Ei an einem Nachmittag im Kurpark von Badenweiler», Plattform Gegenzauber

„Ach“, sagt der Mann, der mich eben überholt hat und nun, nach einem Seitenblick, den Kopf zu mir her dreht, „ich verfolge deine Arbeit mit Ver­gnügen.“
Er trägt Cordhosen, ausgetretene Schuhe und einen dieser hellen, beigen Rentneranoraks. Sein schütteres Haar ist weiss, und sein Gesicht hat diesen alterslosen Ausdruck zäher Sportler. Er ähnelt Luis Trenker.
Geschmack ist wichtiger als Benehmen, denke ich und verzeihe ihm das Duzen, nicke mit dem Kopf und lächle, wie immer, wenn jemand mich lobt. Ohnehin gehöre ich der Generation an, die das Duzen einst für ei­nen Fortschritt hielt und sich nur langsam zur Revision früherer Ideale durchringt. Allerdings: wie rede ich ihn an? Der Mann ist sechzig oder siebzig.
„Natürlich auch mit du“, sagt er mit herablassender Geduld, „ich tre­te in der ersten Person Einzahl auf.“ Kann der Gedanken lesen?
„Ja“, sagt er. „Eine der leichteren Übungen.“
Er zieht mich am Arm zu einer Parkbank. Entgeistert folge ich ihm und denke, dass ich, wenn das wirklich stimmt, jetzt nichts mehr denken darf.
„Versuch das gar nicht erst“, sagt er und lächelt.
Ich bin gern in Badenweiler, spaziere durch den Park und stelle mir vor, wie hier früher mondäne Damen, Dichter, Schwindler und Emporkömm­linge, Ausbeuter und Adel über den…
„Ausbeuter“, sagt der alte Mann, „so ein Quatsch. Erschien dir nie der Gedanke plausibel, ich könnte euch mit Bedacht so gebaut haben? Sagt dir der Name Darwin denn gar nichts?“
Will der Typ mir etwa im Ernst weismachen, er sei… er habe… das darf doch wohl nicht wahr sein!
„Doch“, sagt er, „darf es wohl. Du hast die Wahl: glaub‘s, glaub‘s nicht, mir egal, ich bin nicht so empfindlich wie ihr meint.“
Ich wage es kaum ihn anzusehen, aber irgendwie muss ich raus aus dieser verflixten Situation. Er sieht gar nicht aus wie ein Spinner. Aber wie sehen die aus? Spinner gibt‘s in jeder Form. Ich muss ihn loswerden. Schnell und höflich. Vor allem schnell. Ich hebe den Kopf und versuche, das Gesicht aufzusetzen, mit dem ich schon manches geschniegelte Mor­monenpaar Sonntag morgens um elf aus meinem Hausflur komplimen­tiert habe, aber mein Ausdruck blasierter Starre muss dem vollständiger Verblüffung gewichen sein, als ich ihn grinsend vor mir sehe, und er ist umgezogen!
„Da staunst du“, sagt er nur.
Allerdings staune ich. Er hat auf einmal einen Turban auf dem Kopf, Sandalen an den Füssen und ein indisches Gewand am Leib. „Tja“, sagte er und deutet mit dem Daumen auf zwei vorübergehende Inder, „das kommt von denen da.“
„Sie sind ein Zauberer, stimmt‘s? Sie wollen Ihre Tricks an mir pro­bieren“, sage ich. „Noch ein, zwei Wunder, dann geben Sie mir Ihre Karte, sagen Nichts für ungut und laden mich zu Ihrer Vorstellung ein.“
„Du“, sagt er nur.
Ich bin verärgert und fühle mich gehänselt. „Fällt mir schwer, Sie zu duzen, wenn Sie mir diese respekteinflössenden Nummern hier vorführen. Hauen Sie gleich noch ein Fünfmarkstück durch die Tischplatte? Soll ich in meine Brieftasche gucken, und da liegt dann Ihre Visitenkarte?“
„Deine“, sagt er.
„Ich hab keine“, antworte ich trotzig. 
„Keine Tricks, ehrlich.“ Seine Kleidung ist wieder wie vorher. „Und ausserdem, welche Tischplatte überhaupt?“
„Ich kapiere nichts mehr“, sage ich.
„Das fällt mir auch auf.“ In seiner Stimme ist ein Unterton von Spott. „Ich hätte gedacht, dass du ein wenig flinker wärst. Deine Bücher machten mir den Eindruck.“
Jetzt hat er mich wieder. Meine Bücher – wie schön so etwas klingt. Der Mann ist ein Fan und will mich beeindrucken, weil er selbst von mei­ner Arbeit so hingerissen ist. So jemanden fertigt man nicht ruppig ab, das wäre nicht anständig. 
„Ihr seid doch alle gleich“, sagt er seufzend, „die affigsten Ungeheu­er, die man sich vorstellen kann“, aber es klingt verzeihend und so, als freue er sich, den richtigen Knopf gedrückt zu haben. Dass er das weiss, ist mir peinlich.
„Komm schon, so war‘s auch nicht gemeint. Es ist nur, weil du manchmal über mich schreibst und ich bei deinen Texten hin und wieder schmunzeln musste, da dachte ich, ich mach dir eine Freude und sprech dich mal an.“
„Nett“, sage ich, „danke.“
„Na, auf geht‘s, du willst mir doch Fragen stellen. Die Gelegenheit, mich mal persönlich zu sprechen, das ist doch was, oder?“
„Aber ich glaube doch nicht mal an Sie…, dich.“
„Was meinst du, weswegen ich mit dir rede?“
„Weil ich‘s noch nötig habe vielleicht?“ 
„Hör mir gut zu“, jetzt klingt er ernstlich ungehalten. „Meine Zeit will ich nicht mit dir verplempern. Wenn du dich blöd stellst, dann war es das. Ich hatte so eine Vorstellung von amüsantem Geplauder. Auf zähen Dialog, bei dem es nur darum geht, dich von mir zu überzeugen, bin ich nicht scharf. Das ist ein bisschen unter meiner Würde, weisst du?“
„Alles klar“, sage ich, „Du bist es. Ich stell mich nicht mehr stur. Ver­sprochen. Und ich stell dir Fragen. Zum Beispiel die, warum du mit mir sprichst, obwohl ich nicht an dich glaube. Sprichst du nur mit Ungläubi­gen?“
„Ausschliesslich“, sagt er, „ja. Und unter denen am liebsten mit den Künstlern.“
„Und wieso?“
„Die lassen mir ein bisschen mehr Freiheit.“
„Die Künstler?“
„Die Ungläubigen überhaupt. Die haben keine so genaue Vorstel­lung von mir, da ist noch ein bisschen Spielraum zur Entfaltung drin. Und die Künstler haben den Vorteil, mich als Konkurrenz anzusehen, das macht es kurzweiliger. Übrigens, da du davon sprichst, so ungläubig, wie du glaubst, bist du nicht. Die Art, wie du mich angezogen hast, spricht Bände. Dieser Anorak hier: ich bitte dich. Die weissen Haare. Dieser Turnlehrerstil. Du hast sehr wohl eine feste Vorstellung von mir.“
