Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau

Über eine Seele, die Krebs hat

Fremd im eigenen Körper: In Lea Draegers Debütroman «Wenn ich euch verraten könnte» hört eine Dreizehnjährige aus Protest auf zu essen. Im Krankenhaus beginnt sie, ihre Familiengeschichte zu schreiben.

Gastbeitrag von Dario Schmid. Dario Schmid studiert Deutsche Philologie und Französistik an der Universität Basel. 

Es ist eine Geschichte über krebskranke Seelen und zerstörte Körper. Über gewalttätige Väter und sexuelle Übergriffe. Über Integration und Verrat. Über Streit, Strafe und Schweigen. Während die Ärzte darum bemüht sind, das Mädchen wieder gesund zu machen, bricht dieses mit seinem Schreiben das Schweigen. Jeder ihrer Einträge beginnt mit Über – und so erfährt man immer mehr über die generationenübergreifenden Abgründe einer Familie, die von dem Vater bestimmt ist.

«Es gibt keine Geschichten, die von den Frauen in meiner Familie geschrieben wurden. Es gibt nur die Geschichte, die der Vater geschrieben hat.»

Der Vater – das ist zunächst der Urgrossvater des Mädchens, der Suizid begeht, danach ihr Grossvater. Der Vater steht aber auch für die patriarchalen Strukturen, die sich von Generation zu Generation durch die Familie ziehen: Zu Hause gelten die Gesetze des Vaters. Da ist der Vater der Grossmutter, der seine Frau mit Worten, die Töchter mit dem Gürtel schlägt, ihre Körper nach fremden Küssen absucht – und mit seinen Fingern prüft, ob sich der dunkle Schlund geöffnet hatte. Da ist der ebenfalls schlagende Vater der Mutter, der seiner siebenjährigen Tochter zeigt, wie sie ihm als gute Frau sanft über die Haare streichen musste und als böse Frau die Beine zu spreizen hatte.

Der Vater der Dreizehnjährigen hingegen ist anders – er wird von seiner Frau betrogen und zieht sich im Dachboden zurück; er hat Angst, dass man ihn verlässt. Verlassen fühlt sich das Mädchen auch von seiner Mutter, die Scham und Fremde bedeutet: Die schöne Frau, die meist nur geschminkt aus dem Haus geht, zieht die Blicke anderer Männer auf sich; ihre Aussprache und ihr Pelzmantel verraten die tschechische Herkunft. Die Tochter aber will nicht auffallen, sie will normal sein – sie will nicht, dass ihre Mutter ihre Mutter ist. Einmal nimmt die Mutter ihre beiden Kinder mit zu einer Affäre. Zehn Jahre später sprechen diese über das Ereignis – und dann ist nichts mehr, wie es mal war.

All dies prägt das junge Mädchen: Zurück bleibt eine Jugendliche, die schweigt, hungert, in der Psychiatrie landet – und sich ritzt. Eine Jugendliche, die sich fremd in ihrer Familie und im eigenen Körper fühlt. Eine Jugendliche, die ihre Schönheit verliert und hässlich wird – und im Krankenhaus wieder schön werden soll.

«Ich werde irgendwann aus dem Krankenhaus entlassen. Ich werde nach Hause gehen, und alles wird so sein, wie es war. Ich meine, bevor ich hässlich wurde. Ich weiss, dass alle das erwarten.»

Lea Draeger «Wenn ich euch verraten könnte», hanserblau, 2022, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-27286-6

Unter dem Vorwand, zeichnen zu wollen, erhält sie Stift sowie Papier und beginnt zu schreiben. So entsteht aus dem Schreiben über die familiäre Vergangenheit und den Beschreibungen zu ihrem Aufenthalt im Spital nach und nach eine Zeichnung, die das Jetzt und das Geschehene vereint. Ein kompositorisches Wechselspiel, das für Spannung und Abwechslung sorgt, aufgrund der ähnlichen oder gar identischen Verwandschaftsbezeichnungen und der vielen Spitznamen beim Lesen aber auch Konzentration erfordert.

Die Debütantin Lea Draeger präsentiert ein knapp 290-seitiges eindringliches Sprachwerk: Mit einfachen, aber passenden Worten malt diese lebendig wirkende, teils grässlich intensive Bilder. Die sprachlich schönen Sätze legen sich über die hässlichen Themen – sie sind die Schminke, die gleichzeitig be- und aufdeckt. Die schönen Sätze machen den hässlichen Stoff erträglicher. Und so huscht einem beim Lesen, trotzt der inhaltlichen Schwere, immer mal wieder ein leichtfüssiges Lächeln über das Gesicht.

Ein inhaltlich aufwühlender und wortgelungener Roman, der sich manchmal aber auch in Details verliert. Wer sich davon nicht einschüchtern lässt, darf sich auf eine Lektüre freuen, die ganz schön hässlich ist – aber auch hässlich schön.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Lea Draeger studierte Schauspiel an der Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ in Leipzig. Sie arbeitet als Schauspielerin, Autorin und bildende Künstlerin. Seit 2015 spielt sie im Ensemble des Berliner Maxim Gorki Theaters, davor unter anderem am Schauspielhaus Bochum und der Schaubühne Berlin. Ihre bildnerischen Arbeiten wurden im 4. Berliner Herbstsalon, der Sammlung Friedrichshof und im Van Abbemuseum Eindhoven ausgestellt.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Kristin Rosenhahn

Alem Grabovac «Das achte Kind», Hanser

Alem Grabovac ergründet in seinem Debüt „Das achte Kind“ die Geheimnisse seiner Familien. Seiner Familien? Alem wächst als Sohn einer kroatischen Mutter und eines bosnischen Vaters bei einer deutschen Pflegefamilie auf. Zwischen zwei Welten, zwei Familien, eine Kindheit und Jugend lang mit dem Mythos eines unglücklich verstorbenen Vaters.

Alem Grabovac erzählt die Geschichte von Alem Grabovac, nennt dessen Geburtsmoment auf die Minute genau am 2. Januar 1974 um 17.13 Uhr. Damit gibt Alem Grabovac seinem Roman jene dokumentarische Note, die die Diskussion um Fiktion oder Realität vorwegnimmt. Vielleicht ist das auch Alem Grabovac Art an seine Lebensgeschichten heranzugehen, weil Alem Grabovac Journalist ist, den Fakten verbunden. Ob dem Roman diese Nähe gut tut, lässt sich schwer beurteilen. Zumindest ist die Sprache seines Romans eine ebenso dokumentarische, weniger eine literarische. Alem Grabovac zeichnet auf. Da ist in nur ganz wenigen Szenen, dann wenn über dem Dokumentarischen die Emotion heller zu leuchten beginnt, jenes Momentum erkennbar, wo die Sprache über die Szenerie hinauswächst. Aber das tut dem Buch keinen Abbruch. Vielleicht hätte man „Das achte Kind“ nicht als Roman deklarieren müssen. Aber eine blosse Reportage ist das Buch dann doch bei weitem nicht.

Alem Grabovac «Das achte Kind», hanserblau, 2021, 256 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-446-26796-1

Was diese Geschichte eines Mannes, der in zwei Familien gross und sozialisiert wurde, in einer kroatisch-bosnischen Familie, die gegen Armut und versteinerte Strukturen zu kämpfen hatte und einer urdeutschen, die hinter der Rechtschaffenheit den Alp einer braunen Gesinnung zu verbergen hatte, ausmacht, sind seine Gegensätze, die Kontraste, die Grund genug hätten sein können, ein Leben scheitern zu lassen. Alems Mutter Smilja heiratet einen Säufer und Kleinkriminellen. Und weil sie das Geld der Familie einbringen muss, ganztags arbeitet und ihrem Mann den kleinen Sohn nicht anvertrauen kann, gibt sie den kleinen Alem in die Pflegefamilie Behrens, als achtes und letztes Kind. Zuerst nur an den Wochentagen und als die Situation zwischen Smilja und ihrem Mann, Alems Vater immer und immer länger mehr eskaliert, dann nur noch in den langen Sommerferien, wo Alem gegen seinen Willen die Tage an der Seite seiner Mutter durchstehen muss. Männliche Gewalt, Saufexsesse, Lügen und permanente Angst prägen Alems Leben mit seiner Mutter. Aber auch das Leben in der Pflegefamilie leidet unter einem Alp, denn Robert, der Vater, der meistens in seiner Kammer sitzt und für Motorradmagazine schreibt, ist alles andere als zurückhaltend, wenn es darum geht, seiner Sympathie für braune Gesinnung und Verehrung für die nationalsozialistische Vergangenheit Luft zu machen. Was Alem als Knabe bewundert, Roberts Liebe für Panzer, Robert vernarbtes Loch an dessen Schulter, Roberts «glorreiche» Vergangenheit als Soldat bei der Wehrmacht wird mehr zu einer übel riechenden Schlangengrube, der sich Alem immer weniger entziehen kann.

Und doch ist „Das achte Kind“ nicht einfach eine Milieugeschichte nach dem Muster „Ein Mann will nach oben“. So wie die Gesellschaft im ehemaligen Jugoslawien nach dem Tod Titos auseinanderbricht, der einstige Vielvölkerstaat, den Tito zum Musterstaat erklärte und in den Jahren 1991 bis 1999 in einen wirren Krieg versinkt, so kämpfen Familien und Ehen an den steinernen Strukturen einer männerdominierten Gesellschaft. Und so wie sich die Gesellschaft in den 80ern und 90ern in Deutschland das Mäntelchen der Rechtschaffenheit und des immerwährenden Fortschritts jeden Abend zufrieden einbürstet, so tief verborgen sitzt die Lüge und die Unfähigkeit, der Wahrheit ins Gesicht zu schauen. Alem wächst in genau diesen Kräften auf, in Kräften, die die einen zerreissen und den anderen alles abfordern, um nicht unterzugehen.

„Das achte Kind“ ist eine offene und direkte Analyse einer Gegenwart, die allzu leicht verborgen bleibt.

Alem Grabovac, 1974 in Würzburg geboren. Mutter Kroatin. Vater Bosnier. Er hat in München, London und Berlin Soziologie, Politologie und Psychologie studiert und lebt mit seiner Familie in Berlin. Als freier Autor schreibt er unter anderem für Die Zeit, Welt, taz.

 

Beitragsbild © Paula Winkler

Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weiße Land», hanserblau

Es steht geschrieben, dass der erste Weltkrieg von 1914 bis 1918 dauerte, vier Jahre. Das mag für Politiker und Diplomaten stimmen, von Kriegserklärung bis bedingungsloser Kapitulation. Aber ein Krieg beginnt lange vorher und endet vielleicht erst dann, wenn sich niemand mehr mit eigenen Erinnerungen darauf besinnen kann. Wenn jene Generation gestorben ist, die die Narben des Krieges durch ein ganzes Leben zu schleppen hatte. Beatrix Kramlovsky macht Erinnerung weit auf!

Ein maschinengeschriebenes Manuskript eines ehemaligen Berufssoldaten der österreich-ungarischen Armee findet den Weg zu Beatrix Kramloswsky. Nicht bloss ein Aufhänger, um eine Geschichte zu erzählen, sondern die real niedergeschriebenen Erinnerungen eines Mannes, der während des ersten Weltkriegs in russische Gefangenschaft gerät, und erst sechs Jahre später den Weg bis zurück zu seiner Familie in Wien fand. Die Geschichte eines Mannes, den Freundschaft und seine besonderen Fähigkeiten mit Pinsel, Stift und Schnitzmesser davor bewahrten, eines der vielen namenlosen Opfer zu werden, deren Knochen man irgendwo in Sibirien verscharrte.

Was als Typoskript für Enkelinnen und Enkel gedacht war, ist als „Fanny oder Das weisse Land“ eine in einen Roman gewandelte Geschichte eines Mannes, die in Erinnerung ruft, was den Menschen angesichts hoffnungsloser Umstände und unüberwindbarer Distanzen aufrecht erhalten kann. Eine Geschichte, die sich mit jeder kriegerischen Auseinandersetzung wiederholt, weil es nicht die Politiker, nicht die Privilegierten sind, die die Folgen eines Krieges auszubaden haben, seien die Kriege weltumspannend oder regional und kaum im öffentlichen Interesse, sondern die „kleinen Leute“.

Beatrix Kramlovsky «Fanny oder Das weisse Land», hanserblau, 2020, 272 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-446-26797-8

Karl und Fanny sind kleine Leute. Karl ist Berufssoldat. Nicht weil er Freude am Drill hätte oder als Held für die österreich-ungarische Monarchie aufsteigen möchte, sondern weil ihn sein Vater überredet, die Sicherheit einer militärischen Laufbahn zu wählen, statt jene eines brotlosen Künstlers. Und Fanny, die aus ganz einfachen Verhältnissen stammt, weiss ganz genau, dass man sie an der Seite eines Offiziers nie akzeptieren wird. Es reicht nicht einmal das Geld, um zu heiraten, obwohl mit dem kleinen Max die drei zu einer Familie werden. Doch Karl wird in den Krieg geschickt und findet sich als Kriegsgefangener wieder in Chabarowsk, nicht weit vom Japanischen Meer, am äussersten Zipfel Sibiriens, viele tausend Kilometer weg von Familie und Heimatstadt Wien.

Karl hat Glück im Unglück. Er ist unverletzt, zumindest äusserlich und kann im gleichen Lager seinen jüngeren Bruder Viktor in die Arme nehmen. Die beiden schliessen mit vier anderen Männern eine tiefe Freundschaft, eine Bande, die hoffen lässt, dass ein Fluchtversuch aus dem Lager erfolgreich werden kann. Chabarowsk liegt in den unsäglichen Weiten Sibiriens, eine Flucht quer durch den asiatischen Kontinent nur deshalb eine Option, weil das langsame Sterben im Lager mit seiner unstillbaren Sehnsucht hin zu seiner Familie nicht vereinbar ist.
„Fanny oder Das weisse Land“ ist die Geschichte dieser endlos scheinenden Odyssee Richtung Westen. Die Geschichte von vier Männern, die durch Freundschaft zu einer Art Familie werden, trennbar nur durch den Tod und durch die Hoffnung unterwegs ein neues Zuhause zu finden. Eine Reise zu Fuss, mit dem Zug, auf Karren durch die endlosen Weiten und Wirren eines Kontinents, der sich alles andere als menschenfreundlich zeigen kann.

Vielleicht ist ein Grund, warum Beatrix Kramlovsky die Geschichte dieses Mannes zu ihrer Geschichte machte, der Umstand, dass sie beide malen. Karl, der einstige Soldat und die Autorin selbst, die ihre Bilder immer wieder in Ausstellungen präsentiert. Karl und seine Freunde hätten die Reise niemals überlebt, wenn ihnen ihre Fähigkeiten nicht immer wieder Sonderbehandlungen ermöglichten; im Lager mit dem Schnitzen von Spielzeugfiguren, in den Dörfern Sibiriens mit Karls Zeichnungen und einmal gar mit einem Wandgemälde bei einer Mennonitengemeinde oder in den Gefängnissen als Porträtist. 

Mag sein, dass der Roman empfindlich nah an die Grenzen allzu pastellener Töne rutscht, dass der Roman das Gewicht einer Verantwortung mit sich trägt, jener eines „Erbes“ jener Familie gegenüber, die das Manuskript der Autorin anvertraute. Karl bleibt zu gut, scheint nie wirklich zu zweifeln, die Liebe zu seiner Fanny trotzt allem. Doch lohnt die Lektüre alleweil, denn sie provoziert die Frage, was denn wichtig sein muss im Leben, um dort zu überleben, wo der Tod zum allgegenwärtig sichtbaren Begleiter wird.

© privat

Beatrix Kramlovsky, geboren 1954 in Oberösterreich, lebt als Künstlerin und Autorin in Niederösterreich. Sie studierte Sprachen und veröffentlichte Kurzgeschichten, Gedichte und Romane. Ein Aufenthalt in Ostberlin (1987-1991) führt zu einem Publikationsverbot in der DDR. Sie wurde mit zahlreichen Preisen und Stipendien ausgezeichnet. 2019 erschien ihr Roman «Die Lichtsammlerin» bei hanserblau.

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Beitragsbild © Sandra Kottonau