Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», dtv

Vincent fährt Taxi in Berlin. Eines Tages setzt sich eine Frau auf die Rückbank, von der er im Rückspiegel immer mehr der Überzeugung ist, sie zu kennen. Die Fahrt dauert, sie kommen ins Gespräch und plötzlich wird klar, dass es Jule ist, mit der er vor fünfundzwanzig Jahren eine Nacht verbracht hatte, jene eine Nacht vor dem Tag, der in seinem Leben alles veränderte.

Als die US- Regierung während des ersten Golfkriegs Kuwait überrannte und den Feldzug gegen Saddam Hussein führte, tobten in Berlin unter den Studenten andere Kriege. Seit den Siebzigern der Endloskrieg gegen das Establishment, die Biederkeit, Atomkraft… Man diskutierte, demonstrierte, trank aus den Weinkellern der Eltern und warf auch gerne mal eine Tablette ein. Eddy, Roger, Vincent und Jule, vier aus der Clique damals, die es nach dem Studium nicht nur geographisch in alle Wieder verschlagen hatte.

Ein Vierteljahrhundert später taucht eines der Gesichter wieder auf aus einer Vergangenheit, die für Vincent doppelt weit zurücklag, weil dazwischen ein Unfall, Koma und Rehabilitation liegen, eine Zäsur sein Leben abreissen liess. Und plötzlich lüftet sich der Schleier der Erinnerung mit diesem Gesicht und dieser Stimme auf der Rückbank Vincents Taxi. Vincent gibt sich zu erkennen, man trifft sich Stunden später wieder und mit einem Mal liegt ein Stück Geschichte vor ihm, das mit der Zeit ins Vergessen abgerutscht war.

Eine Vergangenheit, die wenig zu tun hat mit den Problemen seiner Gegenwart. Mit der Tochter Saskia, die studiert und ihn mit ihren Geldproblemen zu Extraschichten zwingt, einem gemeinsamen Sorgerecht, das längst zur Vincents Alleinaufgabe wurde, in einer Gegenwart, in der er sich eingerichtet hatte, auch mit seiner neuen Partnerin, mit der er nicht mehr Wohnung und Bett teilt, aber zur Erholung ganz gerne Zeit verbringt. Ein Leben gut eingebettet, ohne all zu viel Ambition, auf der sicheren Seite.

Mit Jule aus der Vergangenheit tauchen Bilder wieder auf, werden Geschichten präsent, Lebensentwürfe. Das exzessive Leben seines Freundes Eddy endete wie das seines gesanglichen Idols Freddy Mercury, dem aidskranken Frontmann der Kultband Queen. Roger setzte Fett an, krempelte den Familienbetrieb seines Vaters um und verlor sich. Jule, die nicht eigentlich zur Clique gehörte und damals, in jener Nacht und beim Umfall danach mehr zufällig nicht in ihrer Stadt Hamburg, sondern in Berlin war, studierte in den USA, heiratete und nahm  nun an Wirtschaftssymposien mit Kleid und hochhackigen Schuhen teil und Vincent hatte sich als selbstständiger Taxifahrer eingerichtet und seine Träume als Schriftsteller eigentlich begraben.

Jule und Vincent reffen sich wieder, zwei Menschen, die vor mehr als zwei Jahrzehnten eine Nacht vielleicht verbunden, ein Autounfall aber wieder aus der Spur geschleudert hatte. Zwei Lebensentwürfe, die unterschiedlicher nicht hätten sein können, werden durch das Wiedersehen pulverisiert, zwingen zum Nachdenken, bringen Momente zurück ans Licht, die gelöscht schienen, obwohl sie noch immer in die Gegenwart wirken.

Damals las sie «Doktor Schiwago», studierte eigentlich in Hamburg und war nur in Berlin, weil es sich bei reichen Verwandten ein paar Tage ganz gut leben liess, nicht wegen der revolutionären Diskussionen und den Triaden auf das elitäre Gehabe der Politik und dem Spiessbürgertum, sondern weil da Wein, Drogen und Gesellschaft Freiräume versprachen. Und er, Vincent, stand da, wie vom Donner gerührt, spürte die Droge Faszination, die Wallungen des Verliebtseins. Was damals als leidenschaftlicher Entwurf begann, wurde schon am nächsten Tag durch einen Unfall zu Nichte gemacht.

«Pretending I’m doing well … I’m lonely but no one can tell.»

Ulrich Woelk erzählt von der Macht der Erinnerung, davon wie dünn die Schicht aus Sicherheit und zusammengesetzten Wahrheiten ist. Ein Buch, das von einer Zeit erzählt, als Jugend und Revolte untrennbar voneinander waren und sich ein Vater fragt, warum in der Jugend seiner Tochter jetzt davon so wenig geblieben ist. Ein Buch über das Erwachen und die Ernüchterung. Ulrich Woelk umschifft gekonnt alle Gefahren der Sentimentalität. Er besitzt den klaren Blick, erzählt unverblümt, dicht und mit bewundernswerter Leichtigkeit. Ein wunderbares Buch von einem Autor, von dem man unweigerlich noch viel mehr lesen will. Ich tus!

© Bettina Keller

Ulrich Woelk, 1960 geboren, in Köln aufgewachsen, studierte in Tübingen Physik und promovierte 1991 an der TU Berlin, wo er bis 1994 als Astrophysiker tätig war. Literarische Arbeiten seit den 1980er Jahren; »Aspekte«-Literaturpreis für das Debüt «Freigang» (1990). Seither erschienen Romane, Erzählungen, Theaterstücke. Der Roman «Die letzte Vorstellung» wurde mit Heino Ferch und Nadja Uhl für das ZDF verfilmt (›Mord am Meer‹). Ulrich Woelk lebt in Berlin.

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Beitragsfoto © Sandra Kottonau