Andreas Maier «Heimat», Suhrkamp

Andreas Maiers Opus Magnum nennt er „Ortsumgehung“. In elf Bänden (die Anzahl sei rein willkürlich gewählt) kreist er um seine Herkunft, die Gegend, aus der er kommt, die Wetterau, nördlich von Frankfurt, um Deutschland nach dem letzten Weltkrieg bis in die Gegenwart – und in seinem neunten Band um das Thema „Heimat“.

Sonst sind es meist KrimiautorInnen, die Band um Band schreiben, deren Bücher auch im Regal als Einheit sichtbar sind, als wachse da zu Lebzeiten schon eine Gesamtausgabe. Aber Andreas Maiers Schreibe ist maximal entfernt von blosser Unterhaltung, auch wenn sie ein unendliches Geschichtenreservoir speisen würde. Andreas Maiers Romane erinnern an literarische Spaziergänge hinein in die Zeit, von der Gegenwart in die Vergangenheit und zurück, soweit zurück, wie das Leben des Autors dauert. Andreas Maier leuchtet die Zeit aus, erkundet mit den Augen seines ehemaligen Ichs die Zeit, die Menschen, Geschichte und Geschichten, die Farben, die sich änderten, das Licht, der Ton. Er lotet aus, stellt Fragen, spürt den Dingen nach, die die Menschen damals mit sich herumtrugen, sei es an der Oberfläche oder in den Tiefen der Verdrängung.

Schon allein die Tatsche, dass man sich mit dem Begriff „Heimat“ herumschlägt, einem Begriff, der von Kitsch bis rechter Gesinnung alles mit sich herumträgt, ist Risiko genug, baucht einiges an Mut. Andreas Maiers Buch ist die Erforschung, dieses Begriffs, eine bitter notwendige Auseinandersetzung mit einem „Gefühl“, dass in den Jahren staatlich brauner Gesinnung Teil der Seelenlandschaft war, in die man faschistische Gesinnung einbettete.

«Wir sind die Kinder der Schweigekinder.»

Andreas Maier «Die Heimat», Suhrkamp, 2023, 245 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-43115-3

Mehr als 20 Jahre nach Kriegsende geboren, wächst Andreas Maier in den 70ern in einem Deutschland auf, das nach einem verlorenen Krieg erst mal nichts zu tun haben wollte mit „Ausländern“. Die wenigen Ausländer in der Schule wurden behandelt wie Ausserirdische, mit aller verfügbaren Distanz. Worte wie Juden, Hitler oder Nazis waren aus dem Sprachgebrauch gelöscht. Man tat, als wär die Zeit schon immer so gewesen wie in den 70ern. Bis mit einem Mal das Leben in eine Schockstarre geriet, weil in den Stuben der Deutschen die us-amerikanische Miniserie „Holocaust“ über die Bildschirme flimmerte und dem kollektiven Schweigen mit einem Mal ein Ende setzte. Bis Söhne und Töchter zu fragen begannen und man eine Generation nach dem Krieg nicht mehr wegschweigen konnte, was einst tausend Jahre hätte dauern sollen. Juden gab es keine mehr und man hätte meinen können, es hätte sie nie gegeben.

„Die grösste metaphysische Unheilskraft ging von einem Mann aus, dessen Namen auszusprechen nicht möglich war. Ihn auszusprechen war in etwa so, wie sich an den eigenen Eltern oder der eigenen Grossmutter zu vergehen.“

In den 80ern waren es die ersten Austauschschüler, die man wie fremde Wesen in ein unbekanntes Land aussetzte. Man beschnupperte sich mit rudimentären Sprachkenntnissen und demonstrierte heile Welt. Fremdsprachen hiessen Fremdsprachen, weil sie einem bewiesen, wie fremd einem die Gattung Mensch sein konnte. Und weil nach der TV-Serie „Holocaust“ mit einem Mal Filme über Hitler wie Pilze aus dem modrigen Grund schossen, schlichen sich Gesten, Wörter und Verwünschungen zurück ins Gehabe der Zeit, die bezeugten, wie dünn die Membran zur verdrängten Vergangenheit war und ist. Erst als mit den langen Haaren und weiten Hosenstössen die RAF auftauchte und mit den Fotos auf Fahndungsplakaten die Urskepsis gegen Polizei, Politik und Verwaltung, als die DDR zu sterben begann und die Mauer fiel, weckte das scheinbare Durcheinander jene aus dem Dauerschlaf.