„Soll das heissen, dass du immer so aussiehst, wie sich jemand dich vorstellt? Dass du eine Art Chamäleon bist? Dass die Menschen dich phan­tasieren, und du die Gestalt ihrer Bilder annimmst?“ 
„Brav. Er hat‘s kapiert. Schön, dass du wieder klar bist. Mach einen Test.“
Das ist keine schlechte Idee. Ich muss ihn mir nur vorstellen und prü­fen, ob er sich entsprechend verwandelt. Aber nein, Mist, das geht ja nicht. Er kann doch Gedankenlesen. Das bewiese also gar nichts.
„Bist du immer noch am Beweisen? Ich dachte, das hätten wir hinter uns.“
„Entschuldige“, sage ich betreten.
Er legt seine Hand auf meinen Arm und sagt: „Schau mich an, wenn jemand vorbeikommt. Vielleicht hast du Glück und es ist ein Japaner. Achtung. Da kommen welche. Sogar schön hintereinander, die Versuch­sanordnung stimmt also. Konzentrier dich, dann hast du was zu lachen.“
Bis die drei Spaziergänger nah genug herangekommen sind, frage ich ihn noch, ob er hier wohne, er sagt „Nur zur Zeit, bin auf Kur“, und da passiert uns schon der Erste, ein älterer Herr mit sensiblem Gesicht, einer Baskenmütze und langem, weissem Haar. Ich beobachte meinen Neben­mann genau, und tatsächlich verwandelt er sich blitzschnell in eine rötli­che Wolke voller undefinierbarer Gestalten, ich glaube Tiere zu sehen, ei­nen Baum, eine Art Vulkanausbruch und eine Menge Gewusel, dessen Konturen ich nicht zu erfassen vermag. 
„Pech“, sagt er und hat wieder seine normale Gestalt. „Das war ein Waldorflehrer. Achtung, der Nächste. Pass auf.“
Der Zweite, auch ein älterer Herr, im Pullover und mit einer Akten­tasche unterm Arm, geht mit schnellem Schritt an uns vorbei. Wieder ver­wandelt sich mein Turnlehrer, und sein Anblick wechselt schnell und ab­gehackt wie unter Stroboskoplicht zwischen einem Dreieck mit Auge und dem klassischen, bärtigen, nikolausähnlichen alten Mann. „Na siehst du?“ sagt er und lächelt mich an. „Au, jetzt bin ich selber gespannt. Eine Mutter mit Kind.“
Die Frau geht vorbei. Sie ist jung, trägt ihr Baby in einem Tuch über der Schulter und lächelt mir flüchtig zu. Ich habe keine Zeit, zurückzulä­cheln, oder mich zu wundern, dass sie nur mich und nicht den alten Herrn neben mir beachtet, weil ich seine Verwandlung nicht verpassen will. Es ist unglaublich: Er ist zwei Gestalten gleichzeitig. Die eine sieht ein bisschen aus wie George Clooney oder Cary Grant, aber ich kann mich nicht darauf konzentrieren, denn die andere ist eine riesige weibliche Brust. Ein phä­nomenaler, in seiner Monstrosität befremdlich skurriler Anblick. Ich bin sprachlos.
Er sitzt wieder vor mir in seinem Anorak und lacht von Ohr zu Ohr. „Das war gelungen, auf sowas hab ich gehofft“, sagt er, „das lässt uns den fehlenden Japaner verschmerzen.“
Wir schweigen eine Weile, denn mein Kopf ist jetzt tatsächlich so leer, wie ich ihn noch vor wenigen Minuten gern gehabt hätte. Er wartet geduldig, bis ich wieder soweit gefasst bin, dass ich eine vernünftige Frage stellen kann: „Heisst das, also, begreif ich das richtig, dass die Menschen dich erschaffen? Ihre Vorstellung von dir ist alles, was es gibt?“
„Na, der Gedanke wird dir doch nicht neu sein. Ja, um dir richtig zu antworten, das heisst es.“
„Sehen sie dich?“
„Nur die Künstler. Normale Menschen haben ihre Phantasien nicht als Wirklichkeit vor Augen.“
„Wenn jetzt einer vorbeikäme, der das Geld anbetet, würdest du dann als Tresortür oder Bündel von Scheinen hier liegen?“
„Theoretisch ja“, sagt er, „aber praktisch kommt das nicht vor. Kein Mensch stellt sich mich als Geld vor. Das ist eine Metapher. Hat nichts mit der Realität zu tun.“
„Und bei einem Atheisten?“
„Nichts. Absolut nichts. Da verschwinde ich einfach. Kommt aller­dings sehr selten vor. Echte Atheisten sind sehr, sehr dünn gesät.“
„Halt“, sage ich nach kurzem Nachdenken, „da stimmt doch was nicht. Vorher hast du behauptet, du habest die Menschen so gebaut, dass einer den andern ausbeutet, und jetzt soll ich dir glauben, dass die Men­schen dich erschaffen, entsprechend ihrer Wünsche und Phantasie. Da stimmt doch die Reihenfolge nicht!“ Ich bin stolz auf meine glasklare Lo­gik.
„Du meinst“, sagt er, „wenn ich die Menschen erschaffen habe, dann können sie nicht mich erschaffen haben?“
„Ja“, sage ich. „Genau.“
„Denk noch mal drüber nach. Ich kann sie doch so erschaffen haben, dass sie mich phantasieren, und sie können mich so phantasieren, dass ich sie erschaffen habe. Mit deiner Logik kommst du nicht so weit, wie du glaubst.“
„Hm“, sage ich. 
„Ich muss los.“ Er erhebt sich von der Bank. „War nett mit dir zu plaudern. Hast du noch eine Frage?“
„Ja, halt.“ Ich bin erschrocken, denn da das Eis nun mal gebrochen ist, könnte ich ewig so weiterfragen. „Moment, eine Frage noch: Gibt es dich?“
„Frag dich selber, ich bin deine Idee.“
Er geht, ich bleibe sitzen und rufe ihm nach: „Wenn du meine Idee bist, was ist dann mit dieser Begegnung hier? Ich treff dich, obwohl ich nicht mal an dich glaube. Das kann doch nicht meine Idee sein!“
„Doch“, ruft er fröhlich, „Selbstverständlich. Du musst mal dein Ver­hältnis zu Ideen überprüfen.“
Auf einen Schlag ist er verschwunden. Die späte Blondine im Pelz­mantel, die eben an ihm vorbeiging, das heisst, nur auf ihn zu, muss also ei­ne echte Atheistin sein. Ich hätte Lust, sie darauf anzusprechen, aber mein Bedarf an Gesprächen ist gedeckt.

