Sara Wegmann «Sırma» – Sofalesung in Amriswil am Sonntag, den 3. September um 17 Uhr

Sırma wächst in Pakistan auf und erwirbt ihre Sprache vor dem Fernseher. In der Schweiz soll ihre »Sprachstörung« kuriert werden. Doch nach einer Explosion entdeckt Sırma, dass sich die Zeit im Haus ihrer Gasteltern verlangsamt hat. Sırma wandert mit ihrer stummen Freundin Alexandra weiter nach Hongkong, wo diese Mutter und Programmiererin einer staatsgefährdenden App wird und sie selbst Kinderbuchillustratorin.

Sara Wegmanns fulminantes, so magisches wie realistisches Debüt erzählt von der Sprachlosigkeit in der Familie und zwischen den Kulturen. Traumata und Gespenster bestimmen das Denken und Handeln der beschädigten Figuren. Wegmann schreibt eindringlich und formal beglückend über das Unaussprechbare: Familie und Freundschaft in der Diktatur und im Willkürstaat.

»DU WEISST NICHT, WELCHES BUCH DU ALS NÄCHSTES IN DER BADI LESEN WILLST? DANN HÄTTE ICH EINEN VORSCHLAG FÜR DICH: SIRMA VON SARA WEGMANN.«
Ron Orp


»SARA WEGMANN HAT VIEL GEWAGT UND ETWAS NEUES GESCHAFFEN.«
Bieler Tagblatt

Sara Wegmann, geboren 1985, Studium der Kulturwissenschaften in Frankfurt/Oder und des Literarischen Schreibens am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, Promotion in Sozialanthropologie. Sie lebt nach längeren Aufenthalten in Berlin, Istanbul und Kairo heute in Zürich. Der Roman Sırma ist ihr erstes Buch.

Julian Schmidli «Zeit der Mauersegler», Kein & Aber

Julian Schmidlis Debüt trägt alle Züge einer Roadstory, ganz in der Gegenwart verflochten mit den grossen Fragen der Zeit. Die Geschichte einer Freundschaft und der Suche nach Liebe ist eine universelle Geschichte und Julian Schmidlis Erzählweise dafür keine Suche nach Antworten, aber eine Aufforderung, sich dem wirklichen Leben zu stellen.

Nino und Tschügge wachsen als Aussenseiter in einem kleinen Ort in der Provinz auf, Nino mit Hasenscharte und schmächtig, Tschügge riesig und rund, mit kullernden Hundeaugen, ein bisschen wie Terence Hill und Bud Spencer, nur fehlt ihnen die entsprechende Schlagkraft. Tschügge ist der Sohn des örtlichen Metzgers, Nino der Sohn von eingewanderten Italienern. Gründe genug, dass sich die beiden in ihrer Freudschaft zurückziehen, auch wenn in der Jugend, Tschügge bleibt im Dorf und Nino besucht das Gymnasium im Nachbarort, nicht nur durch die sich trennenden Lebenswege, sondern auch wegen eines Mädchens, die Bande zwischen den beiden brüchig wird.

Auch Leila ist nicht wie die anderen Mädchen im Dorf. Als sie eines Tages in der Schule auftaucht, als Flüchlingsmädchen aus Bosnien, versteht sie kein Wort und schliesst sich ganz selbstverständlich den beiden Aussenseitern in der Klasse an. Aber die Freundschaft zwischen den beiden Jungs wird mit Leila auf eine harte Probe gestellt, nicht nur wegen ihrer grünen Augen. Nino, dessen Grossvater ihm den Spitznamen Belmondo gibt, ein Name, der der geprügelten Existenz des Jungen eine Richtung geben soll, fühlt, dass die Freundschaft bedroht ist. Erst recht, als es Nino immer mehr aus dem Dorf wegzieht und ihm die Streitereien mit dem geknickten Vater Gründe genug liefern, dem Kaff den Rücken zu kehren. Während Nino in der Stadt eine Karriere als Filmemacher und Fotograf zu etablieren versucht, bleibt Tschügge im Dorf, in der Metzgerei, die er dereinst übernehmen wird.

Nino spürt, dass ein Alp auf der Familie lastet, ein Trauma, dass nicht erst seit dem Tod von Salvi, Ninos Paten, über der Familie hängt. Ein Trauma, das den Vater verstummen und die Mutter resignieren liess, auch wenn Nonno, Ninos Grossvater, der die meiste Zeit in der Werkstatt unter seinem Fiat 500 Giardinera verbringt, dem Leben im Haus wenigstens dort einen Hauch Zuhause schenkt.

Julian Schmidli «Zeit der Mauersegler», Kein & Aber, 2023, 272 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-0369-5024-2

Bis Nino ins Dorf zurückgerufen wird. Bis Nonno beerdigt wird und es für Nino keinen Grund mehr zu geben scheint, noch einmal in das „Nest“ zurückzukehren. Bis Tschügge ihn bittet, eine Reise mit ihm zu unternehmen, einen Roadtripp nach Bosnien, eine letzte Reise zu zweit, zur Hochzeit von Leila und ihm. Bis Tschügge ihm verrät, dass Leila schwanger ist und Nino ahnt, dass die Vaterschaft alles andere als klar ist. Nino lässt dich überreden, nicht zuletzt darum, weil die Reise Klarheit in die lasch gewordene Freundschaft bringen soll, weil Nino spürt, dass etwas geschehen muss. Eine Reise in den Kosovo mit dem Fiat 500 Giardinera seines verstorbenen Grossvaters.

Was eine Reise zurück in die Freundschaft werden sollte, wird zu einem Roadtripp voller Überraschungen. Ein wilder Ritt durch Gefühle, Gegenden und Begegnungen, eine Reise, die nicht nur die beiden auf harte Proben stellt, sondern Nino bewusst macht, dass er seinen Belmondo, den Spitz- oder Schutznamen, den ihm einst sein Grossvater gegeben hatte, ablegen muss, um Nino zu werden.

Dass Belmondo und Tschügge eine Reise mit einem viel zu kleinen Auto unter die Räder nehmen, ist sypmtomatisch für zwei Leben, die nicht in ihre eigentliche Form passen. Auch wenn wie im Märchen zwei eine Reise wagen und allerhand Prüfungen ausgesetzt sind, auch wenn zum Schluss die Korken knallen und man geneigt ist „und wenn sie nicht gestorben sind“ anzuhängen, überzeugt dieses Debüt durch seinen Drive, seinen Sprachwitz und den Mut eines Geschichtenerzählers, dem die Reise zu sich selbst zur zentralen Reise wird. Dieser manchmal fast überbordende Roadtripp ist ein Roman eines Mannes, der endlich zu sich selbst aufbricht. Und dabei wird das Aufbrechen gleich mehrfach in Handlung umgesetzt.

Mostar © Julian Schmidli

Ein Buch, das köstlich amüsiert!

Interview

Obwohl sie als Investegativjournalist und Reporter schon lange schreiben, ist ihr literarisches Debüt ein sehr persönlich angehauchtes Buch, dass mit Sicherheit vieles aus ihrem eigenen Leben in sich trägt. Mit Ihrem Lebenslauf hätte ich fast eher einen „enthüllenden“ Roman aus der Welt der Medien erwartet, so wie es manch einer ihrer Kollegen mit viel Schall und Rauch tut. Nino und Tschügge werden auf ihrem Tripp in den Kosovo durchaus mit den grossen Themen der Zeit konfrontiert. Aber die eigentliche Konfrontation ist jene mit sich selbst. Ist das literarische Schreiben ein Kontrapunkt in ihrem Leben als Autor?
Für mich war das Schreiben immer schon eine Suchbewegung. Von mir ausgehend in verschiedenste Richtungen, nur um am Ende Neues über mich zu lernen. Insofern ist es genau der Kontrapunkt zum Journalismus, den ich betreibe. Gleichzeitig sind es zwei komplett unterschiedliche Gehirnhälften und Herzkammern, die sie bei mir benötigen. Beide gemein haben: eine gewisse Neugierde; das Wissen um die Vielschichtigkeit der Welt; eine warme Schonungslosigkeit.

Wir machen uns unser Bild von uns selbst mit den Erlebnissen in Kindheit und Jugend, schleppen manchmal ein ganzes Leben mit uns herum, was wir uns selbst mit „gütiger“ Unterstützung unserer Umgebung an unser Selbstbild klatschen. Wir füllen tunlichst unseren ganz persönlichen Rucksack, bis er uns niederzudrücken droht und wir bewegungslos hocken bleiben. Ihr Roman schildert die Geschichte einer Befreiung, eine Emanzipation. Aus Nino, der sich hinter Belmondo zu verstecken versuchte, wird wieder Nino. Macht die Tatsache, dass Büchertische voll von Ratgebern sind und alle Formen von Therapie uns von unseren prallvollen Rucksäcken befreien wollen, ihr Buch zu einer Aufforderung?
Ich will mit meinem Roman niemanden zu etwas auffordern — wer bin ich schon? Aber vielleicht regt die Geschichte und die darunterliegenden eigenen Geschichten zum Nachdenken und, ja, Handeln an. Vielleicht fallen einem eigene Merksätze ein, die man als Kind gehört hat, und die eigentlich aus etwas Gutem kamen: Von der elterlichen Fürsorge, dass einem selbst möglichst nichts passieren soll. Bloss wandelt sich dieser fromme Wunsch eher in einen Fluch, wenn er eintrifft. 

Sarajevo © Julian Schmidli

Nino begegnet unterwegs Jovana, einer jungen, rebellischen Frau mit kurzen Haaren, die so gar nicht dem Idealbild Leila entspricht, dem Nino zu lange in seinem Leben nachtrauert – und glaubt, deren Liebe würde doch eigentlich ihm zustehen. Jovana hat sich befreit. Sie lebt ein kompromisloses Leben abseits aller Konventionen. Erzählen sie mit Jovana auch von eigenen Träumen und Sehnsüchten, erlebe ich doch immer wieder den inneren Vorwurf an meine Sattheit und Mutlosigkeit?
Jovana verkörpert ein paar Tugenden, die, wenn man sich ihnen voll widmen will, nicht gerade lebenstauglich sind. Auch wenn sie sich mit Haut und Haar dem Guten verschreibt. Gleichzeitig strahlt sie die beneidenswerte Leichtigkeit von jemandem aus, der genau weiss, was seine Rolle auf dieser Erde ist. Ich kenne ein paar solche Menschen und kenne den Neid auf dieses Gefühl aus früheren Zeiten – aber ich verstehe inzwischen auch, dass solche grossen Aufgaben einsam machen können, wenn man sie, wie Jovana, nicht wirklich teilen kann. Wie viele Männer macht sie sich zur Insel.

Wer weiss, wie ein Fiat 500 Giardiniera aussieht, versteht die Nostalgie, die sich in einer Fahrt über die Alpen, dem Meer entlang bis in den Kosovo offenbaren kann. Eine Fahrt, die jede Unebenheit mitmacht, bei der man den Fahrtwind, das Wetter spürt, die Hitze und die Kälte. Keine Autofahrt im klimatisierten SUV-Panzer mit E-Antrieb und dem irrigen Gefühl, auch noch etwas für die Umwelt zu tun. Nino setzt sich dem Leben aus, einem Leben, das ihn auch mit Prügel nicht verschont. Ist Prügel die letzte Hoffnung für uns Menschen?
Für Prügel kann ich ja unmöglich plädieren, aber vielleicht für mehr Narben! Für weniger Schutz und Wattierung und Planbarkeit, für mehr Erleben im Leben. Und gleichzeitig auch für mehr Durchlässigkeit, mehr Teilhabe, mehr Offenheit, mehr Zusammen. Führt automatisch zu mehr Narben.

Olympiabobbahn in Sarajeva © Julian Schmidli

Ich hatte während des Lesens immer wieder das Gefühl, ein Märchen zu lesen. Nicht „Märchen“ im Sinn von Unwahrheit oder Realitätsferne, sondern wegen der Konstruktion: Eine Hauptperson, die sich aus der Heimat vertrieben auf eine Suchwanderung macht, sich durch vielerlei Prüfungen „schlägt“ und am Schluss den „Schatz“ findet, den Lohn, die Befreiung. Wie im Märchen tauchen Figuren auf, die aus einer ganz fremden Welt zu sein scheinen. Ich mag Märchen sehr und bedauere zutiefst, dass sie in vielerlei Hinsicht in Ungnade gefallen sind. Selbst Mauersegler scheinen als Vögel nicht ganz von dieser Welt. Mit dem Satz „Erzähl doch keine Geschichten“ wird doch deutlich, was man von Geschichten hält. Muss doch überall der Zusatz stehen „Aus dem wahren Leben“, „Nach einer wahren Begebenheit“.
Interessant, ihr Gedanke zum Märchen. Ich hatte mehr klassische Antiheldenreisen im Kopf: Don Quijote de la Mancha, Huckleberry Finn. Aber natürlich bedienten sich auch diese Altmeister an den Märchen. Ich denke, formal ist das Buch ein sehr klassisches Roadmovie mit nostalgischen Zügen, aber thematisch hoffentlich eine Emanzipation davon. Und, wer ein wenig am Lack des Giardiniera kratzt, findet da hoffentlich auch sehr zeitgemässe Diskussionen, die im Buch verhandelt werden. Ich bin sehr froh, dass Sie vieles davon aufgreifen mit Ihren schönen Fragen.

Julian Schmidli, geboren 1985 in Pasadena (Kalifornien) und aufgewachsen in Luzern, ist ein preisgekrönter Journalist und Filmemacher. «Zeit der Mauersegler» ist sein Debütroman und basiert auf den Erfahrungen und Reisen, die er in den letzten zehn Jahren gemacht hat. Er lebt in Zürich.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Anne Morgenstern

Sarah Elena Müller beschenkt das Sommerfestpublikum im Literaturhaus Thurgau mit einem literarischen Höhepunkt!

Sarah Elena Müller, 1990 in Amden geboren, ist vieles. Sie bewegt sich in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Performance. Sie tritt im Spoken Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf, fungiert als Beatmakerin für die kongolesische Rapperin Orakle Ngoy und ist Mitbegründerin des feministischen Autor*innenkollektivs RAUF.

2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem und seit 2019 leitet sie das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2021 erschien der Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag der gesunde Menschenversand und heuer, von viel medialer Aufmerksamkeit begleitet, ihr Debütroman «Bild ohne Mädchen» beim Limmat Verlag.


In einem Interview erklärt Sarah Elena Müller, dass die Motivation, sich den Themen dieses Buches literarisch, erzählerisch zuzuwenden zu einem grossen Teil mit dem Umstand zu erklären sei, dass es in vielen Biographien zwischen 20 und 30 von aussen nicht erklärbare Brüche gäbe. Themen, weil es in ihrem Roman «Bild ohne Mädchen» um weit mehr als „nur“ Kindsmissbrauch geht. Es geht um Tabuisierung, um Schuldzuweisungen, die nicht relevant sind, um Einsamkeit mitten in der Familie, um Ausblenden und Wegschauen. 

Eigentlicher Protagonist ihres Romans ist die Sprache. Sarah Elena Müller erzählt nicht einfach die Geschichte eines Mädchens, das zur jungen Frau wird. Es ist als würde die Schriftstellerin alle Zwischenräume zwischen den Figuren malen, die Stimmungen, die Atmosphären, die Leeren, die Geister, das Fluide. Würde man nicht wissen, dass es ein Debüt ist, würde man denken, da schreibt jemand, der viel mehr will, als ein Buch schreiben, eine Geschichte erzählen.


In diesem kleinen Ort in den Bergen wohnen Aussteiger, Kulturflüchtige; die Mutter des Mädchens eine Künstlerin, der Vater Biologe und Aktivist, Ege, der Nachbar, einst Professor in Berlin. Sie alle Aussteiger auch in Sachen Verantwortung, denn für das Mädchen Verantwortung zu übernehmen, dafür macht sich niemand stark.

Kindsmissbrauch, Pädophilie – das sind Verbrechen, die in der Gesellschaft ebenso heftige wie schwer erklärbare Reaktionen hervorrufen. Es schwingt eine seltsam überdimensionale Betroffenheit mit, ebenso der Wunsch, lieber nicht damit konfrontiert werden zu wollen, sind doch die meisten Täter mitten in Familien oder im näheren Umkreis zu finden. 
Weder Vater noch Mutter geben dem Mädchen Antworten auf ihre Fragen. Höchstens ein immaginärer Engel, der das Mädchen begleitet, neben der Grossmutter das einzige Gegenüber, das sich dem Mädchen stellt. Das Mädchen macht sich ihre Welt selbst. Und dort, bei Ege, dem älteren Nachbarn, bei dem sie fernsehen darf, scheint sich das Tor zu eben jener Welt, die sich sonst verschlossen zeigt, zu öffnen. Und Ege zeigt ihr, wenn auch schmerzhaft, seine Form der Zuwendung.


Das Mädchen gibt durchaus Zeichen, die die Eltern hätten lesen können, wenn sie es denn gewollt hätten. Das Mädchen zieht sich zurück, ist Bettnässer, Einzelgängerin in der Schule. Aber die Eltern wollen nicht sehen.

Ein erstaunliches Buch, das das Publikum unter dem Dach des Literaturhauses bannte!

„Heiss und fiebrig war es, unterm Dach. Und getan haben wir, was die Menschen tun: fächeln und zuhören und was die Kängurus tun: die Unterarme nässen und sich der Hitze hingeben. Danke für dieses stimmungsvolle Sommerfest in Gottlieben, die Gastfreundschaft und die grünen Keckse, deren Ursprung im Spinat lag oder auch im Moos.“ Sarah Elena Müller 

Sarah Elena Müller und Ruth Loosli

Sommerfest 2023 in und ums Literaturhaus Thurgau

Über dem aktuellen Programms des Literaturhauses Thurgau steht ein Zitat der Dichterin Lisa Elsässer, die Anfang Mai Gast in Gottlieben war: „Vielleicht braucht es für die Genauigkeiten die totale Reduktion der inneren Betriebsamkeit.“

Lorenz Zubler, Präsident der Bodman-Stiftung

Lesen ist Reduktion. Schreiben ist Reduktion. Und mit Sicherheit ist eine Lesung, eine Darbietung, ein Sprechstück, Musik oder jegliche Performance eine Reduktion, eine Reduzierung auf das Wesentliche. Ob AkteurIn oder BesucherIn, ich fokussiere mich nicht nur auf das eine, das Geschriebene, Gehörte, Gesehene, Gesagte, ich reduziere meine Wahrnehmung auf das eine, vergesse mich.
In genau dieser Reduktion verbergen sich die grossen Tore des Seins, jene Tore, die keiner Zeit, keiner Distanz, nichts unterworfen sind, begrenzt nur durch die Fantasie, die eigene Innenwelt. Lesen und Hören, das wissen alle, die sich in den Sog eines Kunstwerks hineinlassen können, aber vor allem das Lesen, öffnet uns in der Reduktion Welten, die uns sonst verborgen blieben.

Darum lesen wir. Darum lassen wir uns von Sprache und Dichtung so gerne be- und verzaubern, weil es Tore sind in eine Seinsebene, die auftut, die letztlich konfrontiert und niederreisst, was uns sonst die Sicht vernebeln oder gar verhindern würde.
Darum braucht es Häuser wie das Literaturhaus Thurgau, ein Haus, das Räume aufschliesst, wie alle Orte, an denen sich Kunst manifestiert.
Von Betriebsamkeit, innerer Betriebsamkeit, sind wir nicht gefeit. Schon gar nicht in den Vorbereitungen zu einem solchen Fest, dem traditionellen Sommerfest unseres Literaturhauses.

Ruth Loosli mit ihrem Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Quirin Oeschger am Hackbrett

«Der Abend am Sommerfest im Literaturhaus Gottlieben war heiss! Er war umfassend schön. Wir haben geschwitzt, gelacht, uns der Sprache (und der Musik! dem Klang auf dem Hackbrett von Quirin Oeschger) ergeben: beim Zuhören, beim Text sprechen, beim Austausch (dort waren wir spontan, voller Interesse für das Gegenüber). DANKE für diese wunderschöne Einladung, für die umfassende Gastfreundschaft; auch an Monika Fischer … Das Haus an diesem Ort, an diesem Fluss, der hier „Seerhein“ genannt wird, ist magisch. Der ganze Abend (nach uns die Lesung von Sarah Elena Müller im Gespräch mit Gallus) geht in die Schatztruhe unvergesslicher Erinnerungen.» Ruth Loosli

Es braucht ein solches Fest. In all den Veranstaltungen übers Jahr wird die Literatur, das Wort, die Kunst gefeiert und mit ihr all die Tapferen, die sich in ihrer Kunst durch fast nichts entmutigen lassen.
An einem solchen Fest feiern wir das Literaturhaus selbst, das seit über zwei Jahrzehnten dem geschriebenen Wort Stimmen gibt, wo sich KünstlerInnen und LeserInnen begegnen, wo vom Erdgeschoss bis unters Dach der Sprache eine Heimat gegeben wird.
Wer die Liste all jener durchschaut, die einst in diesem Haus lasen oder für eine gewisse Zeit in der Gästewohnung lebten und schrieben, ist beeindruckt, wie sehr dieses sonst so stille Haus von Bedeutsamem durchflutet wurde.

Sarah Elena Müller und ihr Debüt «Bild ohne Mädchen»

Letzthin besuchte mich hier in Gottlieben eine Schriftstellerin, mit der ich bislang nur schriftlich Kontakt hatte, die ich aber immer wieder eingeladen hatte, diesem magischen Ort einen Besuch abzustatten. So holte ich sie am Bahnhof ab und spazierte mit ihr bei schönstem Sommerwetter zum Literaturhaus. Sie warf nur einen einzigen Blick auf die Fassade des Hauses und war gebannt. Ich zeigte ihr das Haus und wir machten einen Spaziergang bis nach Konstanz. «Gibt es einen schöneren Ort?», fragte sie. Sie war hingerissen und versprach, alles daran zu setzen, bald möglichst in diesen Mauern als Gast leben und schreiben zu dürfen.

Dass dieses Haus in einer Zeit von Optimierung, vielfältigen Bedrohungen, von Sparrunden und Verunsicherungen funktioniert, gedeiht und bis weit über die Landesgrenzen hinaus wirkt, ist all jenen Menschen zu verdanken, die sich für dieses Haus einsetzen: allen voran die Bodman-Stiftung mit ihrem Präsidenten Lorenz Zubler, den spendablen Gönnerinnen und Gönnern, dem Kanton und ganz speziell der Geschäftsstellenleiterin Monika Fischer und der guten Seele im Haus, der Handbuchbinderin Sandra Merten.

Eigentlich erstaunlich, wie wenig Besatzung dieses Schiff durch all die Stürme segelt!

«Worte sieben» Zu den Schriftbildern von Ruth Loosli, von Julia Röthinger

«Und doch / müssen wir reden / weil wir Menschen sind», schreibt Ruth Loosli in einem ihrer Gedichte, und macht genau dies in und mit ihrem künstlerischen Werk, das Lyrik und erzählerische Prosa ebenso umfasst wie die stetig anwachsende Zahl an Schriftbildern, von denen hier eine Auswahl zu sehen ist. Leicht, aber nie leichtsinnig, gehaltvoll, aber nie schwer umkreist Ruth Loosli in ihrer Sprach- und Bildkunst die conditio humana, das menschliche Dasein, das geprägt ist von Freud und Leid, von Liebe und Verlust, von Zweisamkeit, aber auch Einsamkeit, von der Ohnmacht des Einzelnen in einer Welt, in der man Krisen und Kriegen hilflos gegenüber steht. Doch es gibt auch Hoffnung. Knochenarbeit; grün lautet der Titel einer der Zeichnungen Ruth Looslis, auf der der grüne Stängel einer Pflanze zu sehen ist, der aber auch ein Knochen sein könnte. Es ist kein gerader Pflanzenknochen, wenn er auch aufrecht ist: er hat einen Knick, ist gebeugt worden, sei es durch Hagel, sei es durch Unachtsamkeit, dass sich jemand mit groben Schritten durch das Gras bewegt und diese aufblühende Pflanze mit einem schweren Tritt geknickt hat. Und doch steht er da, dieser Pflanzenstängel, unbeirrt. Nicht immer ist das Wachsen ein geradliniges, oft genug nimmt es einen Umweg, oft genug ist es auch schwere Arbeit, wie die schwarzen Punkte andeuten: gleich den Jahresringen eines Baumes markieren sie die Entwicklungsschritte, Momente der Verdichtung, bis schliesslich oben die Blüte wächst, ein filigraner Fächer, ein zartes Gebilde, das aus dieser schweren Knochenarbeit hervorgegangen ist. Die Knochenarbeit kennen wir alle, als das Wachsen der Knochen, aber auch als eine intensive und mühevolle Arbeit. Auch Kunst ist eine Knochenarbeit, etwas das wächst und sich ent-wickelt, das gedeiht und oft genug auch Früchte trägt.

«Poesie ist Zuwendung zu Menschen, Dingen, der Natur. Ruth Loosli macht es in ihren wachen Gedichten vor.» Ilma Rakusa

Ruth Loosli «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe», Caracol, 128 Seiten, CHF ca. 20.00, ISBN 978-3-907296-28-8

1959 in Aarberg im Berner Seeland geboren, lebt und arbeitet Ruth Loosli seit 2002 in Winterthur. Seit mehr als zehn Jahren tritt sie mit ihrem lyrischen und erzählerischen Werk in Erscheinung, nicht zuletzt auch mit ihren Schriftbildern, in denen Ruth Loosli das Wort von seiner Abstraktheit entkleidet und es in seiner Bildhaftigkeit darstellt, wodurch sie dessen verborgenen, nicht immer offensichtlichen, manchmal überraschenden Kern herausschält. Da folgt ein seufzendes oh auf honolulu und setzt sich fort in immer weiteren oh´s, an die sich wieder neue oh´s anschliessen, bis all diese oh´s eine Insel bilden, eine Insel des Seufzers, eine Insel der Sehnsucht, eine Insel, in der das oh auch zum ho wird: zum Anfangslaut Honolulus, als ginge die Insel aus dem gehauchten Laut hervor. Oder wir lesen: frau steht am fenster und sehen das Fenster in der Schraffur der Worte, indem sich fenster an fenster reiht, ein Rechteck bildend, geschwungene Linien, als fingen sie die Reflexion des Fensterglases ein, und als träte aus dieser Reflexion die Frau hervor, im schwungvoll ausgeführten f. Und so siebt Ruth Loosli die Worte, prüft sie, klopft sie ab, niemals eindeutig, immer mehrdeutig. Ihre Schriftbilder zeigen uns den Resonanzraum, der hinter den einzelnen Worten steht.

 

Stets lotet Ruth Loosli dabei in ihrer Arbeit die Dimensionen des menschlichen Daseins aus, sein Auf und Ab. Kummer und Tränen werden vom Fluss des Lebens mitgetragen und reingewaschen, Narben verwachsen und neue Haut legt sich über alte Wunden. Es ist der feine Humor, der Welt und dem Dasein trotz aller Verletzungen heiter und offen zu begegnen, der eine Leichtigkeit über ihre Kunst legt. In ihren Schriftbildern, die Miniaturen gleichen, entfaltet sie eine ganze Welt und eröffnet einen Gedankenkosmos, der für das Suchen und Umkreisen steht, für die Verortung des Ichs in der Welt, und der einlädt zum Miteinander-Reden. Die Kunst von Ruth Loosli nimmt sich der Welt und des Menschen an und bewahrt sich eine ganz eigene Ästhetik, in der sich die Weite im Detail zeigt. Bleibt zu wünschen, dass Ruth Loosli mit ihrer Arbeit noch möglichst viele Menschen berühren und miteinander verbinden kann.

Julia Röthinger

Die Ausstellung ist immer offen, wenn Lesungen laut Programm des Literaturhauses stattfinden. Die Künstlerin freut sich, mit Interessierten ins Gespräch zu kommen und ist zusätzlich anwesend am:
Samstag,  9. September von 16-18 Uhr
Sonntag, 15. Oktober von 16-18 Uhr (Finissage inklusive Kurzlesung, falls erwünscht); Kontakt für Anfragen: ruth.loosli@gmail.com

Ruth Loosli, geboren 1959 in Aarberg und im Seeland aufgewachsen. Ein erster Gedichtband «Aber die Häuser stehen noch» erschien 2009. Nach weiteren Lyrikveröffentlichungen erschien 2021 ihr erster Roman «Mojas Stimmen». Aktuell ist ihr Gedichtband «Ein Reiskorn auf meiner Fingerkuppe» mit Schriftbildern der Autorin.

Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin

„Jetzt bist du da“ ist ein Roman über das Mysterium Eros. Claire ist 42 und lebt zurückgezogen in einem kleinen Holzhaus im Wald. Ein Rückzugsort das Haus, ein Rückzugsort der Wald. Und doch holt sie ein, wovor sie sich schützen wollte, was ihr nicht mehr geschehen sollte. Und das mit Janis, einem 16jähigen Schüler.

Claire ist Waldpädagogin und unterrichtet Schulklassen im Wald, versucht ihnen jene Natur nahe zu bringen, von der sich die meisten maximal entfernten. Sie arbeitet nicht nur dort, im Wechsel mit Achim, ihrem Arbeitskollegen, sie lebt auch dort, zusammen mit der zugelaufenen Hündin Nora, eingebettet in ein kleines Stück Welt, das sie einzuschätzen weiss, von der sie Gerüche und Geräusche kennt, vor der sie mit den Jahren die Angst verloren hat. Claire hat sich in ihrem Leben eingerichtet, ist das, was sie sein will, kontrolliert, selbstbestimmt, mit sich und dem kleinen Stück Welt im Reinen.

