Vom Kleinod bis zum Epos – Das Sprachsalz Literaturfestival in Hall im Tirol

Seit mehr als zwei Jahrzehnten organisiert ein Team „unbändig Lesehungriger“ im beschaulichen Hall ein Literaturfestival mit internationaler Ausstrahlung. Für Literaturbegeisterte deshalb ein Abenteuer, weil Hall zu einem Wortmekka wird mit Namen, denen man sonst nur schwer begegnen kann.

Man trifft sich auf der Hotelterrasse oder in der Lobby, mit Sicherheit in einem der Säle während einer Lesung oder auch mal im Lift, oder bei einem Spaziergang durch das mittelalterliche Städtchen: Jan Carson aus Nordirland mit ihrem Roman „Firestarter“ über ein fiebrig, explosives Belfast, in dem die Mauern zwischen „christlicher“ Religionen nicht kleiner geworden sind und Fussball zum Stellvertreterkrieg wird, Dinçer Güçyeter mit seinen Gedichten und dem Buch „Unser Deutschlandmärchen“, mit dem er die Jury des Preises der Leipziger Buchmesse überzeugte, die Österreicherin Waltraud Haas mit ihren lyrischen Miniaturen, die mein Innerstes mitschwingen liessen, Elisabeth R. Hager mit witzig Tiefgründigem aus ihrer Tiroler Herkunft, Wlada Kolosowa, die mit ihrem Debüt „Fliegende Hunde“ das Hungern für den Livestyle demjenigen in Kriegszeiten schmerzvoll gegenüberstellt, Judith Kuckart, die seit mehr als dreissig und mehr als einem Dutzend Bücher ihre LeserInnen stets zu überraschen weiss, Kerstin Preiwuß, die als „Dichterin bis auf die Knochen“ dem Wahrhaften nachspürt oder dem grossen amerikanischen Romancier Stewart O’Nan, der es wie kaum ein zweier versteht, die Enge us-amerikanischer Unfreiheiten zu beschreiben – und anderen mehr.

Waltraud Haas, Sprachsalz © Yves Noir

Zweien aus der Sprachsalz Gästeliste möchte ich ganz speziell nachspüren.
Es sind nicht immer die grossen Namen, die mich in Schwingung versetzen, denen ich mit Ungeduld entgegenfiebere, weil sie mich in ihren Büchern schon seit Jahrzehnten begleiten. Manchmal leitet mich die pure Neugier in eine der Veranstaltungen. Und wenn ich wie bei Waltraud Haas das Glück habe, in einem Zustand der Verzückung aufzugehen, dann hat sich die lange Reise ins Tirol bereits mehr als gelohnt.

im siebzigsten jahr
führe ich mich
innen noch jung
hinters licht

Waltraud Haas «pfeilschnell wie Kolibris», Klever, 2023, 170 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-903110-96-0

Die kleine Frau mit dem knallig roten Hut hat es faustdick hinter den Ohren. Mit messerscharfem Sprachwitz und unbändiger Lust und Freude an ganz locker scheinender Sprachkunst, die mit treffsicherem Humor den aufrechten Gang zum Stolpern bringt, setzt mir die Dichterin Waltraud Haas in ihrem neusten Band „pfeilschnell wie kolibris“ einen Spiegel vor, der sie selbst stets miteinschliesst.

liebst du mich?
ich werde dich immer lieben
das ist gut
sagt sie und geht

Die meist sehr knappen, verknappten Gedichte Waltraud Haas‘ sind, obwohl sie sich der grossen Themen wie Liebe, Schmerz und Tod annimmt, wohl melancholisch aber nie sentimental oder wehleidig. Der Biss in ihren Texten schnappt, ein Luftzug reisst, der Schlag in die Magengrube sitzt. „pfeilschnell wie kolibris“ ist das perfekte Buch sowohl für den Nachttisch (Da sammelt sich Stoff für Träume), das Wartezimmer beim Zahnarzt (nicht schmerzstillend, aber doch narkotisierend) oder für Fahrten in übervollen Zügen (Ihre Gedichte besiegen das Geplapper).

Stewart O’Nan am Sprachsalz-Galaabend © Denis Moergenthaler

Stewart O‘Nans Bücher begleiten mich schon fast drei Jahrzehnte. Einer der Namen, die mich zwingen, stets auf ihrer Spur zu bleiben, die mit ihren Romanen Suchtpotenzial erzeugen und jenen Mythos „American Dream“ mit spitzer Feder demontieren. Stewart O‘Nan beschreibt nicht die auf Hochglanz polierte Gegenwart einer selbstzufriedenen Hight Society, sondern jene Menschen, die als untere Mittelschicht oder Unterschicht von den Privilegien einer Upperclass nicht einmal mehr träumen. Sie sind liegen geblieben, abgehängt und aufgegeben. Sie wohnen in rostigen Pickups, undichten Trailern oder nach Speisefett riechenden Appartements, ernähren sich von Pizzas oder Tiefkühlkost und verlieren schon als Teenager den Traum vom Glück.

Steward O’Nan «Ocean State», Rowohlt, 2022, aus dem Amerikanischen von Thomas Gunkel, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-498-00268-8

In seinem neusten Roman „Ocean State“ erzählt O‘Nan von einer Mutter und ihren zwei Töchtern, von Carol, die sich schon längst vom Vater ihrer beiden Töchter trennte und sich von Mann zu Mann hangelt, ihre Töchter sich selbst überlässt und ihr eigenes Leben immer mehr im Schlick ihres Unvermögens versinken sieht. Von der neunjährigen Marie, die in Selbstzweifeln und Einsamkeit von der Mutter von Wohnort zu Wohnort geschleppt wird. Und von der älteren Tochter Angel, einem tief gefallenen Engel, die mit einer schrecklichen Tat alles mit in den Abgrund zu reissen droht.

Stewart O‘Nans Romane schmerzen, weil sie schonungslos wiedergeben, was in der us-amerikanischen Gosse liegen bleibt. Und wenn einem bewusst wird, wie leicht das, was im Land der unbegrenzten Möglichkeiten wie Schimmel wuchert, bis übers grosse Wasser greift, kann die Lektüre seiner Romane durchaus Bauchschmerzen erzeugen. Aber Literatur soll genau das; nichts verbergen!

Sprachsalz ins Leben!

Waltraud Haas, geboren 1951 in Hainburg/ Donau. Lebt seit 1970 in Wien. Studium der Grafik bzw. Germanistik und Philosophie. Seit 1984 freie Schriftstellerin. Publikationen in Zeitschriften („kolik“ u.a.), Anthologien und im Rundfunk.

Webseite der Autorin 

Stewart O′Nan wurde 1961 in Pittsburgh/Pennsylvania geboren und wuchs in Boston auf. Bevor er Schriftsteller wurde, arbeitete er als Flugzeugingenieur und studierte an der Cornell University Literaturwissenschaft. Für seinen Erstlingsroman «Engel im Schnee» erhielt er 1993 den William-Faulkner-Preis. Stewart O′Nan lebt in Pittsburgh. 

Webseite des Autors

Beitragsbild © Denis Moergenthaler, Sprachsalz

Teebeutel, Weißkohl und Champignons, Mücken, Servietten und Seife, Krähen, Mais und Tomaten, Melde und Giersch – Jan Wagner im Literaturhaus Thurgau

Jan Wagner ist Institution. Jan Wagner ist eine Säule im HeldenInnensaal der deutschsprachigen Lyrik. 1971 in Hamburg geboren scheint sich sein Leben schon im Studium ganz auf die Sprache, auf die Lyrik ausgerichtet zu haben, als wäre es ein Plan des Schicksals gewesen, aus dem jungen Studenten damals dereinst einen grossen Dichter zu machen.