Thommie Bayer «Das Glück meiner Mutter», Piper, 2021, 224 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05726-4

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück», «Das innere Ausland» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

Rezensionen von «Das innere Ausland«, «Seltene Affären» und «Das Glück meiner Mutter» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Peter von Felbert

Einlandung zu «Literatur am Tisch» mit Martina Clavadetscher und ihrem Roman «Die Erfindung des Ungehorsams»

Am 7. Juli lädt Literaturport Amriswil zu «Literatur am Tisch» ein. Ein ganz besonderes Format mit einer ganz besonderen Autorin.

Hitze, Regen, beissender Gestank. Iris tigert in Manhattan durch ihr Penthouse und wartet voller Ungeduld auf die nächste Dinnerparty, die ihr wieder ein wenig Leben einhaucht. Ling, angestellt in einer Sexpuppenfabrik im Südosten Chinas, kontrolliert künstliche Frauenkörper auf Herstellungsfehler, bevor sie sich abends bei Filmklassikern in ihre Einsamkeit zurückzieht. Und im alten, düsteren Europa folgt Ada ihren mathematischen Obsessionen, träumt von Berechnungen und neuartigen Maschinen, das Ungeheuerliche stets im Kopf.

Drei Frauen in drei Welten: Sie alle sind auf der Suche nach einer Antwort – nach dem Kern der Dinge. Und sie alle sind, ohne es zu ahnen, miteinander verbunden.

Alle Teilnehmenden sollten das Buch gelesen haben. Das Treffen beginnt um 19 Uhr und dauert in der Regel bis 21 Uhr. Für 50 CHF bekommen Sie einen Abend in Literatur eingetaucht, Speis und Trank und eine unvergessliche Erinnerung!

Eine Anmeldung ist unerlässlich, die Platzzahl sehr beschränkt! info@literaturblatt.ch

Literatur am Tisch bei Gallus und Irmgard Frei-Tomic – das ist ein bisschen wie fliegen. Wenn ein knappes halbes Dutzend Leserinnen und Leser über ein Buch reden, unverkopft und unverkrampft, ehrlich und auf Augenhöhe, dann stellt sich ein Gefühl ein, als setze die Schwerkraft aus. Für zwei, drei Stunden. Eine wunderbare Leichtigkeit, die man gerade als Autor selten empfindet.
Ich wünsche Gallus und Irmgard, dass Sie noch lange die Kraft haben, Menschen auf diese Art und Weise das Gefühl vom Fliegen zu ermöglichen!“ Andreas Neeser

Zaher Al Jamous «Die Liebe im Militärrat»

Heute vor genau dreissig Jahren und während ich in einer Lektion der Arabischen Sprache den Aufbau eines Satzes an der Wandtafel grammatikalisch erklärte, stürzte plötzlich der Lehrer des Fachs Militärisches ins Klassenzimmer. Er rief schreiend meinen Namen: „Al-Jamous, folge mir sofort, damit wir herausfinden können, wer der Täter ist und wer das Opfer!“ Hätte er den Boden unter meinen Füssen nicht schreiend zum Beben gebracht, hätte ich gedacht, er wäre gekommen, um anstatt meiner Selbst den Satz grammatikalisch auseinanderzunehmen. Doch er zeigte mit dem Finger verächtlich auf mich: ich müsste sofort das Klassenzimmer verlassen. Die Lehrerin für Arabische Sprache unternahm nichts dagegen, ja, sie traute sich nicht mal, nach dem Grund zu fragen. Als ich sie fragend anschaute, wurde mir klar, dass sie von mir nichts anderes erwartete, als den militärisch schreienden Lehrer zu begleiten. Sie sprach kein Wort, ihre strengen Augen jedoch rieten mir, seinen Befehl widerstandslos zu befolgen. Was ich auch auf der Stelle tat.

Ich erinnere mich gut daran, wie er mir befohlen hat, ihm zu folgen und als er die Türe hinter sich zugeschlagen hatte, stiess er mich mit seiner Hand, mit der Absicht, mich zu erniedrigen. Seine verachtenden Worte schlugen wie Blitz und Donner auf meinen Kopf und auf meine Ohren herab. Meine Tränen brachen hervor wie ein Platzregen. „Warum erniedrigen Sie mich so?“, fragte ich ihn weinend. Mein kindliches Auffassungsvermögen konnte seine wütende Antwort kaum erfassen: „Wie kannst du eine solche Frechheit haben, sowas zu fragen?!“ Seiner Auffassung nach hatte ich nicht das Recht, ihn zu fragen, denn was ich „getan“ hatte, war in seinen Augen selbstverständlich ein Verbrechen und darum dürfte ich keine Fragen stellen. Ein weiteres Mal stiess er mich, und zwar auf der Treppe vom zweiten in den ersten Stock. Ich hatte das Glück, das Geländer im letzten Moment beidhändig gefasst zu haben, bevor ich fallen konnte. Für einen Moment konnte ich stehen bleiben. Dann zog er mich an meinen militärischen Kleidern in Richtung des Büros des Schuldirektors. Unglücklicherweise war der meiner Meinung nach offenherzige Direktor nicht anwesend. Ahmad – so hiess der Militärlehrer – öffnete die Türe und stiess mich ein weiteres Mal, so dass ich vorausfiel – direkt vor den Militärrat.

Der Rat bestand aus drei Mitgliedern: Ahmad selbst, der für das Fach Militärisches zuständig war und dessen Name sowie dessen Aussehen ich mein Leben lang nicht mehr vergessen werde; Samira, die Schulsekretärin, die für unsere Schülerdokumentation zuständig war; und Ahmad, der Mathelehrer. Der Letztere verbrachte gerade seine Pause damit, mir zuzusehen, wie ich fast hingerichtet werden sollte. Ich hob meinen Kopf und fragte: „Was soll das alles?“ Ich fragte aber nicht danach, was ich denn getan hätte – ich hatte mir ja nichts zuschulden kommen lassen. „Warum all diese Gewalt?“, fragte ich erneut.

«Wie erlaubst du dir da sowas zu fragen?» antwortete Samira, während sie den Fuss nervös rauf und runter bewegte. In ihrer Hand hielt sie einen Olivenzweig, mit dem sie immer mal wieder Kinder zu schlagen pflegte, die sich nicht rechtzeitig im Schulhof zum militärischen Gruss an Al-Asad einfanden. Die ganze Schule musste dort jeden Morgen mit voller und einiger Stimme „Asad Qa‘iduna ila al-Abad“ – „Asad ist unser Führer bis in alle Ewigkeit“, rufen. Unsere Kinderstimmen waren ständig von den Worten „Asad“ und „Abad“ beherrscht und unser Bewegungsapparat war ebenfalls ständig beherrscht vom militärischen Armhervorstrecken in Richtung des mannigfaltigen Konterfeis des Führers, der in der Schule allgegenwärtig war. Eigentlich sahen wir nicht viel anders aus als die Hitlerjugend. Mit jenem Olivenzweig hatten meine beiden Hände sehr viel Erfahrung, denn Asad war für mich kein einziger Tag lang mein Führer.

„Mit welcher Frechheit wagst du es, uns anzuschauen und zu fragen? Gewalt? Von welcher Gewalt sprichst du!?“ Das ist nur ein kleiner Teil dessen, was du verdienst. Dein Vater und deine Brüder werden dich heute noch auspeitschen, schlagen und einsperren und sie werden eilends diese Schande wieder wettmachen, indem sie dich verheiraten. Du bist sehr frech“, fügte die Lehrerin noch hinzu und sie labte sich daran, wie sie meine Seele ohrfeigte.

„Schande? Von welcher Schande sprechen Sie, Frau Lehrerin?“, fragte ich sie. Ahmad, der Vorsteher des Militärrates, schrie: „Bist du in die Schule gekommen, um hier zu lieben und unmoralische Beziehungen einzugehen!? Du bist so unverschämt!“ Als ich gerade etwas sagen wollte und meinen Mund öffnete, begann anstelle der anderen der Mathematiklehrer, mich zu piesacken und mich niederzumachen. Sie wiederholten: „Wir werden es deinem Vater und deinen sechs Brüdern sagen; der jüngste und der älteste Bruder werden sich dabei abwechseln, dich zu schlagen.“ Also schrie ich ihnen zu: „Macht schnell und ruft sie an, damit mein Leiden bald ein Ende findet!“

Ein Satz durchbohrt mein Gedächtnis

Die Lehrerin sagte: “Natürlich werde ich anrufen, damit ich die Möglichkeit bekomme, zu sehen, wie deine Nase in den Dreck gedrückt wird und nichts wird deine Sünde wegwaschen ausser der Geruch von Blut.” Ich werde ihr Gesicht nie vergessen, als sie diesen Satz sagte, diesen Satz, der sich mir ins Gedächtnis brannte. Sie sagte dies, währendem sie ihre Zähne zusammenbiss wie eine Hyäne.

