Mareike Krügel «Sieh mich an», Piper

Ein Mann, der nicht da ist, eine Tochter mit ADHS, Barbie und Ken in der Stube, zwei ausgebüxte Ratten, ein abschnittener Daumen im Schnee und ein brennender Trockner – Katharina hätte genung am Hals, wenn da nicht auch noch das eine wäre, das sie nicht über die Lippen bringt.

Zugegeben, es brauchte eine Weile, bis ich in den Roman eintauchen konnte. Obwohl schon der erste Satz verrät, worum es in diesem Roman wirklich geht. Aber weil der zweite Satz hiess «Schultüren sind der Eingang zur Hölle» und ich eben ein Interview mit dem Philosophen David Precht gehört hatte, spürte ich eine ordentliche Portion Widerwillen. David Precht würde die Schulen am liebsten abschaffen, hängt ihnen an, in ihnen wehe noch immer der preussische Geist des Drills. Sie seien Mühlen, in denen brave, funktionierende Staatsbürger zugeschiffen werden. Da ich ebenfalls unterrichte, war es nicht ganz einfach weiterzulesen.

Aber Mareike Krügel hat keinen Antischulroman geschrieben. Die Schriftstellerin zeichnet Katharina und ihren verzwickten Alltag. Ein Alltag, der es schwer macht, sich neben all den zwingenden Kleinigkeiten auf das Wesentliche zu konzentrieren. Katharinas Tochter Helena, von allen Helle gerufen, ist elf und eine Rabauke. Da verwundert es auch nicht, dass Katharina sie von der Schule holen muss, weil sie mit unstillbarem Nasenbluten den Teppichboden im Sekretariat versaut, dass Helles Freundinnen ordentlich was abbekommen, Pferde durchbrennen und sie bei einer Freundin übernachten will, wo bei einer Party schon ordentlich gebechert wird. Dass Helle den Stempel ADHS mit sich trägt, hilft Katharina am wenigsten. Helles grosser Bruder ist 17 und das erste Mal an ein Mädchen vergeben, von dem die Nachbarn Theo und Heinz meinen, sie sei ein Volltreffer. Alex ist das genaue Gegenteil seiner quirligen Schwester. Für Katharina allerdings kein Ersatz für ihren Mann Costas, der die Woche über in der Hauptstadt arbeitet und nur an den Wochenenden in «den Schoss der Familie» zurückkehrt. Katharina ist dieser Schoss, das Epizentrum der Familie. So sehr ins Geschehen eingepasst, dass es für die Erschütterungen in ihrem eigenen Leben kaum Platz hat. Auch da türmt sich Schicht um Schicht. Eine Mutter, die sie verlor, ein Vater, der resignierte, eine Schwester, die nicht nur örtlich auf der andern Seite des Planeten wohnt. Da sind Fragen um das eigene Leben, um das verlorene Leben ihrer zweiten Tochter, eine Ehe, die abhanden kommt und diese Knoten in ihr, die von ihr Besitz ergreifen.

«Es gibt mich noch.»

«Sieh mich an» ist mehr als ein Familienroman. Aber ein Roman, der die Familie zum Schauplatz macht, der die grossen Gesten, die grossen Fragen in das Kleingefüge «Familie» setzt. Mareike Krügel beschreibt einen einzigen Tag, der alles widerspiegelt, was das zugepappte Leben Katharinas ausmacht. Eine Minikatastrophe reiht sich an die nächste. Kein Platz für die grosse Katastrophe, die in Katharina wächst. Für Katharinas grosse Angst findet sich weder Platz noch einoffenes Ohr. Da ist auch der ehemalige WG-Freund, der sich abends angemeldet hat, nicht der Richtige. Ein Gesellschaftsroman über modernes Leben, duchgestylt scheinendes Reiheneinfamilienhausdasein. Wie sehr sich die Familie in die Modeströmungen einspannen lässt. Wie sehr man sich knechten lässt von den Errungenschaften des modernen Lebens. Ein Frauenroman? Mit Sicherheit auch, denn die grossen Abwesenden in diesem Roman sind die Männer. Selbst die hilfsbereiten Nachbarn Theo und Heinz sind genetisch keine Männer. Und Costas, Katharinas Mann, weit weg in Berlin, abends an einer Firmenfeier in einem Berliner Hotel, während Katharinas Leben zu entgleisen droht. Ein Roman nur für Frauen? Bei weitem nicht. So erhellend wie hundert Ratgeber. So spannend wie ein Krimi. So einfühlsam, wie sich eine Frau den Mann wünscht. So direkt, dass es einem bei der Lektüre manchmal fast den Atem nimmt. «Sieh mich an» ist eine Aufforderung, so wie das Buch. Aber ganz ohne Mitleid, dafür mit Wirz, Ironie und Schalk.

