Meine ganz persönlichen Highlights des 25. Internationalen Literaturfestivals Leukerbad

Es schien, als hätte die Leitung der Jubiläumsausgabe des Internationalen Literaturfestivals in Leukerbad sämtliche unbeeinflussbaren Einwirkungen doch irgendwie besänftigen können: Das Festival stand unter einem guten Stern, in allen Belangen.

Wie würde das Festival sein? Ohne die Abende in den wasserentleerten Becken des Thermalbads? Mit Zelten? Was wäre, wenn sintflutartige Regengüsse auf die Zelte trommeln würden? Wenn sich die Wiesen in Festivalmatsch verwandeln? Nichts davon geschah. Es fügte sich alles harmonisch ineinander. Alles passierte so, wie man es sich erhofft hatte und es breitete sich erleichterte Zufriedenheit aus. Nicht zuletzt darum, weil es ein Experiment sein sollte, die beste Gelegenheit, mit Traditionen zu brechen, deren Alternativen sich viel genussfördernder erwiesen.
Als ich am Sonntag mit dem Bus die Kurven aus dem Tal hinunterfuhr, war ich mehr als zufrieden. Beglückt! Verführt und beseelt! Das Festival in Leukerbad hat mich einmal mehr gewonnen. Auch weil man dort besondere Namen trifft, weil man sie wirklich trifft, weil man die Gelegenheit geboten bekommt, ihnen wirklich zu begegnen, nicht nur aus der Ferne. Aber weil dieses Festival Überraschungen birgt, mit denen man nicht rechnet, selbst dann, wenn man wie ich, ihre Lesungen versäumt.

Es gab sie grossen Themen am diesjährigen Festival, grosse Namen und spektakuläre Diskussionen mit langanhaltendem Applaus. Aber es gab auch die leisen Töne, das Spektakel der Sprache, die Bezauberung. «Kapital und Ressentiment», «Nationalismus», «Brücken über den Röstigraben», «Populismus» oder «Gewalt gegen Frauen» hiessen die Themen der Diskussionen – auch wenn ich nicht verstand, dass bei den einen Themen nur Frauen, bei anderen Themen nur Männer auf der Bühne sassen, waren viele Themen doch auch ein Statement dafür, dass die offenen Gräben zwischen den Geschlechtern noch immer klaffen.
Aber es war auch ein Fest der Sprache, sei es in Lyrik oder Prosa.

Schmerzlich für mich war die Feststellung, dass ich einen der literarischen Höhepunkte versäumt hatte. Nachdem ich andere Festivalbesucher:innen immer wieder nach ihrem absoluten Highlight fragte, wurde immer wieder der eine Name genannt: Jakub Małecki! Der 1982 in Polen geborene Schriftsteller ist in seinem Heimatland ein gefeierter Autor, veröffentlichte fast ein Dutzend Romane. «Rost», sein erster auf Deutsch erschienener Roman ist die Geschichte des siebenjährigen Szymek, dessen Eltern bei einem Autounfall sterben, den man zu seiner Grossmutter Tosia bringt, raus in die Provinz, in ein Leben, dass so ganz anders tickt als das alte. Jakub Małecki erzählt aber auch die Geschichte der Grossmutter, die Auswirkungen jener Brüche, die der Krieg hinterliess, was mit den Menschen im kleinen Ort Cholny passierte. Dass «Rost» nun im Buchhandel liegt, sei einem reinen Zufall zu verdanken. Der Verleger sah den auf Polnisch ebenfalls „Rost“ betitelten Roman aufliegen, nahm ihn zur Hand und liess danach nicht mehr los. Jakub Małecki hat mit «Rost» ein im Licht der dörflichen Besonderheit erstrahlendes Lebenspanorama erschaffen, das aus Cholny heraus tief in unsere Welt zu leuchten vermag.
Als ich mir in der Festivalbuchhandlung den Roman von Jakub Małecki kaufen wollte, war dieser schon am zweiten Festivaltag ausverkauft.

Jakub Małecki im Gespräch mit Thorsten Dönges

Ein grosses Versprechen ist auch der neue Roman von Eva Menasse, von dem sie exklusiv zum ersten Mal einige Abschnitte vor Publikum las. Der Roman «Dunkelblum», der im kommenden August erscheinen wird, leuchtet in einen fiktiven Ort, eine Kleinstadt an der österreichisch-ungarischen Grenze. Während man 1989 Zeuge wird einer Massenflucht aus der sich auflösenden DDR, taucht ein rätselhafter Besucher im Städtchen auf, findet man ein Skelett in einer Wiese am Stadtrand und verschwindet eine junge Frau. Alles an dem Ort beginnt sich zu verschieben. Mit einem Mal tritt hervor, was man über Jahrzehnte totzuschweigen versuchte; all die Massaker, die in den Wirren des letzten Krieges geschahen. «Dunkelblum» ist ein schaurig-komisches Epos über die Wunden in der Landschaft und den Seelen der Menschen, die, anders als die Erinnerung, nicht vergehen. Eva Menasses Sprache ist gestochen scharf, ihr Erzählen gekonnt konstruiert und alles durchsetzt mit einer bissigen Prise Humor.

Jan Filipenko mit seinem Roman «Der ehemalige Sohn»

Aber nebst all den tiefschürfenden und aufwühlenden Gesprächen und Diskussionen gab es auch Momente, in denen ich herzhaft lachen konnte. Christoph Simon, der gleich mit mehreren Publikationen nach Leukerbad fuhr und die Zeiten des Ein- und Ausgesperrtseins äusserst produktiv und kreativ zu nutzen wusste, hätte am Freitag um Mitternacht oben auf der Gemmi gelesen. Man musste sich durch die Nacht mit einer Seilbahn hinauf auf den Felssporn tragen lassen und wäre nicht nur mit dem Blick auf die Lichter Leukerbads (die einzigen Stunden des Tages, an denen der Ort selbst strahlt!), sondern mit dem hintergründigen, skurrilen Witz des Schriftstellers und Kabarettisten belohnt worden. Aber nach einem langen Festivaltag wollte ich mich vor der Bergfahrt nur ganz kurz auf meinem Bett im Hotel niederlegen, nur einen Augenblick. Als ich irgendwann in meinen Kleidern aufwachte, pfiffen bereits die Vögel. Glücklicherweise las Christoph Simon aber auch noch am Samstag. Neben literarischen Kostbarkeiten aus verschiedenen Büchern auch aus seinem neuen mit dem sinnigen Titel «und das nach vier milliarden jahren evolution», dem bislang einzigen Buch aus der edition merkwürdig. Wer bewiesen haben will, dass Lyrik alles andere als kopflastig, verschroben oder verunsichernd sein muss, lese in den Gedichten Christoph Simons. Da geht des Herz gleich mehrfach auf! Simons Gedichte sind als lyrische Stories angelegt. Sie haben alle einen Inhalt, der sich sogar nacherzählen lässt. Aber das lyrisch Unsagbare lauert zwischen den Zeilen und in jenen Zeilenabbrüchen, die immer dann auftauchen, wenn man glaubt, etwas linear kapiert zu haben

Das sind nur drei Namen. Nur ein ganz kleines Stück von dem Spektakel, das einem mitten in der felsigen Arena geboten wurde. Mit alle den Veränderung, die die Zeit dem Festival aufzwang, freue ich mich auf das kommende Jahr noch etwas mehr!

Weitere Bücher mit ihren Autorinnen, die in Leukerbad lasen:
Lukas Maisel «Das Buch der geträumten Inseln»
Anna Prizkau «Fast ein neues Leben»
Michelle Steinbeck «Eingesperrte Vögel singen mehr»
Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan»
Patrícia Melo «Gestapelte Frauen»

Beitragsbilder © Literaturfestival Leukerbad

Christoph Simon «Dorfplatz Leukerbad – ein Gespräch während dem Literaturfestival»

Hey!
Hey! Alles klar?
Alles klar.
Wo warst du?
Auf der Alpina Terrasse.
Wer war da?
Der Maisel. Lukas Maisel. Erstlingswerk.
Wie war’s?
Sackstark. Mega sackstarkes Buch. Über einen Entdecker und über deutsche Flachspültoiletten und ferngesteuerte Kakerlaken. Ein Hit. Wo warst du?
Dala-Wanderung.
Wie war’s?
Super. Die Römer und so. Es gibt Leute im Wallis, die wollen dieses Tal fluten und eine Staumauer und wie die Grande Dixence.
Echt?
Vielleicht hab ich den Guide nicht richtig verstanden.
Wer hat gelesen?
Auf der Wanderung? Die Dana.
Ah, der Frankenstein-Roman.
Der Dracula-Roman.
Gut gewesen?
Fantastisch. «Echte Liebe braucht Überzeugung.» Sie hat von Bergunfällen erzählt und alle haben sich an der Hängebrücke festgehalten, als gäb’s kein Morgen.
Wohin gehst du jetzt?
Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Oh, da war ich gestern!
Wie war’s?
Bombastic. Sie ist impressive! Pures Gold!
Worum geht’s?
Ein Kind, ein Kätzchen, das Kind hat Asthma. Die Mutter hilft mit
Nelkenöl, Schwarzkümmelsamen, Dorschlebertran.
Das hilft?
Klar. Und das Kind wählt sich aus den Männern vom Schiff einen Vater, der will aber nicht sein Vater sein, aber «the more he runs the closer he gets». Wohin gehst du als nächstes?
Eben. Zu Yvonne Adhiambo Owuor.
Ah, ja.
Esther ist auch da.
Welche Esther?
Und der Gallus auch.
Die Esther vom Literaturhaus?
Der Gallus ist Literaturhaus. Die Esther weiss ich nicht.
Ich bin mit einer Esther im Shuttlebus gefahren. Sonst kenn ich keine Esther.
Weshalb warst du nicht auf der Gemmi gestern?
Ich war auf der Gemmi.
Ich hab dich nicht gesehen.
Wir haben in der Gondel gesprochen miteinander.

Echt? In welchem Hotel bist du?
Air B’n’B. Am Hang drüben.
Ah, Morgensonne.
Abendsonne.
Im Chalet Frieden?
Nein, Chalet Frohsinn.
Beim Schorsch?
Nein, beim Julius.
Der Julius von der Karin?
Nein, der Julius von der Monika.
Die Monika, die vom Karren gefallen ist?
Nein, die Monika, die auf den Karren gefallen ist. Beim Gleitschirmfliegen.
Schlimme Geschichte. Die Monika vom Schorsch.
Vom Julius.
Dort wohnst du.
Und du?
Hotel.
Nein, ich meine, wohin gehst du als nächstes?
Weiss nicht. Im Baldwin-Zelt ist Rolf Hermann, aber den versteh ich nicht.
Und im Bristol ist Peter Weber.
Der Regenmacherpeterweber? Cool. «Bei Gemütsverdunkelung: Lustbaden, lichtbaden, lachbaden.» Wer ist das dort drüben?
Die im Blauen?
Die im Weissen.
Die ist Pro Helvetia, glaub. der daneben ist Solothurn und die hinten dran könnte die Autorin aus Österreich sein.
Ist das nicht die von der Übersetzerwerkstatt?
Die ist dieses Jahr nicht da, die Übersetzerwerkstatt.
Dann ist es wahrscheinlich die Autorin aus Österreich.
oder ist es Monika?
Morgen dann noch Franziska Schutzbach.
Die kenn ich von Facebook.
Und Lukas.
Maisel? Die deutschen Flachspültoiletten?
Bärfuss. Der globale Nationalismus.
Ah ja, mit dem Lüscher.
Dem Lüscher seine Partnerin ist die deutsche Vorlesestimme von Yvonne Owuor.
Was du nicht sagst.
Da wolltest du doch hin.
Stimmt. Oder wollen wir uns setzen und was trinken?
Wir sitzen und trinken doch schon.

Beitragsbild © Literaturfestival Leukerbad

Christoph Simon «Trau keinem Künstler», Plattform Gegenzauber

Bevor wir ins Licht gezerrt und mit Preisen geehrt werden, leben wir Dichter im Untergrund. Um genau zu sein: In der Kanalisation. Zusammen mit Kriminellen, Flüchtlingen und Jungsozialisten. Wir ernähren uns vom Bodensatz der Weinflaschen, die wir im Schutz der Dunkelheit aus dem Altglas fischen. Manchmal finden Kanalarbeiter vom Städtischen Tiefbauamt unser Gekritzel an den Kanalwänden. Wundern sich über unsere Zigaretten- und Kerzenstummel. Brave Bürger, die in der Nähe eines Senklochs ihr Schlafzimmerfenster haben, hören unsere sehnsüchtigen Lieder und verwechseln sie vielleicht mit Geräuschen von Tagesverkehr oder Nachtgeistern. 
Neulich tigerte Kaiser unter einem Senkloch aufgeregt herum. Draussen war’s kalt und windig, und mich verwunderte Kaisers Aktivität. Gewöhnlich richtete er’s sich gemütlich ein unter Zieglers Plastiksäcken und notierte Tiefsinniges aus der Tiefe. Aufgeregt unter einem Senklochdeckel herumzustreichen, war nicht seine Art. Dort zog es nur und tropfte. 
„Willst du nach oben?“, fragte ich und hob den Senklochdeckel. Über uns die städtische Nacht. „Bring mir eine Flasche mit.“
Kaiser kletterte an mir vorbei die Leiter hoch. Ziegler und ich blickten ihm nach. Schauten ihm besorgt zu, wie er sich mitten auf die Strasse legte – nicht ungefährlich, so auf offener Strasse herumzuliegen. Aber dann hörten wir’s auch: Ein Piepen. Und dann erspähten wir ihn: Einen Kanarienvogel. Mit Tim&Struppi-Haartolle flatterte er auf der Verkehrsinsel herum – nicht ungefährlich, so auf einer Verkehrsinsel herumzuflattern. Offensichtlich fluguntauglich, vielleicht verletzt. 
Wie eine Raubkatze pirschte sich Kaiser an den Vogel heran. Wir ahnten, was er vorhatte. Ziegler sprang aus dem Senkloch und hielt Kaiser am Schuh fest und ich sprang an beiden vorbei, um den Vogel einzufangen, bevor ihn Kaiser oder Ziegler erwischen und über zwei Rechaudkerzen braten würden. Käme ich ihnen bei der Jagd zuvor, kriegte ich das bessere Stück ab. 
Aber ich näherte mich dem Vogel nicht vorsichtig genug. Verschreckt von meinem Nahen hüpfte er von seiner Insel herab, hüpfte über Strasse und Trottoir und verschwand hinter einem Gartenzaun, einem feuerverzinkten Gartenzaun in heimischer Topqualität, verschwand im Garten unserer Tomaten-, Basilikum- und Schnittlauchlieferantin. 
Ich ging ums Haus herum und klingelte bei der oberirdischen Nachbarin und erklärte ihr durch den Türspalt die Sachlage: Ein armer Vogel, verletzt in ihrem Garten. Die Nachbarin kam mit dem Bescheid zurück, der Vogel sei auf der Kastanie, ausserhalb jeglicher Reichweite. 
Doch flugfähig, dachte ich. Das Biest. 
Wenn ich heute mit sattem Magen im Plastiktütenlager schlafen wollte, musste gehandelt werden. Sofort verwandelte ich mich in einen unschuldigen, kränklichen Mann, der sich am Geländer vor der Haustür abstützt, mit dünner Stimme die vogelrettende Feuerwehr erwähnt und sich umständlich die Stirn abwischt. 
„Sie sind ja krank, junger Mann!“
„Ich hoffe nicht“, sagte ich. „Ich habe nur nichts Rechtes gegessen heute. Vor lauter tiefschürfender Arbeit.“
„Kommen Sie herein!“
Ich trat ins Wohnzimmer. Gerahmte Pferdefotos an der Wand. Die Dame in jüngeren Jahren, im Damensitz. Da wusste ich, was ich ihr erzählen musste.
Für einen Dichter wie mich hängt viel vom Erzählen einer guten Geschichte ab. Um an anständige Nahrung zu gelangen, ist ein Dichter genötigt, Geschichten zu erzählen, die nicht wahr oder wahrscheinlich sein müssen, nein, sie müssen zuallererst das Herz des Publikums rühren. 
Ich erzählte, wie ich vor wenigen Jahren, nach Mutters Tod, mit meinem Vater das heimische Dorf verlassen hätte. Wie ich unsere Pferde vermisste, mit denen wir unsere Felder demetergerecht gepflügt hätten. Oh, wie sehr ich sie vermisste, die Pferde, die wir nach Mutters Tod viel zu billig hätten weggeben müssen! 
Die Dame bot mir Speck an und kochte mir Eier, und ich erzählte, dass ich mir Geld vom Mund ab sparte, um die Pferde zurück zu kaufen.
„Wo sind die Pferde?“, fragt sie. 
„Im Freiburgischen“, sagte ich und beschrieb ihr rostbraunes Fell, ihre treuherzige Art im sozialen Umgang. Ich erzählte, wie ich ihnen zufällig bei einem Ausflug begegnet sei, an einer Schweizer-Familie-Feuerstelle, wo die Pferde mit den Cervelat-Kindern Runde um Runde gedreht hätten. Bis sie mich gesehen hätten, unbremsbar herangaloppiert seien und mir Gesicht und Hals abgeschleckt hätten. Je ein schreiendes, verkrampftes, für ein Reiterleben auf ewig verlorenes Vierjähriges auf dem Rücken. 
Die Dame legte eine Spur aus Kürbiskernen von der Kastanie bis in die Küche und fing dort den Kanarienvogel mithilfe eines Löchersiebs ein. Mit Fresspaketen unter dem Arm und neuen Wollsocken an den Füssen und einem Couvert mit hundert Franken in der Tasche liess sie mich ziehen. Den Kanarienvogel könne sie mir auch mitgeben, schlug ich vor. Aber sie versicherte mir, dass alles gut komme. Mit Vogel, Pferd und überhaupt allem.
Unten, in der Kanalisation, zum tropfenden Klang einer Wasserleitung und beim Geruch von süssem Gas, teilten sich Kaiser und Ziegler brüderlich die Wollsocken und machen sich über die Äpfel, das Brot, die Würste und das Glas eingemachte Gurken her. Ich hörte mir an, was zwischenzeitlich hier unten passiert sei. Sigis Ratten hätten einen Kanalarbeiter angefallen. Ahmed unter der Münsterplattform sei von der Polizei ausgeräuchert worden. Düstere Geschichten. Jetzt, wo ich mich zu den Geehrten und Belichteten zähle, möchte ich nichts mehr davon wissen.
Aber das ist der Reiz am Leben im Untergrund: Das Unerwartete springt dich an jeder Rohrbiegung an. Du weisst nie, was unter und über dem nächsten Senkloch geschehen wird, du siehst nur bis zur nächsten Wand. Und du kennst einzig die Freude Van Goghs, mit dem Licht von fünf auf den Hutrand gesteckten Kerzen die Dunkelheit zu malen.

Christoph Simon (1972) ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018, zweifacher Schweizermeister im Poetry Slam und Oltner Kabarett-Casting Sieger. Seine Romane und Texte sind in neun Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Simon ist ein begnadeter Storyteller und ist aktuell mit seinem vierten Solo-Programm «Der Suboptimist» unterwegs. Er lebt als freier Schriftsteller, Kabarettist, Slam Poet und Mundart-Spoken-Word-Artist in Bern.

Christoph Simon ist Gast am Literaturfestival Leukerbad 

Rezension von «Die Dinge daheim» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Swiss Miniatur» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Michael Isler

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika

Das kann so nur ein Schriftsteller! Vielleicht gibt es unter den SchriftstellerInnen auch nur ganz wenige, die es können, die es wirklich können. Und vielleicht ist Christoph Simon einer der ganz wenigen, die es meisterlich können: Den Dingen Leben einhauchen.

Christoph Simon zeichnet seine Dinge, all das, was er täglich benützt, was in seiner Wohnung steht, das eine verborgen, nur selten zur Hand genommen, das andere immer wieder. Er zeichnet sie mit Stift und Worten. Mit Stiften klar umrissen und mit Worten aufgebrochen und ausgefüllt, mit Leben und Seele: Die konservative Stimmgabel, die Spülmaschine, die zum Ort der Begegnungen wird, der nachdenkliche Staubwedel, der eingebildete Stöckelschuh, Madame Kuhn Rikon, die alte Pfanne in der Küche mit ihren Kratzern und Verbrennungen. Christoph Simon gibt den Dingen eine Seele, lässt sie reagieren, antworten, erkennen und zweifeln.

Ich wohne im Parterre. Als ich an diesem kleinen Bericht schrieb, fuhr ein fettes, schwarzes Auto auf den Besucherparkplatz vor der Tür. Ein Mann mit Krawatte und Mappe entstieg dem sichtbar teuren Gefährt, schloss die Tür und verriegelte seinen Schlitten mit seiner Fernbedienung. Er blieb einen kurzen Moment stehen, blickte zurück, einen Moment länger, als nur festzustellen, ob das Auto mit seinen Blinkern zwinkert. Es war der Blick eines besorgten Vaters, der nicht sicher ist, ob er seinen Schützling so ganz allein an einem fremden Ort sich selbst überlassen darf. Christoph Simon hätte dem Auto eine Stimme gegeben, hätte den Blick der sich entfernenden Biomasse nicht nur erwidert, sondern verbalisiert.

Christoph Simon «Die Dinge daheim», edition taberna kritika, 2021, 80 Seiten, CHF 15.00, ISBN 978-3-905846-61-4

Christoph Simon vermenschlicht die Dinge mit voller Absicht. Nicht aus Bewusstseinsgründen oder um das spezifische Gewicht der Dinge zu erhöhen. Christoph Simons Schreibe ist ein Spiel mit den Dingen. Er atmet den Dingen Leben ein, lässt sie unser eigenes Tun und Lassen spiegeln. Und Christoph Simon tut er meisterlich, in köstlicher Manier, sodass man den eigenen Dingen mit einem Mal ebenfalls versucht ist, Stimmen zu geben. Eigentlich müsste man das Büchlein in lauter Sprechblasen zerschneiden, um sie den Dingen überall an die Kontur zu kleben. Was Christoph Simon tut, hat etwas fein Subversives. 

Christoph Simon weiss, wie Dialog funktioniert. Auch den Dialog mit sich selbst. Er weiss es, weil er auf der Bühne steht und unmittelbar gezeigt bekommt, ob im Hinundher ein Wiedererkennungswert liegt oder nicht. Und doch sind die kleinen Miniaturen viel mehr als nur Minutengeschichtchen. Sie spiegeln die Welt des Menschen; all die Eitelkeiten, Eigenheiten und Einbildungen.

Man kaufe das Büchlein und stecke es in die Westentasche. Dann wird das Warten bei der Ärztin, die Fahrt im Zug, die Minuten im Bus zum reinsten Vergnügen!

Leseprobe auf der Homepage der edition taberna kritika

Christoph Simon, geboren 1972 im Emmental, lebt als Schriftsteller und Kabarettist in Bern. Er ist Gewinner des Salzburger Stiers 2018 und zweifacher Schweizer Meister im Poetry-Slam. Seine Romane (u. a. «Spaziergänger Zbinden», «Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen») sind in mehrere Sprachen übersetzt und mit verschiedenen Preisen ausgezeichnet worden. Zu seinen Dingen daheim pflegt er ein entspanntes Verhältnis.

Rezension von «Swiss Miniatur» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Michael Isler

Christoph Simon «Swiss Miniatur», Edition Baes

Es gibt Autorinnen und Autoren, da wartet man als fleissiger Leser mit stetig steigender Ungeduld, bis endlich etwas Neues erscheint. Manche verschwinden für immer von der Bildfläche, andere tummeln sich auf anderen Bühnen. Nachdem es mit «Spaziergänger Zbinden» kaum ein Buch gab, dass ich öfter gekauft und verschenkt hatte, liegt nun endlich ein neuer «Christoph Simon» bereit, auch wenn dieser den Hunger nicht stillen kann.

Als vor fast 20 Jahren beim Bilger Verlag Christoph Simons erster Roman „Franz oder Warum Antilopen nebeneinander laufen“ erschien, war der Autor genauso unbekannt und neu wie sein Verlag. Beide haben sich etabliert; Christoph Simon als wortgewandter Beobachter und Künstler, der Bilger Verlag mit seinem Gründer und Verlagsleiter Ricco Bilger als Säule in der Schweizer Verlagslandschaft.

Schon der erste Roman versprach vieles. Ich erinnere mich gut, dass ich bei einer Buchvorstellung in einer winzigen Buchhandlung in der Ostschweizer Provinz den BesucherInnen diesen Roman ans Herz zu legen versuchte und prognostizierte, es werde künftig viel von dem Mann zu hören sein.
Das traf zu, wenn auch nicht ganz so, wie ich es in meiner Prophezeiung vorhersagte. Christoph Simon schreibt noch immer. Aber nach Romanen, einem Kinderbuch und einem Lyrikband konzentriert sich Christoph Simon fast ganz auf sein Bühnenprogramm, mit dem er 2018 in den Olymp der Kabarettisten erhoben wurde und den Salzburger Stier gewann.

Christoph Simon «Swiss Miniatur» Edition Baes, 2020, 72 Seiten, CHF 19.90, ISBN 978-3-9504833-7-6

Christoph Simons sicheres Gespür für den Kern der Sache, seinen Witz in Sätzen und Geschichten lässt sich nun aber endlich auch wieder lesend geniessen, obwohl die Sammlung von Geschichten „Swiss Miniatur“ ein schmales Bändchen geworden ist und ganz offensichtlich Autor und LeserInnen sich gedulden müssen, bis dereinst wieder ein Simon erscheinen wird, der die Nachbarn im Bücherregal zur Seite schiebt. Zumindest sind es Kostproben seines Könnens, manchmal sogar Bezeugungen, dass er durchaus immer wieder einmal den neuen Roman in Angriff nimmt, derzeit aber anderem den Vortritt lassen muss. So gibt es zwei kleine Kapitel mit nicht ganz ernst zu nehmenden Romananfängen und -schlüssen: Erste und letzte Sätze der verworfenen Great Swiss Novel. Zum Beispiel: Zellweger war vierzig und Kreditberater in einer Bankfiliale – was nicht weiter ungewöhnlich ist, verbringen doch viele Kreditberater ihre Arbeitszeit in einer Bankfiliale. Man hört, wie der Motor absäuft – und der letzte Satz: „Gut“, sagte Zellweger, „dass man den Behörden in unserem Land noch trauen kann.“ 

Schlicht köstlich sind die Geschichten, von denen im Anschluss zwei präsentiert werden. Geschichten, Momentaufnahmen aus dem, was sich hinter den Fassaden abspielt:

Romeo und Julia älter

„Warum guckst‘n du so?“
„Ich guck halt.“
„Irgendwas denkst du dir doch dabei.“
„Ich guck nur so.“
„Ich merk doch, dass du dir was denkst.“
„Tu ich aber nicht.“
„Doch.“
„Verdammt nochmal, Julia!“
„Siehst du.“
„Was seh ich?“
„Sonst würdest du es ja nicht so energisch abstreiten.“
„Du machst mich nervös.“
„Dabei hab ich dir gar nichts getan.“ 
„Hör bitte auf.“
„Hab ich etwa damit angefangen?“
„Du hast dich doch darüber aufgeregt, dass ich gucke.“
„Jetzt bin ich also schuld daran, wenn dich etwas stört?“
„Mich stört ja gar nichts!“
„Und deshalb guckst du so.“
„Ich guck dich halt gerne an! Ich guck, weil du so schön bist!“
„Aha. Und ich dachte, der Romeo guckt ‚nur so‘?!“
„In Zukunft werde ich woanders hingucken, wenn dir das lieber ist. Siehst du, ich guck jetzt woanders hin.“
„Na toll. Schau ruhig weg, wenn ich mit dir rede.“

Lokalereignis

Eine ganz unpassende Veränderung war mit Olivier Horn, Immobilien, vorgegangen. Wenn einer ein unbeirrbarer Mann gewesen war, dann er. Das meiste von allem, was das Leben mit ihm unternahm, hatte er selbst ausgeheckt, und er hatte nie gezaudert, wenn eine Leitplanke seiner Bahn versetzt werden musste. Nichts war ihm unmöglich gewesen, und er hatte auch das Glück auf seiner Seite gehabt. Er konnte darauf bauen, dass gut ausging, was immer er sich vornahm. Unvergessen der millionenschwere Verpackungsmaschineningenieur, dem er – ohne Tricks und ohne die Steuer zu hintergehen – die halbe Industriezone K.s verschachert hatte! Aber jetzt? War mit ihm nicht mehr viel los. Horn zeigte nicht die geringste Lust, etwas anzureissen. Er verkroch sich in die düstere Blockhütte bei der Forellenzucht, hörte zu, wie die Fische im Wasser sprangen und die Stechmücken gegen das Fliegengitter surrten. Den traurigen Vorfall mit dem Anglerhaken, der erst im Schilf hängengeblieben, dann plötzlich, nachdem er kräftig an der Angel gezogen hatte, durch die Luft geschnellt war und ihm ein Auge ausgerissen hatte, verwand er einfach nicht. Es schien beinahe so, als geriete Horn dieses, aufs Augenlicht beschränkte Unglück regelrecht zur existenziellen Krise.

Am Schluss der Sammlung «Swiss Miniatur» die längere Geschichte «Bundesrat Liechti». Sie kennen die Geschichten vom Papst, der eingesperrt in seiner Welt einer ganz speziellen Eingebung folgt und unerkannt seinen Palast verlässt. Bundesrat Liechti tut es zwischen zwei Sitzung genauso. Er haut ab. Zwar mit Bügelfalte und Jacket, aber in der Schweiz wäre das möglich (ausser vielleicht für Bundesrat Berset!). Ein freier Tag für einen Bundesrat, ein Tag, der ihn glücklich macht. 

«Swiss Miniatur» macht glücklich – und lässt hoffen.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Ein Interview mit dem Autor:

Als du 2018 den Salzburger Stier gewonnen hast, dachte ich: „Aha, jetzt werde ich wohl mit dem Warten auf einen neuen Roman von Christoph Simon aufhören können.» Ist „Swiss Miniatur» auch ein bisschen Trost für all die, die wie ich warten?
Vielen Dank für die schmeichelnden Worte! Ja, ich möcht eh schon länger mal wieder was Längeres in Angriff nehmen. Mein Hauptverleger Ricco Bilger erwartet noch immer meinen Moby Dick, den ich ihm im Grössenwahn einmal versprochen habe. Die Bühne steht diesem Vorhaben eigentlich nicht im Weg, denn ich kann ja morgens einen Roman schreiben und abends auftreten. Im Weg steh ich mir selber, faul und ängstlich wie ich bin. Ein Roman ist ein Riesenberg an Arbeit, davor scheu ich seit Jahren zurück.

gezeichnet von Christoph Simon, ausgemalt von seinem Sohn

Du tourst als Kabarettist von Bühne zu Bühne, wirst gelobt für deinen Tiefgang und schwarzen Humor. Durchaus zwei Eigenschaften, die der Literatur gut tun würden, vor allem der „schwarze Humor». Aber warum scheint es so schwierig, schwarzen Humor zu einem Roman werden zu lassen?
Es scheint schwierig, weil es tatsächlich schwierig ist. Aber wahrscheinlich ist oberflächlich und ernsthaft Schreiben genauso schwierig. Schreiben an und für sich ist schwierig, herrje. Die Qualen eines Poeten auf der Suche nach dem treffenden Wort – ich glaube, nur eine gebärende Frau kann meine Qualen annähernd nachempfinden.

Deine längste Geschichte in „Swiss Miniatur» ist jene von Bundesrat Liechti. Durchaus ein Feld, das man literarisch beackern könnte, da mir kein Bundesratsroman bekannt ist und es in und um dieses Gremium Spielfelder genug geben müsste, um daraus eine gute Geschichte zu machen. Oder sind Bundesräte, nachdem man sie gerne in den Medien zu Helden macht zu heikel?
Ich habe mir den Liechti jetzt mal in den Kopf gesetzt als Bundesrats-Antihelden, und ich denke, es steckt tatsächlich noch mehr Schmerz und Sehnsucht in dieser Figur. Ein Bundesrat ist ein impotenter Künstler, jemand, der in der Regel nichts erreicht. Oder etwas andres erreicht, als beabsichtigt. Oder was er erreicht, ist die Arbeit anderer. Sie verlieren dauernd in Abstimmungen, sind umgeben von Schlangen und Ratten und Lärm und Unglauben. Ein harter Job. Stressig und repetitiv und rückenleidenfördernd wie Kleinkindhüten im Sandkasten.

gezeichnet von Christoph Simon

Bundesrat Liechti büxt aus, wie der Papst im Film «Habemus Papam», der vor nicht langer Zeit in den Kinos lief. Hast du dir die Filmrechte schon gesichert?
Da erwischst du mich an einer wunden Stelle. Die Filmrechte an meinem ersten Roman wurden verkauft, es wurde am Drehbuch geschrieben, es gab Sitzungen und Treatments und Eingaben. Dann wurde die Drehbuchautorin und Regisseurin schwanger, und seither liegt das Projekt auf Eis. Eine Verfilmung von einem meiner Stoffe würde mir wahnsinnig gefallen.

„Der Suboptimist» ist schon dein viertes Soloprogramm als Kabarettkünstler. „Simon ein begnadeter Figurenzeichner. Sein Personal besteht aus liebenswerten Antihelden, die meistens weniger als mehr auf die Reihe bekommen, das Herz aber auf dem rechten Fleck tragen», sagt eine Kritikerin. Worin unterscheidet sich das Schreiben eines Bühnenprogramms vom Schreiben eines Romans?
Ein Roman ist umfangreicher, ihn zu schreiben dauert exponentiell länger. Ansonsten seh ich keine grossen Unterschiede. Ich versuche meinen Figuren gegenüber wahrhaftig zu sein, ich folge ihren Wünschen und Ängsten, ich sehe ihnen zu, wie sie ihre Probleme zu lösen versuchen und sich weiter drin verheddern. Wenn am Ende des Schreibtages etwas herauskommt, das vor einem Kleintheaterpublikum an Lebendigkeit gewinnt, dann geh ich mit der Geschichte auf die Bühne. Kommt etwas heraus, das mich als Vermittler nicht erfordert, etwas, das eine Leserin im Licht der Nachttischlampe lesen kann, dann landet es gedruckt in einem Buch. Oder Miniatur-Büchlein wie hier.

(Beide Texte sind hier mit Genehmigung des Verlags und des Autors abgedruckt.)

© Michael Isler

Christoph Simon lebt in Bern. Mit seinen Romanen «Warum Antilopen nebeneinander laufen» oder «Planet Obrist» oder wie zu letzt wie seinem wunderbaren Buch «Spaziergänger Zbinden» (Bilger Verlag) hat sich eine neue grosse Stimme im deutschsprachigen Raum etabliert. Christoph Simon tourt aber auch seit Jahren erfolgreich mit Solo-Bühnenprogrammen, momentan mit «Der Suboptimist».

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Beitragsbild © Michael Isler