Seit mehr als zwei Jahrzehnten als freier Schriftsteller, reiht er Buch an Buch, ob Lyrik oder Prosa, Übersetzungen oder Essay, ob als Dichter oder Herausgeber – niemand, dem Lyrik wichtig ist, wird an Jan Wagner in irgend einer Form vorbeikommen.
Spätestens mit seinem Gedichtband „Regentonnenvariationen“, mit dem er 2015 den Preis der Leipziger Buchmesse erhielt und sich viele die Augen rieben, weil da ein Lyriker mit einem Gedichtband den Preis entgegennahm, wo man eigentlich eher Namen von RomanautorInnen erwartet hätte, ist Jan Wagner in den Olymp der Dichter aufgestiegen. Und weil Jan Wagner zwei Jahre danach auch noch den Georg-Büchner-Preis entgegennehmen durfte, den wahrscheinlich bedeutendsten Preis im deutschsprachigen Raum, scheint es für das was kommen kann, keine Grenzen mehr zu geben.

Dass Jan Wagner die Reise nach Gottlieben unter die Räder nahm, freute nicht nur Heike Brandstädter, meine Mitmoderatorin, Literaturwissenschaftlerin aus Konstanz, und mich ausserordentlich. Es ehrt auch das kleine Literaturhaus am Seerhein. Ich bin sicher, dass der Geist Emanuel von Bodmans, der fast 40 Jahre in diesen Mauern wirkte und vor bald 80 Jahren in diesen Mauern starb, irgendwo im Gebälk dieses ehrwürdigen Hauses mit andächtiger Freude dem Mann zuhörte, der uns einen ganzen Strauss seiner Kunst mitgebrachte. Einem Mann, der es in der Elbphilharmonie in Hamburg schaffte, einen ganzen Saal in Bann zu schlagen und uns hier im beschaulich kleinen Gottlieben mit seinen Gedichten beglückte.

Dass das Literaturhaus die Lesung zu dritt bestritt, nämlich zusammen mit Dr. Heike Brandstädter, war nicht zum ersten Mal ein Glücksfall für das Haus. Sie schafft es, die Welt, das Schaffen des Dichters mit klaren Strichen zu skizzieren und in ihren Fragen, die im Gegensatz zu den meinigen, die stets aus dem Bauch gestellt sind, das notwendige Gewicht zu geben.

Als Jan Wagner zu dichten begann, waren seine Gedichte etwas Neues – heute sind sie unverwechselbar. Er lehrte uns die Wahrnehmung der kleinen Dinge – Dinge, die niemand meint, in den Blick nehmen zu müssen: Teebeutel, Weißkohl und Champignons, Mücken, Servietten und Seife, Krähen, Mais und Tomaten, Melde und Giersch. Auch wenn das eine oder das andere in Gedichten anderer Autor*innen vorkommt, nimmt Jan Wagner sich seine Gegenstände doch so konsequent und systematisch vor, dass man von einem Kaleidoskop sprechen könnte: es geht darum, die schöne Form zu sehen, aber auch das Wesenhafte, das Verwandte, das Assoziierte, auch das Widerständige aus dieser Form herauszuschälen.

Hunderte von Gedichten sind auf diese Weise entstanden.
Ob Natur, Personen oder Dinge: Jan Wagners Gedichte sind nicht nur berühmt dafür, etwas minutiös zu destillieren, sondern durch ihre Beschreibung zugleich etwas anderes zur Darstellung zu bringen. Indem er sich vollständig auf seinen Gegenstand einläßt, kann im kleinsten Fall eine faszinierende, poetische Geschichte entstehen, oft aber zugleich eine übergeordnete Idee oder ein zugrunde liegendes Prinzip erscheinen.
In dem Gedicht „Giersch“, also der Beschreibung eines wuchernden Krauts, könnte man zum Beispiel etwas Aufständisches beschrieben finden oder auch das Subversive oder auch das Prinzip jeder Ideologie, insofern sie ausufert und Alleinherrschaft beansprucht. Diese Richtung: vom kleinen Objekt auf eine übergeordnete Idee oder Struktur – genau so herum und nicht anders – ist geradezu ein Motiv seiner Dichtung. In den Worten Jan Wagners: „Wer ansetzt, ein Gedicht über das Thema ‚Freiheit‘ zu schreiben, mag scheitern. Wer sich ganz auf einen fallen gelassenen weißen Handschuh im Rinnstein konzentriert, wird vielleicht ein großartiges Gedicht über die Freiheit zustande bringen.“

Es ist also das Kleine, das Unscheinbare, auch das Abseitige, Fallen-Gelassene, Periphere, das Jan Wagner aufgreift, verfremdet und uns dadurch Großes über Welt und Gesellschaft, über Politisches und Kulturelles, nicht zuletzt über Wahrheit und Schönheit zu erzählen vermag. Aber so schön sie oft sind, seine Klangwunder und Sprachspiele – sie sind nicht stromlinienförmig, idyllisch oder gefällig. Unter der glatten Oberfäche blitzt immer auch etwas Verstörendes, Bissiges, Finsteres auf. Und: sein virtuoses Spiel mit der Sprache hat immer auch einen Gegenpart, nämlich die strenge Form. Gottfried Benn hat einmal gesagt: „..nicht das Inhaltliche, sondern die Form ist das Eigentliche an einem Gedicht.“ Die strengen Formen der Gedichte Jan Wagners stammen aus Antike und Klassik, aus Orient und Okzident: Haiku und Ghasel, Hymne, Ode und Elegie, Anagramm und Sonett. Oft werden diese Formen bereits mit dem Titel verraten: elegie für einen lateinlehrer, requiem für einen friseur, kleiner krähenhymnus, krähenghasele, angel-ode, selbstporträt mit bienenschwarm.

Neben die strengen Formen der Dichtkunst treten mit dem Requiem, dem Porträt auch Formen der Musik und der bildenden Kunst. Ein Gedicht ist dann auch ein Musikstück oder ein Gemälde. Ein wenig furchteinflößend sind sie immer, solche Formen, scheinen sie sich doch an Gebildete zu richten. Aber: Jan Wagner setzt sie mit einem Augenzwinkern, er setzt sie spielerisch ein – und vielleicht wählt er sie sogar, um sie im Spiel zu unterlaufen.

Das Motto für das aktuelle Programm des Literaturhauses Thurgau stammt von Jan Wagner: „Das Wunderbare am Schreiben ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen.“ Dieses Bonmot kann man in zweifacher Weise abändern, nämlich im Sinne des Lesens wie auch des Vorlesens. Es lautet dann: Das Wunderbare am Lesen wie auch am Vorlesen ist, dass man reisen kann, ohne das Haus verlassen zu müssen. Dr. Heike Brandstädter

«Noch sitze ich auf dem prachtvollen Holzbalkon des Gästezimmers mitten zwischen den Baumkronen, auf dem ich gestern Nacht, rauchte ich noch, stundenlang hätte rauchen mögen, und trinke einen Kaffee, ergänzt durch ein ofenwarmes Gipfeli aus dem hübschen Laden nebenan. Dauerhaft Wärme spendete allerdings Eure Gastfreundschaft, der herzliche Empfang, der von Euch gestaltete und rundum beglückende Abend; ein bißchen von diesem Wärme- und Wohlgefühl hoffe ich gen Norden, nach Berlin retten zu können.» Jan Wagner am Morgen nach der Veranstaltung im Literaturhaus Thurgau

literaturblatt.ch begleitet den Schweizer Buchpreis 2023, #SchweizerBuchpreis 23/01

Jedes Jahr im November wird im Theater Basel der Schweizer Buchpreis für das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk von Schweizer oder seit mindestens zwei Jahren in der Schweiz lebenden Autorinnen und Autoren überreicht. Am 13. September gibt der Schweizer Buchhandels- und Verlags-Verband die fünf Nominierten bekannt.

Letztes Jahr war es Kim de l’Horizon mit seinem Debüt «Blutbuch», einem Roman, der die Jury durch seine Sprache, seine Erzählweise aber auch durch seine Offen- und Direktheit überzeugte: «Der Text lässt Erzählkonventionen hinter sich und erzählt auf verblüffend eigenwillige Art eine Familiengeschichte vor dem Hintergrund der aktuellen Gender- und Klassendebatten.» Eine Entscheidung, die nicht zuletzt deshalb zu Diskussionen führte, weil bei den Nominierten mit Thomas Hürlimann und seinem Roman «Der rote Diamant» ein Grosser der deutschsprachigen Literatur stand, der es, gemessen an seinem Werk, sehr wohl verdient hätte, für diesen Roman mit einem grossen, publikumswirksamen Preis ausgezeichnet zu werden.