Ein kleines Mail-Interview mit Mareike Krügel:

In Ihrem Roman «Sieh mich an» ertrinkt Katharina fast in ihren Pflichten, ihren Aufgaben, ihren Sorgen und Nöten. Das wird auch der Grund sein, warum sich viele, vornehmlich Leserinnen, von diesem Roman wiedererkannt und verstanden fühlen. Ist doch aber eigentlich paradox; Wir leben in einer hoch technisierten und durchorganisierten Welt. Und doch scheint Familienleben nicht einfacher zu werden. Muss man akzeptieren?
Ja, das lässt sich, glaube ich, nicht ändern. Mehr Technik und Organisation sind der nicht Schlüssel zu mehr Gelassenheit, und wenn es etwas gibt, das sich in den Familienstrukturen in den letzten Jahrzehnten verändert hat – meiner Einschätzung nach -, dann sind es die Beziehungen. Weil es wenig Vorbilder gibt, schießen viele Eltern damit etwas übers Ziel hinaus, aber grundsätzlich halte ich es für eine der besten Veränderungen des westlichen Abendlandes: Der Versuch, zu seinen Kindern echte Beziehungen aufzubauen, sie wahrhaftig zu begleiten, sie nicht nur irgendwie durchzubringen. Das ist kompliziert und mitunter überfordernd.

«Sieh mich an» ist eine Aufforderung. Da hätte auch noch ein Ausrufezeichen gepasst. Während Costa in Berlin vor der Firmenfeier an der Kravattenfrage scheitert, gibt es für seine Frau Katharina nur den Angriff nach vorn. Ist das der Mutterinstinkt, der verhindert, dass Katharina lange nicht tut, wonach es in ihrem Innern schreit?
Der Mutterinstinkt, dessen genaue Definition ich nicht kenne, spielt vermutlich in den ersten Lebensjahren der Kinder eine übergeordnete Rolle und mag in dieser Zeit dazu beitragen, dass Mütter sich selbst zurücknehmen oder sogar ihre Bedürfnisse hintanstellen. Danach aber vermute ich als Ursache für Katharinas – und vieler anderer Frauen – Selbstverleugnung die immer noch gültige unsägliche Sozialisierung der weiblichen Mitglieder unserer Gesellschaft.

Sie mobilisieren in Ihrem Roman viele Urängste. Die Angst, vor seinen Kindern zu sterben, nicht zu wissen, wohin und wie ihr Weg verläuft. Die Angst, vor lauter Aufgaben sich selbst zu vergessen und zu verlieren. Die Angst, sich selber untreu zu werden. Steckte in diesen Ängsten eine der Motivationen, diesen Roman zu schreiben?
Ängste können ein wunderbarer Wegweiser beim Schreiben sein. Ich versuche, beim Schreiben der Angst und der Freude zu folgen. Die Grundmotivation für diesen Roman war aber eher, mich mit den Verstrickungen auseinanderzusetzen, die sich in Familien mitunter ergeben.

Helle, Katharinas Tochter, hat die «Diagnose» ADHS. Aktueller könnte das Thema nicht sein, nachdem ein Professor für Neurobiologie in einer ZDF-Nachrichtensendung die Behauptung aufstellte, ADHS gäbe es nicht, nur in der Köpfen der Pharmaindustrie. Ich weiss sehr gut, wie entlastend eine solche Diagnose sein kann, wenn Eltern annehmen dürfen, dass sie nicht einfach bei der Erziehung versagt haben. Aber Helle zwingt ihre Mutter Katharina an eine Wand. Trösten Sie?
Ich finde, Katharina hält sich ziemlich gut. Und da sie auch die negativen Gefühle ihrer Tochter gegenüber zulässt und nicht kleinzureden versucht, hat die große Liebe und Bewunderung, die sie ihr gegenüber ebenso empfindet, auch eine Chance, sich zu voller Größe zu entfalten. Dabei kann solch eine Diagnose besonders hilfreich sein, weil sie die Eltern von ihrem schlechten Gewissen entlastet und zusätzlich sehr gut nachvollziehbare Erklärungsmodelle anbietet. Und wen man versteht, der zwingt einen auch nicht so leicht an die Wand.

Ihre Verlagschefin Felicitas von Lovenberg pries Ihr Buch schon im Vorfeld, andere stempeln es zum Frauenbuch. (Ich bin überzeugt, dass es Frauenliteratur nicht geben kann. Nur Bücher, die zur Literatur zählen und solche, die allenfalls zur Unterhaltung genügen.) Warum sollen Männer dieses Buch lesen?
Hätten Frauen immer nur Bücher gelesen, die nur für sie gedacht waren, so hätte kein Autor auf diesem Planeten je von seinem Beruf leben können. Wenn sich also Frauen noch nie um diese Kategorien geschert haben, warum sollten Männer das dann tun? Wäre das nicht ein bisschen engstirnig? Und was würde ihnen entgehen. Ein Roman ist eine der wenigen Möglichkeiten, die wir Menschen haben, wirklich einmal «in den Schuhen eines anderen zu gehen».

Liebe Frau Krügel, vielen Dank!

Mareike Krügel, 1977 in Kiel geboren, studierte am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Seit 2003 hat sie drei Romane veröffentlicht. Sie lebt bei Schleswig. Mareike Krügel erhielt zahlreiche Stipendien, u.a. in der Villa Decius in Krakau, und ist Mitglied im PEN Deutschland. Im Jahr 2003 bekam sie den Förderpreis der Stadt Hamburg und wurde 2006 mit dem Friedrich-Hebbel-Preis ausgezeichnet.

Mareike Krügel liest u. a. am 17. Oktober in Konstanz in der Buchhandlung Osiander an der Rosengartenstrasse.

Ein Gespräch mit Mareike Krügel beim NDR

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau