Yves Ravey «Taormina», Liebeskind

Ein Ehepaar fliegt nach Sizilien. Es sollen nicht nur ein paar Tage Ferien werden. Die Tage sollen die Ehe, oder was davon übrig geblieben ist, retten oder wenigstens kitten. Aber schon auf dem Weg zum Hotel werden die Tage zu einer Katastrophe, die das Paar in ihren Grundfesten erschüttert.

Der Roman „Taormina“ zählt etwas mehr als hundert Seiten. Auch wenn Yves Ravey die Dimensionen dieser Katastrophe nicht episch ausrollt, sticht das Geschriebene mitten ins Herz. Nicht nur wegen der Intensität und der maximalen Verknappung, sondern weil es Yves Ravey schafft, auf diesen wenigen Seiten gleich mehrere gesellschaftliche Themen zur Kernschmelze zu bringen.

Luisa und Melvil haben Ferien dringend nötig. Ziel ist die antike Hügelstadt Taormina an der Ostküste Siziliens. Eine Woche in einem feinen Hotel mit Ausflügen im Mietauto nach Catania und Syrakus. Die Zeit vor dem Kurzurlaub war nicht nur beruflich belastend. In der Ehe der beiden schwelt der Konflikt. Man ist dünnhäutig geworden. So wie auf der Insel ein Vulkan noch dosiert ausbricht, so speit jeder in dieser Ehe gerade so viel Gift und Galle, dass es nicht zum grossen Ausbruch kommt. Die Woche auf Sizilien soll eine Atempause sein, eine Möglichkeit, mit der Versöhnung wenigsten zu beginnen, Ruhe zwischen sie zu bringen.

Nachdem sie am Flughafen das Mietauto in Empfang genommen hatten, fahren sie Richtung Taormina. Es ist schon spät, die Nächte im Hotel bezahlt. Man erwartet sie. Aber weil Melvil genau spürt, dass er sich in diesen Tagen an den Wünschen seiner Frau orientieren muss, fährt er von der Autobahn ab, weil Luisa, das Meer nicht nur sehen, sondern spüren will. Aber der Schotterweg Richtung Meer entpuppt sich als Weg ins Nirgendwo, vorbei an Bauschutt, durch schlammige Pfützen. Melvil nippt an einer provisorischen Bar, die an Werktagen wahrscheinlich Bauleute bewirtet, einen Espresso, während Luisa in der anbrechenden Dämmerung einen Weg zum Wasser sucht.

Yves Ravey «Taormina» Liebeskind, 2023, aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller, 112 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-95438-168-5

Und dann, beide schon leicht genervt, wieder im Auto auf dem Weg zurück auf die Strasse nach Taormina, rumpelt es mit einem Mal. Melvil am Steuer für einen kurzen Moment unkonzentriert, Luisa durchgefroren, weil sie Regen und Wind zurück ins Auto trieb. Beide spüren den Ruck, wissen im Moment des Aufpralls, dass sie hätten stehen bleiben sollen. Aber so wie es in ihrer Ehe schon lange kein Innehalten mehr gab, weil man sich nicht aufhalten lassen wollte, weil man dachte, das eigene Leben nie aus der Selbstbestimmung geben zu wollen, fahren sie weiter, das Schlimmste ahnend, sich gegenseitig beschwichtigend.

Am nächsten Morgen, nach einer kühlen Nacht im Mietauto, kommen sie im Hotel an. Mittlerweile haben sie aus der Presse erfahren, dass an der Küste ein Flüchtlingskind zu Tode gefahren wurde. Zwischen den beiden breitet sich eine klebrige Suppe aus gegenseitigen Vorhaltungen und Beschuldigungen aus. Man beschwichtigt und tröstet sich mit fadenscheinigen Argumenten, es müsse doch gar nicht ihr eigenes Unglück gewesen sein. Aber weil Melvil alles daran setzt, in einer Autowerkstatt den Schaden ungeschehen machen zu lassen und der Garagist sehr wohl merkt, dass der Fremde mit seinem Ansinnen finanziell leicht zu schröpfen ist, als die Polizei in ihr Hotelzimmer eindringt, das Geld langsam knapp und die Gereiztheit zwischen den Eheleuten unerträglich wird, zieht sich die Schlinge immer enger zu.

Ein Flüchlingskind wir durch Touristen zu Tode gefahren. Korrupte Polizisten, gierige Handwerker, falsche Freunde. Wann wird aus dem Unglück Katastrophe? Warum schafft man es nicht, im richtigen Moment vom falschen Zug abzuspringen, einer unweigerlich desaströsen Dynamik zu entfliehen? Warum wollen wir uns mit Beschwichtigungen trösten? Warum ist es so schwierig, Fehler einzugestehen?

Luisa und Melvil rasen auf einen Abrund zu. Und selbst in jenen Momenten, in denen sie wissen müssten, dass der Pfeil längst abgefeuert ist, halten sie sich an einer Hoffnung fest, die den Zustand unserer Gesellschaft widerspiegelt. „Taormina“ von Yves Ravey tut weh, muss wehtun.

Yves Ravey, 1953 in Besançon geboren, arbeitete lange Jahre als Lehrer an einer Mittelschule. Er ist Autor von siebzehn Romanen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Theaterstücke kamen in Frankreich an vielen renommierten Bühnen zur Aufführung, u.a. an der Pariser Comédie-Française und am Théâtre national de Marseille. Auf Deutsch erschienen bislang die Romane «Bruderliebe» (2012) und «Ein Freund des Hauses» (2014).

Sabine Müller studierte Ethnologie, Malaiologie und Soziologie an der Universität zu Köln, sowie Indonesisch an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta. Sie ist sowohl als Übersetzerin für Englisch und Indonesisch als auch als Redakteurin in Köln tätig.

Holger Fock, geboren 1958 in Ludwigsburg, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie und übersetzt seit 1983 französische Literatur, zuletzt zusammen mit seiner Frau Sabine Müller «Kompass» von Mathias Énard, was ihm die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 einbrachte. 2011 erhielt er den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Mathieu Zazzo

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind

Die japanische Schriftstellerin Yōko Ogawa erschafft Welten von schimmernder Zeitlosigkeit. Ihr 2000 in Japan erschienener Roman „Das Museum der Stille“ erzählt in leicht entrückten Bildern von einem Museum der Erinnerungen, von einem vergessenen Ort, einer Frau, die sich im Sterben gegen die Auslöschung stemmt.

Was wir in einem Leben an Dingen mit uns herumtragen, was an Material unsere Wohnungen füllt und als Zierrat das Regal dort, die Ablage hier, ist eigentlich nur immer ein Musuem unseres eigenen Lebens, die Spur, die sich hinter dem Sein durchs Leben zieht. All die Dinge, ob wertlos oder Rarität, erzählen Geschichte und Geschichten. Meistens nur zu Lebzeiten ihrer BesitzerInnen. Das merken wir schmerzhaft dann, wenn wir die Wohnungen Verstorbener zu räumen haben und Dinge mit einem Mal ihre Geschichte verlieren – und nicht zuletzt ihren Wert.

In „Das Museum der Stille“ wird ein junger Mann in einen kleinen Ort weitab berufen, um unter Anleitung einer alten, eigenwilligen und launenhaften Dame ein Museum der besonderen Art einzurichten. Eine Sammlung aus lauter Dingen Verstorbener jenes Ortes. Dinge, zu denen die alte Frau Geschichten zu erzählen weiss, sehr oft banale oder vergängliche Überbleibsel von ganz unterschiedlichen Biographien, die sie über die Jahrzehnte sammelte, wenn auch der Akt der Beschaffung mehr an Diebstahl erinnert. Die Frau spürt sehr wohl, dass ihre Zeit langsam einem Ende zugeht und das, was sie über ein ganzes Leben als Idee mit sich herumtrug, Gestalt annehmen muss, wenn all das Gesammelte seine Geschichten, die gespeicherte Erinnerung nicht verlieren soll.

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind, 2023, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, 352 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-95438-160-9

Der junge Mann soll mit Hilfe der Tochter der alten Frau sämliche Objekte, die wild durcheinander in der grossen Villa der alten Frau lagern, katalogisieren, fotographieren, restaurieren und mit den Erinnerungen der alten Frau zu einem Museum gegen die Vergänglichkeit aufbereiten. Ein Ansinnen, das den jungen Mann zuerst befremdet, zumal er sich an seiner neuen Arbeitsstelle, wo er auch wohnt und zusammen mit dem Gärtnerehepaar und der Tochter stille und wenig abwechslungsreiche Tage erlebt, irgendwie unwohl fühlt, seltsam getrennt von der Welt, aus der er kam. Einzige Verbindung zur Aussenwelt sind die Briefe an seinen Bruder. Einzige Erinnerungen, die er selbst mit sich herumträgt; ein Mikroskop seines Bruders und das Tagebuch der Anne Frank, aus dem ihm seine Mutter vorlas, als sie noch lebte. Materialisierte Erinnerungen.

Doch eines Tages erschüttert ein Bombenanschlag den kleinen Ort in den Bergen und bald darauf eine Reihe seltsamer Verbrechen, in die sich der junge Mann unfreiwillig verstrickt fühlt, da er es ist, der immer wieder im Auftrag der alten Frau, einem Auftrag, der immer mehr zur eigenen Selbstverständlichkeit wird, in die Wohnung von Verstorbenen steigt, um etwas von dem zu „retten“, was die Verstorbenen ausmachte; das Skalpell eines Arztes, eine Schreibmaschinenseite einer Wahrsagerin, das Glasauge eines Organisten. So realistisch die baldige Eröffung des Museums der Stille näherrückt, so absehbarer wird das drohened Ende der alten Frau und das Ende seiner Zeit in jenem Dorf, in dem er all die Monate ein Fremdling geblieben war.

Der Roman erinnert an die seltsam eigenartigen Filme von Wes Anderson, die Szenerie an einen in sich geschlossenen Kosmos von kafkaesken Zügen. So wie sich der junge Mann mit jedem Objekt, dass er durch die Zusammenführung von Materie und Geschichte zu etwas Eigenem macht, so geht es mir als Leser. Da ist nicht nur diese selsame Geschichte, die bis zur letzten Seite geheimnisvoll bleibt, da ist auch ein Personal, das durch Seltsamkeiten Schatten wirft. Schweigende Mönche aus einem Kloster auf der anderen Seite eines Sees. Ein Gärtner, der Messer um Messer fertigt. Eine alte, schrullige Frau in einer riesigen, labyrinthischen Villa. „Das Museum der Stille“ ist ein Roman von mitreissender Spannung, wie ein zenbuddhistischer Garten, der das menschliche Grauen miteinschliesst.

Yōko Ogawa, geboren 1962, gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Akutagawa-Preis und dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman «Das Geheimnis der Eulerschen Formel» erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Mit der englischsprachigen Ausgabe des Romans «Insel der verlorenen Erinnerung» wurde Yōko Ogawa für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Provinz Hyogo.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.

Kimiko Nakayama-Ziegler ist eine literarische Übersetzerin und Universitätsdozentin. Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre übersetzte sie, zusammen mit Ursula Gräfe zahlreiche Texte der zeitgenössischen japanischen Literatur, meist von Yōko Ogawa und Hiromi Kawakami ins Deutsche. 

Yōko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Rezension auf literaturblatt.ch

Yōko Ogawa «Zärtliche Klagen», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © privat

Chloé Delaume „Das synthetische Herz“, Liebeskind

Adélaïde lebt in der Grossstadt. Sie ist unglücklich. Gepeitscht im Beruf und unerfüllt in der Liebe. Und weil sie sich selbst als Teil eines grossen Fressens sieht, ist alles eine Kampfansage, ob gegen das drohende Alter, den Misserfolg im Beruf oder die bohrenden Einsamkeitsgefühle, wenn sie mit sich selbst bleibt. „Das synthetische Herz“ ist ein literarischer Film noir.

Adélaïde ist frisch geschieden, endlich, befreit. Ausgezogen aus der gemeinsamen Wohnung in ein kleines Appartement mit 35 Quadratmetern; ein paar BILLY-Bücherregale, ein 120cm breites Bett, ein Tisch, vier Stühle, nicht einmal ein Sofa. Nach den zehn Jahren mit Élias eine Befreiung. Adélaïde ist bald fünfzig, noch vier Jahre, erfolgreich als Pressefrau in einem mittelgrossen Verlag und müde von einer Beziehung, aus der sie sich nur noch herausreissen konnte. Mit Élias war sie am längsten zusammen.

Aber statt dass ihr die Befreiung wieder alle Optionen öffnet, schleicht sich schnell Zweifel ein. Nicht zuletzt, weil die Befreiung nach drohender Einsamkeit riecht. Adélaïdes Familie ist inexistent, ihre Eltern kamen, als sie acht war, bei einem schrecklichen Ereignis ums Leben. Adélaïde ist noch immer Waise, bleibt Waise, wartet, dass jemand unerwartet an der Türe klingelt. Ihre Freundinnen sind fest eingespannt und die Beziehungen bei der Arbeit sind zweckgebunden, wenn mehr, dann leicht einem Wettbewerb ausgesetzt, der tatsächliche Nähe verunmöglicht. Der sich anbahnenden Panik zu entgehen stürzt sich Adélaïde in ihre Arbeit, der Betreuung „ihrer“ Autoren, die nach Preisen lechzen, gefüttert und gehätschelt werden wollen. Aber irgendwann reicht es nicht mehr, wächst die Sehnsucht nach einem Gegenüber, einem echten Zuhause, einer Liebe, nach Leidenschaft. Aber was tun, wenn die Klingel ruhig bleibt, wenn man an seiner Attraktivität zu zweifeln beginnt, das Alter im Spiegel nicht mehr abzustreiten ist und man nicht mehr ins Beuteschema all jener zu passen scheint, die sich in langen Nächten auf die Jagd machen.

„Adélaïde wird richtig wütend, würde so gerne auf eine Partnerschaft verzichten können. Sie wäre gern autonom, sich selbst genug. Statt dessen quält sie die Sehnsucht.“

Bis sie eines Abends mit ihren Freundinnen zusammen ist und man aus Jux die Zukunft zu beschwören versucht, nur vordergründig aus Spass, ganz tief aus purer Verzweiflung. Und tatsächlich, nur drei Tage später lernt Adélaïde auf einer Party Martin kennen, Dokumentarfilmer, einer ohne Turnschuhe. Einer, mit dem man sich unterhalten kann, der geistreich ist, Blumen bringt. Mit einem Mal spürt Adélaïde jenen Frühling im Herzen, Euphorie. Plötzlich ist nicht mehr nur der Monat Wonne. Wenn da nur die Adélaïdes Katze nicht wäre. Wenn nur Martin Katzen nicht hassen würde. Wenn nur das „Heiratsjucken“ nicht wäre. Wenn nur seine Gier beim Essen und Trinken nicht wäre und die Ladehemmung.

Chloé Delaume «Das synthetische Herz», Liebeskind, aus dem Französischen von
Claudia Steinitz, 2022, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-95438-143-2

Adélaïde befreit sich aus der einen Enge, um sich in eine neue zu stürzen. Obwohl sie Vladimir begleitet, ein Omen, ein Geist, ein Traumbild. Vladimir ist ihre Sehnsucht. Er taucht immer dann auf, wenn sich das herbeigesehnte Idealbild in der Realität als Zerrbild entpuppt. Adélaïde, bald fünfzig, sehnt sich nach einem Zustand, der unerreichbar bleibt. Sehnt sich nach einem Ideal, das durch die verlorenen Familie dauernd nach Erfüllung schreit. Kämpft sich durch ein Leben, dass sich bei der Arbeit an Zahlen orientiert, an Aufmerksamkeit, Publicity – im Privaten am Schmerz, nie das zu finden, wonach sie sich im Tiefsten sehnt.

Chloé Delaume schildert Ausweglosigkeit gnadenlos. Da ist zum einen die Situation einer Einsamen, einer Frau, die sich auf Schlachtfeldern behaupten muss, sei es im Beruf oder im Privaten. Alles ist atemloser Kampf. Eine Frau, nicht mehr jung, aber doch noch lange nicht alt im einsamen Labyrinth eines Lebens, in der man die Richtung schon lange nicht mehr aussuchen kann. Zum andern sind es Sätze, die mir bei der Lektüre in die Kniekehlen schlagen, messerscharfe Analysen in einem Satz. Chloé Delaume fühlt einer entleerten Gesellschaft auf den immer schwächer werdenden Puls. „Das synthetische Herz“ schmerzt zuweilen bei der Lektüre, ist realistischer Gegenentwurf zu all den schmalzigen Geschichten auf Papier oder Zelluloid, die nur betäuben.

Chloé Delaume, 1973 in Versailles geboren, verliert als Kind bei einem Familiendrama ihre Eltern und wächst anschließend bei Verwandten auf. Sie studiert Literaturwissenschaften, verlässt die Universität aber, um sich dem Schreiben zu widmen. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem Roman «Das synthetische Herz», der in Frankreich ein großer Publikumserfolg war, gewann sie 2020 den renommierten Prix Medicis. Chloé Delaume lebt in Paris.

Claudia Steinitz, 1961 in Berlin geboren. Sie übersetzte u. a. Nancy Huston, Claude Lanzmann, Yannick Haenel, Virginie Despentes und Emma Becker aus dem Französischen. Ausgezeichnet mit dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreis der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Jane-Scatcherd-Preis.

Beitragsbild © Hermance Triay

Peter Terrin «Blanko», Liebeskind

Viktor verliert seine Frau bei einem brutalen Überfall. Sie lag zusammengeschlagen auf der Strasse, so wie sein ganzes Leben zusammengeschlagen wurde. Was ihn einigermassen aufrecht hält, ist die Sorge um seinen Sohn Igor. Eine Sorge, die zur Obsession wird. Peter Terrin leuchtet in die abgerückte Welt eines immer zerstörerischer werdenden Irrsinns.

„Blanko“ ist eine Höllenfahrt in die quälenden Ängste eines Vaters, dessen einzige Aufgabe es wird, seinen Sohn vor der Schlechtigkeit der Welt zu retten. Eine nicht zu bremsende Höllenfahrt. Man liest mit Erschütterung, weil der Untergang nicht aufzuhalten ist, weil man den Mann letztlich versteht, weil die Interpretationen des zurückbleibenden Mannes ihm Recht zu geben scheinen, weil wir von all den Müttern und Vätern wissen, die ihre Kinder mit allen Mitteln vor dem allgegenwärtig Bösen dieser verkommenen Welt schützen wollen.

Peter Terrin «Blanko», übersetzt von Rainer Kersten, Liebeskind, 2021, 205 Seiten, CHF 28.90, ISBN 78-3-95438-125-8

„Blanko“ erzählt aber auch die Geschichte eines Mannes, dessen Wahrnehmung durch eine persönliche Katastrophe aus der Angel gehoben wird und sich ganz neu ausrichtet, der die Welt plötzlich in ganz anderer Perspektive sieht, der nicht mehr an all die Beteuerungen der offiziellen Wahrnehmung glauben will. Wir leben in einer Welt des Rückzugs. Durch die Pandemie noch verstärkt zementiert sich der Mensch in seiner Weltanschauung, die er nur noch mit dem füttert, was er seiner Meinung entsprechend zuträglich findet. Viktor hat mit dem tödlichen Verbrechen an seiner Frau viel mehr verloren als die Ehefrau, seine Liebe und die Mutter seines einzigen Sohnes. Die Tat katapultierte ihn aus seiner Welt, hinein in ein Reduit, das er mit allen möglichen und unmöglichen Massnahmen zu sichern versucht.

Peter Terrin konzentriert sich in seinem beeindruckenden Roman nicht auf die Gründe, wie es zum Verbrechen an seiner Frau kam, noch viel weniger um die Täterschaft. Peter Terrins erzählender Blick fokussiert sich einzig und allein auf das, was mit Viktor passiert, welche Schlüsse der Mann aus der Tat und den Reaktionen der Welt darauf für sein eigenes Leben, seine Zukunft und die seines Jungen zieht.

Viktor, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Gesundheitsministerium, kann wegen eines eingestützten Dachs an seinem Arbeitsplatz im Labor zuhause arbeiten. Was er für seine Untersuchungen braucht, steht zuhause. Und weil er seine Tage selber einteilen kann, begleitet er seinen Sohn zur Schule, holt ihn auch wieder ab und bleibt im Auto sitzen, während Igor in der Schule sitzt. Viktor beobachtet und versteht die Welt nicht mehr, versteht nicht, dass man sich ungehindert Zutritt ins Schulhaus verschaffen kann, dass die ausserschulischen Aktivitäten des Klassenlehrers seines Jungen nicht eingehender unter die Lupe genommen werden, dass man seinen Sohn von der Schule verweist, weil er sich doch nur gewehrt hatte, mit dem Springmesser, das ihm sein Vater zum Geburtstag schenkte – zur Selbstverteidigung.

Igor muss zuhause bleiben. Viktor lässt Gitter vor die Fenster montieren, Frischluftfilter, Panzertüren. Er unterrichtet seinen Sohn bei Tag und wird nachts von üblen Träumen heimgesucht, die ihm wie Spiegelbilder der Welt draussen erscheinen. Einzig seine Schwester bringt ihm ab und an etwas Lebensmittel und kann immer weniger verstehen, was sie zu sehen bekommt. Peter Terrin schlüpft in die Wahrnehmung dieses einsamen Mannes, sieht die Welt durch seine Augen, eine Welt, die mehr und mehr schrumpft und immer dunkler wird. Immer mehr zu einem selbst inszenierten Gefängnis. Aber nicht nur für Viktor, sondern auch für seinen Sohn Igor.

Viktor liebt seinen Sohn. Diese Liebe ist das einzige, das ihm geblieben ist. Eine Liebe, die vernichtend wird. Wer Mut hat, der lese – unbedingt!

Peter Terrin, 1968 im belgischen Tielt geboren, gehört zu den wichtigsten Stimmen der flämischen Literatur. Er veröffentlichte Erzählungen, Theaterstücke und bislang sieben Romane, darunter «Der Wachmann», für den er 2010 den Literaturpreis der Europäischen Union erhielt, und «Post Mortem», der 2012 mit dem AKO-Literaturpreis ausgezeichnet wurde. Seine Werke wurden in über fünfzehn Sprachen übersetzt.

Rainer Kersten, geboren 1964, übersetzt aus dem Niederländischen, u.a. Werke von Tom Lanoye, Dimitri Verhulst und Arnon Grünberg. 2016 wurde er mit dem Else-Otten-Übersetzerpreis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Jef Boes