Rolf Hermann «Eine Kuh namens Manhattan», Der gesunde Menschenversand

Rolf Hermann hat den anderen Blick. In seinen Geschichten spiegelt sich eine Welt, deren Perspektiven sich den gewohnten Sichtweisen entziehen. Vielleicht ist Rolf Hermanns neue Text- und Geschichtensammlung deshalb eine Anleitung, die Welt nicht gar so tierisch ernst zu nehmen, meinen Blick zu öffnen, eine Anleitung zum Sehen, ein anderes Ordnungssystem.

Rolf Hermann macht Ordnung. Ob er das nun mit alphabetisch geordneten Aufzählungen macht, die einem an ein Walliser Urmantra erinnern, ob er Laute, Buchstaben, Silben neu ordnet, ob er die Kuh Manhattan aus ihrer festen Ordnung ausbrechen lässt, eine Kuh, die nach einer ganzen Reihe gewonnener Kuhkämpfe im Kanton eine neue Herausforderung sucht und an der Universität Miséricorde in Fribourg immatrikuliert, um an ihrer Bachelorthese «Das Rind als Stallmeister seiner selbst» zu schreiben.

In den vergangenen Jahren ist Rolf Hermann so etwas wie die literarische Stimme des Rhonetals geworden, zumindest des deutsch sprechenden Teils.
GF: Merkst du das, wenn du dich im Wallis bewegst? Ein literarisches Gegengewicht zur historischen Übermacht der Giganten des letzten Jahrhunderts; Charles Ferdinand Ramuz, Stéphanie Corinna Bille und Maurice Chappaz?
RH: Seit einer Weile habe ich das Gefühl, mit meinem Schriftstellerdasein geht es sehr gemächlich – ein kleines Bitzeli – bergauf. Zurzeit ist es ungefähr auf der Höhe von Goppenstein angelangt. Das liegt auf 1’200 Metern über Meer, also knapp 500 Meter höher als dort, wo ich aufgewachsen bin. Das macht in meinem Alter einen Höhenunterschied von knapp 11 Metern pro Jahr aus. Eigentlich nicht wirklich der Rede wert.

Rolf Hermann feiert in einer Welt, die immer mehr in der Absurdität abrutscht, das Absurde selbst. Er potenziert das Komische bis ins Verwegene, das eine Mal mit Geschichten, ein ander Mal mit Lautgedichten und sprachlichen Absurditäten. Dabei empfinde ich seine «Absurditäten» alles andere als absurd. Rolf Hermanns Schaumschlägereien sind Sprachkunst, surreal in ihrer Inszenierung, witzig und urkomisch in ihrer Direktheit, Originale eines Originals.

GF: Du pflegst das Bild des einstigen Schafhirten, der sich damit in ferner Vergangenheit sein Studium der Anglistik und Germanistik in Fribourg und Iowa USA verdiente. Was ist vom einstigen Schafhirten übrig geblieben? Vom Anglistiker?
RH: Tatsächlich habe ich sieben Sommer lang im Wallis Schafe gehütet. Von 1993 bis 2000. Zum ersten Mal kurz nach der Matura. Das war eine prägende Zeit für mich. Weit oberhalb der Waldgrenze. Inmitten von Felsen und Geröll. Ohne fliessendes Wasser. Ohne Strom. Oft allein. Aber mit vielen Büchern und Notizheften. Ich habe mich damals extrem verbunden gefühlt mit dieser atemberaubenden Landschaft. In Gedanken bin ich auch jetzt noch hin und wieder da oben. Es ist gut möglich, dass ich eines Tages diese Sommererfahrungen in einen längeren Text einfliessen lasse. Und die Anglistik? Die ist mir immer noch sehr nahe. Ich rede mit meiner Frau, einer US-Amerikanerin, und unseren zwei Kindern meistens Englisch. Und sehr gerne lese ich immer wieder Bücher auf Englisch, z. B. die wunderbaren Gedichte von Emily Dickinson, die mich schon seit über zwanzig Jahren begleiten.

Schoutaim
Am lätschtu Wuchunänd bin i mit miinum viärjeerigu Meitji gaa schpaziäru. Wiär sii va Sänggärma uff Raro gluffu, an Räbä und Mattä värbii, bis wär, schoo fascht am Ändi va ischum Üssflug, vor där Burgchilchu z Raro gschtannu sii. Ds Meitji, waa bis jäzz no niä inära Chilchu isch gsi, isch im Schpurt uff du grooss Büx züe, hätt mit allär Chraft ds Portaal üffgita, isch där Mittilgang därdur und schich vollär Ärwaartig mitsch in d eerscht Reiu gaa säzzu. Küm bin i näbu miinum Meitji gsi, hätts wällu wissu, wä dä hiä äntli d Schou afeegä. Und ich ha mär gideicht: Bassär hätti sus niämär chännu sägu.

Showtime
Letztes Wochenende bin ich mit meiner vierjährigen Tochter spazieren gegangen. Wir sind von St. German nach Raron gelaufen, an Reben und Wiesen vorbei, bis wir, schon fast am Ende unseres Ausflugs, vor der Burgkirche in Raron standen. Meine Tochter, die davor noch nie in einer Kirche war, ist auf das grosse Gebäude zugespurtet, hat mit aller Kraft das Portal aufgerissen, ist durch den Mittelgang nach vorne gerannt und hat sich erwartungsvoll in die erste Reihe gesetzt. Kaum war ich bei ihr, wollte sie wissen, wann denn hier endlich die Show anfange. Und ich hab mir gedacht: Besser hätte es niemand sagen können.

Aber immer bleibt hinter den Texten der ganz besondere Sound des Autors selbst. Wer irgendwann einmal das Vergnügen hatte, dem Autor bei einer seiner performativen Auftritte dabeizusein, dem bleibt etwas vom Klang dieser Texte auf ewig im Kopf zurück. Rolf Hermann spielt dabei mit Klang, Rhythmus und Laut so sehr, dass er wie bei der Konkreten Poesie auf die  Bedeutung von Wort und Text ganz verzichtet. Dann wird ein Text zur Partitur, das Gesprochene, der Laut, der Text zur Musik. Und das Sprechen, selbst für mich als Ostschweizer mit maximaler Distanz zum Walliser Dialekt zum Eintauchen in eine andere, neue Welt. Dann trifft mich der Spass an der Übersetzung, das Suchen nach Bekanntem, das Erkennen von Resonanz.

GF: So wie du mit Sprache, Wort und Text umgehst, scheint es dir beim Schreiben um weit mehr als den Transport von Information zu gehen. Du spielst mit dem Sound, dem Klang, dem Witz in der Sprache selbst, dem Grotesken, das daraus entstehen kann, dem Hinterhältigen. Was reizt dich daran? In welchen Texten liegt mehr Rolf Hermann?
RH: Wenn es mir in meinem Schreiben lediglich um den Transport von Informationen gehen würde, dann wäre ich kein Schriftsteller. Es geht mir vor allem auch darum, die Sprache zu belauschen und mit ihren Mitteln etwas heraufzubeschwören, das möglichst einzigartig ist, sei das nun eine Erzählung, ein Spoken-Word-Text, ein Gedicht oder sonst etwas. Immer wenn ich schreibe, habe ich das Gefühl, ich sitze wieder am Küchentisch meiner Grossmutter. Die Eltern sind da, meine Brüder, die Tanten, die Onkel, viele Cousinen und Cousins und auch ein paar Dorfbewohner haben sich unter die Gäste gemischt. Es wird über ein Haus gesprochen, das verkauft wird. Jemand erzählt einen sehr zotigen Witz. Dann wiederum sorgt man sich über eine Nachbarin, die ernsthaft erkrankt ist. Und dann meldet sich plötzlich Grossmutter zu Wort und gebietet allen, still zu sein, weil sie ein Gedicht vortragen will, das sie gerade in der letzten Nacht geschrieben hat. Und dann spricht sie und augenblicklich ist da eine Stimme, die sich selber – und auch mir – sehr nah ist. Vielleicht versuche ich ja genau das mit meinem Schreiben: Jene Küchenszene wieder auferstehen zu lassen – und die besteht halt aus vielen Stimmen.

sinklau nov red lüefs tegeb
äs Gibätji

neim rehr dun neim togt
mmin salle nov rim
saw chim tihrend uz rid

neim rehr dun neim togt
big salle rim
saw chim tehrüf uz rid

neim rehr dun neim togt
mmin chim rim
dun big chim zang uz neige rid

Zugegeben, es braucht etwas Mut, sich in das Geniessen dieser Texte hineinzugeben, nicht einfach in den von Ursina Greuel ins Hochdeutsche übertragenen Text zu flüchten, bloss um das Buch mit Tempo durchzulesen. Ernst gemeinte Lektüre braucht Langsamkeit, Geduld und den Willen, das Menü in kleinen Happen zu geniessen, die Schlucke klein über den Klanggaumen rutschen zu lassen.

GF: Ein nicht unwesentlicher Teil der Texte in deinem Buch lässt sich beim besten Willen nicht übersetzen. Lautmalereien, die an Konkrete Poesie erinnern. Wie entsteht ein solcher Text? Versteckt sich der Lautmaler Rolf Hermann erst einmal in den Hängen oberhalb Leuk, zwischen den Parabolantennen des Satellitenabhörsystems und gibt Signale in den Äther?
RH: Ich wünschte es wäre so einfach. Sobald ich in der Nähe der Satellitenschüsseln oberhalb Leuk bin, bricht in mir der dadaistische Sturm los. Nein, im Ernst, nachdem eine Textidee in mir gereift ist, gehe ich eigentlich oft recht konzeptuell, teils mathematisch vor. Vokale werden permutiert, Wiederholungen und Variationen eingebaut, Ellipsen in den Text geschlagen. Und das mache ich, solange bis mich der Sound des Textes, der ja in dem Fall über das Inhaltliche hinausgeht, überzeugt. Zu den vielen Stimmen kommt so eine neue hinzu.

GF: Du liebst Aufzählungen, Reihen, das Alphabet. Schreiben ist „Ordnung machen“. Ordnung in Buchstaben, Zeichen, Silben und Worte. In Gedanken und Ideen, Konstrukte und innere Landschaften. Bist du ordnungsliebend?
RH: Schreiben ist für mich auf jeden Fall eine Art von „Ordnung machen“. Eine Stimmung, ein Erlebnis, ein Witz, ein Monolog so aufs Blatt zu bringen, dass der Text im Idealfall in einem Gegenüber das erzeugt, was man sich erhofft hat – und das hat viel mit auswählen, gruppieren, umstellen, ja, mit neuordnen zu tun. Da kann ich sehr bedächtig an die Worte und Sätze treten und sie immer wieder abklopfen. Im Alltag hingegen bin ich eher chaotisch. Meine Schreibklause ist ein ziemliches Labyrinth mit recht zufällig entstandenen und entstehenden Staubhügelchen.

©Valérie Giger

Rolf Hermann, geboren 1973 in Leuk, lebt heute als freier Schriftsteller in Biel/Bienne. Sein Studium verdiente er sich als Schafhirt im Simplongebiet. Er ist Mitglied der Mundart-Combo Die Gebirgspoeten und der Spoken-Rock-Formation Trio Chäslädeli. Sein Schaffen wurde verschiedentlich ausgezeichnet, zuletzt mit dem Kulturpreis der Stadt Biel (2017) und einem Literaturpreis des Kantons Bern (2019).

Webseite des Autors

Rolf Hermann liest am 15. Mai im KultBau St. Gallen, an der Konkordiastrasse 27 um 20 Uhr aus seinem Buch «Ein Kuh namens Manhattan». Moderation: Gallus Frei-Tomic. Infos unter kultbau.org

Die Texte aus «Eine Kuh namens Manhattan» sind mit ausdrücklicher Erlaubnis des Autors eingefügt. Alle Rechte sind beim Autor.