Janis fiel ihr schon in seiner Klasse auf, als ihnen für ein paar Tage nähergebracht werden sollte, was die meisten Menschen verloren haben, nicht nur jene in den Städten, wie man Feuer macht, im Wald lebt und übernachtet, Tiere und Pflanzen kennenlernt. Janis erinnerte sie an eine Liebe tief in ihrer Vergangenheit. Janis, in seiner fast femininen, androgynen Art, hielt mit jeder seiner Bewegungen dem entgegen, was das laute, aufdringliche, hormondurchtränkte Gehabe seiner Mitschüler ausmachte. Eher zufällig ergab sich eine Berührung; Janis strich ihr mit der Hand über die Wange. Eine Berührung, die Claire aus dem Gleichgewicht brachte, die sie elektisierte und auch nicht losliess, als sich die Gruppe längst wieder in ihren Alltag verabschiedet hatte.

Sandra Hoffmann «Jetzt bist du da», Berlin, 2023, 240 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8270-1494-8

Und nun, sieben Wochen später, taucht Janis wieder auf, allein. Claire sieht ihn durchs Fenster ihres Häuschens und spürt vom ersten Moment das fatale Potenzial, das mit dem einen ersten Blick nach all den Wochen aufflammt. Alle Sicherheit ist weg. Und noch bevor er vor ihrer Tür erscheint, weiss Claire, dass dies ein Kampf werden wird, der zerstörerische Folgen haben kann. Kein Kampf zwischen Janis und ihr. Der Kampf in ihr selbst. Ein Kampf, bei dem nicht einmal Verstand und Emotion, Kopf und Bauch klar Stellung beziehen. Claire spürt, wie sich Wogen durch ihr Sein peitschen, wie Sehnsüchte und Erinnerungen auftauchen. All die mühsam gewonnenen Ankerseile ihres Lebens drohen ihr entrissen zu werden. Sie öffent die Tür und es beginnt ein kleines Stück Gemeinsamkeit, das verborgen bleiben muss.

Ausgerechnt sie, die alles im Griff zu haben schien, die dort in jenem Stück Wald, in ihrem Häuschen, zusammen mit Nora ihrem Hund, alles manifestierte, was Bodenständigkeit, Natürlichkeit und Souveränitat ausmachte, wird von den Stürmen ihrer Emotionen derart gebeutelt, dass sie sich davor fürchtet, sehenden Auges ins Verderben zu rutschen. Nicht nur weil Janis minderjähig ist, weil sie sich ein Stück Sicherheit aufbaute. Nicht nur weil es nicht den gängigen Klischees entspricht. Nicht nur weil die Begegnung mit Janis Wunden aufreisst, die sie vernarbt glaubte. Claire fürchtet sich, die Kontrolle zu verlieren. Ausgerechnet dieses Gefühl der Angst reisst sie zurück, droht das zu zerstören, was sie nach und nach zu ihrer Welt machte.

So wie Claire sich ihre Angst zähmte, glaubte sie sich unter Kontrolle zu haben. All die Geräusche des Waldes, die Stimmen, die Düfte, die Nächte und das Wetter in den Bäumen – alles schien gebannt. So wie die Geschichten in ihr, abgelegt und geordnet. Janis ist der Sturm, bricht die schwer gewonnene Ruhe.

Was an Sandra Hoffmanns Roman besticht, ist der Kampf, die Dramaturgie der Gefühle, ohne dass der Roman je ins Triviale abdriften würde. Noch viel mehr aber die Sprache, die Feinheit des Beschreibens, als würde sie sich in jede Regung, jedes Bild, jede Stimmung mit ihrem Sprachokular hineinbrennen. Da schreibt jemand, der mit der Haut sieht. „Jetzt bist du da“ ist nicht nur eine Form von Nature Writing. Sandra Hoffman verbindet aufs Erstaunlichste innere mit äusseren Bildern, alle die Feinabstufungen von Nähe, sei es jene aufgeladene zwischen Menschen oder jene getragene zwischen Mensch und Natur. 

Ein erstaunliches Buch, ein mutiges Buch.

Postkarte

Interview

Klar fasziniert einem das beschriebene Knistern, das Unmögliche einer solchen Begegnung. Aber am meisten fasziniert mich die Art Ihres Erzählens, die Genauigkeit, das Feinsinnige. Es ist nicht nur, dass man den Wald durch Ihre Bilder riecht, ihr Erzählen macht Gänsehaut. Verlangte der Stoff nach dieser Art des Erzählens oder entstand sie durch den Ort selbst, verrieten Sie doch in einem Interview, dass Sie grosse Teile des Romans in einem Haus am Wald geschrieben haben?

Vielleicht ist es eine Mischung aus allem. Ich erzähle ja auf 240 dichten Seiten gerade mal achtzehn Stunden. Nicht mal einen Tag. Das heißt, alles was geschieht betrachte ich mit grosser Präzision, egal, ob das nun das Innenleben von Claire ist im ersten Teil des Romans, oder im zweiten Teil die Begegnung zwischen ihr und dem Jungen,  – und immer eben auch den Wald, der ja als Protagonist fungiert. Er ist der Spiegel von allem, und im Spiegel sieht man ja immer alles sehr genau. Und wenn man in einem Zustand der Erregung ist auch. Es ist also notwendig gewesen, dass ich alles so erzähle, der Stoff machte das notwendig. 

Liebesgeschichten zwischen „älteren Frauen“ und Jünglingen sind selten, zumindest in der Literatur. Nicht nur, dass da ein Tabu wirkt. Ich bin überzeugt, dass die weibliche Sexualität noch immer viel misstrauischer beäugt wird, als jene auf den anderen Seiten. Ist das erklärbar durch die Tradition oder vielmehr durch den Umstand, dass wir noch weit, weit weg sind von einer wahrhaften Befreiung?

Wir sind noch weit weg. Ja. Ich habe von einem Mann gehört, der über meinen Roman sagte: wen interessiert schon die Sexualität einer 42-jährigen! Das muss man sich erst mal trauen. Nach Nabokov, Philip Roth, Knausgard – wenn man nur mal jene Autoren betrachtet, (die mir auf die Schnelle einfallen), die ihre Helden umstandslos Sex haben liessen mit Dreizehnjährigen, mit Minderjährigen, mit sehr jungen Frauen. Das mache ich ja nicht in meinem Roman. Sondern ich erzähle eine Frau, die spürt, dass sie diesen einen Jungen zu begehren beginnt, und ich erzähle von einem Jungen, der diese Frau begehrt. Er darf das, er hat sowas wie Welpenschutz. Sie darf es nicht, oder jedenfalls darf sie es nicht ausleben. –  Wie kompliziert das ist, das erzähle ich. Und wie sehr wir eben doch in einem Körper leben, der uns in so einem Moment ganz schön im Weg stehen kann. –

Und ja, ich glaube, es ist notwendig, dass über die weibliche Sexualität und Psyche erzählt wird, da gilt es ein Ungleichgewicht aufzufüllen, und zum Glück tut sich da inzwischen auch einiges vor allem bei den jüngeren Autorinnen. Ich habe Mitte fünfzig werden müssen, bis ich mich traute, diese kleine, aber ich glaube sehr universelle weibliche Erfahrung mit der Sexualität zu erzählen, die Claire nicht mit Janis erlebt, sondern in Rückblenden erzählt und die sie dazu bringt, so zu handeln, wie sie dann schliesslich handelt. Dass sie am Ende nicht als glückliche Frau hinausgeht, oder aus dem Wald hereinkommt. Klar. Aber ohne dass wir den Schmerz spüren, verändern wir uns nicht. Vielleicht müssen das Frauen erzählen, weil Männer erst noch etwas mehr lernen müssen, den Schmerz zu spüren. 

Claire hat sich eingerichtet. Und mit einem Mal wird alles anders. Der Verstand lahmt, Ordnung zerbröselt, Verdrängtes bricht durch. In den meisten Fällen ist Literatur doch der sprachgewordene Versuch, die Vertreibung aus dem Paradies zu erklären.

Ja. So ist es. Ich weiss auch gar nicht, ob Claire wieder zurückfindet. Ich hoffe es aber, also ich wünsche ihr das sehr! 

Der Wald – männlich, der einzige von dem Claire sich noch umarmen lässt. Claire hat sich in ihrer materialisierten Angst eingerichtet, hat Schutzmechanismen aufgebaut. Sie scheint clever, souverän. Janis ist genau von dem schwer beeindruckt. Aber Janis, der in vielem dem offensichtlich Männlichen nicht entspricht, der Claire mit Verschüttetem konfrontiert, viel mehr auslöst, als „nur“ erotisch aufgeladene Gefühle, wird zu einem Schlüssel. Irgendwie scheinen wir doch in unserer perfekt organisierten Welt das wahrhaft Sinnliche aus den Augen verloren zu haben.

Ja, ich glaube das ist so. – Claire lebt ja ein gutes Leben, also sie hat sich entschieden, das sagt sie auch, dass sie das Alleine-Leben gut findet. Und dann kommt dieser Junge, Janis, und Erinnerungen brechen auf, nicht nur sexuelle und komplizierte, sondern auch an Menschen, mit denen es einmal Nähe und Wärme gab, und plötzlich sinkt dieses so gut eingerichtete Leben in sich zusammen: weil sie Sehnsüchte, Wünsche nach Nähe, nach Zugehörigkeit zu Menschen verdrängt hat. Sie hat sich im Reich der Natur eingerichtet: Aber sie ist eben kein Tier. Das muss ihr spätestens klar werden, als sie versucht, nicht ihrem Begehren, das auf Janis gerichtet ist, zu folgen. Im Reich der Natur gibt es anscheinend also nicht alles, was der Mensch braucht. 

Sie hätten Ihre Geschichte sehr leicht aufblasen können. Aber Sie bleiben vorsichtig, erzählen zärtlich. Auch die Nebenschauplätze erzählen sie behutsam und manchmal wenig ausgeleuchtet. Genauso die Geschichte um Nora, den Hund, einen Zugelaufenen. Dabei spiegelt sich Janis Geschichte doch auch in seiner.

Ja. Es gibt ja sehr viele Spiegel in diesem Text. Die Natur als Spiegel von Claire. Janis und Claire sind sich gegenseitig Spiegel. Claire sieht sich von der Hündin gespiegelt. Die Hündin, Nora und Fine, die Schwester von Janis sind auch Spiegelbilder. Und so weiter. – Ich wollte nichts aufblasen: ich wollte diese Menschen verstehen, die sich da begegnen, mit diesem Leben, das sie führen, mit dem Hintergrund den sie haben. Ich schreibe, weil ich mich für das Handeln von Menschen interessiere. Ich wollte diesen Ausschnitt aus derer beider Leben erzählen, diese Begegnung verstehen – auf dem Hintergrund; Das sind diese Menschen jetzt in diesem Augenblick, aber beide haben eben auch eine Geschichte, ein Vorleben. Das prägt sie und daraus lässt sich manches, was sie tun, verstehen, manches vielleicht auch nicht. 

Sandra Hoffmann, 1967 geboren, lebt als freie Schriftstellerin in München und in Niederbayern. Sie unterrichtet literarisches Schreiben unter anderem in Seminaren für das Literaturhaus München und an Universitäten. Sie schreibt für das Radio und Die Zeit. Für ihren Roman „Was ihm fehlen wird, wenn er tot ist“ (2012) erhielt sie den Thaddäus-Troll-Preis und für ihren Roman „Paula“ (2017) den Hans-Fallada-Preis. Zuvor erschien ihr Roman „Das Leben spielt hier“.

Beitragsbild © Armin Kratzert

Flurina Badel «Be calm / Nur ruhig», übersetzt aus dem Rätoromanischen (Vallader) von Ruth Gantert

In avrigl algua l’ultima naiv, id es da scuar glera. In cumün savura da grascha. Pens vi da pleds cacofonics: puglina, chavallina, chaclana, buatscha. Tscherch ün pled per chaja da muos-chas. Tüpflischiss. I füss da pulir las fanestras. Tuot lascha fastizis. Eir scuar glera. Il strom da la scua lascha inavo lingias onduladas da la puolvra sülla salaschada. Fetsch rinchs sur tuot la plazzetta via.

Sün banc d’porta baiva cafè. In tuotta calma. N’ha increschantüm – da fluors. Da chalamandrins per exaimpel, da chaminella. Bram il cuffort da l’er in lügl, less sezzer illa sumbriva da l’estragun, mas-char salvgia, verer dalöntsch. Vez ün utschè grisch sül prà. O esa ün crap? Ün crap aint il ögl.

Svöd la chartera. Ün bof am tira bod ourd’man la posta, am sbarüffa ils chavels. Daspö mais soffla il vent be plü in üna direcziun. Cul cuors dal flüm chi sbocca aint il Mar Nair. Là baivan delfins minerals da Lucius, Emerita, Sfondraz e Bonifacius chi nu güdan neir na cunter il catar dal mar. Aint ill’aua impestada prospereschan algas, medusas nu stan cun bocca sütta ed our da las boccas riaintas da las ritschas cula moc. Ma quists dis ningün nu pensa al mar cupichà. Il plü da tuot a las minas. Srantadas d’orizis noudna illas uondas agitadas, giran per quai aint. Eu less cha’l vent volvess – las truppas, ils tancs, camiuns e lantscharaketas, ils bombardaders, jets ed elicopters, las corvettas, bastimaints e suotmarins – ils utschels grischs aint il Mar Nair. Quists dis daja protestas cun fögls albs. Sculozza bluotta invezza da pleds scumandats.

Lav giò la vaschella. Pens vi dal pais da l’aua sül muond. Tuot ils mars, lais, flüms, ils auals, las funtanas. E l’aua aint illas nüvlas eir. Tuot quist’aua chi nu vegn schlavazzada our’i’l univers, pervi da la gravitaziun. E perquai cha’l muond rotescha, gira cunter l’ura giò pel scul. Pens vi dal pled gravidanza, vi da la pel s- charpada suot l’umblin. Id es favrer ed eu dundag cun peis scuzs sün linoleum verdaint. Per na far la cupicha, am tegna vi da la duonna da part. Quella disch la gravitaziun güda. Eu nu sa co ch’üna boa chi strangla tira il flà. Rouv per ajer. Inchün divra üna fanestra. Coura, illa cuntraglüm, naiva s-chür.

In gün daja üna tampestada cha’ls granels cloccan vi da las fanestras da stüva. L’uffant vi dal bruost doza cuort il cheu per verer che chi capita, lura tetta’l inavant. Il rest dal di daracha. Vers saira esa nüvel cotschen. Ils pumpiers pumpan l’aua our dal schler inuondà dals vaschins. Cun l’uffant sün bratsch siglia tras ils fundigls sün plazzetta. L’uffant dà üna risada, muossa cun seis daintin vers l’aua. Aua sarà seis prüm pled, ma quai uossa nu savaina amo. In üert vezza cha züchas e zucchettis han föglia s-charpada. Ün pêr fluors decapitadas.

Petal per petal gelg as pierla our dals büttels da l’enotera. I düra be ün pêr secundas fin cha las fluors sun prontas per splendurir tras la not. Ellas sun sömmis da di, insömgiats da dadaint inoura. Da not insömgia da dadoura inaint. Il plümatsch schmatschà insembel la bunura. Mia membra crappa ed il cheu eir. Pleds van a cupicha, petrifichada resta pichà, chajusa segua, sün quel chalamer, s-chandler – i füss da far laina. Tuot douvra alch. Eir il sömgiar. I füss da dostar sia said. Ils sömmis süman.

In gazetta legia knattertrocken. Quists dis ningün nu disch stà. In nossas boccas sun uondas da chalur, mancanza d’aua, sechüra. La prada sechaditscha büschma. O esa l’ajer?
Quists dis durmina nüds. Trais bes-chas sainza pail chi giaschan üna sper tschella. Minchatant duos da quellas fan l’amur, dascus per na sdasdar l’uffant. Bes-chas chi’s guardan aint ils ögls. Guardain ils corps donnagiats. Nöglia da mal – be ün pêr nattas. Il tagl sur meis öss tuorp. Il tagl sur seis spinal. Meis daintulin stort. La pel scorchada da sia schnuoglia. Fin uossa eschna rivats da s-champar.

Baiv giò dal chüern. Giod il gust da fier süls lefs. Id es october ed eu lasch oura l’aua dal bügl, l’ultima jada per quist on. Cun ün barschun sgratta giò las ritschas da las paraids da beton, lav giò las restanzas da crema da sulai dals turists. Spet fin cha’l bügl s’ha darcheu impli, es spejel pel tschêl. Il tschêl es blau. Blau sco las ragischs dal nuscher schmers. Sia tschücha es amo adüna larmuossa. Rinchs clers dadaoura, quels dadaint s- chürs. Iris e pupilla püffan amunt.

Seguisch a mia sumbriva. Ella passa ouravant sur prada stipa. Sglischa sur mürs sechs e stailas da chardun. Ün chan bubla. Ils utschels grischs nu’s laschan disturbar. Il vent nun ha fat la volva. La bouda nu tuorna amunt. I’m para evidaint ch’eu pens il pled crappar. Sun surpraisa cha saint tantüna il tun da quist text ch’eu less scriver daspö avrigl. Davo ch’eu n’ha fat ir a bügl ils impissamaints, sguotna pled per pled culur latun.


Im April schmilzt der letzte Schnee, Kies muss weggefegt werden. Im Dorf riecht es nach Mist. Ich denke an kakofonische Wörter Vogelkot, Pferdeäpfel, Ziegenköttel, Kuhfladen. Suche ein Wort für Fliegendreck. Tüpflischiss. Die Fenster müssten geputzt werden. Alles hinterlässt Spuren. Auch das Kiesfegen. Der Strohbesen lässt staubige Wellenlinien auf dem Pflaster zurück. Zieht Kreise über den ganzen Vorplatz.

Ich trinke Kaffee auf der Bank vor der Tür. In aller Ruhe. Habe Heimweh – nach Blumen. Zum Beispiel nach Klee, nach Kamille. Sehne mich nach dem Trost des Kräuterbeets im Juli, möchte im Schatten des Estragons sitzen, Salbei kauen, in die Ferne schauen. Ein grauer Vogel sitzt auf der Wiese. Oder ist es ein Stein? Ein Stein im Auge.

Ich leere den Briefkasten. Eine Böe reisst mir fast die Post aus der Hand, zerzaust mir die Haare. Seit Monaten weht der Wind nur noch in eine Richtung. In diejenige des Flusslaufs, der ins Schwarze Meer mündet. Da trinken Delphine Minerale von Lucius, Emerita, Sfondraz und Bonifacius, die auch nicht helfen gegen den Meereskatarrh. Im verseuchten Wasser gedeihen Algen, Quallen treiben im Trüben und aus den lieblichen Mündern der Nixen quillt Schleim. Aber in diesen Tagen denkt niemand ans hinfällige Meer. Höchstens an die Minen. Von Gewittern entfesselt schwimmen sie in den wilden Wellen, irren umher. Ich wollte, der Wind drehte – die Truppen, Tanks, Lastwagen und Raketenwerfer, die Bomber, Jets und Helikopter, die Korvetten, Schiffe und U-Boote – die grauen Vögel im Schwarzen Meer. In diesen Tagen gibt es Proteste mit weissen Blättern. Blankes Grauen statt verbotener Wörter.

Ich wasche das Geschirr. Denke an das Gewicht des Wassers auf der Welt. Alle Meere, Flüsse, Bäche, Quellen. Und auch das Wasser in den Wolken. All das Wasser, das nicht ins Universum geschleudert wird, wegen der Schwerkraft. Und weil die Welt sich dreht, fliesst sie im Gegenuhrzeigersinn durch den Gully. Ich denke an das Wort Schwangerschaft, an die zerfetzte Haut unter dem Bauchnabel. Es ist Februar und ich wanke mit nackten Füssen über das grünliche Linoleum. Halte mich, um nicht hinzufallen, an der Hebamme fest. Sie sagt, die Schwerkraft hilft. Ich weiss nicht, wie eine Schlange beim Würgen atmet. Bitte um Luft. Jemand öffnet das Fenster. Draussen, im Gegenlicht, schneit es dunkel.

Im Juni hämmert ein Sturm seine Hagelkörner gegen die Stubenfenster. Das Kind an der Brust hebt kurz den Kopf um zu sehen, was los ist, dann saugt es weiter. Den restlichen Tag regnet es. Später leuchten die Wolken rot. Die Feuerwehrleute pumpen Wasser aus dem überfluteten Keller der Nachbarn. Mit dem Kind auf dem Arm springe ich über die Pfützen auf dem Vorplatz. Das Kind lacht auf, zeigt mit dem Fingerchen auf das Wasser. Aua, Wasser, wird sein erstes Wort sein, aber das wissen wir jetzt noch nicht. Im Garten sehe ich die zerfetzten Blätter der Kürbisse und Zucchetti. Ein paar geköpfte Blumen.

Ein gelbes Blütenblatt nach dem andern wirbelt aus den Knospen der Nachtkerze. Es dauert nur einige Sekunden, bis die Blumen bereit sind, durch die Nacht zu leuchten. Sie sind von innen nach aussen geträumte Tagträume. In der Nacht träume ich von aussen nach innen. Am Morgen ist das Kissen zusammengedrückt. Meine Glieder aus Stein, und auch der Kopf. Wörter fallen übereinander, Salzsäule bleibt stehen, Schisshase folgt, darauf Schreibstau, Scheiterhaufen, Holz müsste gehackt werden. Alles hat seine Bedürfnisse. Auch das Träumen. Dessen Durst müsste gestillt werden. Die Träume vertrocknen.

In der Zeitung lese ich knattertrocken. In diesen Tagen sagt niemand Sommer. In unseren Mündern sind Hitzewellen, Wassermangel, Trockenheit. Die verdorrten Wiesen wispern. Oder ist es die Luft?
In diesen Tagen schlafen wir nackt. Drei Tiere ohne Pelz, die nebeneinander liegen. Manchmal lieben sich zwei von ihnen, leise, um das Kind nicht zu wecken. Tiere, die sich in die Augen sehen. Wir schauen die versehrten Körper an. Nichts Schlimmes – nur ein paar Narben. Der Schnitt auf meinem Schambein. Der Schnitt auf seiner Wirbelsäule. Mein krummer kleiner Finger. Die aufgeschürfte Haut auf seinem Knie. Bis jetzt sind wir davongekommen.

Ich trinke vom Brunnenrohr. Geniesse den Geschmack des Eisens auf den Lippen. Es ist Oktober und ich lasse das Brunnenwasser aus, zum letzten Mal dieses Jahr. Kratze mit einer Bürste die Algen von den Betonwänden, spüle die Sonnencreme-Resten der Touristen aus. Warte, bis der Brunnen sich wieder gefüllt hat, ein Spiegel für den Himmel. Der Himmel ist blau. Blau wie die Wurzeln des gefällten Nussbaums. Sein Stumpf tränt noch immer. Helle Ringe aussen, die inneren dunkel. Iris und Pupille starren hinauf.

Ich folge meinem Schatten. Er geht voran auf steiler Wiese. Gleitet über Trockenmauern und Distelsterne. Ein Hund bellt. Die grauen Vögel lassen sich nicht stören. Der Wind hat nicht gedreht. Der Steinschlag kehrt nicht bergwärts zurück. Es scheint mir naheliegend, dass ich das Wort erschlagen denke. Ich bin überrascht, dass ich endlich den Ton dieses Textes höre, den ich seit April schreiben möchte. Nachdem ich die Gedanken getränkt habe, tropft Wort für Wort, messingfarben.

Dichterin und ihre Übersetzerin
Flurina Badel «tinnitus tropic / tropischer tinnitus, poesias / lyrik», Übersetzung von Ruth Gantert, Flurina Badel, Visueller Beitrag von Jérémie Sarbach. Nachwort von Dumenic Andry, 156 Seiten, Zürich, Edition Howeg, 2023

Flurina Badel, 1983 geboren, lebt in Guarda im Engadin. Nach einer Erstausbildung zur Journalistin war sie als freischaffende Dokumentarfilmerin und Moderatorin tätig. 2015 absolvierte sie den Master of Fine Arts am Institut Kunst der HGK FHNW in Basel und war 2017/2018 Gaststudentin am Institut für Sprachkunst der Universität für angewandte Kunst Wien. Seit 2014 arbeitet sie hauptberuflich im Künstler-Duo Badel/Sarbach, dem unter anderem der Manor-Kulturpreis 2019 verliehen wurde. Seit 2016 ist Flurina Badel die zuständige Redaktorin der rätoromanischen Literatursendung «Impuls» bei Radiotelevisiun Svizra Rumantscha und sie moderiert oder kuratiert kulturelle Anlässe wie zum Beispiel das Symposium LitteraturA Nairs. Flurina Badel schreibt zweisprachig, auf Rätoromanisch und Deutsch. Für ihre Texte wurde sie 2018 mit dem OpenNet-Preis der Solothurner Literaturtage und mit dem Double-Stipendium des Migros-Kulturprozent, 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis und 2022 mit dem rätoromanischen Literaturpreis Term Bel ausgezeichnet.

Ruth Gantert wurde 1967 in Zürich geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. Sie war Dozentin für französische Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Heute ist sie Literaturvermittlerin, Redaktorin und Übersetzerin.

Webseite der Autorin 

Beitragsbild © Jérémie Sarbach

Die Gäste im Literaturhaus Thurgau von September bis Dezember 2023

Liebe Freundinnen und Freunde des Literaturhauses Thurgau, liebe Literaturinteressierte, liebe Leserinnen und Leser dieser Webseite

Mein letztes Programm für das schmucke Literaturhaus am Seerhein, wo ich während dreieinhalb Jahren das Programm gestalten durfte. Schon jetzt melden sich erste Vorboten der Wehmut, weil sich gewisse Arbeiten bereits nicht mehr wiederholen werden. Intendant dieses Hauses zu sein, bedeutet mir sehr viel. Vor vier Jahren wurde ich telefonisch angefragt und es war, als hätte man mich mit einem übergrossen Geschenk beehrt. Eine Aufgabe, in die ich hineinwachsen musste, die mir ganz und gar entsprach; Gastgeber im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben.

Am Samstag, 2. Dezember, 18.00 Uhr: „Frei(ab)gang“ Gallus Frei-Tomic verabschiedet sich mit Gästen: Alice Grünfelder, Urs Faes und die Musiker Christian Berger und Dominic Doppler

In den 40 Monaten unter meiner künstlerischen Leitung werden es 86 Veranstaltungen, rund 120 Künsterinnen und Künstler, Stipendiatinnen und Stipendiaten und Gäste in der Wohnung des Literturhauses, die das Leben in den obersten beiden Stockwerken des Literaturhauses ausmachten, gewesen sein. Lesungen, Performances, Ausstellungen, Konzerte, Diskussionen, Vorträge – ein reiches Programm. 

Im letzten Monat meiner Amtszeit lade ich alle Freundinnen und Freude, alle Zugewandten zu einer ganz besonderen Abschiedsveranstaltung ein.

Gäste sind:

Alice Grünfelder, aufgewachsen in Schwäbisch Gmünd, studierte nach einer Buchhändlerlehre Sinologie und Germanistik in Berlin und China. Sie war Lektorin beim Unionsverlag in Zürich, für den sie unter anderem die Türkische Bibliothek betreute. Seit 2010 unterrichtet sie Jugendliche und ist als freie Lektorin tätig. Alice Grünfelder ist Herausgeberin mehrerer Asien-Publikationen und veröffentlichte unter anderem Essays und Romane. Sie lebt und arbeitet in Zürich. Im Gepäck ihr 2023 erschienener Roman „Ein Jahrhundertsommer“.

Urs Faes, aufgewachsen im aargauischen Suhrental, arbeitete nach Studium und Promotion als Lehrer und Journalist. Sein literarisches Wirken begann er als Lyriker, in den letzten drei Jahrzehnten sind indes eine Vielzahl von Romanen entstanden. Sein Werk, fast ausschliesslich bei Suhrkamp erschienen, wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Schweizer Schillerpreis und dem Zolliker Kunstpreis. 2010 und 2017 war er für den Schweizer Buchpreis nominiert. Heute lebt Urs Faes in Zürich. Urs Faes nimmt sein neustes Manuskript mit, das in Teilen in Gottlieben entstanden ist.

Christian Berger (Gitarren, Loop, Electronics, Büchel, Sansula, Framedrum) und Dominic Doppler (Schlagzeug, Schlitztrommel, Perkussion, Sansula), zu zweit «Stories», Musiker aus der Ostschweiz, besitzen die besonderen Fähigkeiten, sich improvisatorisch auf literarische Texte einzulassen. Schon in mehreren gemeinsamen Projekten, zum Beispiel mit jungen CH-Schriftstellerinnen und ihren Romanen oder internationalen LyrikerInnen mit lyrischen Texten, bewiesen die beiden auf eindrückliche Weise, wie gut sie mit ihrer Musik Texte zu Klanglandschaften weiterspinnen können.

Abgerundet wird die Veranstaltung durch einen reichen Apéro. Ein Anmeldung ist unbedingt erwünscht!

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck

Es wird auch an diesem Tag heiss in Berlin. Ruth Lember, angesehene Ethikprofessorin, auf dem Zenit ihres Berufslebens, läuft morgens ihre Runde. Bis ein Hund, ein Biss, ein Mann, ein Couvert sie aus der Bahn wirft. Was wie in Stein gemeisselt schien, zerbröselt. Ulrich Woelk schrieb mit „Mittsommertage“ einen Roman über unsere fiebrig aufgeladene Gegenwart.

Ruth ist in diesen Mittsommertagen durchaus in Festlaune. Da ist nicht nur ihre Berufung als Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ben, ihr Mann gewinnt einen Architekturwettbewerb, der Türen und Tore öffnen soll und Jenny, seine Tochter, die er mit in die Ehe brachte, studiert Kommunikation und scheint dort angekommen zu sein, wo sie schon immer hinwollte. Durchaus Glück angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, was man in der Pandemie durchzustehen hatte und was sich in der flimmernden Hitzeglocke über der Hauptstadt überdeutlich manifestiert. Ruth spürt genau, dass nichts so ist, wie es scheint, ob im Beruf oder ihrer Ehe, ob mit ihren Idealen oder der scheinbaren  Perfektion ihrer inszenierten Gegenwart.

Als sie in den noch frischen Morgenstunden auf ihrer Laufrunde dem Lietzensee entlang von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, kein schlimmer Biss, aber einer, der mehr als nur zwei kleine Wunden hinterlässt, scheint etwas förmlich angestochen zu sein. Ein jahrzehntelang ruhender Einschluss der Zeit, der sich wie ein aufgestochener Furunkel als Gift in ihrem Körper, ihrem Sein, ihrer Gegenwart verteilt. Was mit einem harmlos scheinenden Biss seinen Anfang nimmt, entzündet sich mehr und mehr, bricht auf, bis Ruth gezwungen ist, ihr Leben nicht bloss zu überdenken, sondern neu zu ordnen.

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck, 2023, 284 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-406-80652-0

Den Biss des Hundes bekommt Ruth nach anfänglichem Zögern mit Hilfe von Antibiotika in den Griff. Aber als zuerst bei einer Vorlesung ein älterer Mann im Hörsaal sitzt, den sie nicht einordnen kann und dieser ihr wenig später noch einmal in einer Strassenbahn schräg gegenübersitzt und schlussendlich an der Tür ihres Büros an der Uni klopft und wie ein Geist aus einer vergessenen Vergangenheit auftaucht, schwant Ruth, dass sich etwas ausbreitet, das zu einem Gift werden kann. Denn Ruth spürt, dass ihr Leben eine Dynamik angenommen hat, der sie kaum mehr etwas entgegenhalten kann. Aus den Idealen der Vergangenheit ist satte Zufriedenheit geworden. Aus der Liebe mit Ben ein gut inszeniertes Nebeneinander ohne Leidenschaft und Zärtlichkeiten. Aus der Gegenwart einer 55jährigen erfolgreichen Professorin ein Leben in Zwängen und Mechanismen.

Der Mann, der in ihrem Büro auftaucht, ist Stav. Als Ruth jung war, auf der Suche nach Antworten, als man sich gegen Atomkraft und die Macht der Konzerne auflehnte und nach Wegen suchte, sich dem Unausweichlichen entgegenzustellen, war Stav nicht nur ihr geheimer Freund und Liebhaber, sondern Kampfgenosse. Er sei wieder augetaucht, weil er ihr übergeben wolle, was von jenem Kampf übrig-, zurückgeblieben sei, ein Umschlag mit Fotos, Plänen und Bekennerschreiben, den Spuren eines Geheimnisses, das Ruth eigentlich begraben geglaubt hatte, einem Geheimnis, von dem niemand wusste, auch Ben ihr Mann nicht.

Was Klimaaktivisten zur Strategie erklären, war Ruth damals Programm. Was ihrer Ziehtochter Jenny als Notwendigkeit erscheint und einer ganzen Generation den Atem raubt, schlummerte wie eine hart gewordene Pustel unter der gepuderten Gegenwart von Erfolg und aufgesetzter Zufriedenheit. Es ist heiss über der Stadt, fiebrig heiss. Was sich unter Ruths Haut in ihrem ganzen Körper ausbreitet, ist ein Gift, das sie zu Fall bringen droht, das alles mit sich in die Tiefe reisst. Ruth wird aus ihrem Gravitationfeld katapultiert.

Ulrich Woelk beschreibt, wie sich das Gift langsam entfaltet, wie es den Stein, auf dem Ruth ihre Gegenwart einrichtete und ihre Zukunft sieht, zerbröselt. Und Ulrich Woelk stellt Fragen. Was macht echtes Leben aus? Stellen wir uns dem, was die Zeit von uns fordert, was in der Vergangenheit tief unter den Schichten des Vergessens und Verdrängens modert? Sind wir ehrlich, uns selbst gegenüber und all jenen, von denen wir behaupten, sie zu lieben? Ist das, was wir an Rebellion in jungen Jahren durchleben wie der Biss eines Hundes, den man mit „Antibiotika“ behandeln kann? „Mittsommertage“ ist der Versuch einer Diagnose einer Gegenwart, die in Schieflage geraten ist, von Menschen, die sich nur allzu gerne täuschen lassen wollen.

Interview

In ihrem Roman ist es der Biss eines Hundes. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber mit anderem kombiniert wird der Biss zu einem Teil einer fatalen Kettenreaktion. Viele von uns erleben solche Situationen. Und einer, der wie ich Jahrzehnte joggte, mit Hunden sowieso. Situationen, die eine Lawine auslösen. Lawinen, die alles verändern. Das eine verschütten, anderes freilegen. War ein Hund die Initialzündung zu Ihrem Roman?
Die Ursprünge der Idee zu dem Roman liegen in den Vor-Corona-Jahren 2018 und 2019, als sich Greta Thunbergs Fridays for Future-Bewegung schnell zu einem weltweiten Phänomen entwickelte. Ich musste dabei an meine Studentenzeit denken. Ich hatte in Tübingen in den Achtzigern eine Kabarettgruppe, und „global warming“, wie es damals hiess, und das Ozonloch waren Themen. Dass gut dreissig Jahre später Schüler und Studenten für das Klima auf die Strasse gingen, hat mich beschäftigt. Da wirft die junge Generation der älteren etwas vor, was diese gar nicht anders gesehen hat – jedenfalls in jenen Kreisen, die man seinerzeit mit den Begriffen Alternativkultur oder Ökoszene etikettiert hat. Und aus diesem Widerspruch ist dann so peu á peu die Idee zu „Mittsommertage“ hervorgegangen. Die Szene mit dem Hund entspringt aber tatsächlich meinen Erfahrungen als Gelegenheitswalker. Und irgendwann dachte ich, dass sie ein hervorragender Einstieg in die Geschichte ist, die ich erzählen wollte.

Ruth und Ben zusammen mit seiner Tochter Jenny entsprechen so ziemlich dem „Durchschnittsbild“ einer erfolgreichen, westeuropäischen Familie. Beide haben Karriere gemacht, das Familiengefüge das „Resultat“ mehrerer Beziehungen, man wähnt sich auf der sicheren Seite – bis Ereignisse, die nicht zu steuern sind das doch so filigrane Gefüge mehr als nur ins Wanken bringen. Haben wir auf Sicherheit und Reibungslosigkeit getrimmte Bewohner der „ersten Welt» nicht längst die Bodenhaftung verloren, den Sinn für das „Risiko Leben“?
In der Vor-Coronazeit hätte man das sicher sehr uneingeschränkt behaupten können. Aber die Ereignisse seither – die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftliche Unsicherheit – haben schon dazu beigetragen, bei vielen das Gefühl einer unberechenbaren Bedrohung durch äussere Umstände aufkommen zu lassen. Diese Themen bilden den Hintergrund der Romanhandlung im Sommer 2022. Das ist der Ausgangspunkt für Ruth, meine Protagonistin: Die Welt ist diffus instabiler geworden, und nur beim morgendlichen Joggen um den See „kann Ruth sich der Vorstellung hingeben, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, wie es gleich zu Beginn heisst. Und in diesem vermeintlich letzten sicheren Refugium passiert dann der Hundebiss, der eine für Ruth so fatale Kette von Ereignissen in Gang setzt.

Ruth hat eine Vergangenheit, die sie für sich beerdigte, von der nicht einmal Ben etwas wusste. Sie schleppt einen Teil ihres Lebens herum, der unter Verschluss hätte bleiben sollen. Eine Vergangenheit im „radikalen Widerstand“.  Ist dieser Hundebiss letztlich nicht ein Glück? Er beisst etwas auf.
So kann man das rückblickend natürlich sehen. Aber immerhin kommt Ruth nach dem Biss durch einen anaphylaktischen Schock beinahe ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mit der Verdrängung ihrer Vergangenheit recht gut, erfolgreich und glücklich leben – abgesehen vielleicht davon, was ja immer mal wieder an ihr nagt, dass sie kein eigenes leibliches Kind hat. Auch das ist eine Folge ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie Karriere als Philosophie-Professorin gemacht hat und zum Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen wird. Doch da sie sich mit der Tochter ihres Mannes sehr gut versteht, ist sie mit sich im Reinen. Jenny kommt mit Ruth in politischer Hinsicht sogar besser klar als mit ihrem Vater, der für Klimakleber und Gendersprache nicht besonders viel übrig hat. Dass dieses berufliche und familiäre Gefüge, in dem Ruth sich gut eingerichtet hat, am Ende einzustürzen droht – das ist für sie zunächst mal eine Katastrophe. Als Erzähler gewähre ich ihr am Schluss aber eine Art Lichtblick. In jedem Ende liegt ja auch ein Anfang, das stimmt. Doch ob von Ruths bisherigem Leben noch etwas zu retten ist, lasse ich bewusst offen.

Jenny ist jung und wie viele aus ihrer Generation sehr wohl aufgeschreckt durch die Klimaprotestaktionen in Städten und Ballungszentren. Ich glaube, sie spürt wie viele, dass es unmöglich sein kann, dass das Weltgeschehen ohne Kurswechsel an einer globalen Katastrophe vorbeischrammen kann. Warum traut sich Ruth nicht, ihren Panzer aus Sicherheit und Angst zu verlassen?
Es ist ja sehr menschlich, dass man versucht, an dem, was gut funktioniert hat, so lange wie möglich festzuhalten. Die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt, kommen für Ruth sehr schleichend. Sie spürt, dass ihrer Ehe allmählich der Schwung abhanden kommt. Als Jenny auszieht, ist das Leben mit Ben ungewohnt und nicht so frei, wie beide sich das vorgestellt haben. Es hat für sie als Paar nie eine Zeit ohne Jenny gegeben. Die äusseren Veränderungen stellen Ruths Leben aber nicht gleich auf den Kopf. Es gibt für sie einfach nicht den Punkt, alles radikal infrage zu stellen. Und dann kommt es in dieser Woche, von der ich erzähle, in wenigen Tagen zum Einsturz ihres Lebenssystems. Der Hundebiss ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Stav taucht auf. Der Mann aus der Vergangenheit. Eigentlich der perfekte Gegenentwurf zum Leben von Ruth und Ben. Selbst ich als Leser traute ihm zu Beginn alle möglichen bösen Absichten zu, weil er ausgerechnet in dem Moment, wo Ruth in den Fokus einer grossen Öffentlichkeit tritt, mit brisanten Zeugnissen aus der Vergangenheit auftaucht. War meine Lesereaktion eine von Ihnen „programmierte» Absicht
Als Autor war mir bewusst, dass Stav zu Beginn, da man seine Absichten noch nicht kennt, als ambivalente Person in Erscheinung tritt und sich damit ein Spannungsmoment verbindet. Es ist ein klassisches Motiv des Erzählens. „Der unheimliche Gast“ bei E.T.A. Hoffmann oder der Landbesitzer Pozzo in „Warten auf Godot“. Beim Lesen oder Zuschauen weiss man, diese Figuren bringen etwas in Bewegung – auch wenn diese Bewegung bei Beckett als einem Vertreter der Moderne komplett ins Leere läuft. Als Autor fühle ich mich dem Erzählen literarisch mehr verbunden als dem Formalen. Bestimmte Dinge werden immer unser Interesse wecken: Die Tür geht auf, und man fragt sich, wer hereinkommt? Da sieht man hin.

Sind wir eine Gesellschaft der Opportunisten geworden?
Ich denke, es hat zu allen Zeiten beides gegeben: Opportunismus und Überzeugungshandeln. Es ist sogar so, dass aus dem einen das andere hervorgehen kann. Die Umweltbewegung ist dafür auch ein Beispiel: Die Anfänge dieser Bewegung aus den Siebziger- und Achtzigerjahren waren eine von tiefen Überzeugungen getriebene Entwicklung. Mittlerweile – das jedenfalls ist mein Eindruck – sind eine Menge Opportunisten auf den Zug aufgesprungen. Es kostet nicht mehr viel, für Umwelt- und Klimapolitik einzutreten, es ist fast schon wohlfeil. Man hat den Eindruck, alle sind dafür, und trotzdem wird weiter Auto gefahren, ungebremst konsumiert und in den Urlaub geflogen. Das schürt Frustrationen, Ärger und Ängste.
Eines kann man aber sagen: Ruth ist sich dieser Problematik bewusst. Es ist ihr wichtig, ihre Handlungen und Überzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht auch längst einem opportunistischen Prinzip folgen. Dass sie sich immer wieder auch in Frage stellt, verbindet mich als Autor mit ihr. Am Ende gesteht sie sich ein, dass sie zu dem Stehen muss, was ihr widerfahren ist. Sie schiebt die Schuld nicht anderen in die Schuhe. Als Autor muss ich immer auch ein Teil meiner Figuren sein, ich muss sie in mir aufspüren können. Und das ist bei Ruth so.

Ulrich Woelk (1960) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte Physik und Philosophie. Sein erster Roman «Freigang» erschien 1990. Zuletzt veröffentlichte er mit großem Erfolg den Roman «Der Sommer meiner Mutter«, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für die Fertigstellung von «Für ein Leben» erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis.

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bettina Keller

Yves Ravey «Taormina», Liebeskind

Ein Ehepaar fliegt nach Sizilien. Es sollen nicht nur ein paar Tage Ferien werden. Die Tage sollen die Ehe, oder was davon übrig geblieben ist, retten oder wenigstens kitten. Aber schon auf dem Weg zum Hotel werden die Tage zu einer Katastrophe, die das Paar in ihren Grundfesten erschüttert.

Der Roman „Taormina“ zählt etwas mehr als hundert Seiten. Auch wenn Yves Ravey die Dimensionen dieser Katastrophe nicht episch ausrollt, sticht das Geschriebene mitten ins Herz. Nicht nur wegen der Intensität und der maximalen Verknappung, sondern weil es Yves Ravey schafft, auf diesen wenigen Seiten gleich mehrere gesellschaftliche Themen zur Kernschmelze zu bringen.

Luisa und Melvil haben Ferien dringend nötig. Ziel ist die antike Hügelstadt Taormina an der Ostküste Siziliens. Eine Woche in einem feinen Hotel mit Ausflügen im Mietauto nach Catania und Syrakus. Die Zeit vor dem Kurzurlaub war nicht nur beruflich belastend. In der Ehe der beiden schwelt der Konflikt. Man ist dünnhäutig geworden. So wie auf der Insel ein Vulkan noch dosiert ausbricht, so speit jeder in dieser Ehe gerade so viel Gift und Galle, dass es nicht zum grossen Ausbruch kommt. Die Woche auf Sizilien soll eine Atempause sein, eine Möglichkeit, mit der Versöhnung wenigsten zu beginnen, Ruhe zwischen sie zu bringen.

Nachdem sie am Flughafen das Mietauto in Empfang genommen hatten, fahren sie Richtung Taormina. Es ist schon spät, die Nächte im Hotel bezahlt. Man erwartet sie. Aber weil Melvil genau spürt, dass er sich in diesen Tagen an den Wünschen seiner Frau orientieren muss, fährt er von der Autobahn ab, weil Luisa, das Meer nicht nur sehen, sondern spüren will. Aber der Schotterweg Richtung Meer entpuppt sich als Weg ins Nirgendwo, vorbei an Bauschutt, durch schlammige Pfützen. Melvil nippt an einer provisorischen Bar, die an Werktagen wahrscheinlich Bauleute bewirtet, einen Espresso, während Luisa in der anbrechenden Dämmerung einen Weg zum Wasser sucht.

Yves Ravey «Taormina» Liebeskind, 2023, aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller, 112 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-95438-168-5

Und dann, beide schon leicht genervt, wieder im Auto auf dem Weg zurück auf die Strasse nach Taormina, rumpelt es mit einem Mal. Melvil am Steuer für einen kurzen Moment unkonzentriert, Luisa durchgefroren, weil sie Regen und Wind zurück ins Auto trieb. Beide spüren den Ruck, wissen im Moment des Aufpralls, dass sie hätten stehen bleiben sollen. Aber so wie es in ihrer Ehe schon lange kein Innehalten mehr gab, weil man sich nicht aufhalten lassen wollte, weil man dachte, das eigene Leben nie aus der Selbstbestimmung geben zu wollen, fahren sie weiter, das Schlimmste ahnend, sich gegenseitig beschwichtigend.

Am nächsten Morgen, nach einer kühlen Nacht im Mietauto, kommen sie im Hotel an. Mittlerweile haben sie aus der Presse erfahren, dass an der Küste ein Flüchtlingskind zu Tode gefahren wurde. Zwischen den beiden breitet sich eine klebrige Suppe aus gegenseitigen Vorhaltungen und Beschuldigungen aus. Man beschwichtigt und tröstet sich mit fadenscheinigen Argumenten, es müsse doch gar nicht ihr eigenes Unglück gewesen sein. Aber weil Melvil alles daran setzt, in einer Autowerkstatt den Schaden ungeschehen machen zu lassen und der Garagist sehr wohl merkt, dass der Fremde mit seinem Ansinnen finanziell leicht zu schröpfen ist, als die Polizei in ihr Hotelzimmer eindringt, das Geld langsam knapp und die Gereiztheit zwischen den Eheleuten unerträglich wird, zieht sich die Schlinge immer enger zu.

Ein Flüchlingskind wir durch Touristen zu Tode gefahren. Korrupte Polizisten, gierige Handwerker, falsche Freunde. Wann wird aus dem Unglück Katastrophe? Warum schafft man es nicht, im richtigen Moment vom falschen Zug abzuspringen, einer unweigerlich desaströsen Dynamik zu entfliehen? Warum wollen wir uns mit Beschwichtigungen trösten? Warum ist es so schwierig, Fehler einzugestehen?

Luisa und Melvil rasen auf einen Abrund zu. Und selbst in jenen Momenten, in denen sie wissen müssten, dass der Pfeil längst abgefeuert ist, halten sie sich an einer Hoffnung fest, die den Zustand unserer Gesellschaft widerspiegelt. „Taormina“ von Yves Ravey tut weh, muss wehtun.

Yves Ravey, 1953 in Besançon geboren, arbeitete lange Jahre als Lehrer an einer Mittelschule. Er ist Autor von siebzehn Romanen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Theaterstücke kamen in Frankreich an vielen renommierten Bühnen zur Aufführung, u.a. an der Pariser Comédie-Française und am Théâtre national de Marseille. Auf Deutsch erschienen bislang die Romane «Bruderliebe» (2012) und «Ein Freund des Hauses» (2014).

Sabine Müller studierte Ethnologie, Malaiologie und Soziologie an der Universität zu Köln, sowie Indonesisch an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta. Sie ist sowohl als Übersetzerin für Englisch und Indonesisch als auch als Redakteurin in Köln tätig.

Holger Fock, geboren 1958 in Ludwigsburg, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie und übersetzt seit 1983 französische Literatur, zuletzt zusammen mit seiner Frau Sabine Müller «Kompass» von Mathias Énard, was ihm die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 einbrachte. 2011 erhielt er den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Mathieu Zazzo