Samira die Hyäne fauchte ins Telefon und wies meinen Vater an, er solle sofort in die Schule kommen, ohne ihm zu sagen, warum es ging, aber das es sehr eilig wäre. Diese halbe Stunde, die mein Vater brauchte, um zur Schule zu gelangen, kam mir vor wie ein ganzes Jahr. Ahmad der Lehrer schwieg während dieses Jahres keinesfalls, und seine Worte waren schrecklicher als je zuvor. Seine Worte waren wie Steine, die von allen Seiten auf mich hereinprasselten. Schliesslich kam mein Vater zum Militärrat und ich war dort, die kleine Soldatin, die an der Guillotine kniete. Mein Vater eilte zu mir, hob mich hoch, drückte mich an seine Brust, küsste mich auf den Kopf und fragte die anderen wütend: „Warum kniet meine Tochter auf dem Boden!? Ich will sofort eine Antwort!“

Da sagte ihm Samira: “Wenn Sie wüssten, was sie gemacht hat, dann würden Sie sie ohrfeigen, anstatt sie zu drücken und zu küssen.”

„Warum kniet meine Tochter auf dem Boden!?“, schrie mein Vater in ihr Gesicht.

Die Lehrerin beeilte sich, meinem Vater ihr Gift ins Gesicht zu speien und sagte: “Wir fingen einen Liebesbrief ab, der für Ihre Tochter bestimmt war.“ Mein Vater sah mich an und küsste mich noch einmal auf den Kopf. Dies überraschte die Schlange und sie sagte: „Aber ich sagte Ihnen: Wir haben einen Liebesbrief gefunden!“, und sie schaute zum Lehrer des Militärischen, sodass er sprechen sollte. Dieser zog seine Uniform zurecht, holte tief Luft, zog einen Brief aus seiner Hosentasche und sagte: „Als ich der neunten Klasse gerade beibrachte, wie man die Kalaschnikow auseinandernimmt und wieder zusammensetzt, sah ich einen Schüler, wie er einer Mitschülerin diesen Brief zusteckte. Ich riss den Brief aus ihrer Hand, las ihn und es wurde unmissverständlich klar, dass dies ein Liebesbrief war, der an ihre Tochter gerichtet war. Ein Liebesbrief in diesem Alter bedeutet, dass sie in Zukunft unzüchtige Taten begehen wird. So brachte ich Ihre Tochter hierher, da es unsere aller Pflicht ist, Sie davon zu unterrichten, damit Sie diese Schande tilgen.“

Mein Vater nahm einen tiefen Atemzug und schrie in sein Gesicht: „Sie sind derjenige, der die Schande wiedergutmachen muss, Sie Idiot!“

„Ich!? Es ist nicht meine Tochter, die lebendig begraben werden müsste!“, sagte Ahmad der Lehrer.

„Sie sind derjenige, der jemanden lebendig begraben sollte, und zwar sich selbst, Sie Idiot! Geben Sie ihr sofort den Brief!“, befahl mein Vater und zeigte auf mich. „Lies laut vor!“

Ich nahm den Brief entgegen und öffnete ihn und er verströmte sogleich einen zauberhaften Duft. Dies war der erste Brief, den ich von einem Militär anstelle eines Postmanns erhielt. Ahmad der Militärlehrer warf mir Blicke zu wie Kugeln aus Blei und Ahmad der Mathematiklehrer zählte meine letzten Atemzüge und berechnete, wie viele Minuten mir bleiben würden, bis ich diesen Militärrat für immer verlassen und sterben müsste. Ich sah Samira an, die meine Kindheit vergiftet hatte, und begann damit, den ersten Satz zu lesen.

Zaher, mein Schatz حبيبتي زهر

Mein Schatz, ich möchte so gerne dein Herz gewinnen. Seit ich dich zum ersten Mal sah, schlägt mein Herz im Rhythmus deines Namens. Was für ein Glück es ist, deinen Namen aussprechen zu dürfen. Dein Name allein bedeutet Glück. Wie gross doch mein Glück ist. Jeden Morgen versuche ich, dir ‚Guten Morgen‘ zu wünschen, wenn du wie eine Wolke an mir vorbeiziehst. Aber ich stottere, und in meinem Herzen regnet es Traurigkeit. Erneut versuche ich jeweils am Ende des Tages dir bis zur Tür deines Hauses zu folgen, um dir ‚Tschüss‘ zu sagen, aber ich stottere erneut. Jede Nacht versuche ich, mutig zu sein, denn deine Liebe sehnt sich nach einem mutigen jungen Mann. In meinen Träumen habe ich ein Treffen mit dir und flüstere dir Worte der Liebe in dein Ohr. Ich frage mich, wie oft ich dir noch morgens sagen werde, dass ich dich liebe, und wie oft ich dir noch sagen werde, dass ich dich abends vermisse. Ich werde zu dir segeln, währendem sich um mich herum Haie tummeln. Ich weiss, dass der Sturm gegen mein Schiff branden wird, aber ich werde das Ruder auf Kurs halten. Ein Tagtraum sagt mir, dass du als Meerjungfrau am Strand auf mich warten wirst. Ich werde als Prinz anlanden und eine Perlenkrone tragen. Mein Schatz, eile nicht, sodass du deine süsse Stimme nicht an eine der Seeschlangen verlierst. Ich wählte deine Liebe, denn deine Liebe funkelt so schön zwischen den Korallen und den Austern. Nimm meine Hand und tauche mit mir hinab – ich schenke meine Seele dem Wächter des Strandes.

