Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper

Nach dreissig Jahren führt Max Torberg jene fünf Menschen zusammen, denen er sein Leben verdankt. In einem Haus über dem Meer begegnen sich Menschen, die sich scheinbar nichts mehr zu sagen haben, angelockt vom grossen Gönner. Eine literarische Versuchsanordnung!

Max Torberg, reicher Erbe einer Bankenfamilie, besitzt in den Hügeln der Côte d’Azur ein grosses Ferienhaus, wohin er eingeladen hat. Fünf Gäste, zwei Frauen und drei Männer, deren Wege sich rein zufällig dreissig Jahre zuvor mit dem seinigen bei einer Wanderung in der südfranzösischen Tarnschlucht kreuzten. Eine Begegnung, die ihm damals das Leben gerettet hatte, das zufällige Auftauchen jener fünf Menschen, die ihn vor einer versuchten Entführung retteten. Obwohl man sich nach jener Begegnung, bei der einer der beiden Angreifer in die Tiefe stürzte und kaum überlebt haben konnte, nie mehr wiedersah, begann Torberg als Schattengestalt die Leben der fünf Retter über die Jahrzehnte zu begleiten, leise und still in das Leben dieser Handvoll Menschen einzuwirken, weil er wusste, dass er sein Leben jenen Leben zu verdanken hatte. Torberg konnte nicht sicher sein, ob seine Hilfe unbemerkt geblieben war, denn stets zu Weihnachten, wenn man sich mit Briefen alles Gute wünschte, war allen klar, dass Torbergs Grosszügigkeit im Hintergrund die eine oder andere Wirkung haben musste.

Damals war jene Wanderung in das Naturschutzgebiet Torbergs erster Versuch, nach dem verstörenden Tod seiner Frau Judith, im Leben wieder Fuss zu fassen. Dreissig Jahre später ist Torberg noch immer im Bann jener Geschehnisse, sei es der schreckliche Autounfall seiner Frau oder die schicksalshafte Begegnung mit jener Gruppe Menschen; Jan, der damals den tödlichen Stein geworfen hatte, seine damalige Freundin und Studentin Danielle, Julia, die Krankenschwester, ihr Freund Hans, der Schauspieler war und der Musiker André.

Thommie Bayer «Sieben Tage Sommer», Piper, 160 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-07044-7

Nun, dreissig Jahre später, hatte Torberg eingeladen und seine Freundin Anja als eine Art stellvertretende Gastgeberin in seinem Ferienhaus angewiesen, die fünf etwas auszuhorchen, herauszufinden, was man über ihn zu sagen hatte, wie sehr sie ahnen würden, dass Torberg in ihren Leben mitmischte. „Sieben Tage Sommer“ ist der Mailwechsel zwischen Torberg und Anja, das Protokoll eines Versuchs, der eigenen Wirkung nachzuspüren. Während Torberg seine Gäste durch die Freundlichkeiten seiner stellvertretenden Gastgeberin Anja alle Annehmlichkeiten eines luxuriösen Ferienaufenthalts geniessen lässt, entwickelt sich zwischen den fünf Gästen, die sich in den drei Jahrzehnten untereinander aus den Augen verloren und ganz unterschiedlich entwickelt hatten, eine „Versuchsanordnung“ die es in sich hat, gemeinsame Tage, die nur auf den einen Moment warten: das versprochene Auftauchen von Max Torberg himself.

Aber Torberg lässt sich entschuldigen, zögert sein Auftauchen immer wieder hinaus. Und während sich mir als Leser das Muster dieser fünf Gäste immer deutlicher zeigt, sich das Wesen der einzelnen offenbart, sich neue Allianzen finden, es auf der einen Seite zu knistern auf der andern zu kriseln beginnt, offenbart sich zwischen Anja und Torberg eine seltsame Beziehung zwischen Freundschaft und Ergebenheit. Torberg weiss um seine Wirkung durch seinen Reichtum, ist sich gewohnt, dass sein Strippenziehen Wirkung zeigt. Und die fünf Gäste beweisen, wie schnell man sich unbeobachtet fühlt, wie leicht sich Tugenden verflüchtigen, dass das, was man als Fassade mit sich führt bei weitem nicht dem entsprechen muss, was das eigene Menschsein ausmacht.

„Sieben Tage Sommer“ erzählt scheinbar flockig, leicht von der Kraft der Verführung. Von der Versuchung, durch Reichtum und Macht im Hintergrund „Gott“ zu spielen. Von der Distanz, die Reichtum erzeugt und wie sehr Freundlichkeiten käuflich werden können. Thommie Bayers neuer Roman tut wie lockere Strandlektüre, erzählt aber von der unterschwelligen Macht des Geldes, von den Versuchungen der Masslosigkeit und dem irrigen Glauben, Glück wäre käuflich. Torbergs Versuch, die Macht seiner finanziellen Potenz in Dankbarkeit umzuwandeln, scheitert. „Sieben Tage Sommer“ ist das Protokoll des Scheiterns, vielleicht sogar mit einem Augenzwinkern an den göttlichen Versuch, in sieben Tagen ein Paradies zu erschaffen.

Thommie Bayer, 1953 in Esslingen geboren, studierte Malerei und war Liedermacher, bevor er 1984 begann, Stories, Gedichte und Romane zu schreiben. Neben anderen erschienen von ihm «Die gefährliche Frau», «Singvogel», der für den Deutschen Buchpreis nominierte Roman «Eine kurze Geschichte vom Glück» und zuletzt «Das Glück meiner Mutter».

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Das 61. Literaturblatt entsteht.

„Das Blatt macht mich platt.“ Christian Futscher

„Es ist ganz ausserordentlich, was Gallus Frei seit Jahr und Tag in Bezug auf die Literatur leistet! Ihm haftet dabei nichts Dünkelhaftes an, es geht ihm weder um die „verwöhnten“, vom Kulturbetrieb gehätschelte Namen, noch schliesst er sich den gängigen „Nachschreibgepflogenheiten“ an, die heute die Feuilletons auszeichnen! Unerschütterlich folgt er seiner persönlichen Wahrnehmung, seinem klugen Literaturwissen, dem subtilsten Empfinden, das auch die ansonsten leider öfters übergangenen „Perlen“ in den Fokus zu rücken weiss! Mit Hochachtung und Dankbarkeit für diesen doch sehr rar gewordenen Mut!“ Lisa Elsässer

Wer das analoge Literaturblatt abonniert, unterstützt die Literatur. Die Einnahmen durch die Beiträge der AbonnentInnen sind meine einzige «regelmässige» Einnahmequelle, Einnahmen, die die Kosten für meinen Aufwand wenigstens etwas abfedern und mit jenes Engagement erlauben, das ich im Dienst der Literatur mit aller zur Verfügung stehender Leidenschaft aufwende.

Herzlichen Dank all jenen, die mit zum Teil schon seit einem Jahrzehnt ihre Treue halten!

„Literarische Blogger und -innen gibt es zuhauf, auch wenn kaum mal einer oder eine ein Buch aus dem Verlag hier hinten am Horizont in die Hände bekommt. Macht nix, Hauptsache Long John Silver liest unsere Preziosen. Nun ist es so, dass auch die Welt der Blogs eine der Superlative ist und wen wundert es, dass die Suche nach dem Besten, Schönsten und Weitvernetztesten im Gange ist. Mir persönlich ist nur einer bekannt; ein wenig verrückt ist er, – wie könnte ich ihn sonst kennen –, publiziert er doch seine immer eigenwillig geschriebenen Buchrezensionen – davon kann man sich jederzeit selbst überzeugen – nicht nur auf seinem Blog, sondern schreibt diese zusätzlich und von Hand mit Kugelschreiber wie in ein (B)Logbuch, druckt das Ganze auch noch auf Papier und verschickt diese Flaschenpost, die LITERATURBLATT heisst, per Post, mit Briefmarke und allem, was dazu gehört.“ Ricco Bilger, Verleger

Für mindestens 50 Fr./€ schicke ich ihnen die kommenden 10 Nummern der Literaturblätter. Die Literaturblätter erscheinen ca. 5 – 6 Mal jährlich.

Für mindestens 100 Fr/€ schicke ich ihnen als Freunde der Literaturblätter 10 Literaturblätter, 5 – 6 pro Jahr. Zudem sind sie auf literaturblatt.ch vermerkt.