Nachdem Kim de l’Horizons Roman «Blutbuch» im vergangenen November mit dem Schweizer Buchpreis 2022 ausgezeichnet wurde, schlugen die Wellen regelrecht über dem jungen Autor zusammen. Sinnbildlich dafür die unendlich lange Schlange bei den letzten Solothurner Literaturtagen, als der grösste Saal des Festivals übervoll wurde, weil sowohl Buch wie Autor in aller Munde waren. Der Roman «Blutbuch» verkaufte sich schon vor der Verleihung des Schweizer Buchpreises ausgezeichnet. Kim de l’Horizon gewann mit seinem Buch im gleichen Jahr auch schon den Deutschen Buchpreis, ein Doppelerfolg, der erst Melinda Nadj Abonji 2010 mit dem Roman «Tauben fliegen auf» verbuchen konnte. Mit den beiden Preisen schlugen die Verkaufszahlen, zumindest für Schweizer Verhältnisse, durch die Decke.

Literaturpreise gibt es viele. Es gibt zwei Kategorien; jene, die ein Buch alleine auszeichnen und jene, die das Werk einer Schriftstellerin oder eines Schriftstellers auszeichnen. Preise sind wichtig, denn sie schenken nicht nur Aufmerksamkeit, sondern ermöglichen mit der Preissumme eine gewisse Zeit des Schreibens ohne wirtschaftliche Sorgen. Aber Preise sind letztlich immer der Entscheidung einer Jury unterworfen, die Vorlieben und Präferenzen unmöglich blockieren kann. Und sehe ich die Listen der Preise gewisser Autorinnen und Autoren durch, kann ich mich nicht gegen den Eindruck wehren, dass gewisse Preise weitere Preise regelrecht provozieren.

Nun denn. Der Schweizer Buchpreis prämiert das beste «Schweizer» Buch. Eine heere Absicht, der niemals und in keiner Weise entsprochen werden kann. Das eine Buch, das man im November auf den Sockel hieven wird, ist jenes Buch, das den Konsens in der Jury traf, das den Bedürfnissen des Schweizer Buchhandels in Sachen Qualität, Lesbarkeit und Verkäuflichkeit am meisten dient. 
Im vergangenen Jahr war mit «Pommfritz aus der Hölle» von Lioba Happel ein äusserst spannendes Buch unter den fünf Nominierten. Ein Buch, dass durch seine Radikalität, seine Eigenwilligkeit und Sprachkunst überzeugte. Aber das Buch war und ist keines, das man der alt gewordenen Mutter unter den Christbaum legt. Nicht mal meine Söhne hätten es gelesen. Nicht weil sie Anspruchsvolles grundsätzlich verschmähen. Aber die meisten lesen doch, weil sie unterhalten werden wollen.

Am 13. September werden wieder fünf nominierte Bücher präsentiert. Ganz viele Bücher, die es wert gewesen wären, werden fehlen, wie immer, jedes Jahr. Ganz viele Verlage und noch mehr Autorinnen und Autoren werden sich die Augen reiben. Die einen, weil sie nie und nimmer damit gerechnet hätten bei den fünf Nominierten zu sein, die anderen, weil ihre Namen schlicht fehlen auf der kurzen Liste. Und ein paar wenige werden gar beleidigt sein, weil man sie (wieder) nicht berücksichtigte.
Auch bei den Lesenden wird es viele geben, die die Nase rümpfen oder verkünden, die Liste ginge sang- und klanglos an ihnen vorbei.

Ob dem so ist oder nicht, es werden fünf spannende Bücher sein mit fünf spannenden Namen und Geschichten dahinter. Ich freue mich darauf, auch wenn es eigentlich unmöglich ist, fünf Bücher in einem Wettbewerb ohne transparente Kriterien gegeneinander antreten zu lassen.

Bleiben Sie auf diesem Kanal!

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser

Monika Helfer liest
in der Bodan Buchhandlung Kreuzlingen.

Freundschaften kommen und gehen. Aber die eine oder andere bleibt, manchmal ein ganzes Leben, wenn auch mit Pausen, jahrzehntelangen Pausen. Monika ist Schriftstellerin geworden, erfolgreich, verheiratet mit Michael, Mutter von vier Kindern. Gloria ist wie sie alt geworden. Und eines Tages schreibt eine Nichte Glorias einen Brief und bittet Monika „noch einmal mit ihr in Verbindung zu treten, bevor sie sterbe.“

Sie hatten sich schon als Kinder in der Schule gefunden. Gloria war für die schüchterne Monika ein Leuchtfeuer, eine „die meine Einbildungskraft entzündete“. Während Monika aus einfachen Verhältnissen kommt, wächst Gloria in einem grossen Haus allein mit ihrer Mutter auf. Einer Mutter, die nicht zu arbeiten braucht, in einem Haus, in dem die beiden Bewohnerinnen nur drei Zimmer bewohnen, in einem Garten, der verwildert und wie alles an Haus und Bewohnerinnen in Geheimnissen getaucht ist.

Monika Helfer «Die Jungfrau», Hanser, 2023, 152 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-446-27789-2

Zwischen den beiden Mädchen wächst eine Freundschaft, pendelnd von maximaler Nähe bis Distanz. Gloria ist für Monika nicht nur in Kindertagen schwer einzuschätzen. Ob als Kind oder Frau; Gloria lebt im Gegensatz zu Monika in einer Welt, die sich ständig den Realitäten zu entziehen versucht. Gloria, die permanent die Gravitation aushebeln will, der mit ihrem Aussehen und ihrer Ausstrahlung alles zu Füssen liegen scheint. Sie will Schauspielerin werden und schafft es auch tatsächlich, die Aufnahmeprüfung am Max Reinhardt Seminar in Wien zu bestehen. Noch mehr. Einer der Professoren ist derart von Gloria fasziniert, dass dieser ihr eine Wohnung einrichtet und Gloria ist dreist genug, eine Einladung ins Haus, an den Familientisch des Professors anzunehmen. Aber Gloria bricht ab, so wie sie vieles abbricht. Sie kehrt zurück ins grosse Haus ihrer Mutter und bleibt. Bis sie sich im Alter gar nicht mehr so sehr von der gescheiterten Figur ihrer Mutter unterscheidet.

So wie das Leben der erzählenden Monika in geordneten Bahnen seinen Lauf nimmt, so sehr fehlt dem Leben ihrer Freundin Gloria eine Spur. Gloria, eigentlich ein ganzes Leben für den grossen Auf- und Ausbruch bereit, ist schon mit ihrer Herkunft in dauerndem Hadern, denn wer ihr Vater ist, bleibt ein langes Geheimnis, bis Gloria, schon im reifen Alter, ihre Freundin bittet, ihrem Vater gemeinsam mit ihr einen Besuch im Pflegeheim abzustatten. Aber dort trifft sie einen dementen Mann, einen Schatten einer Existenz, der dann aber doch, nachdem die beiden für ihn ein Heinolied singen mit Daumen und Zeigerfinger ein Zeichen gibt, als wolle er die beiden Frauen abschiessen. Nicht der erste Versuch von Gloria, Monika zu ihrer Verbündeten zu machen. Eine Verbündete gegen ihren Schmerz, der wie eine Glocke über Glorias Leben steht, eine Glocke, die Gloria nie werden liess, was sie hätte werden wollen; eine Mutter, eine Geliebte, eine Ehefrau, eine Erfolgreiche, eine Souveräne.

Der Roman „Die Jungfrau“ überrascht nach der Trilogie „Die Bagage“, „Vati“ und „Löwenherz“ gleich vielfach. Monika Helfer spielt mit ihrer Erzählperspektive, erzählt von sich in der dritten Person, vom Ehemann Michael (Köhlmeier), der ihr Erzählen, ihr Schreiben begleitet, von Dialogen zwischen den beiden Schreibenden, Dialogen, die viel Intimes offenbaren. Sie erzählt die Geschichte einer Freundschaft, die zwei Leben verbindet, deren Umlaufbahnen sich immer wieder kreuzen, deren Zentrifugalkräfte aber auch zu maximaler Distanz führen. Ein Buch über Lügen und Geheimnisse, über Träume und bittere Realitäten. „Die Jungfrau“ ist ein junges Buch, alles andere als konventionell erzählt, erfrischend mutig und erstaunlich persönlich!

Monika Helfer liest und diskutiert am 15. September in der Bodan-Buchhandlung Kreuzlingen um 19.30 Uhr. Moderation: Gallus Frei Anmeldung ist erwünscht!

Monika Helfer, geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin mit ihrem Mann Michael Köhlmeier in Vorarlberg. Sie hat zahlreiche Romane, Erzählungen und Kinderbücher veröffentlicht. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur, dem Solothurner Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis ausgezeichnet. Mit ihrem Roman „Schau mich an, wenn ich mit dir rede“ (2017) war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Für „Die Bagage“ (2020) erhielt sie den Schubart-Literaturpreis 2021 der Stadt Aalen. Zuletzt erschienen von ihr bei Hanser die Romane „Vati“ (2021), mit dem sie erneut für den Deutschen Buchpreis nominiert war, und „Löwenherz“ (2022).

Margret Kreidl & Andrin Uetz «Einleuchtend weiß», eine Performance im Literaturhaus Thurgau

Am letzten Donnerstag im August trafen sich die österreichische Lyrikerin Margret Kreidl und der Musiker und Sänger Andrin Uetz für einen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Um 19.30 wurde dann unter dem Dach des Literaturhauses präsentiert, was aus diesem einen Tag der intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung entstand. Eine einmalige Performance – ein künstlerisches Unikat!

Gallus Frei-Tomic, Programmleiter des Literaturhauses, möchte mit diesem  Format, bei dem sich verschiedene Kunstsparten treffen, Grenzen und starre Muster auflösen, im Wissen darum, dass in einem solchen Experiment Neues, Überraschendes entstehen kann, für das Publikum genauso wie für die KünstlerInnen. 

Ein solches Treffen fand nicht zum ersten Mal im Literaturhaus Thurgau statt. 2020 waren es die Lyrikerin Eva Maria Leuenberger und die Musikerin Pamela Méndez, 2022 die Lyrikerin Simone Lappert und der Musiker Andeas Bissig. Veranstaltungen, die bei AkteurInnen und PerformancebesucherInnen ein grosses Echo, viel Begeisterung entfachten.

Die Lyrikerin Margret Kreidl und der Musiker Andrin Uetz kannten sich bis zur Anfrage des Literaturhauses nicht. Grundlage eines solchen Treffens sind bereits bestehende oder neu geschaffene Texte. Auch die MusikerInnen beschäftigen sich im Vorfeld bereits mit den Texten. Ein Abenteuer!

1
Es fängt an.
Ich fange an.
Einatmen.
Eins, zwei, drei, vier.
Atem anhalten.
Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs.
Ausatmen.
Eins, zwei, drei, vier.
Jetzt, hier.

Das Papier: einleuchtend weiß.
Das Wort Nacht: schwarz.
Die Nacht besteht aus Buchstaben.
Buchstabe.
Du Buchstabe.
Nacht.

Wenn ich im Dunkeln atme, ist das Musik?

Margret Kreidl zu ihren Texten: «EINLEUCHTEND WEISS ist ein lyrischer Montage-Text, formal und inhaltlich, was die Bezüge zum Thema „Atem“ betrifft: vom Körperlichen, Leibhaftigen über das Religiöse, das Medi­zinische bis zum Biographischen.
Einige Stichworte: Atmen, singen, Hauch und Hauchung, Dieselabgase, Alkoholfahne, Intubation, Lautgebung, Lachen, Jauchzen, Schluchzen, Summen, Blut-Lungen-Schranke, Membran, Luft, Wolken, Himmel, der geheime Name, der süße Name, der Mutteratem.»

2
Aus einem Schneefeld steigt eine weiß fluoreszierende Linie
in den Nachthimmel auf zu den Kalziumlinien der Sterne und
Lichtjahre entfernt zieht ein Schweif aus Bleistiftstrichen
über ein Blatt Papier.

Feine Striche. Feine Punkte. Dicht beieinander stehende feine 
Striche. Vereinzelte Striche. Streifen. Bänder und Streifen. 
Striche. Die Rückseite ist weiß.
Ist Weiß eine einfache Farbe?
Ist Weiß eine schweigende Farbe?
Ist das Schweigen weiß?

«Die Montage mit ihren Lücken/Leerzeilen soll für die Musik Luft lassen und für das Freisetzen der inhaltlichen Bezüge, für das Netz, dass ich über den ganzen Text gespannt habe.»

3
Etwas bewegt sich.
Bewegte Luft.
Luftzug.
Wind.
Duft.

Duft nach Äpfeln mit einem Einschlag von Dieselabgasen.

Es ist etwas Feineres als Luft.
Ein Hauch.
Ein Hauch, der das Licht aufnimmt.
Ein Hauch, der durchsichtige Räume schafft.
Ein Hauch, der Blüten entfaltet.

Trau den Blüten, auch wenn die Lungen wüten.

Warum summt im Kummer das M?

«Ich habe versucht, eine Spannung zwischen Verdichtung und Luftigkeit zu erzeugen. Der Text besteht aus 21 kurzen Teilen (diese Form habe ich bewusst im Hinblick auf eine Vertonung gewählt) und einer Coda als Abschluss, die man auch wie eine Fussnote zum Text lesen kann. Die Coda stelle ich mir ohne Musik vor, nur als Sprechtext.»

4
Etwas wird sichtbar.
Eine gezackte Linie am Himmel, das M, 
das W,  Lichtwechsel, T-Assoziation,
aufsteigender Ast einer Lichtkurve.

Gelb behält das Feld.
Fünf Äpfel schwarz auf weiß.
Der Schnee ist tot.
Mein Mund wird gelb und heiß.
Die schwarze Zunge.
Die blauen Lippen.
Die Fahne, ausgehaucht.
Mein Großvater ist im Wein ertrunken.

Meine Mutter hat immer mit uns gesungen.
Als Kind war ich schwach auf der Lunge.
Durch das Singen habe ich atmen gelernt.

Wer wird vom Schreien groß?

Jeder der kurzen 21 Textteile endet mit einer Frage. Und es gibt ein Du, das immer wieder angesprochen wird, man könnte auch von einem dialogischen Gedicht sprechen.

5
Etwas, das noch zu entdecken ist:
undurchsichtig
unsinnig
anziehend
vielleicht gewalttätig
etwas Verschleiertes
eine Traurigkeit
erhaben
grundlos.

Die Striche, die vor dir aufleuchten.
Die Striche glühen.

Die Glut wächst.
Weißglut.
Du zitterst.

Während du auf dem Boden liegst,
kämpfst du mit einer fliehenden Frau.

Wer wirft den Vogel in die Luft?

Text © Margret Kreidl

«Lieber Gallus, war das ein schöner Abend, auch mit den Gesprächen, Begegnungen nach unserer musikalischen Lesung! Ich fühle mich hier rund um den See, im Bodmanhaus, schon richtig zuhause. Noch einmal danke für die Einladung, für deine offenen Ohren (in alle Richtungen – du hast wahrscheinlich Fledermausohren)!» Margret Kreidl

«Schön, dass ein Auftritt nicht nur aus einer knappen Stunde auf der Bühne besteht, sondern auch aus Begegnungen und Gesprächen davor und danach. Danke dafür!» Andrin Uetz

(Der hier wiedergegebene Teil aus dem Text «Einleuchtend weiß» ist ausdrücklicher Genehmigung der Autorin hier zu lesen.)

Andreas Neeser «Solangs no goht, chunnts guet», Zytglogge

Andreas Neeser ist vielfältig wie nur wenige Schriftstellerinnen und Schriftsteller. Ob Lyrik oder Prosa, ob kurz und knapp oder episch, ob in Deutsch oder seinem ganz eigenen Dialekt, ob in Verbindung mit Musik oder für Kinder … Andreas Neeser kann alles – und zwar meisterhaft.

In „Solangs no goht chunts guet“, acht Erzählungen, drei „Stückli“ und einem halben Dutzend  „Trooscht und Pfläschterli“ webt mich der Autor in eine Welt ein, die sich ganz unmittelbar gibt. Klar will der Autor unterhalten. Klar spielt er mit Wörtern, mit Sätzen, die auf ihre ganz eigene Art und Weise in mir nachhallen. Aber Andreas Neeser lädt mich ein, ein Stück mit ihm zu gehen. Sei es zum alten Vater, dem er im Übermut einen Elektroroller kauft, ein Schritt, der sich mannigfaltig rächt, zu einem Videocall während der Coronazeit mit den Eltern zuhause, mit Frau und Kind ans Meer, am Steuer eines Lasters durch den Stau… Erzählungen, die sich ganz auftun, getränkt von Ehrlichkeit und dem Bewusstsein, dass die Souveränität im Leben meist nur punktuell funktioniert. Ein Erzählton nie von oben herab oder distanziert. Da erzählt einer, als ob man nach langem Schweigen Rücken an Rücken irgendwo sitzt und genau spürt, dass es nicht darum geht, mit Klugheiten bestechen zu wollen. Manchmal ist in den Erzählungen auch eine ordentliche Portion Wut spürbar. Wut über die Kleinlichkeit, die Dummheit des Menschen. Eine Wut, die nachvollziehbar ist. 

Andreas Neeser «Solangs no goht chunnts guet», Zytglogge, 2023, mit Bildern und Collagen von Marianne Büttiker, 104 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-7296-5130-2

Erfischend dann, wenn der Witz durchbricht. Wenn in all der Not, in der sich die Personen in Neesers Erzählungen winden, der Schalk meinen Lesefluss ins Holpern bringt. Ein Humor, der sich nicht am Slapstick der Figuren labt, sondern an der Selbsterkenntnis des Autors. Die Erzählungen verpacken nicht den Humor. Humor blitzt auf, wie Einschliessungen, die sich mit der Lektüre in mein Bewusstsein ergiessen. Erfrischend, nie wohlweisslich!

Den einen oder die andere schreckt Mundartliteratur ab. Das kann ich nachvollziehen. Sperren sich doch die einen oder andern Dialekte nicht nur unseren Lesegewohnheiten, sondern auch unseren Sehgewohnheiten, wenn sich Wortbild und Inhalt jeder Zuordnung sperren. Andreas Neesers neuer Mundart-Erzählband lässt solche Argumentationen nicht mehr gelten. Jede einzelne Erzählung ist mit einem QR-Code versehen – und flugs liest mir der Autor selbst die Erzählung vor, ob im Zug, auf dem Sofa, dem Hometrainer oder beim Zahnarzt. Aber warum das Buch kaufen, wenn ich mir die Erzählungen vorlesen lassen kann. Weil das Lesen und Hören gleichzeitig einen ganz speziellen Genuss ausmacht. Es ist, als würde man die Texte doppelt gleichzeitig geniessen. Sie breiten sich aus, der Genuss scheint intravenös zu funktionieren, bewusstseinserweiternd.

Wer beides gleichzeitig geniesst, das Buch und des Autors Stimme (Andreas Neeser ist ein vortrefflicher Vorleser!), dem ist nicht nur Kammerpiel-Kopfkino garantiert, sondern das seltene Gefühl, an etwas Besonderem teilhaben zu können.
Auch wenn Andreas Neeser nicht mit der grossen Geste zu überzeugen versucht – dieses Buch ist ein Mundart-Meisterwerk!

Und dann noch das eine: Auch wenn ich ganz und gar kein Freund von Paperback-Ausgaben bin. Umschlag und Erzählungen sind illustiert mit Bildern und Collagen der Basler Künsterin Marianne Büttiker, die auch schon frühere Mundartprosawerke des Autors bebilderte. Wunderbar schlichte Bilder, die in ihrer Offenheit und Verknappung die Texte Andreas Neesers auf ganz spezelle Weise spiegeln. Ein schönes Buch, trotz all dem eingepackten Schmerz!

Andreas Neeser, geboren 1964, studierte Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 lebt er als Schriftsteller in Suhr. Für sein formal und inhaltlich vielfältiges Werk wurde er mit zahlreichen Auszeichnungen und Preisen bedacht. «Nachts wird mir wetter» (2023) Kurzprosa und Lyrik, «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa

Webseite des Autors

Beitragsbild © Ayse Yavas

Rebekka Salm «1943», Auszug aus einer noch unveröffentlichten Arbeit, Plattform Gegenzauber

Vor dem Zugfenster lagen Äcker, nackte Sträucher und Bäume, vereinzelte Häuser und Ställe mit eingefallenen Ziegeldächern, wie in besseren Zeiten hingeworfen und dann vergessen. Alles schien mit Mehlstaub überzogen. In zwei Wochen war Weihnachten. Ihre Schwägerin Lieke hatte Emma angeboten, die Feiertage bei ihr zu verbringen. Doch Emma wusste, dass Lieke kaum genug für sich und die Kinder hatte.
Nicht genug Geld.
Nicht genug Kraft.
Sie sah Bahnhofsgebäude vorbeiziehen, ohne Rauchwolken an den Schornsteinen, als hielten sie den ganzen Winter durch den Atem an. Bahnübergänge mit hochgezogenen Schranken verharrten im lautlosen Gruss an den Führer. Krähen flogen auf. Träge schoben sie sich in den bleiernen Himmel über ihnen. Und obwohl die Vögel in Bewegung waren, schien die Welt leblos, eingefroren wie das Bild auf der Leinwand, wenn der Film riss.
Cees und Emma hatten sich im Kino kennengelernt.
Emma hatte sich an einem Sonntagnachmittag im September mit einer Freundin im Ufa-Kino am Rembrandtplein mit den samtroten Sitzen und dem abgebröckelten Stuck an der Decke verabredet. Es lief «Hauptsache glücklich» mit Hans Rühmann. Ein durchwegs banaler Film. Gerade als die beiden Hauptdarsteller erfuhren, dass die von ihnen erst geliehene und dann verlorene Brosche ein Vermögen wert war, fror das Bild auf der Leinwand ein und die Lichter im Saal gingen an.
«Wussten Sie, dass jedes Mal, wenn der Film reisst, er durch das Kleben ein Stückchen kürzer wird?»
Der Mann, der Emma angesprochen hatte, sass zu ihrer Linken. Er war so gross, dass sie sofort Mitleid hatte, mit der Person, die das Pech hatte, den Platz hinter ihm erwischt zu haben. Seine Haare waren blond und millimeterkurz geschnitten, die Augen blau. Die Schneidezähne standen schief und wenn er schluckte, hüpfte sein Adamsapfel lustig auf und ab. Die Schuhe, die kaum Platz fanden zwischen den Sitzreihen, waren zerkratzt und an zwei Stellen blitzen die Socken durchs aufgeplatzte Leder.
«Und wie oft muss dieser Film noch reissen, bis er verschwindet?», fragte Emma nun ihrerseits. Der Fremde lachte und hielt ihr die Hand hin. Elf Monate später hatten sie geheiratet. Nur sie beiden und die Trauzeugen, Cees Schwester Lieke und Emmas Bruder Willem.
Emma zog den Goldring aus ihrer Manteltasche, der an einem Haken neben dem Fenster hing. Sie probierte ihn an all ihren Fingern an. Das Material war kühl und abweisend, wie es auch Cees gewesen war, als sie sich im Krematorium an der Pienemanstraat von ihm verabschiedet hatte.
Sie konnte die Gravur auf der Innenseite des Rings lesen, ohne ihn vom Zeigfinger abstreifen zu müssen. «Vor altjid» stand darin. «Für immer». Und das Datum ihrer Hochzeit. Natürlich hatte Emma gewusst, dass «Für immer» lediglich eine Metapher für eine sehr lange Zeitdauer war. Fünfzig Jahre. Vielleicht mehr. Aber dreizehn Monate, da war sich Emma sicher, war weit entfernt von einer Ewigkeit. Sie fühlte sich betrogen. Von Gott. Nicht dass Emma an ihn glaubte, aber für einen Irrtum in dieser Grössenordnung konnte dennoch niemand anders verantwortlich sein als er.
Sie griff ein weiteres Mal in die Manteltasche und fischte Foto und Postkarte raus. Das Foto zeigte Cees und war im Jahr ihrer Hochzeit entstanden, als sie mit den Fahrrädern zur Karger Seenplatte gefahren waren. Cees hatte die Unterarme auf den Lenker gestützt, im Mundwinkel ein Grashalm. Das Haar etwas länger als bei ihrem ersten Treffen, vom Fahrtwind zerzaust. Die Augen direkt auf die Kamera gerichtet, einen Hunger im Blick. Hunger auf sie.
Hunger auf das Leben, das vor ihm lag.
Cees war nicht satt geworden.
Je mehr Emma sich zu erinnern versuchte, an die vielen Details, die alle zusammen Cees ausgemacht hatten, umso weniger gelang es ihr. Er war zu einem dunklen Fleck vor ihrem inneren Auge geworden. Ganz so, als hätte sie ihn zu lange im Gegenlicht betrachtet und dann den Blick auf den Schnee vor dem Zugfenster gerichtet. Mit jedem Meter, den sie sie sich ratternd von Cees entfernte, sah sie die Umrisse der Leerstelle, die er hinterliess, deutlicher.
Distanz schaffte Klarheit.
Heilung verschaffte sie nicht.
Ihr gebrochenes Herz rief mit jedem Schlag nach Cees wie ein kaputtes Morsegerät.
Emma hatte ihn einäschern lassen. Bei der Beerdigung hatte es geregnet wie aus Kübeln. Sie war mit ihrer Schwägerin am Grab gestanden. Beide hatten sie sich an ihre Schirme geklammert, in der Hoffnung, sie mögen ihnen Halt vor dem Ertrinken bieten. Emmas Bruder war zu dieser Zeit bereits im Untergrund und schrieb für die Widerstandszeitung «Het Parool». Ob er noch lebte oder nicht, Emma wusste es nicht. Nur mit einem Koffer war sie danach zu Lieke und den drei Kindern gezogen. Der Jüngste konnte noch nicht einmal laufen. Ihr Mann, ein jüdischer Kaufmann, war bereits Monate zuvor in Richtung Schweiz geflohen. Noch immer wartete Lieke auf eine Nachricht von ihm. Täglich stand sie am Fenster, gab vor, die Gardinen zu richten, die Nippes auf dem Fensterbrett neu zu arrangieren. Jeden Tag war der Briefträger an ihrer Haustür vorbeigegangen, unbeeindruckt vom regelmässigen Faltenwurf des Wohnzimmervorhangs oder der exakten Ausrichtung der Häkeldeckchen.
Emma hatte sich bei Lieke ins Wohnzimmer gesetzt, auf den Sessel aus grünem Samt und mit den schwarzlackierten Armstützen. Dort hatte sie ihre ganze Kraft darauf verwendet, nicht auseinanderzubrechen.
Sie spürte die Risse, die sich unter ihrer Haut über den ganzen Körper zogen, sich mehrfach kreuzten über der Brust. Die Bruchkanten rieben sich an ihrem Fleisch, machten sie wund, so dass jede Berührung, jede Umarmung ihren Schmerz vergrösserte. Sie sprach nur, wenn man sie etwas fragte, weinte nur, wenn niemand in der Nähe war. Das Ticken der Wanduhr mit den goldenen Zeigern, die im Wohnzimmer über dem Buffet aus Walnussholz hing, waren die Sprossen, an denen sie sich aus der Dunkelheit hinaus zurück ins Leben hangelte.
Tick-tick-tick.
Jeden Tag aufs Neue. Nur um nachts wieder ins Bodenlose zu fallen. Sie war eine Art weiblicher Sisyphos. Mit dem Unterschied, dass sie dem Tod kein Schnippchen geschlagen hatte, sondern der Tod ihr.
Ab und zu spielte sie mit den Kindern. Doch wenn sie ehrlich war, ertrug sie den Anblick der drei Buben kaum. Mit ihren hellblonden kurzen Haaren und den blauen Augen erinnerten sie Emma zu sehr an Cees. Ruben, der älteste, schien sogar die schiefe Zahnstellung seines Onkels geerbt zu haben. Auch sie hatten Kinder gewollt. Emma zwei, Cees drei. Sobald der Krieg vorbei war, so war der Plan gewesen, wollten sie ihre Koffer packen und nach Frankreich fahren. Sie wollte nach Paris, den Eiffelturm besteigen, durch den Louvre schlendern und unter herausgedrehten Markisen Milchkaffee trinken und dabei den Tauben zusehen, die von der Schönheit der Stadt unbeeindruckt nach den Krumen zwischen den Pflastersteinen pickten. Cees wollte in die Bretagne, gegen den Wind der Küste entlangwandern, Weissbrot in Sud tunken, in dem Muscheln mit weit aufgerissenen Mündern lagen und den Schiffen zusehen, wie sie schrumpften und in die Naht schlüpften, die Himmel und Erde am äussersten Ende der Welt zusammenhielt.
Italien hatte bereits kapituliert, Mussolini war in Gefangenschaft. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis auch Hitler von den Alliierten besiegt und Europa befriedet werden würde. Und dann würden sie losziehen, Emma und Cees. Für immer war eine lange Zeit, da liess sich eine ordentliche Reise machen. Und danach eben Kinder. Zwei oder drei.
Gott hatte anders entschieden.
Dieser Gott, der anstelle eines Herzens ein harter Laib Brot in der Brust hatte.
Sie glättete den wollenen Rock und kniff die Augen zusammen. Nicht weinen. Die ältere Dame auf der anderen Seite des Gangs blickte schon wieder von ihrer Zeitung hoch und warf Emma missbilligende Blicke zu. Der Stoff hinter ihrem Kopf, der das Polster vor Abnutzung schützte, war so zerknittert wie ihr mürrisches Gesicht.
Draussen zerteilte Schneeregen den Himmel von oben links nach unten rechts. Die Flocken am Fenster konnten sich nicht halten, ergaben sich der Wärme, die aus dem Zugabteil zu ihnen herausdrückte und rutschten weg, hinterliessen nichts als feuchte Spuren auf Emmas Spiegelbild.
Ein Tropfen fiel auf die Postkarte auf ihrem Schoss.
Sie war von Beatrix. Auf der Vorderseite das Bild einer Holzbrücke, die über einen Fluss führte, dahinter ein Kirchturm, der über Häuserdächer ragte.
Berge waren nirgends zu sehen. Emma hatte immer geglaubt, dass die Schweiz aus nichts als Berge bestehe. Und aus Tälern zwischen den Bergen.
Beatrix war eine Freundin ihrer Mutter. Als Kind waren die beiden in Leiden in dieselbe Schulklasse gegangen und anschliessend hatten sie im gleichen Betrieb eine Ausbildung zur Damenschneiderin gemacht. Beatrix war die Trauzeugin gewesen, als Emmas Eltern geheiratet hatten. Anfangs der zwanziger Jahre war sie dann ihrem Ehemann, einem Geschichtsprofessor, in die Schweiz gefolgt. Emma hatte Beatrix danach nur noch einmal gesehen, an der Beerdigung ihrer Mutter. Da war Deutschland gerade in Polen einmarschiert.
Nach Cees Tod hatte Emma ihr einen Brief geschrieben. Die Antwort hatte der Briefträger vor wenigen Tagen in Liekes Briefschlitz in der Haustür geschoben. Liekes hatte geweint.
Aus Freude, dass Emma einen Weg nach draussen offenstand.
Aus Enttäuschung, dass die Postkarte nicht den Namen ihres Mannes als Absender trug.

Rebekka Salm, wohnhaft in Olten, studierte Islamwissenschaften und Geschichte in Basel und Bern, arbeitet als Texterin und Erwachsenenbildnerin im Migrationsbereich und ist Mutter einer Tochter. Publikationen in verschiedenen Literaturformaten, 2019 gewann sie den Schreibwettbewerb des Schweizer Schriftstellerwegs. Ihre Siegergeschichte ist im Buch «Das Schaukelpferd in Bichsels Garten» (2021) erschienen. 2022 erschien bei Knapp ihr Debüt «Die Dinge beim Namen«. 2023 erhielt sie von den Kantonen Baselland und Solothurn je den Förderpreis Literatur. 

Beitragsbild © Timo Orubolo

Peter Höner «Rocha Monte», Septime

Peter Höner zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Zwanzig Jahre lang bleibt Aurélio Fuertes der Wächter eines verlassenen Hotels. Während dieser Zeit verliert der Mann fast alles, nur seine Prinzipien nicht. Peter Höners Roman ist die faszinierende Geschichte des Verschwindens. Aber auch eine Parabel über den Zustand der Welt.

Leben Sie Prinzipien? Halten sie sich an Dinge, die Sie einstmals versprachen? Wenn es mit Prinzipien und Versprechen so steht wie mit den „ewigen Treueschwüren“, bis dass der Tod sie scheide, dann sind Menschen, die sich bis zur letzten Konsequenz an ihre Prinzipien, ihre Versprechen halten, wohl eher eine Ausnahme. Wer will sich schon festlegen. Mal schauen, ob sich der Wind nicht dreht. Was geschieht mit Menschen, die mit absoluter Konsequenz festhalten, die nichts und niemand erweichen kann? Sind das Helden oder nicht einfach unsäglich sture, unflexible Zeitgenossen? Leben wir doch in einer Welt, die uns an Flexibilität alles abverlangt. Was heute zählt, wichtig ist, unumgänglich, unumstösslich, ist übermorgen vielleicht schon kalter Kaffee.

Peter Höner erzählt in seinem Roman „Rocha Monte“ die Geschichte eines Unerschütterlichen. Aber Peter Höner erzählt auch die Geschichte vom Verschwinden, eines Mannes, der sich zuerst gegen das Verschwinden eines Traumes wehrt, einer Hoffnung, eines Versprechens. Vom Verschwinden der Liebe, Freundschaft. Und am Schluss verschwindet er selbst. Wobei auch die Raupe verschwindet, die Puppe mit einem Mal leer ist und der Schmetterling ausgeflogen.

Aurélio Fuertes ist Haustechniker im Hotel Rocha Monte, dem ersten Haus auf dem Archipel, hoch über dem Meer mit Aussicht auf die Vulkanlandschaft der Insel. Doch schon nach seiner ersten Saison droht dem Hotel das Aus, oder zumindest umwälzende Veränderungen, denn das Hotel wurde an einem Ort gebaut, an dem während 220 Tagen im Jahr der Nebel hängt, auf einer Insel, auf der sonst eigentlich fast jeden Tag während einiger Stunden die Sonne scheint. Während einer „feierlichen“ Übergabe verpflichtet man Aurélio Fuertes bis zur Neueröffnung mit anderm Besitzer mit Unterstützung des Chauffeurs José Dante Barosa auf das Anwesen aufzupassen. Und weil Aurélio glaubt, als Haustechniker in dem Hotel seine Lebensstelle gefunden zu haben, ein sicheres Fundament für seine Frau und seine beiden Kinder, nimmt er den Auftrag an, verspricht, so lange zu bleiben, bis die Tore wieder öffnen, so lange die Haare nicht mehr zu schneiden, bis wieder Leben in die Mauern des Luxushotels einkehrt. Aber aus Monaten werden Jahre, aus Jahren Jahrzehnte. Zu Beginn feiert man ihn noch als standhaften Helden, auch wenn seine Frau Lucia, schwanger mit dem dritten Kind, der Standhaftigkeit ihres Mannes nichts abgewinnen kann.

Peter Höner «Rocha Monte», Septime, 2023, 264 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99120-020-8

Aurélio merkt sehr bald, dass das Hotel nicht nur am falschen Ort, sondern auch mit einem ganzen Arsenal an Fehlplanungen gebaut wurde. Rechnungen wurden nicht bezählt, Gläubiger vertröstet, bis er mit Hilfe der ehemaligen Rezeptionistin Immaculata herausfindet, dass es nur schon wegen der angehäuften Schulden unwahrscheinlich sein wird, dass jemals wieder solvente Gäste die Zimmer beziehen. Aber Aurélio hat ein Versprechen gegeben. Ein Versprechen, den damaligen Betreibern gegenüber, ein Versprechen gegenüber seiner Familie und Verwandtschaft, aber vor allem ein Versprechen sich selbst gegenüber. Aurélio wird zum Wächter eines dahinsiechenden Betonkolosses. Nach und nach wenden sich die Menschen von ihm ab, heissen ihn stur, unnachgiebig, verbohrt. Irgendwann lässt sich gar Lucia von ihm scheiden, verwehrt ihm den Kontakt zu den gemeinsamen Kindern. Schlussendlich verlässt ihn sein Gefährte José mit seiner Frau Pineda. Was ihm bleibt, ist das Haus, seine Pflanzen, die Musik und sein Hund Kuno. 

Zwei Jahrzehnte lang haust der Mann in dem feuchten Betonhaufen, stemmt sich mit all seiner Kraft dem totalen Zerfall des Hauses entgegen, bleibt seinem Versprechen treu. Bis auch Kuno, der Hund, stirbt und Nevio, der Sohn, der heimlich mit ihm Kontakt hielt, von der Insel wegzieht. Bis er mehr und mehr in den Mauern, zwischen den wuchernden Pflanzen entschwindet und eines Tages ganz.

der Autor auf Recherchereise

Es gibt dieses Hotel auf den Azoren, das Hotel Palace. Peter Höners Roman ist gespickt mit Seiten aus den fiktiven Aufzeichnungen von Aurélio Fuertes, Aufzeichnungen, die dem Roman etwas ungeheuer Authentisches geben. Man spürt die Faszination dieses Ortes, die auf den Schriftsteller übergesprungen sein muss. Aber nicht jene des Ortes, sondern jener der Person des Wächters. Zum einen die Faszination einer vielleicht aussterbenden Gattung Mensch, jener, die um jeden Preis den Prizipien treu bleibt. Die Faszination des Eigenbrötlers, denn die Geschichte hat etwas robinsonhaftes. Aurélio lässt sich auf eine verlassene Insel abdrängen. Ein Hund, seine Pflanzen, seine Bücher und die Musik sind seine letzten Begleiter.

Man liest dieses Buch gleichsam fasziniert und atemlos. Peter Höner ergründet kein Geheimnis. Aber er wird zum feinsinnig, stillen Begleiter eines Menschen, der sich nicht abbringen lässt. Die Art seines Erzählens ist gezollter Respekt. „Rocha Monte“ ist ein unaufgeregtes Meisterwerk!

Peter Höner, geboren 1947 in Eupen/Belgien, freischaffender Schriftsteller und Schauspieler, lebt und arbeitet auf dem Iselisberg im Kanton Thurgau. Nach Schauspielstudium und verschiedenen Enngagements als Theaterautor, Regisseur und Schauspieler und einem vierjährigen Afrikaaufenthalt veröffentlichte Peter Höner Romane, Theaterstücke und Hörspiele. Seit 2004 wohnhaft auf dem Iselisberg. Auf dem Iselisberg gründete er zusammen mit der Schriftstellerin Michèle Minelli die Schreibwerkstatt Schreibwerk Ost.

«Kenia Leak», Rezension auf literaturblatt.ch

„HG NEUNZEHN Der sonderbare Ausflug des Salvador Patrick Fischer in die analoge Welt“, Rezension auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Lyrik und Sound mit Margret Kreidl (Lyrik) und Andrin Uetz (Gitarre) im Literaturhaus Thurgau

am Donnerstag, 31. August 2023 19.30 Uhr

Die österreichische Lyrikerin Margret Kreidl und der Musiker und Sänger Andrin Uetz treffen sich für einen Tag im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben. Am Abend wird dann unter dem Dach des Literaturhauses präsentiert, was aus diesem einen Tag der intensiven gegenseitigen Auseinandersetzung entstanden ist. Eine einmalige Performance – ein künstlerisches Unikat! 

Bei diesem Format treffen sich verschiedene Kunstsparten; Grenzen und starre Muster lösen sich auf, und es kann in einem solchen Experiment Neues, Überraschendes entstehen – für das Publikum genauso wie für die Künstlerinnen und Künstler. Ein Abenteuer! 

Margret Kreidl, Dichterin und Performerin © Sandra Kottonau

Margret Kreidl, geboren 1964 in Salzburg; Studium in Graz; seit 1989 freiberufliche Schriftstellerin (Theaterstücke, Hörspiele, Prosa und Lyrik); seit 1990 Aufführungen im In-und Ausland, zum Beispiel 2016 am Centre Dramatique National de Montpellier. Zahlreiche Hörspiele für den ORF, seit 1995 auch regelmässige Buchpublikationen. Writer in Residence in Deutschland, Serbien und der Schweiz und Gastprofessorin in den USA. Seit 2015 Lehrende für Ästhetik und kreative Schreibwerkstatt an der Musikuniversität Wien. Margret Kreidl lebt in Wien. 

Andrin Uetz ist Musiker, Klanganthropologe, Veranstalter und Journalist. In seiner Dissertation untersuchte er die Soundscapes von Hongkong und entwickelte dabei die Methode der promenadologischen Fieldrecordings. Er interessiert sich insbesondere für Klang und Musik als soziales Phänomen, sowie für ortspezifische Interventionen. 

Die Veranstaltung wird vom Österreichischen Kulturforum in Bern unterstützt.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich

Manchmal begegnet einem in der Flut von Büchern und Neuerscheinungen solche, die sich gleich mehrfach aus der Masse erheben. Bücher, die man schon der Texte wegen liebt, die aber als Kunstwerke selbst lange aufgeschlagen liegen bleiben wollen und Raum fordern. Ein solcher Buchmonolith ist dem norwegischen Dichter Tarjei Vesaas gewidmet. Wundervoll!

Einer meiner Freunde, den ich ganz der Literatur verdanke, den ich nur selten sehe und wenn, dann meistens im Zusammenhang mit Literatur, empfahl mir Tarjei Vesaas. Einen Autor, den ich bisher ganz und gar nicht kannte, nicht einmal seinen Namen. Tarjei Vesaas war Norweger und starb vor mehr als einem halben Jahrhundert. Kein Wunder also, dass jemand, der sich fast ausschliesslich mit Gegenwartsliteratur beschäftigt, dem Namen noch nie begegnete. Was für ein Versäumnis!

Und weil ich weiss, wie sorgfältig und ausgesucht dieser Freund liest, war seine Frage, ob ich den Namen Tarjei Vesaas kenne, mehr als eine Frage, sondern eine Aufforderung. Der im deutschen Sprachraum kaum bekannte Autor, dem sich der Guggolz Verlag verdienstvoll angenommen hat, kann in einer schmucken, dreibändigen Box, die im Verlag Kleinheinrich herausgekommen ist, entdeckt werden. Eine überaus schöne Ausgabe mit Schuber und kongenialen Illustrationen des Malers Olav Christopher Jenssen. Ein Band mit Gedichten und zwei Bände mit Erzählungen, durchsetzt mit den Bildern des Malers, eingefasst in gefaltete Umschläge, die für sich selbst schon Augenweide sind.

Was der Verleger und Kunstkenner Josef Kleinheinrich mit den Texten Tarjei Vesaas› und den Bildern Olav Christopher Jenssens gestaltete und herausgab, ist unvergleichbar, eine Buchperle der ganz besonderen Art!

Nimm meine Hand

Gedichte von 1949 bis zu seinem Tod 1970, ausgewählt von Jon Fosse, einem der Grossen in der norwegischen Gegenwartsliteratur, jeweils norwegisch und deutsch einander gegenübergestellt. Tarjei Vesaas geht es in seinen Naturgedichten nicht um den romantisch verklärenden Blick. Seine Lyrik ist glasklar und zeigt die tiefe Verbundenheit des Autors mit der Natur, seiner Herkunft und den Menschen, die darin leben. Die Liebe zu einem Leben, das sich der Hektik der Städte und Zentren entgegenstellt. Filigrane Beobachtungen, Selbstbefragungen, Bilder, die dunkle Tiefe ausstrahlen.

Boot am Abend

Erzählungen, Erinnerungen, Begegnungen, ob mit der Natur oder mit Menschen – stets stark reflektierend, zu lesen, als wären es Meditationen eines Mannes, der sich auf das Kleine, Feine, Fluide, Zarte zurückzieht, der allem entfliehen will, das ihn in seiner Selbst- und Fremdwahrnehmung ablenkt und stört. Die Texte lesen sich seltsam fremd und fast ein bisschen hölzern. Eine ganz eigene Sprache, archaisch mit starken Farben, kurzen Sätzen, als hätte der Autor seine Empfindung in Jetztzeit notiert – unmittelbar.

Der wilde Reiter

Erinnerungen an das bäuerliche Leben, kleine und grosse Dramen in Familie und Arbeit. Tarjei Vesaas erzählt mit viel Empathie ganz nah an seinen ProtagonistInnen und öffnet vor mir als Leser der Gegenwart ein Tor in eine Vergangenheit, die weit weg erscheint, das Leben unmittelbar war und nichts von den Wichtigkeiten eines wahrhaftigen Lebens ablenkte.

Tarjei Vesaas «Boot am Abend. Nimm meine Hand. Der wilde Reiter», Kleinheinrich, 2022, aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel, ausgewählt vom norwegischen Autor Jon Fosse, alle 3 Bände illustriert mit zahlreichen Bildern des norwegischen Künstlers Olav Christopher Jenssen, 3 Bände in einer Kassette, Format je Band 24 x 16 cm, 214 Seiten, 136 Seiten, 190 Seiten, CHF ca. 117.90, ISBN 978-3-945237-59-5

Tarjei Vesaas (1897–1970) war der älteste Sohn eines Bauern in Vinje/Telemark, dessen Familie seit 300 Jahren im selben Haus lebte. Vesaas wusste früh, dass er Schriftsteller werden wollte, verweigerte die traditionsgemässe Übernahme des Hofes und bereiste in den 1920er und 1930er Jahren Europa. 1934 heiratete er die Lyrikerin Halldis Moren und liess sich bis zu seinem Tod 1970 in der Heimatgemeinde Vinje auf dem nahe gelegenen Hof Midtbø nieder. Vesaas verfasste Gedichte, Dramen, Kurzprosa und Romane, die ihm internationalen Ruhm einbrachten. Er schrieb seine Romane auf Nynorsk, der norwegischen Sprache, die – anders als Bokmål, das »Buch-Norwegisch« – auf westnorwegischen Dialekten basiert. Abseits der Grossstädte schuf Vesaas ein dennoch hochmodernes, lyrisch-präzise verknapptes Werk mit rätselhaft-symbolistischen Zügen, für das er mehrmals für den Nobelpreis vorgeschlagen wurde. Als seine grössten Meisterwerke gelten »Das Eis-Schloss«, für das er 1964 den Preis des Nordischen Rats erhielt, und »Die Vögel«, das Karl-Ove Knausgård als »besten norwegischen Roman, der je geschrieben wurde« bezeichnete.

Tarjei Vesaas im Guggolz Verlag

Hinrich Schmidt-Henkel (1959) übersetzt Belletristik, Theaterstücke und Lyrik aus dem Norwegischen, Französischen und Italienischen. Zu den von ihm übersetzten Autoren gehören Jon Fosse, Kjell Askildsen, Jean Echenoz, Édouard Louis und Louis-Ferdinand Céline.

Olav Christopher Jenssen (1954) ist ein norwegischer bildender Künstler und Professor an der Hochschule für Bildende Künste Braunschweig. Jenssen und zählt zu den renommiertesten Künstlern skandinavischer Herkunft. Seine Arbeiten werden seit den 1980er Jahren weltweit gezeigt.

Dr. Josef Kleinheinrich, geboren 1953 in Harsewinkel, studierte Skandinavistik, Germanistik und Philoso- phie. Seit der Verlagsgründung im Jahr 1986 hat er rund 130 Titel veröffentlicht. Seine Buchkunst zeigte Kleinheinrich in zahlreichen Ausstellungen ausserhalb des Oer’schen Hofs, darunter im Westfälischen Kunstverein in Münster und im Stedelijk Museum in Amsterdam. Mehrmals zeichnete ihn die Königlich Schwedische Akademie aus, 2019 erhielt er den Deutschen Verlagspreis.