Ich liebe dich, mein Mädchen.


Zahir زاهر

Es herrschte eine Todesstille im Exekutionssaal, jeder sah ins finstere Gesicht des Anderen. Da brach mein Vater die Stille und bat den Militärlehrer, den Zahir zu holen, und zwar ohne ihm weh zu tun, so wie er es mit mir gemacht hatte.

Zahir wurde hereingebracht, zitternd, mit gerötetem Gesicht und schwitzend. Wir wussten nicht, ob Ahmad der Lehrer Zahir beleidigt hatte, bevor er ihn ins Zimmer brachte. Aber er war offensichtlich verängstigt.

Mein Vater fragte ihn: “Hast du diesen Brief geschrieben?” Zahir antwortete nicht, denn er war sich nicht sicher, was da auf ihn zukommen würde. Mein Vater klopfte ihm auf die Schulter und sagte: „Du hast im Brief geschrieben: ‚..deine Liebe benötigt einen mutigen jungen Mann‘ – also, warum jetzt plötzlich so schüchtern?“ Zahir ergriff die Hand meines Vaters, küsste sie und sagte: „Bitte verzeihen Sie mir, ich habe einen Fehler begangen.“

Mein Vater legte den Brief in Zahir’s Hand und sagte noch einmal: “Lies ihn laut vor.” Während Zahir zitternd vorlas, wuchs in den Gesichtern der Mitglieder des Militärrates die Verblüffung. Zahir beendete seinen Brief und der Moment war gekommen, da alle eine Ohrfeige verpasst bekommen sollten. Die erste Ohrfeige kam, als mein Vater sagte: „Entschuldige dich nicht, denn du hast keinen Fehler begangen. Ich bin sehr stolz auf dich. Das nächste Mal, wenn du einen solch schönen Brief an meine Tochter senden möchtest, komm damit zu mir und ich werde ihn unter ihr Kissen legen. Oder gib ihn einem ihrer Brüder. Und stottere morgens nicht.“

„Und ihr, schämt ihr euch etwa nicht!?“, und er richtete das Wort direkt an den Militärlehrer. „Haben Sie etwa nicht eines Tages gelernt, dass man keine Briefe lesen darf, wenn sie nicht Ihren Namen oder etwa Ihre Adresse tragen!? Dieser Brief ist an meine Tochter adressiert und Sie haben nicht das Recht dazu, auch nur einen Buchstaben davon zu lesen! Und Sie“ – und er richtete sich an Samira – „Sie wurden wohl von mir enttäuscht, nicht wahr? Und Sie, Lehrer Ahmad, Sie werden sich beim Zählen definitiv verrechnen – Sie werden niemals herausfinden, wie viele Briefe zu meiner Tochter gelangen werden. Was für eine Schande!“


Der Wächter der Liebe

Ich hatte Zahir bis dahin nie kennengelernt. Es war das erste Zusammentreffen mit ihm, damals im Militärrat, aber es war nicht das Letzte. Während eines ganzen Jahres wartete er jeden Morgen darauf, dass ich aus dem Haus kommen würde, um an meiner Seite gehen zu können. Seit jenem Tag stotterte er nicht mehr, vielmehr wurde er Experte im Zurufen eines Hallos. Er wurde zum Wächter der Liebe, die in seinem Herzen wohnte. Er hat mir seitdem nie mehr geschrieben, sein erster Brief war auch sein Letzter. Ich sagte Zahir, dass ich ihn nicht lieben würde, dass ich zu jung wäre für die Liebe. Es war aber nicht deswegen, dass Zahir keine Briefe mehr schrieb, sondern weil seine Briefe von nun an von seinen Lippen kamen. Es verging kein Tag, an dem Zahir mir nicht seine Liebe bekundete, und jedes Mal kam es mir vor, dass seine Liebe grösser wurde, aber so wuchs auch meine Furcht.

Jahre vergingen und wir wurden älter, und Zahir wartete jeden Morgen am gleichen Ort auf mich.

Und so flogen die Jahre dahin, und ich merkte jeden Morgen mehr, dass eine Militäruniform für mich total unpassend war. Ich brüllte wie ein Büffel in der Herde und fand mich eines Tages verstossen wieder, wie ich da alleine brüllte.


Schweizer Regen und ein Arabischer Kuss, der nach Kardamom schmeckt

Hier, in der Schweiz, im Angesicht der Berge und am Fluss stehend, warf ich den Umhang der Politik ab und warf mir meinen eigenen Mantel über. Dieser Mantel ist leicht und durchsichtig, er sitzt mir gut und behindert meine Bewegungen nicht. Ich kann damit gleichzeitig tanzen und rennen, und der Mantel kann zwei Flügel ausfahren, mit denen ich fliegen kann, hoch hinaus fliegen. Der Mantel faltet sich auch zusammen, damit ich gut landen kann. Wie schön er doch ist! Er ist bestickt mit den Buchstaben des Alphabets. Nun muss ich nicht mehr beweisen, wer das Subjekt ist und wer das Objekt. Ich selbst wähle bloss die Buchstaben aus und vereine sie, ganz ohne einen grammatikalischen Vertrag und ohne eine politische Erlaubnis. Ich lasse die Vermählung der Wörter mit meinem Gesang hochleben. Wie schön ist es doch nun, mein Brüllen!