Für mindestens 200 Fr./€ sind Sie als Gönner stets eingeladen, als Gönner der Literaturblätter auf literaturblatt.ch vermerkt bekommen 10 Literaturblätter (5 – 6 pro Jahr), also etwa zwei Jahre lang und werden einmalig auf Wunsch mit einem Buch beschenkt.

Kontoangaben: (neu)
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Seit Januar 2022 ist das Deutsche Literaturarchiv in Marbach am Neckar prominenter Abonnement des Literaturblatts!

Peter K. Wehrli

 «Der Schoop’sche Katalog», Plattform Gegenzauber

Peter K. Wehrli über Fotografien von Jürg Schoop

 

1.                    das Thema

das Thema ‘Schichten’, das in Jürgs Bildern abgehandelt wird, vom abblätternden Rost an den Eisenbahngüterwagen über die Plakatwandfetzen bis zu den Farbschichten, die sich von einer Geländerstange schälen, dieses Bildthema das nun über die Bilder hinaus zum Thema wird, wo ich feststellen muss, dass die Fotografie jeweils die letzte Schicht ist, in diesem jahrzehntelangen Häutungsprozess: Schicht ist sie.

2.                    die Fotografien

die frühe Collage von 1962, die seit mehr als drei Jahrzehnten an meiner Zimmerwand hängt und die mir deshalb wichtig ist, weil sie mich gelehrt hat, mit meinem Blick in Gros-Plans zu teilen oder in der Totalen zusammenzufassen, was ich nur dort tun will, wo Jürg die Fetzen aus vier übereinandergeschichteten Fotografien so herausgerissen hat, dass drei menschliche Köpfe unverhofft nach Aufmerksamkeit gieren, ganz als ob sie es müde wären Teil des Ganzen zu sein.

3.                    die Papierblätter

die Veränderungen, die der Wind auf den weissen Papierblättern von Jürgs „objets trouvés“, 1978, herbeiführt, die Blätter, Fetzen und Krumen, die er dauernd neu komponiert, dieses Nochnicht und Nichtwieder, das in fernen Kanälen meiner Erinnerung die verschollene Erkenntnis aufsteigen lässt: ‘Zwischen heute und gestern liegt nichts als ein Moment , – zwischen heute und morgen aber ein halbes Jahrhundert», diesen enigmatischen Satz, der wie kein zweiter den  Gegensatz von Augenblick und Dauer trifft, dieses immerwährende Thema aller Fotographie..

4.                   die Passion

die Wirkung des Bildes, die wichtiger ist als das Bild, sogar als  jede Form von Abbildung, und die Passion des Fotografen, die mitschwelt in seiner Fotografie, so heftig diesmal, dass ich den Totenkranz aus Katalonien von 1984 so sehe als hörte ich den Fotografen zu mir sagen: “Ich will nicht, dass wenn man fotografiert am Schluss dann doch nichts anderes als nur ein Bild übrigbleibt“.

5.                 die Mechanismen

das Erforschen der Mechanismen des Erinnerns, das Teil jeder Beschäftigung mit Fotografie ist, die Erfahrung also, dass ich, damit ich mich an die Porzellanrosen von São Tomé erinnern kann, diese Blume fotografiert haben müsste,

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und die von den Gesichtern in Jürgs Pariser Photografie, 1998, geweckte Erinnerung an Renatos legendäre Behauptung, der Gewinn des Erinnerns liege nicht in der Erinnerung an ein Geschehnis, sondern in dem möglicherweise lebensverlängernden Wiedergewinn der Zeitspanne, in der es geschehen war.

6.                    der Film

der Herbststurm, der Berge welken Laubs in eine Mauerecke des „Bellevue“
in Kreuzlingen peitschte, und der Fotograf, der sich 1983 – so stelle ich mir das vor – aus diesem Sturm nach Hause gerettet hatte und sich eingestehen musste, dass er ihn, diesen Herbstwind, erst erlebte als er den Film entwickelt hatte.

7.                    der Umgang

mein Umgang mit Sprache, den ich mir mit der Feststellung erklärte: “Ich schreibe mir herbei was ich nicht habe“, den ich nach tagelangem Betrachten der Bilder dieses schoopschen Kataloges auf den Umgang des Fotografen mit dem Bild zu übertragen versuchte (Fotografiert sich der Fotograf herbei was es nicht hat ?), was mir erst gelang, als ich  meine Feststellung übersetzte in den Satz: „Der Fotograf verleibt sich ein, was er fotografiert“.

8.                    die Pixels

die oft gemachte und doch jedesmal wieder abenteuerlich neue Erfahrung, dass eine gute Fotografie immer Gegenwart ist, auch wenn das Abgebildete längst vergangen ist, wie es in Jürgs Bild  ‘Im Wald’ von 1987 der Fall sein müsste, dieses Verblassen, das mich nicht nur deshalb beschäftigt, weil als Motto „Vanishing Pixels“ darübersteht.

9.                   das Licht

der Gegensatz zwischen Bild und Text, der mir nie grösser erscheinen wollte als jetzt wo ich für diesen schoopschen Katalog, nach dem Licht suche, das auf den Fotoplatten das Bild erzeugt, weil es mir – und dies erst würde die erhoffte sinnliche Deckungsgleichkeit erzeugen – nicht gelingen will, herbeizuführen, dass der Gegenstand den Satz erzeugt, der ihn beschreibt.

10.                  die Gewaltsamkeit

das Durstlöschangebot, das ‘Coca-Cola’ in Jürgs Aufnahme des sienensischen Papierkorbes von 1998 unabsichtlich und doch so äufsässig heftig vor meine Augen hält, dass die Gewaltsamkeit dieses Angebots meine Sprechmuskeln veranlasst, die Frage halblaut vor mich hin zu sagen: ‘Das Wesentliche ist das, was verlangt würde, auch wenn es dies nicht gäbe’.

11.                   der Satz

die Frage, warum mir wohl dieser Satz immer nur auf Englisch einfallen will, obschon er doch schweizerdeutsch gedacht worden war, und der mir nach langem ausgerechnet jetzt wieder einfällt, wo mich Jürg Schoops „Founded Pictures“ zur Feststellung veranlassen: „Je mehr man schaut, umso mehr sieht man“.

12.                  das Erleben

die Gegenwart, die immer Teil des Kunstwerkes ist, – sonst ist es lediglich ein Bild oder eine Fotografie -, diese jedem Erleben innewohnende Zeitform, die mir deshalb ins Bewusstsein kam, weil Dieter unser Gespräch an der Schifflände nicht enden lassen wollte, bis er die Gelegenheit bekam zu sagen, auch der Fotokünstler müsse von Imperfekt und Futur, gerade so viel einfangen, dass es sich lohne, in unserem umstrittenen Praesens  zu verweilen.»

13.                  die Decollage

der in Nr. 2 beschriebene widerspenstige Teil des Ganzen, der sich im Blick, der die Totale fasst, in der Bildebene verliert und genau jener Fleck ist, der bewirkt, dass die aus zufälligen Rissen entstandene Decollage sich  die souveräne Stuktur gibt, die ein japanische Schriftzeichen aufbaut: für mich formuliert es: Feuerfunkeln.

14.                   das Niemandsland

die Beklemmung des messerscharfen Ungefähren, dieses besonnen erforschten Niemandslandes in den Bildern aus Frauenfeld,2000, diese verhaltene Atmosphäre, die mich irritiert als betrachte ich nicht einen Bildraum sondern den Schauplatz einer Tat.

15.                  die Erkennbarkeit

die abstrakten Strukturen, die Jürg in seiner Fotografie jahrelang aus allem Gegenständlichen herausgearbeitet hat und seine Rückkehr zur „gegenständlichen“ Fotografie (als ob es das gäbe !), die mich nun angesichts der wirklichen Bürste im Fahrhof 1999 derart irritiert, dass ich alle Erkennbarkeit der Dinge korrigieren muss indem ich mir einrede: ‘Wüsste man was man sieht, so sähe man es’.

16.                 der Gegenstand

die Vermutung, die sich allmählich zur Gewissheit klärt, dass es Fotografien gibt, die deshalb unwiderruflich sind, weil sich in ihnen nicht in erster Linie der abgebildete Gegenstand zeigt, sondern das Licht, das die fotografische Abbildung ebendieses Gegenstandes erzeugt hat.

17.                 das Ungewöhnliche

mein ebenso aufgeregtes wie neugieriges Blättern in den «clou»-Nummern von 1959 auf der Suche nach Malereien und Photogaphien von Jürg Schoop aus jener Zeit, die sich mit den Bildern dieser CD vergleichen liessen, damit deutlich werden könne, wie weit die Zeit an diesen Bildern mitarbeite, und mein Verzicht aufs Weiterblättern, als mir klar wurde, dass die Fünfzigerjahre jene Epoche waren, in der das Ungewöhnliche noch nicht etwas unter Vielem war.

18.                 die Quadrage

das Zurückfallen in frühere Bilder, von dem ich früher einmal reden zu müssen glaubte und das jetzt wieder virulent wird, wo mir Jürg mit ‘Escala’,1999, zeigt, dass die Wege der Erinnerung durch Schichten und Ebenen führen werden, die jedesmal von einer anders eingerichteten Quadrage begrenzt sind.

19.                 die Hingabe

der Zwang zum Photoapparat greifen zu müssen und mit ihm dann auch zu fotografieren, diese Passion, die in der Serie der Türen von marokkanischen Elektrokasten zu derart bestechenden Bildern führt, dass ich jetzt begreife wie der Fotograph Robert Weibel die bereitwillige Hingabe an den Zwang begründen konnte: „Ich fotografiere! Wie wüsste ich denn sonst, dass ich nicht träume ?“

20.                 der Sucher

die in eine endlich wohltuende Erschütterung mündende Ahnung, dass der im Sucher sich darbietende Ausschnitt aus dem Strom Leben nicht den Ausschnitt zeigt, sondern das Leben, weil in einer guten Fotografie auch der kleinste Ausschnitt immer das ganze Leben enthält.

21.                  die Komposition

die Entwürfe, die Skizzen von Künstlern aller Sparten,  die das entstehende
Werk vorausahnen lassen und die Aufnahme der Blumen auf dem Miststock von 1986, die ebenso abgeschlossene Komposition ist wie verwegenes Formsuchen, dass sie mich zur bislang unbeantworteten Frage veranlasst, unter welchen Bedingungen (und ob überhaupt ?) Fotographie Entwurf sein könne.

22.                  der Lichtwechsel

das Ineinander von Kunstlicht und Naturlicht beim Tagesanbruch, den ich bislang als organischen Lichtwechsel erlebt habe, ganz anders als jetzt, wo ich fiebernd beobachte, wie die Morgendämmerung das Dunkel vertreibt, als schicke der Tag erste Schlieren seines Lichtes als Vorhut in die renitente Nacht hinein.

23.                 die Selbstverständlichkeit

die Fenster und die Türen, die – seien sie nun abgebildet oder nicht – Jürg Schoops immerwährendes Thema sind durch fünf Jahrzehnte hindurch, dieses Fenstersein und Türwerden, dieses Türsein und Fensterwerden, das mir jetzt plötzlich jene Frau im violetten Rock in Erinnerung ruft, die das Fenster auf die Rua do Carioca hinaus öffnete um auf den Balkon heraustreten zu können, mit jener Selbstverständlichkeit, als wolle sie uns beweisen, dass sich – vielen Ahnungen zum Trotz – überhaupt nichts ändere dadurch, dass hierzulande (also: dort) jedes Fenster eine Türe ist.

24.                  die Zeichen

die handschriftliche Angabe ‘Italien’ unter der Fotografie der verrammelten Türe von 1985 (und nicht etwa die Aufzählung der Städtenamen Rom, Florenz, Alba, Siena) die mich nun in das Reich aller jener
vielen Dinge, Gesten – und dazu gehört die Art, wie sich der alte Ezio auf den Kastanienstock stützt wenn er abends den Weg vom Dorf herunterkommt – Verhaltensweisen und Zeichen versetzt, die, obschon Carmine kaum eine Viertelstunde von der Schweizer Grenze entfernt liegt, doch so radikal Italien bedeuten, dass ich mich ertappe, wie ich carminensischsage wo ich italienisch sagen will, und dass ich deshalb versucht bin,  Schoops Aufnahme der italienischen Tür als eine carminensiche zu bezeichnen, weil ich das carminensische Wesen als italienischer erlebe als das italienische.

25.                  die Unschärfe

die Brille, die ich nicht auf hatte als mein Blick zufällig die in Nr. 2. beschriebene Collage streifte, und die mir den Eindruck von formaler Grossartigkeit verschaffte, weil erst die Unschärfe alle Bildelemente ineinander verfliessen lässt und nicht mehr zulässt, dass sich ein Detail – die drei Gesichter – als aufsässiges Realitätspartikel meldet.

26.                  die Oberfäche

die Unentschiedenheit zwischen Interpretationssucht und ihrer Parodie, mit der ich die Oberfläche von Jürgs florentinischer Fotografie von 1998 absuche um den Gegenstand aufzuspüren, der das Bedürfnis in mir ausgelöst haben könnte, angesichts dieser Decollage den abstrus erscheinenden Satz zu formulieren:  „Buchstaben werden Wörter werden, Bilder werden Gegenstand“.

27.                  die Unfähigkeit

die Unfähigkeit, angesichts meiner Lieblingstüre unter Schoops Türaufnahmen (jener von Rom 1978), den Eindruck in einen einzigen Satz zu fassen, wie es den eisernen Regeln der Katalogsprache entspräche, und mein Eingeständnis des Regelverstosses indem ich den verbotenen Abschnitt nun doch hinschreibe:
Wo alle Türen Rahmen sind, die lebensgrosse Bilder halten, gibt es keine Zeichen unter Glas. Ins Bild hinein und aus dem Bild heraus: der Rand ist Rahmen und ist keine Grenze, es führen alle Wege durch ihn durch. Ein gutes Bild ist stets ein Bild von allem, und ein Bild gibt es nie allein: Vorlage und Abbildung, – der Rahmen hält sie gegengleich. Und nirgends spiegeln sich Betrachter, weil jeder Gast in beiden Bildern ist“.

28.                 die Konturen

die elf Gegenstände im Bild von Barcelona, 1999, die danach gieren, beschrieben zu sein mit Wörtern, die so dicht ihre Körper füllen und so satt alle Konturen fassen, dass meine Sprache wie das Echo wirkt, das ertönt, wenn der Blick die fotografierten Dinge streift.

29.                 die Welt

die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge im bearbeiteten Negativ von 1958, die mich an die Kratzer, Striche, Risse und Sprünge an der Zellenwand erinnerten, in denen der Gefangene den Flusslauf des Amazonas erkannte, die Schlingen der Seine und des Brahmaputra, und dazu erklärte, wenn die Welt die Ausmasse seiner Zelle hätte, würde er sich frei fühlen wie noch nie.

30.                  die Notwendigkeit

die quälende Insistenz, mit der sich beim Anblick von Jürgs marokkanischen Schwemmgutbildern die beiden Schlüsselsätze in die Quere kommen, jener des Mannes im Markt von Caruarú, ein Bild sei auf jeden Fall besser als kein Bild, und Peter Rosei’s beeindruckend vorgebrachter Anspruch, Bilder müssten  besser sein als ihre Vorlage, sonst seien sie unnötig,

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und die Beruhigung, die auch gleich doppelt eintrat, als erstens die Bilder ihre Notwendigkeit zu erkennen gaben und ich zweitens erkennen musste, dass Rosei eigentlich doch nicht von Bildern gesprochen hatte, sondern von Beschreibungen, die übrigens ja immer Bilder fassen.

31.                  der Zufall

die Pariser Fotografie von 1958 mit der zerfetzten Plakatwand, von der ein einigermassen unversehrter W.C. Fields lacht, dieses BiId, das ich deshalb nicht vergessen kann (nicht etwa, weil ich W.C. Fields Komödiantik verehren würde, sondern:), weil es erläutert, dass es nie der Gegenstand sein kann, der Kunstwerk sein will, sondern mein Blick, der ein Ding (das der Zufall zur Collage gemacht hat ) als Kunstwerk erleben will.

32.                  die Zeit

die Anschläge des Zirkus Bramarbasani, die mich daran erinnern, dass in der Schweiz die Zirkusplakate von den Wänden entfernt werden , sobald der Zirkus weitergezogen ist, und dass in den Ländern, in denen Jürg Decollagen fotografieren konnte, die Anschläge – Respekt ist es vor dem Wirken der Zeit ! – erst dann nicht mehr sichtbar sind, wenn sie die Sonne ausgeglüht, der Regen verwaschen und der Wind zerzaust hat.

© Peter K. Wehrli & wiedingpress

Der schoopsche Katalog“                           

Ja, Jürg Schoop ist Künstler. Und wenn ich sagen würde: Maler, Fotograf, Dichter, Objektkunstler, Komponist, so würde ich nur kleine Teile seines Tun nennen. Denn er ist Künstler. Als ich noch Teenager war, da war er viel mehr als das: Er war für mich der Inbegriff des Künstlers. Einer, der Kunst nicht nur machte, sondern sie auch lebte.
Und Ende der Fünfzigerjahre war er noch etwas mehr: Er war Chefredaktor der Zeitschrift „Clou“. Und weil ich damals gewagt hatte, eigene Gedichte einzusenden, wurde ich unverhofft zu einer Redaktionssitzung eingeladen. Dort habe ich Jürg Schoop kennengelernt.  Und da zu jener Zeit Schoops erster Gedichtband erschien „So tanz ich den Tanz“, wurden einige Zeilen daraus für mich sozusagen zum Aufruf der Solidarität: „…wo sollen wir Almosen flehn, wir am Leben trunken gewordene Narren?“  Damit hatte Schoop auch mein damaliges Lebensgefühl formuliert, lange vor 1968 als die Narretei sich dann mit Wut bewaffnete. Für uns war damals schon das Durchbrechen der Grenzen zwischen den künstlerischen Gattungen ein strikter Mut- oder Wutakt. Und Jürg hat  diesen Durchbruch auch mit Witz- durch Sinnschichtungen vollzogen.
Als ich 1968 meine Orientreise – weil ich den Fotoapparat vergessen hatte – mit Worten statt mit Bildern dokumentieren musste, (was als Initialzündung für den „Katalog von Allem“ wirkte) war das Tun und Lassen, die Ideen und die Haltung von Jürg Schoop noch so präsent in mir, dass sie sich in meiner Sehweise und meiner Auffassungsart niederschlugen, – mehr noch: Jetzt, wo der Katalog von Allem“ auf 2849 Katalognummern angewachsen ist, lassen sich 32 Nummern davon zum „Schoopschen Katalog“ zusammenfassen. Und damit sind nur jene Nummern gemeint, in denen Schoops Werke und sein Tun explizit genannt werden; wo Schoops Sichtweise und seine Art des Verarbeitens von Beobachtetem zum Zuge kommen, würde die Zahl der Nummern um ein Vielfaches zunehmen.
Nicht allein im Bildgegenstand in diesen „geschriebenen Fotografien“ steckt die Allusion an Jürgs sensibel wählenden Blick, auch im Rhythmus der Sprache, in ihrer Art von Farbigkeit, im Umgang mit Rhythmus und Klangstufe, in der Quadrage der Einstellungen (Totale oder Grossaufnahme) der geschriebenen Bilder, in möglichen Überblendungen und Einzelbildern, Zoom oder Schwenk oder Standbild, in allen diesen Erscheinungsformen liessen sich Nachwirkungen  von Jürgs künstlerischen Taten aufspüren und von seiner Sensibilität, die er mir vor sechs Jahrzehnten zu injizieren begann. Und auch dem Zufall, der sich ins Bild drängt, gilt es seinen Platz zu lassen. So erst kann sich das Widerspiel von Natürlichkeit und Künstlichkeit entwickeln.
Und übrigens: Schoop festigte es, dieses Spiel, schon früh in seinem legendären Satz: „Wenn man künstlerisch tätig ist, überlegt man sich nicht, warum und wozu man etwas tut. Man gehorcht einfach dem Trieb.
Auch dies hatte mich Jürg damals gelehrt.

Peter K. Wehrli, geboren 1939, Studium der Kunstgeschichte in Zürich und Paris. Reisen durch die Sahara und zur Piratenküste. Längere Aufenthalte in Südamerika. Redaktor beim Schweizer Fernsehen DRS. Tätigkeit als Herausgeber. Zahlreiche Veröffentlichungen, u.a. «Zelluloid-Paradies» (1978), «Eigentlich Xurumbambo» (1992), «Katalog von Allem» (1999).
Webseite von Peter K. Wehrli

Jürg Schoop, Ex-Maler, Collagist, Literat, Fotograf und Filmer seit 1952. Vorwiegend Autodidakt. Geboren 1934 in St.Gallen, aufgewachsen in Romanshorn. Lehre als Schaufenstergestalter in Arbon mit Besuch der Gewerbeschule St.Gallen (Lehrer Baus + Nüesch). Ab 1972 10 Jahre Aufenthalt in Zürich. Anschliessend Rückkehr in den Thurgau. Um die Unabhängigkeit sicher zu stellen, arbeitete der Künstler meist teilzeitlich in vielen Nebenberufen und schlug diverse Karrierenangebote aus. 1998 Kulturpreis des Kantons Thurgau. Letzte Veröffentlichung: «Brunnenpoesie», Schuber mit 50 Fotografien bei Orell Füssli.
Ausführliche Biographie
Webseite von Jürg Schoop

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Ein literarischer Doppelstern im Literaturhaus Thurgau; Julia Weber & Heinz Helle

Julia Weber und Heinz Helle verkörpern alles, was ein „Schreibendes Paar“ ausmachen kann: Ein erfolgreiches SchriftstellerInnen-Paar, eine Familie, in der Kinder nicht bloss Beigemüse sind, ein Paar, das sich respektiert und zwei Stimmen, die sich unabhängig voneinander in den Kulturbetrieb mit einbringen, ihn auch aufmischen.

Julia Weber, Jahrgang 1983, Mutter von zwei Kindern, zwei Romanen, zwei Theatern und unzähliger Beiträge zu Literatur, Gesellschaftsfragen oder Kultur, vielfach preisgekrönt. Heinz Helle, Jahrgang 1978, Vater der gleichen Kinder, von vier Romanen, bis in Chinesische übersetzt und ebenso vielfach preisgekrönt.

zusammen mit Co-Moderatorin Cornelia Mechler

Beide sind kurz vor der gemeinsamen Lesung in Gottlieben zurückgekommen von einem mehrmonatigen Aufenthalt zusammen mit ihren Kindern in der Villa Massimo in Rom. Monate an einem Ort, der nicht zum Ferien machen gedacht ist, sondern Zeit und Raum geben sollte fürs Schreiben. Das, wofür man zuhause im Strudel der familiären Pflichten zuweilen kämpfen muss. Das, was in ihren beiden Romanen zum Stoff wurde. Das, was literarisch im gleichen Sonnensystem um einen Stern kreist, verschieden in Atmosphäre und Färbung, als wären es Doppelstern – Sie kreisen umeinander, zeigen sich wechselseitig; „Die Vermengung“ von Julia Weber erschien im Frühling dieses Jahres bei Limmat und „Wellen“ von Heinz Helle, diesen Herbst bei Suhrkamp erschienen.

Auf die Frage, ob es eine Strategie dahinter gegeben habe, oder einfach nur wirkungsvoller Zufall sei, erzählten die beiden, sie hätten nach der Geburt des zweiten Kindes schnell gemerkt, dass es im Austausch über ihr Schreiben Parallelen gegeben habe. Aber die Anfänge der beiden Bücher seien unabhängig voneinander entstanden, bei beiden aus einer Notwendigkeit heraus.

Julia Weber und Heinz Helle lernten sich schreibend in Biel am Schweizerischen Literaturinstitut kennen. Julia Weber und Heinz Helle gibt es nicht ohne die Literatur. Beide Bücher „Die Vermengung“ und „Wellen“, ein Doppelhelix und doch völlig verschieden, kreisen um das Thema Schreiben, Familie, Mutter- und Vatersein, Rollenverständnis, Auseinandersetzung mit sich selbst und der Welt. Heinz Helles Buch liest sich wie ein Tagebuch, wie eine Liebeserklärung an das Schreiben, seine Frau, seine Kinder, eine philosophisch-gesellschaftliche Auseinandersetzung. In Julia Webers Roman vermischen sich eigentlich zwei Romane; den, den ich lese und den, den sie während des Schreibens schreibt. Zwei Romane, die sich gegenseitig spiegeln. Aber Julia Webers Roman hat noch andere Ebenen; Briefe, Generationenstimmen, die vielfache Auseinandersetzung mit Muttersein. „Wellen“ ist ein Solostück, „Die Vermengung“ ein Orchesterstück.

«Liebe Cornelia, lieber Gallus, vielen Dank für den schönen Abend mit Euch im Bodmanhaus! Wir habe uns sehr wohl gefühlt und nicht nur das gemeinsame Essen und den Spaziergang am Rheinsee genossen, sondern auch das anregende, einfühlsame Gespräch auf der Bühne. Wir kommen sehr gerne wieder einmal. Vielen Dank und herzliche Grüsse» Julia und Heinz

Rezension von «Die Vermengung» von Julia Weber auf literaturblatt.ch

Rezension von «Wellen» von Heinz Helle auf literaturblatt.ch

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle», edition pudelundpinscher #SchweizerBuchpreis 22/6

Pommfritz heisst eigentlich Pomelius Fridericus. Wer heisst schon so. Der Name allein wäre Strafe genug. Und Pommfritz sitzt tatsächlich zur Strafe im Gefängnis. Wegen Mordes an seiner Mutter, wegen Kanibalismus. Von einer Hölle in die nächste geraten.

Das Buch sperrte sich mir lange. Nicht nur weil es sich einhändig kaum lesen lässt, nicht der Anzahl Seiten wegen, nicht weil das Buch in der Sitte des Verlags als Paperback den Weg zu LeserInnen versucht, sondern weil Lioba Happel nichts tut, um eine „schöne“ Geschichte zu erzählen. Das soll keine Kritik sein. Ich liebe Bücher, denen ich mich stellen muss, die mich herausfordern, die provozieren. Lioba Happels Roman ist nicht nur der Erklärungsversuch eines Mannes, der es schon lange aufgegeben hat, aus der Hölle zu entkommen, sondern sprachlich wie eine „Eiserne Jungfrau“, die sich während der Lektüre immer unbarmherziger in meine Gedankenwelt einsticht und Male hinterlässt.

Pommfritz sitzt im Knast und schreibt Briefe an seinen Vater. An einen Vater, von dem er nicht viel weiss, der aus seinem Leben entschwand, den er in den Briefen mit „Vatter“ anspricht, als ob in diesem Wort schon das Geräusch einer Backpfeife zu hören wäre. Pommfritz sitzt im Knast, weil er an seinem dreissigsten Geburtstag mit einem Küchenmesser ins verfettete Herz seiner Mutter gestochen hatte, weil er, nachdem sie sich nach der Leichenstarre endlich erweichen liess, mit eben diesem Messer der toten Mutter eine Fingerkuppe abgeschnitten, gebraten und verspeist hatte. Er sitzt im Knast nach einem verkorksten Leben, in dem er sich eigentlich immer nach Nähe und Liebe sehnte, aber jene Liebe nie erhielt oder eben nehmen musste, was zu kriegen war: Kommandos, Schläge und den rauchen Wind einer Welt, in der man sich nehmen musste, weil man nichts geschenkt bekommt.

„Ich habe an die Mutter geglaubt, die für mich die Welt war. Uns siehe, die Welt war öde und leer.“

Lioba Happel «Pommfritz aus der Hölle» edition pudelundpinscher, 136 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-906061-25-2

Pommfritz kann sich erst mit dem von ihm inszenierten Tod seiner Mutter von einem Fleisch gewordenen Alptraum befreien. Seine Mutter, die wie ein riesiger Fleischberg in ihrer Wohnung liegt und nicht einmal mehr den Weg auf die Toilette schafft, sich eigentlich nur noch von Grillhühnchen ernährt, die ihr vor die Wohnung geliefert werden, reduzierte ihre Zuwendung einzig auf Kommandos, nachdem ihre Reichweite für Schläge mit den Jahren immer kleiner geworden war. Selbst als Junge muss sein Leben ein schwieriges gewesen sein. Die gut gemeinten Annäherungsversuche der Pitschbauer, seiner Lehrerin, die ihm gar einmal ein Buch von Arthur Rimbaud in die Hand gedrückt hatte, macht er mit seiner lustvollen Boshaftigkeit zunichte.

Das einzige Wesen, das Pommfritz in die Nähe kommt, das einzige, das bedingt Nähe zulässt aber ebenso viel Schmerz austeilt und einstecken muss, ist Lilly, Prügellilly, eine Hure, ebenso Verlorene wie Pomelius Fridericus selbst.

„Ich lernte mit dem Schlag den Sekundenmoment der Berührung herauszufiltern und spürte so was wie Vorfreude, wenn es hiess: Komm her!“

„Pommfritz aus der Hölle“ ist wie ein Sprache gewordenes Bild in der Art von Caravaggio. Es zeigt die dunkle Seite des Menschseins gnadenlos, konfrontiert unmittelbar. „Pommfritz aus der Hölle“ aber als Sozialstudie eines Monsters abzutun, ist nicht, was dieses Buch will. Lioba Happel badet sprachlich in der Welt eines Kaputten. Wäre „Pommfritz aus der Hölle“ ein Theater, würden die ersten ihre Plätze schon nach wenigen Minuten verlassen, weil das Spektakel so gar nicht erbauen will. „Pommfritz aus der Hölle“ will nicht gefallen. Sprache und Geschichte sind so unzugänglich wie ihr Personal, die Geschichte und Lioba Happels Art zu erzählen. Lektüre wird zu Arbeit.

Erstaunlich genug, dass die Jury dieses Buch in die Liste der Nominierten aufnahm. „Pommfritz aus der Hölle“ ist eine Stimme aus den Untiefen menschlicher Existenz. Ein Buch, das einem als Nachttischlektüre in Alpträume begleiten kann. Ein Buch, das einen Kloss im Bauch zurücklassen kann, sperrig, nur schwer verdaulich.

Lioba Happel, geboren 1957, war viele Jahre in Deutschland und der Schweiz im schulischen und sozialen Bereich tätig. Sie hat sowohl Lyrik wie Prosatexte veröffentlicht und erhielt diverse Auszeichnungen, zuletzt den Alice Salomon Poetik Preis 2021. Nach längeren Aufenthalten in England, Irland, Italien und Spanien wohnt sie heute in Berlin und Lausanne.

Illustrationen © leafrei.com

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession

Kann man sich einer Schuld entledigen? Gibt es Busse? Wie schafft es der Mensch, all die Schrecken menschlichen Tuns hinter Fassaden so gut inszeniert zu verbergen? Steven Uhlys Roman „Die Summe des Ganzen“ schlägt ein wie Blitz und Donner zugleich. Möge es danach brennen!

Ein schwarzes Buch mit einem schwarzen Schaf auf dem Cover. Auf der Stirn dieses jungen, schwarzen Schafs prangt ein goldenes Kreuz. Das junge Schaf ist gezeichnet. Das golden schimmernde Kreuz prangt mitten auf der Stirn, unübersehbar, leuchtend in der Schwärze. Das Buch nahm mich schon, bevor ich es zu lesen begann, in seinen Bann. Kaum aus seiner durchsichtigen Hülle gepult, musste ich zu lesen beginnen. Mit Sicherheit, weil es ein Buch von Steven Uhly ist – aber auch weil all meine Assoziationen, die das Buch schon mit seinem Auftritt auslösen, wissen wollten, ob sie im Roman ihre Bestätigung finden.

Padre Roque de Guzmán, 50 Jahre, betreut eine kleine Gemeinde in einem Aussenbezirk Madrids. Noch nicht lange, aber so lange, dass sich seine Tage in immer gleichem Rhythmus abspulen. Dazu gehören die Zeiten im Beichtstuhl der Kirche, stets von 17 bis 18.30 Uhr. Die Menschen, die in dieser Zeit im Dunkel des kleinen Gevierts Erleichterung suchen, ihre grossen und kleinen Sünden offenbaren und auf Erlösung hoffen, sind immer die gleichen. Zum Beispiel José Maía Espín, der seine Frau chronisch betrügt. Oder Señora Barros, die immer und immer wieder über ihren verstorbenen Mann schimpft, ihrem Mann selbst nach seinem Tod immer und immer wieder den Tod wünscht.
Bis jemand Fremder seinen Beichtstuhl betritt, ein junger Mann, der Padre Roque de Guzmán nur zaghaft verrät, welche Sünde, welch finstere Absichten er mit sich herumträgt, weil er den Beichtstuhl meist fluchtartig verlässt, dann wenn „die Summe des Ganzen“ unerträglich wird.

Steven Uhly «Die Summe des Ganzen», Secession, 2022, 160 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-96639-048-4

Wer katholisch erzogen ist, wird unweigerlich mit jenem eigenartigen dreiteiligen Ding konfrontiert, das an den Seiten einer Kirche hinter Vorhängen und Sichtschutz die Gläubigen einladen soll, Busse zu tun, sich jenen zu öffnen, die als Vertreter Christi ihre Absolution erteilen können, uns weissen uns schwarzen Schafen. Scheinbar kostenlos, nicht wie der Gang zu PsychologInnen. Aber eben doch nicht kostenlos, sowohl die Preisgabe wie das Empfangen, denn was sich Padre Roque de Guzmán anhören muss, lässt ihm das Blut in den Adern gefrieren.
Der junge Mann scheint im Begriff zu sein, sich an seinem Nachhilfeschüler zu vergehen. Der junge Mann erzählt, er wäre verheiratet, habe eine kleine Tochter. Aber selbst die Familie, die Liebe und die Sorge um sie, schütze ihn nicht davor, sehenden Auges ins Verderben zu schreiten. Im Beichtstuhl dieser Kirche spiegeln sich Dramen. Jenes des jungen Mannes, der sich in einem fatalen Sog befindet, dessen schwarzes Loch in seinem Bauch alles schluckt. Aber auch jenes des Beichtvaters. Zum einen weil er weder bei dem jungen Mann noch bei ihm selbst verhindern kann, was als Katastrophe unaufhaltsam rollt, zum andern weil es aufreisst, was sich in die Tiefen des Verdrängens geschoben hat.

Steven Uhlys Roman ist viel mehr als ein Buch über die Abgründe der Pädophilie, auch nicht die Bestätigung dessen, was uns Medien gerne mit Wonne auftischen, wenn sich Kirchenmänner wieder und wieder, selbst nach medial inszenierten Entschuldigungen, die Besserung und Aufklärung versprechen, an Kindern vergehen. Letztlich sind es die Schicksale jener, die in diesem Buch im Hintergrund bleiben, auch wenn Steven Uhly in seinen Schilderungen Schmerzgrenzen berührt. Es gibt Wunden, die sich nie schliessen. Auch dann nicht, wenn man für sie büsst, auch dann nicht, wenn über sie gesprochen wird, auch dann nicht, wenn man sich dafür rächt.

„Die Summe des Ganzen“ ist ein Kammerspiel zweier Männer im Dunkel eines Beichtstuhls. Und ein Lehrstück für mich selbst, denn Steven Uhly straft mich während der Lektüre für mein voreiliges Urteil, zeigt mir, wie sehr ich mich verleiten lasse. «Die Summe des Ganzen“ geht unsäglich tief, zeigt, wie sehr sich der Mensch durch seine egomanischen Triebe offenen Auges in den Abgrund schickt.
Mag sein, dass Steven Uhly Klischees bedient. Aber die katholische Kirche bestätigt fleissig jedes Klischee, immer und immer wieder.

Interview

Sie wohnen in München. Weder in Deutschland noch in der Schweiz sind Kleriker an den Abgründen der Pädophilie vorbeigekommen, ganz und gar nicht. Und trotzdem siedeln sie das Geschehen in der spanischen Hauptstadt an mit zwei Protagonisten, die südamerikanischer Herkunft sind, zwei Verlorene. Warum in spanischem Kleid?

Es gibt nur einen Südamerikaner, Lucas Hernández. Der Padre stammt aus der Gegend von Sevilla, ist also Spanier, und Akachukwu ist Nigerianer. Die Konstellation hat verschiedene Gründe. Erstens stammt ein Freund von mir aus jenem Viertel in Madrid. Er wurde als Kind von einem Padre belästigt. Zweitens aber fand die größte und gewalttätigste christliche Missionierung eben dort, in Südamerika, statt. Ihre Opfer sind zahllos. Eines Tages werde ich vielleicht ein Buch über Bartolomé de las Casas schreiben, der das bereits damals erkannte und schier daran verzweifelte – für mich eine der Lichtgestalten der Menschheit. Mein Buch ist insofern eine versteckte Metapher dessen, was Europa in seinen Kolonien tat – erinnern Sie sich daran, dass Akachukwu mehrmals die Engländer erwähnt, die sein Volk zu Christen gemacht hätten. Ich habe diese Metapher nicht weiter ausgearbeitet, weil ich wegen der Stringenz des Handlungsverlaufs Prioritäten setzen musste. Aber wer aufmerksam liest, der findet es.

Abgründe tragen wir alle mit uns herum. Niemand ist vor ihnen geschützt. Warum gelingt es Menschen nicht, rechtzeitig das Ruder herumzureissen? Warum verletzen wir andere im Wissen darum, dass unser Tun unentschuldbar ist? Und warum ausgerechnet jene, die uns den Weg zum Frieden weisen wollen, Kinder? Warum die Kirche, die die sich die Nächstenliebe übergross auf ihr Banner geschrieben hat?

Das sind sehr tiefgründige Fragen, ich werde versuchen, sie im Rahmen meiner eher bescheidenen Fähigkeiten zu beantworten: Ich glaube an das Gute im Menschen, doch ich glaube auch, dass uns das nichts bringt, wenn wir es nicht in uns selbst entdecken. Erinnern Sie sich an den schmutzigen Teller, den der Padre erwähnt? Ich glaube der Teller ist wie das Gute im Menschen: Er verliert seine glatte saubere Oberfläche nie, doch wenn sie vom Schmutz unserer schlechten Gewohnheiten, unserer Ängste und Wünsche, unseres Zorns oder Grolls, unserer Gier und unserer fehlenden Disziplin überdeckt wird, verschwindet sie, sprich: sind wir uns ihrer nicht bewusst. Und je länger wir unseren schlechten Gewohnheiten nachgeben, desto stärker werden sie, wie Essensreste, die zu lange auf dem Teller getrocknet sind, und desto schwerer wird es, ihn zu spülen.

Was die Kirche betrifft, so glaube ich, dass sie einem Missverständnis aufsitzt: Gott ist ein geistiges Wesen, sein Reich ist das spirituelle Universum des Menschen. Die Kirche hat daraus jedoch ein materielles Reich gemacht mit Besitztümern, Begehrlichkeiten und der Notwendigkeit, ihre Pfründe zu verteidigen. Eine solche Konstellation zieht immer auch Machtmenschen und Heuchler an, wie überall sonst auch. Und der Zölibat fügt dem einen weiteren Aspekt hinzu: materielle, sprich: körperliche Macht, erotische Macht. Es gibt meines Wissens keine wirkliche Prüfung jener Menschen, die den Zölibat akzeptieren. Warum will jemand auf seine Geschlechtlichkeit verzichten? Sex ist meiner Erfahrung nach die intimste Form der Kommunikation zwischen zwei Menschen, vielleicht sogar die Essenz der Kommunikation überhaupt. Beim Sex wird man immer mit der Wahrheit konfrontiert – der eigenen und der des anderen. Warum will jemand freiwillig darauf verzichten? Aus Angst? Warum kann jemand Liebe nur im Rahmen eines Machtgefälles empfinden? Vielleicht weil er eine traumatische Ohnmachtserfahrung gemacht hat, die er zu verdrängen versucht?

Bestimmt gibt es Menschen, die jenseits des Geschlechtlichen sind, es wirklich nicht mehr brauchen, doch viele werden es nicht sein. Die Kirche aber will im Prinzip endlos wachsen – darin unterscheidet sie sich weder von Imperien noch von multinationalen Unternehmen. Sie braucht also sehr viele Priester, und vielleicht liegt da ein ganz einfacher Konflikt zwischen den Statuten und dem Wachstumspotenzial vor: So viele zölibatäre Priester kann es gar nicht geben. Und die übrigen?

Priester betreiben Seelsorge, sie sollten, wie Therapeuten auch, zunächst einmal sich selbst therapieren lassen, und zwar durch weltliche Therapeuten. Erinnern Sie sich an die Stelle, an der der Padre dem Sünder empfiehlt, eine Therapie zu machen? Wenn Sie bedenken, dass das Buch wie ein Spiegelkabinett angelegt ist – der Sünder spiegelt die Gedanken- und Gefühlswelt des Priesters -, dann sagt er das eigentlich zu sich selbst.

Die Kirche hat aufgrund ihres Missverständnisses ein fast schon dogmatisches Problem mit der Psychotherapie, denn auch die Psychotherapie verspricht Befreiung vom Leid, allerdings ohne Gott. Doch die Psychotherapie ist weltlich, sie steht gar nicht in Konkurrenz zu Gott, weil Gottes Reich nicht von dieser Welt ist. Ehrlich gesagt, verstehe ich nicht, warum die Kirche nicht längst eine Therapie für alle angehenden Priester verpflichtend gemacht hat.

Verletzungen gibt es. Sie vernarben. Manche vergisst man. Und manche eitern ein Leben lang. Pädophilie provoziert selbst als Thema enorme Aggressionen. Kein Verbrechen entblösst so sehr die menschliche Fratze, sei es bei Tätern oder bei AnklägerInnen. Schon klar, wenn man ins Gesicht eines Kindes schaut und sich dessen Verletzbarkeit bewusst wird. Sie stechen mit Ihrem Roman mitten ins Herz, gleich vielfach. Da hätte doch einiges schiefgehen können!

Ich glaube wie gesagt nicht an die menschliche Fratze. Ich glaube, das Böse entsteht immer dort, wo wir uns selbst nicht erkennen. Ignoranz ist meiner Meinung nach die wahre Wurzel des Bösen: „Vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ Vielleicht ist es deshalb nicht schiefgegangen. Der Padre hat letztlich keine Ahnung, was er wirklich braucht. Er hat sich dem Glauben verschrieben, aber vielleicht war das die falsche Entscheidung, zumindest zu dem Zeitpunkt, als er sie traf. Das Problem, was er seitdem hat, besteht darin, dass er keine Handhabe für sein Begehren entwickelt. Solche unnatürlichen Neigungen verdecken meiner Meinung nach stets das eigentliche Problem, das oftmals ganz anders geartet ist. Ich denke, der Padre hat nicht erkannt, dass Lieben wichtiger ist, als geliebt zu werden. Um das zu erkennen, muss man als Kind geliebt worden sein. Und es gibt so viele Menschen, die ohne diese Gewissheit aufwachsen. Der Glaube allein kann ihnen nicht helfen, weil sie stets Gefahr laufen, auch ihn zu benutzen, um ihr eigentliches Problem zu kompensieren. Erinnern Sie sich daran, dass er immer wieder versucht, Selbstlosigkeit zu üben. Aber wenn das Selbst nicht gesund ist, muss man sich zuerst darum kümmern, es zu heilen, bevor man sich selbst zugunsten anderer vergessen kann. Dem Padre ist all dies nicht bewusst, und die Bibel liefert auch keine Methode, denn sie richtet sich an Menschen, die schon so weit sind, dass sie das Wort Gottes ungefiltert in sich aufnehmen können.

Was Lucas betrifft: Seine Gefühlswelt ist mir im Laufe einer fast dreißigjährigen intensiven  Freundschaft mit einem Opfer und seinen Angehörigen immer näher gekommen. Ich wusste also, wovon ich sprach.

Nicht die Rache bringt Erlösung, nicht die Entlarvung, nicht die Überführung. Etwas von dieser Erlösung bringt ein Mann mit dem Namen Akachukwu. Wie kam es zu diesem Namen?

Akachukwus Charakter ist einem nigerianischen Freund nachempfunden. Sein Name ist das Ergebnis einer Recherche. Ich wollte, dass er bedeutsam wäre, vor allem für Lucas.

Es geht in Ihrem Roman um weit mehr als Pädophilie. Das eigentliche Thema ist „Schuld“. Ein Thema, ein Wort, mit dem die Kirche während Jahrhunderten Angst und Schrecken verbreitete, womit man Menschen zu Schafen werden lassen konnte, weil niemand jenes schwarze Schaf sein wollte, auf das der Zorn Gottes und seiner Kirche mit Sicherheit zielen würde. Ist die Emanzipation aus den Krallen der ewigen Schuldzuweisungen vergeblich?

José Saramago schrieb in seinem Meisterwerk „Das Evangelium nach Jesus Christus“, die Schuld sei wie ein Wolf, der sich durch die Generationen frisst. Ich glaube, Schuld ist ein universales Phänomen, eine Funktion oder ein Reflex unseres Gewissens, unseres Wissens um die Wahrheit über das Richtige und das Falsche, Gut und Böse, Mitgefühl und Egoismus. Wir Menschen werden immer in Furcht davor leben, uns schuldig zu machen, wir werden immer darum kämpfen, unschuldig zu sein, ob mit Kirche oder ohne. Und gleichzeitig werden wir doch immer wieder Schuld auf uns laden, weil wir Menschen sind. Die Beichte ist eigentlich etwas sehr Sinnvolles. Wenn die Kirchenoberhäupter nur nicht aus der Genesis die Erbsünde gebastelt hätten. Ich glaube, die Kinder sind der Beweis dafür, dass wir nicht sündig zur Welt kommen. Und das wiederum ist der Beweis dafür, dass die Sexualität nichts Sündiges ist. Die Erkenntnis von Gut und Böse bringt zwar unweigerlich ein Bewusstsein von Schuld und Unschuld mit sich. Doch ich glaube nicht, dass es jemals einen paradiesischen Zustand gegeben hat, der frei davon war. Ich glaube nicht an den Sündenfall, er ist meiner Meinung nach ein Grund dafür, dass der alttestamentarische Gott in seiner Essenz anders ist als der christliche Gott. Dies und seine Eifersucht, seine Rachsucht. Ich glaube, der christliche Glaube sollte ausschließlich auf dem Neuen Testament basieren. Das wäre auch eine Voraussetzung dafür, dass der christliche Glaube sich weiter entwickeln kann.

Die katholische Kirche befindet sich hier natürlich in einem Dilemma: Sie kann nicht auf das Alte Testament verzichten, und deshalb kann sie die Beichte nicht zu einer echten Reinigung von aller Schuld entwickeln. Das wäre aber etwas sehr Gutes. Ich glaube, die Aufgabe des Priesters besteht nicht darin, die Sünden seiner Schutzbefohlenen zu kennen, sondern ihnen ein Ritual zu geben, mit dessen Hilfe sie sich von ihren Schuldgefühlen befreien können – mehr wie ein Schamane und weniger wie ein Therapeut ohne Ausbildung und ohne Handhabe, was sie bis heute leider geblieben sind.

Steven Uhly, 1964 in Köln geboren, ist deutsch-bengalischer Abstammung. Er studierte Literatur, leitete ein Institut in Brasilien, übersetzt Lyrik und Prosa aus dem Spanischen, Portugiesischen und Englischen. Sein Debütroman »Mein Leben in Aspik« ist 2010 und »Adams Fuge«, ausgezeichnet mit dem Tukan-Preis, ist 2011 bei uns erschienen. »Glückskind« (2012) wurde zum Bestseller und von Michael Verhoeven für die ARD verfilmt.

Beitragsbild © Matthias Bothor

Buchgeflüster #SchweizerBuchpreis 22/5

Hier flüstern Manuela Hofstätter von lesefieber.ch und ich über Bücher, die Nominierten, den Schweizer Buchpreis 2022 und überhaupt … 

Liebe Manu

Wir, die wir uns ein Leben ohne Bücher, ohne Literatur gar nicht vorstellen können, unterhalten uns mit aller Selbstverständlichkeit über ein Medium, das nicht aus unserem Leben wegzudenken ist. Dass Bücher und Literatur aber nur für einen kleinen Anteil der Gesellschaft von so unabdingbarer Notwendigkeit sind, lässt sich nicht abstreiten. Ganz offenbar können Menschen ganz gut ohne ein Buch. Aber nicht ohne Geschichten. Geschichten brauchen wir. Unsere eigene kann niemals genügen. Wir erzählen einander, die einen telefonieren oder bangen auf die nächste Montagsausgabe ihrer Lieblingsserie. Wir lassen uns im Theater oder Kino wegtragen. Selbst Musik macht Geschichten im Kopf. Dass wir jenen Erwachsenen, die den Zugang zum Buch nie fanden oder ihn irgendwann unwiederbringlich verloren, mit einem Schweizer Buchpreis das Lesen neu eröffnen, glaube ich nicht. Was da in den Medien um Bücher raschelt, rauscht und rumort, vernehmen bloss jene, die die Ohren in jene Richtung öffnen. Heisse Tropfen auf kalte Steine?

Liebe Grüsse
Gallus

 

Lieber Gallus,

wahre Zeilen, welche ich da von dir lese, ich stimme dir fast zu. Warum nur fast? Ich bin mir absolut sicher, die Leserschaft ist sich beständig am vergrössern, ich betreibe diesbezüglich ja Aufwand und halte die eben gar nicht so rare Spezies der Bibliophilen in Fotografien fest. Wenn ich am Reisen bin mit dem ÖV gerate ich eigentlich immer an Lesende jeglichen Alters und Geschlechts heran und wie da so viele Hände auf so unterschiedlichste Art Buchseiten behandeln, das bringt mich zuweilen in Ekstase. Aber gewiss, wir möchten uns hier ja austauschen mit Blick auf den Schweizer Buchpreis, ich weiss, unser unermüdliches Treiben auch hier, Bücher zu neuen Lesern zu bringen ist und bleibt meist doch nur ein sich selber Feiern, wir erreichen unseresgleichen und damit Punkt. Doch ich will nun Ausschau halten, wer liest ein nominiertes Buch unterwegs? Von wegen nominierte Bücher lesen, lieber Gallus, nach welchem hast du zuerst gegriffen? Ich nach dem «Pommfritz», wobei ich das Werk weglegen musste, Ekel hat mich ergriffen, gepaart mit einer Neugierde zugleich, bald lese ich weiter … Literatur ist Kunst und Kunst soll alles dürfen, ich kann ja entscheiden, was ich lesen will, also wer will den «Pommfritz» lesen? Würdest du, geschätzter Gallus, dieses Werk jemandem verschenken? Ich sende dir herzlichste Grüsse, auch ungeduldige das geb ich zu, denn der Austausch mit dir ist für mich das Kostbarste rund um den Schweizer Buchpreis herum.

Manu

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer #SchweizerBuchpreis 22/4

In den 60ern: Ein Kloster mit Internat hoch in den Bergen – das Kloster Maria Schnee. Arthur Goldau, elfjähriger Junge – Zögling 230. Ein Geheimnis um einen Diamanten – das letzte Stück österreichischer Monarchie. Und eine Sprache wie ein naives Fresko!

Sein Debüt von 1981 „Die Tessinerin“, die Novelle „Das Gartenhaus“ von 1989, der Umstand, dass der Autor seit der Gründung des legendären Ammann Verlags, den Egon Ammann zusammen mit seiner Ehefrau Marie-Luise Flammersfeld gegründet hatte und all die schwergewichtigen Romane und Theaterstücke, die in den letzten 30 Jahren entstanden, machen Thomas Hürlimann zu einem literarischen Schwergewicht. Erstaunlich genug, dass es dem Grossmeister bisher nicht vergönnt war, mit einem seiner Romane in der Liste der Nominierten des Schweizer Buchpreises zu erscheinen.

„Der Rote Diamant“ ist ein Monolith. Wer sich an den Farben der Sprache ergötzen kann, wem die Verspieltheit und fast kindliche Unbeschwertheit Vergnügen bereiten, wer nicht in jedem Buch, auf Biegen und Brechen mit der Keule den Gegenwartsbezug eingehämmert braucht – der lese diesen literarischen Diamanten. Der Roman entspringt purer Schreiblust, ist von jemandem geschrieben, der sich einen Deut um Strömungen, Moden und Aktualitäten kümmert, der sich an nichts und niemanden anzuhängen braucht, der nur „einfach“ erzählen will.

Thomas Hürlimann «Der Rote Diamant», S. Fischer, 2022, 32 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-10-397071-5

Ein Junge wird von seiner Mutter nach einer abenteuerlichen Fahrt in einem Kloster weit oben in den Bergen parkiert. Noch ein paar Ermunterungen und die Mutter hat ihn in den kalten Mauern zurückgelassen, in einer Erziehungsstätte, die all dem widerspricht, was  man in der Gegenwart unter „Individualismus“ und „Kompetenzorientierung“ auf die Fahnen von Erziehung und Schule geschrieben hat. Das Kloster Maria Schnee ist eine Galeere, in der man die Zöglinge im Takt eines Klosters durch das Halbdunkel von Tradition und Konformität steuert. Selbst in diesem Halbdunkel soll alles ausgeleuchtet, überwacht, gleichgeschaltet und nivelliert sein. Aber Arthur ist nicht der einzige Junge in den dicken Mauern des Klosters, der sich zusammenrottet, der eine Nische sucht, nicht zuletzt in den Jahrzehnte alten Gerüchten um einen sagenumwobenen Diamanten, den man nach dem Zusammenbruch der habsburgischen Monarchie in einem Winkel des Klosters, im Schutz der Schwarzen Madonna in Sicherheit gebracht hatte.

„Ich hatte Angst vor der Freiheit.“

Im Kloster, in dem man alles tut, um dem Ewigen Tag zu huldigen, in dem alles Rütteln an versperrten Pforten nach Innen und Aussen der Verbrüderung mit der Ewigen Sünde gleicht, in der jedes Heimweh, jeder Fluchtgedanke im Keim erstickt werden soll, ist oberstes Gesetz: Gefässe sollen sie werden, ausgehöhlt und glatt geschliffen vom Ewigen Tag: Vasen.

Und doch gibt es sie, die Nischen: Ganz oben im Dachstuhl der Kathedrale. Eine ehemalige Bauhütte, grob gezimmert, ausser Acht gelassen. Dort treffen sich Viper, Alpha Wickie, Beau, Clown Giovanni, Primus Lenin, Ultimos Nebel, rauchen den ein oder anderen Joint und debattieren sich hinter das Geheimnis jenes Roten Diamanten. Bis es zu diesem einen Moment kommt, bis dieser ominöse Stein sein Geheimnis lüftet, verstreicht viel Zeit. Viel mehr als die Gang oben im umgekehrten Schiff der Kathedrale ahnen kann.

Jahrzehnte später, mittlerweile ist nicht nur das Kloster ein Ort des Zerfalls geworden, treffen sich die einen wieder in den toten Mauern der ehemaligen Schule. In den Ruinen des Klosters lüftet sich das Geheimnis im Schall und Rauch eines letzten Showdowns, im Herz jenes Klosters, das mit allem, was Tradition und Beständigkeit ausmachte, zu einem Nekropol einer erloschenen Vergangenheit wurde.

„Der Rote Diamant“ ist als Buch ein schillernder Diamant. Eine eigenartige Mischung aus klösterlicher Schauergeschichte, Abenteuerroman, aufgemotztem 5-Freude-Kinderroman, (Alp-)Traumgeschichte und Entwicklungsroman. Wer Bücher unter dem Gesichtspunkt liest, was sie einem und der Zeit zu sagen haben, kann nach der Lektüre durchaus ratlos zurückgelassen werden. Wer Bücher liest, um einem Sound zu lauschen, der Fabulierkunst zu folgen, wer einfach nur Freude hat an starken Farben, intensiven Eindrücken, einer theatralischen, nicht wirklichen Welt, der lese „Der Rote Diamant“ und lese in den aufschäumenden Bildern eines Mannes, der einst selbst in den Mauern eines Kloster zur Schule ging, die Geister nicht loswird, daran aber ganz und gar nicht zu Grunde geht! Im Gegenteil: In den Trümmern spriesst es!

Thomas Hürlimann wurde 1950 in Zug, Schweiz, geboren. Er besuchte das Gymnasium an der Stiftsschule Einsiedeln und studierte in Zürich und an der FU Berlin Philosophie. Neben zahlreichen Theaterstücken schrieb er die Romane «Heimkehr», «Vierzig Rosen» und «Der große Kater» (verfilmt mit Bruno Ganz), die Novellen «Fräulein Stark» und «Das Gartenhaus» sowie den Erzählungsband «Die Tessinerin». Für sein dramatisches, erzählerisches und essayistisches Werk erhielt er unter anderem den Joseph-Breitbach-, den Thomas-Mann- sowie den Hugo-Ball-Preis. 2019 wurde er mit dem Gottfried-Keller-Preis ausgezeichnet. Hürlimann ist korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Schönen Künste, der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung und der Akademie der Künste, Berlin. Seine Werke wurden in 21 Sprachen übersetzt. Nach vielen Jahren in Berlin lebt er wieder in seiner Heimat.

Beitragsbild © leafrei.com

«Die Notbremse» Lesung aus dem Comic-Magazin in der Comedia St. Gallen

«Die Notbremse» ist ein junges Comic-Magazin, das den gesellschaftlichen Zustand kritisch hinterfragt. Auf unterhaltsame Weise bietet das Magazin eine facettenreiche, visuelle Auseinandersetzung mit aktuell brisanten Themen.