Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp

Vaterbücher – vielleicht sind alle Bücher Mutter- und Vaterbücher. Bücher, in denen man Kindheitsbildern nachhängt, in denen man sich von seinen Eltern emanzipiert, ein Tun, das sehr oft ein nicht enden wollender Prozess bleibt. «Vaters Meer» von Deniz Utlu ist ein ganz eigenes, in Liebe getauchtes Vaterbuch.

Vaterbücher, Bücher, mit denen man sich loszusagen versucht von gewalttätigen Vätern oder einnehmenden Müttern. Bücher, die in der Auseinandersetzung mit sich selbst Väter und Mütter spiegeln, nicht nur dann, wenn man selbst Mutter oder Vater wird, aber ganz bestimmt dann, wenn man im Spiegel die Züge seiner Eltern sieht, wenn man mit dem Sterben und dem Tod konfrontiert wird und mit Schrecken feststellt, das die Vertreibung aus dem Paradies allgegenwärtig ist.

Deniz Utlu schrieb mit seinem Roman „Vaters Meer“ ein sehr bewegendes Vaterbuch, einen mosaikartigen Erinnerungsteppich über ein Leben, dass sich mit den vielfältigsten Formen der Trennung und des Schmerzes auseinanderzusetzt, aber ohne je in Rührseligkeit zu verfallen. „Vaters Meer“ ist die Hommage an eine Liebe, das Erinnern an einen langen Abschied, das Nachspüren dessen, was geblieben ist.

«Eine Erinnerung ruft die nächste. Wo ich eine Wüste erwarte, stosse ich auf ein Meer.»

Deniz Utlu «Vaters Meer», Suhrkamp, 2023, 384 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-518-43144-3

Schon in seinen ersten beiden Romanen, „Die Ungehaltenen“ (2014) und „Gegen Morgen“, waren Vatererinnerungen Thema. Aber in seinem aktuellen Roman wird die Vaterfigur, sein Schicksal, seine Krankheit, seine Sprachlosigkeit, sein Tod zu einem Tor ins eigene Leben. Deniz Utlu taucht in Vaters Meer, um die Inseln zu suchen, die ausmachen, was er war und ist.

Als Yanus (im Türkischen „Delfin“) dreizehn Jahre ist, erleidet sein Vater einen zweiten Schlaganfall, nachdem er sich eben erst schlecht und recht von einem ersten erholt hatte. Nachdem man ihn aus der Türkei zurück nach Deutschland geflogen hatte und die Ärzte nicht mehr von Heilung sprechen, nimmt ihn die Mutter des Erzählers nach Hause. Der Vater ist vollständig gelähmt und kann seiner Umgebung nur noch mit den Augen zeigen, dass in der erlahmten Hülle einer liegt, der am Leben teilhaben will. Vaters Blinzeln wird zur Augensprache. Auch wenn das Schicksal des Vaters ein Schweres war, Deniz Utlu spricht vom «Fallen», von einem Erdbeben, obwohl die Schlaganfälle des Vaters sowohl die Mutter wie den Sohn zurückbanden, sie mehr oder weniger isolierten, der Sohn eine Rolle einnehmen musste, die ungefragt über ihn hereinbrach, ist in dem Buch kein Funke Verbitterung oder Anklage zu lesen.

«Der erste Satz, den er mit den Augen sprach: Ödlum sandım. Mutter und Selma atmeten auf, sie hatten die Verbindung zu meinem Vater wiederhergestellt. Sein erster Satz lautete: Ich dachte, ich sei tot.»

In einem opulenten Teppich aus Erinnerungen und Reflexionen, Spiegelungen und Binnengeschichten erzählt Deniz Utlu die Geschichte eines Auswanderers, eines Heimatlosen, eines Mannes zwischen den Welten, von jemandem, der nach dem Glück in Deutschland suchte, aber stets arabisch fluchte. Von der elterlichen Liebesgeschichte, einer Kindheit zwischen den Kulturen. Von einer beinahe märchenhaften Kindheit seines Vaters in der Wüste Mesopotamiens, ein Blick, der jenem übers Meer ganz ähnlich erscheint. Von den Momenten unsäglicher Nähe, wenn sich der Vater zu ihm legte und Geschichten erzählte. Deniz Utlus Schreiben ist gleichsam Nachspüren wie die Suche nach sich selbst. Was trägt man an Geschichten mit sich? Was formt? Was zieht und was stösst?

Deniz Utlus Roman, der alles andere ist als eine chronologisch erzählte Vater- und Familiengeschichte, ist ein Meer aus Sprache und Verdichtung, aus Erinnerungen und Geschichten, aus Reflexionen darüber, was einem ausmacht. Ein grossartiges, herzerwärmendes Buch!

«Wenn ein Mensch stirbt, verschwindet das Wasser nicht.»

Deniz Utlu liest und diskutiert an der BuchBasel 2023!

Deniz Utlu, geboren 1983 in Hannover, studierte Volkswirtschaftslehre in Berlin und Paris. Von 2003 bis 2014 gab er das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. Sein Debütroman «Die Ungehaltenen» erschien 2014 und wurde 2015 im Maxim Gorki Theater für die Bühne adaptiert. Von 2017 bis 2019 schrieb er für den Tagesspiegel die Kolumne «Einträge ins Logbuch». 2019 erschien sein zweiter Roman «Gegen Morgen». Ausserdem hat er Theaterstücke, Lyrik und Essays verfasst (u. a. für FAZ, SZ, Tagesspiegel und Der Freitag). Er forscht am Deutschen Institut für Menschenrechte und veranstaltet am Maxim Gorki Theater die Literaturreihe «Prosa der Verhältnisse». Für seine Arbeit wurde er vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Alfred-Döblin-Preis und dem Literaturpreis der Landeshauptstadt Hannover.

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Beitragsbild © Heike Steinweg