Er lächelte und sagte zu mir: “Wie sehr ich doch das Wort ‘Al Khwar – das Brüllen’ mag.” Ich antwortete ihm: „Es ist ein weiblicher Büffel, der schreibt, und nicht ein weiblicher Mensch.“ Er küsste mich, währendem ich Kaffee schlürfte und so kam es, dass der Kuss nach Kardamom schmeckte. Es war nicht ein Kuss wie alle anderen Küsse, und ich war ein weiblicher Büffel, also ungleich anderen Menschen.

„Wird die Geschichte so enden?“, frage mich mein Schatz.

„Nein, mein Lieber, Liebesgeschichten enden nicht, sie sind nur ein Anfang.“

Fortsetzung folgt.

Zaher Al Jamous

14/02/2021



Anmerkung für Leser:innen:

Mein Familienname ist “Al-Jamous”, was auf Arabisch „der Büffel“ bedeutet. Deswegen soll in diesem Text das Wort als „der Büffel“ übersetzt und verstanden werden.
Bevor die Schülerinnen und Schüler in Syrien in ihre Klassenräume gehen, müssen sie morgens vor der Syrischen Flagge salutieren und den Präsidenten Baschar al-Asad hochleben lassen. Früher war es sein Vater, Hafez Al-Asad. Wir haben auch militärische Schulfächer, wo wir die Grundätze des Militärischen lernen wie etwa das Marschieren, sowie auch, wie man eine Waffe auseinander nimmt und wieder zusammensetzt. Auch lernen wir das Benützen der Waffe. Der militärische Unterricht beginnt im siebten Schuljahr, also in der Sekundarschule, und die Schülerinnen und Schüler müssen auch eine militärische Uniform tragen. Sodass wir alle zusammen Soldaten Asads werden sollten – so nannte man uns auch in der Schule.
Der Lehrer des Militärfaches hatte eine irreguläre Autorität über alle anderen. Das bedeutet, dass er in den Herzen der Schülerinnen und Schüler Angst säte, und dies nicht nur durch strenge Anordnungen, die nichts mit Erziehung oder Schule zu tun hatten, sondern auch durch die Militäruniformen. Dies alles ist politische Symbolik, die zum Ziel hat, die Leute dem Diktat des Regimes von Al-Asad und seiner Entourage zu unterwerfen. Es sollte hier auch erwähnt werden, dass diejenigen Schülerinnen und Schüler, die später am Institut für Sport und Militärisches studierten, und die später Lehrerinnen und Lehrer für Militärisches wurden, meist diejenigen waren, die in der Sekundarschule schrecklich abschnitten.

Zaher Al Jamous wurde 1978 in Syrien geboren. Sie studierte englische Literatur an der Universität Damaskus. Sie ist Journalistin, arbeitete für das syrische Fernsehen und unterrichtete Englisch an syrischen Schulen. Al Jamous flüchtete mit ihren drei Kindern in die Schweiz, um in Bern eine zweite Heimat zu finden.

Der Web Magazin www.lucify.ch wurde von hochausgebildeten Frauen mit Migrationshintergrund gegründet, die sich ihren Platz in den Schweizer Medien seit 3 Jahren erfolgreich erkämpft haben und einnehmen. Neben ihrem journalistischen Engagement haben Zaher Al Jamous (Syrien), Maya Taneva(Nordmazedonien), Anna Butan(Russland), und Faten Al Soud (Irak) ihren Beruf als Schriftstellerinnen weiterverfolgt und so wurde ein Teil des Lucify Kollektivs in eine Gesellschaft der Schriftstellerinnen umgewandelt. Die Lucify Schriftstellerinnen sind an Zuwachs interessiert und kreieren ein wichtiges Netzwerk der Schriftstellerinnen mit Migrationshintergrund in der Schweiz.

Meine ganz persönlichen Highlights des 25. Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

Es schien, als hätte die Leitung der Jubiläumsausgabe des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad sämtliche unbeeinflussbaren Einwirkungen doch irgendwie besänftigen können: Das Festival stand unter einem guten Stern, in allen Belangen.

Wie würde das Festival sein? Ohne die Abende in den wasserentleerten Becken des Thermalbads? Mit Zelten? Was wäre, wenn sintflutartige Regengüsse auf die Zelte trommeln würden? Wenn sich die Wiesen in Festivalmatsch verwandeln? Nichts davon geschah. Es fügte sich alles harmonisch ineinander. Alles passierte so, wie man es sich erhofft hatte und es breitete sich erleichterte Zufriedenheit aus. Nicht zuletzt darum, weil es ein Experiment sein sollte, die beste Gelegenheit, mit Traditionen zu brechen, deren Alternativen sich viel genussfördernder erwiesen.
Als ich am Sonntag mit dem Bus die Kurven aus dem Tal hinunterfuhr, war ich mehr als zufrieden. Beglückt! Verführt und beseelt! Das Festival in Leukerbad hat mich einmal mehr gewonnen. Auch weil man dort besondere Namen trifft, weil man sie wirklich trifft, weil man die Gelegenheit geboten bekommt, ihnen wirklich zu begegnen, nicht nur aus der Ferne. Aber weil dieses Festival Überraschungen birgt, mit denen man nicht rechnet, selbst dann, wenn man wie ich, ihre Lesungen versäumt.

Es gab sie grossen Themen am diesjährigen Festival, grosse Namen und spektakuläre Diskussionen mit langanhaltendem Applaus. Aber es gab auch die leisen Töne, das Spektakel der Sprache, die Bezauberung. «Kapital und Ressentiment», «Nationalismus», «Brücken über den Röstigraben», «Populismus» oder «Gewalt gegen Frauen» hiessen die Themen der Diskussionen – auch wenn ich nicht verstand, dass bei den einen Themen nur Frauen, bei anderen Themen nur Männer auf der Bühne sassen, waren viele Themen doch auch ein Statement dafür, dass die offenen Gräben zwischen den Geschlechtern noch immer klaffen.
Aber es war auch ein Fest der Sprache, sei es in Lyrik oder Prosa.

Schmerzlich für mich war die Feststellung, dass ich einen der literarischen Höhepunkte versäumt hatte. Nachdem ich andere Festivalbesucher:innen immer wieder nach ihrem absoluten Highlight fragte, wurde immer wieder der eine Name genannt: Jakub Małecki! Der 1982 in Polen geborene Schriftsteller ist in seinem Heimatland ein gefeierter Autor, veröffentlichte fast ein Dutzend Romane. «Rost», sein erster auf Deutsch erschienener Roman ist die Geschichte des siebenjährigen Szymek, dessen Eltern bei einem Autounfall sterben, den man zu seiner Grossmutter Tosia bringt, raus in die Provinz, in ein Leben, dass so ganz anders tickt als das alte. Jakub Małecki erzählt aber auch die Geschichte der Grossmutter, die Auswirkungen jener Brüche, die der Krieg hinterliess, was mit den Menschen im kleinen Ort Cholny passierte. Dass «Rost» nun im Buchhandel liegt, sei einem reinen Zufall zu verdanken. Der Verleger sah den auf Polnisch ebenfalls „Rost“ betitelten Roman aufliegen, nahm ihn zur Hand und liess danach nicht mehr los. Jakub Małecki hat mit «Rost» ein im Licht der dörflichen Besonderheit erstrahlendes Lebenspanorama erschaffen, das aus Cholny heraus tief in unsere Welt zu leuchten vermag.
Als ich mir in der Festivalbuchhandlung den Roman von Jakub Małecki kaufen wollte, war dieser schon am zweiten Festivaltag ausverkauft.

Jakub Małecki im Gespräch mit Thorsten Dönges

Ein grosses Versprechen ist auch der neue Roman von Eva Menasse, von dem sie exklusiv zum ersten Mal einige Abschnitte vor Publikum las. Der Roman «Dunkelblum», der im kommenden August erscheinen wird, leuchtet in einen fiktiven Ort, eine Kleinstadt an der österreichisch-ungarischen Grenze. Während man 1989 Zeuge wird einer Massenflucht aus der sich auflösenden DDR, taucht ein rätselhafter Besucher im Städtchen auf, findet man ein Skelett in einer Wiese am Stadtrand und verschwindet eine junge Frau. Alles an dem Ort beginnt sich zu verschieben. Mit einem Mal tritt hervor, was man über Jahrzehnte totzuschweigen versuchte; all die Massaker, die in den Wirren des letzten Krieges geschahen. «Dunkelblum» ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen. Eva Menasses Sprache ist gestochen scharf, ihr Erzählen gekonnt konstruiert und alles durchsetzt mit einer bissigen Prise Humor.

Jan Filipenko mit seinem Roman «Der ehemalige Sohn»

Aber nebst all den tiefschürfenden und aufwühlenden Gesprächen und Diskussionen gab es auch Momente, in denen ich herzhaft lachen konnte. Christoph Simon, der gleich mit mehreren Publikationen nach Leukerbad fuhr und die Zeiten des Ein- und Ausgesperrtseins äusserst produktiv und kreativ zu nutzen wusste, hätte am Freitag um Mitternacht oben auf der Gemmi gelesen. Man musste sich durch die Nacht mit einer Seilbahn hinauf auf den Felssporn tragen lassen und wäre nicht nur mit dem Blick auf die Lichter Leukerbads (die einzigen Stunden des Tages, an denen der Ort selbst strahlt!), sondern mit dem hintergründigen, skurrilen Witz des Schriftstellers und Kabarettisten belohnt worden. Aber nach einem langen Festivaltag wollte ich mich vor der Bergfahrt nur ganz kurz auf meinem Bett im Hotel niederlegen, nur einen Augenblick. Als ich irgendwann in meinen Kleidern aufwachte, pfiffen bereits die Vögel. Glücklicherweise las Christoph Simon aber auch noch am Samstag. Neben literarischen Kostbarkeiten aus verschiedenen Büchern auch aus seinem neuen mit dem sinnigen Titel «und das nach vier milliarden jahren evolution», dem bislang einzigen Buch aus der edition merkwürdig. Wer bewiesen haben will, dass Lyrik alles andere als kopflastig, verschroben oder verunsichernd sein muss, lese in den Gedichten Christoph Simons. Da geht des Herz gleich mehrfach auf! Simons Gedichte sind als lyrische Stories angelegt. Sie haben alle einen Inhalt, der sich sogar nacherzählen lässt. Aber das lyrisch Unsagbare lauert zwischen den Zeilen und in jenen Zeilenabbrüchen, die immer dann auftauchen, wenn man glaubt, etwas linear kapiert zu haben

Das sind nur drei Namen. Nur ein ganz kleines Stück von dem Spektakel, das einem mitten in der felsigen Arena geboten wurde. Mit alle den Veränderung, die die Zeit dem Festival aufzwang, freue ich mich auf das kommende Jahr noch etwas mehr!

Weitere Bücher mit ihren Autorinnen, die in Leukerbad lasen:
Lukas Maisel «Das Buch der geträumten Inseln»
Anna Prizkau «Fast ein neues Leben»
Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr»
Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan»
Patrícia Melo «Gestapelte Frauen»

Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad