Nina Jäckle «Stillhalten», Klöpfer & Meyer

Otto Dix malte 1933 das «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wenig später vertrieb man ihn von Dresden nach Hemmenhofen an den Bodensee, nicht nur weit weg in ein Dorf, sondern in die innere Emigration. Tamara Danischewski, einst eine vielversprechende Tänzerin, ist Nina Jäckles Grossmutter.

Was die Schriftstellerin Nina Jäckle mit ihrer Geschichte, ihrem Stoff macht, ist keine Nacherzählung. «Stillhalten» ist die Abrechnung einer Gefangenen, die Geschichte eines erstarrten Lebens, eine Feldstudie der Täuschung und Lüge.

Tamara schreibt mehr als nur Zahlen in ihr Abrechnungsbuch. Sie lebt einsam und alt geworden im Obergeschoss ihres Hauses am See. Ein ehemaliger Steinbruch ihres Mannes. Mit Wasser gefüllt zum perfekten See gemacht, wie sie einst zur Ehefrau. Ein Dublikat des «Bildnis der Tänzerin Tamara Danischewski mit Iris» hängt über ihrem Schreibtisch, in den Räumen, die ihr Mann niemals betritt. Ein Bild, das sie mit einundzwanzig Jahren zeigt, als umschwärmte, junge Tänzerin, voll mit dem Brennen auf ein abenteuerliches Leben. Gemalt vom damals über sechzigjährigen Maler Otto Dix, der sie nicht nur malte, sondern in ihr ein Gefäss fand, um all die Wut und den Zorn über die Unvernunft des Menschen angesichts des beginnenden Tausendjährigen Reichs für Augenblicke loszuwerden. Damals sass Tamara Danischewski in einem schwarzen, hochgeschlossenen Kleid, das ihre Mutter genäht hatte, dem streitbaren Maler Modell, mit einer weissen Lilie in der Hand. Ein Bild, das heute in Museen der ganzen Welt hängt und im hellen Lächeln der jungen Tänzerin all die Hoffnung zeigt, die die junge Frau damals mit sich trug. Aber gedrängt von ihrer Mutter und den Wirren der Zeit heiratet Tamara einen Mann, der ihr für die Ehe das Versprechen abringt, nie mehr für fremde Augen zu tanzen und kein Wort mehr über den Schmierer und dieses Künstlerpack zu verlieren. Nach einer Totgeburt und Jahrzehnten der Anpassung, Unterordnung und versprochenen Zurückhaltung, in jenem Moment, in dem sie untrüglich spürt, dass die Existenz ihres Mannes zu wackeln beginnt, zieht die alt und einsam gewordene Tamara Bilanz. Auch wenn sie weiss, dass es letztlich kaum Einträge in der Sparte «Gewinn» geben wird.

Nina Jäckles Roman fasziniert! Was für ein Buch! Ganz nebenbei erfahre ich so viel über das Leben des Künstlers Otto Dix in Zeiten des Faschismus mit der Erinnerung an einen verlorenen ersten Weltkrieg, dass ich mich wundere, nicht längst einmal in Hemmenhofen am Bodensee oder in den Museen Stuttgarts dem Maler nachgegangen zu sein. So wie die junge Frau fasziniert war vom durchdringenden Blick und Verstand des Malers, so faszinieren mich im Anschluss an die Lektüre des Romans die Bilder und Zeichnungen des Malers Otto Dix, der sich kaum um künstlerische Strömungen und Modeerscheinungen seiner Zeit kümmerte.

Ausgerechnet eine Tänzerin erstarrt in den Blicken eines Malers zum Modell, sitzend zu einer Blumenhalterin. «Stillhalten» ist das Protokoll all jener Sitzungen in Bewegungslosigkeit beim Maler. Eine Ermahnung der allgegenwärtigen Mutter an ihre Tochter, die sich mit der Heirat Tamaras Sicherheit, Wohlstand und endlich Respekt verspricht. Diese unerträgliche Ergebenheit einer Mutter. Dieses permanente Daherbeten «Alles wird gut». Das «Sich Fügen in ein ausgemaltes Schicksal». «Stillhalten» ist auch der Zustand einer zu Stein gewordenen Ehe, des kranken Hundes im Zwinger vor dem Haus und der Situation, in der sich die alt und einsam gewordene Tamara befindet. Der kranke Jagdhund im Zwinger, seiner Bestimmung beraubt und nur seiner Krankheit wegen geduldet, wartet in seinem Geviert auf eine Ende ohne Schrecken.

Nina Jäckle überzeugt derart in Sprache, Feinheit, Konstruktion und Perspektiven, dass ich jedem das Buch mit Nachdruck empfehlen und in die Hände legen möchte. Allein die Verwandlung einer aufblühenden, jungen Tänzerin, die von ihrer Lehrerin ermuntert wird, im Tanz jene absolute Hemmungslosigkeit zu suchen, zur tief verletzten Ehefrau in einem Gefängnis der Lügen und Täuschungen, lohnt das Buch zu lesen. Eine Frau im Gnadenverliess, so wie der kranke Hund im Zwinger. Ein Buch voller Bilder mit Tiefenschärfe, voller Metaphern, Doppelbödigkeiten und sprachlicher Raffinesse. Super!

Nina Jäckle, 1966 in Schwenningen geboren, wuchs in Stuttgart auf, besuchte Sprachschulen in der französischen Schweiz und in Paris und wollte eigentlich Übersetzerin werden. Mit 25 Jahren beschloss sie aber lieber selbst zu schreiben, erst Hörspiele, dann Erzählungen, dann Romane. Ihre ersten Bücher erschienen im Berlin Verlag: »Es gibt solche«, »Noll«, »Gleich nebenan« und »Sevilla«. Bei Klöpfer & Meyer erschienen 2010 mit großem Erfolg ihre Erzählung »Nai oder was wie so ist«, 2011 ihr Roman »Zielinski« und 2014 der Roman »Der lange Atem«. Nina Jäckle erhielt zahlreiche literarische Auszeichnungen. Nina Jäckle ist Stipendiatin der Villa Massimo in Rom 2016/17.

«Der lange Atem» auf literaturblatt.ch