„Heimat war in dieser Epoche ein Unwort.“

1933 bis 45 stempelte man zum kollektiven Irrtum und was hinter den Grenzmauern zur DDR geschah zu einem misslungenen sozialistischen Versuch. Andreas Maier leuchtet bis in die Jahrtausendwende, als die Suche nach einem Zuhause auch die erneute Suche nach Heimat wurde.

Wenn ich Andreas Maiers Romane lese, die mit einer ungeheuren Leichtigkeit von der Schwere der Vergangenheit erzählen, staune ich über den Sog, den sein Roman „Die Heimat“ entwickelt. Ein Sog, der nicht mit der erzählten Geschichte entsteht, aber mit der überwältigenden Ehrlichkeit. Wer die Romane aus der Andreas Maiers Opus Magnum „Ortsumgehung“ liest, taucht in die Tiefen des Menschlichen.

Andreas Maier, 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren, studierte Philosophie und Germanistik, anschliessend Altphilologie. Die vielfach preisgekrönte Autor lebt zurzeit bei Frankfurt am Main.

Rezension zu «Die Familie» auf literaturblatt.ch

Rezension zu «Der Kreis» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild: Andreas Maier auf dem Erlanger Poetenfest 2019 (Wikipedia)

Andreas Maier «Die Familie», Suhrkamp

«Die Familie» ist ein zu tiefst beeindruckender Roman über Brüche; jene in der Geschichte, jene zwischen den Generationen. «Die Familie» ist das Protokoll einer Zerstörung, die Auswirkungen dessen, was ein Familientsunami ausrichten kann, auch wenn zwischen Erschütterung und Überflutung Jahrzehnte liegen. Exhumierung von Geschichte!

«Meine Familie ist eine Familie, die immer Grabsteine gemacht hat. Auch ihren eigenen», steht vor dem Epilog zu Andreas Maiers neuem Roman «Die Familie». «Wir sind Kinder der Schweigekinder», in einem Dialog, nachdem es dem Erzähler wie Schuppen von den Augen fällt. Schlüsselsätze für den Autor, Schlüsselsätze für mich als Leser. Ob autobiographisch oder nicht, was letztlich keine Rolle spielt, beschreibt Andreas Maier in seinem neuen Roman ein weit verbreitetes Familienphänomen; das Schweigen. Ausgerechnet dort, in jenem Gefüge, der Wiege des Staates, dem Nest aus dem jeder Vogel ausfliegt, werden Schweigen kultiviert und Geheimnisse gehütet. In einer deutschen Familie jenes Deutschland ausgeblendet, das sich tausend Jahre lang auf einen mehr als gewaltigen Marsch durch die Geschichte aufmachen wollte und glücklicherweise, aber zu einem unsäglich hohen Preis, scheiterte.

«Die Familie» erzählt Geschichte, auch jene, die nicht stattgefunden haben darf. Andreas wächst als eines von drei Kindern in einer Kleinstadt auf, am Ufer eines Flusses, auf einem grossen Grundstück, auf dem einst ein Mühle stand, später die Hallen einer Fabrik. Andreas Vater ist Jurist, gefragter CDU-Mann, hochgeachtetes Mitglied der Gesellschaft. Das familieneigene Grundstück, das seit Generationen der Familie gehören soll, von Mauern und Gewächs umgeben, steht in Kontrast zu all den kleinen Wohneinheiten rundum und versinnbildlichendes Zeichen für Erfolg, Wohlstand und eine grosse Portion Überlegenheit. Man ist sich seines Standes bewusst.

In dieser Welt wächst Andreas auf, auch wenn er schon als Kind merkt, dass sich Risse in den Grundfesten bilden. Zum einen, weil sich der um ein paar Jahre ältere Bruder partout nicht zähmen lässt, als Kind lieber auf dem Kinderplaneten spielt, als Jugendlicher lieber im Jugendzentrum hockt und vom Sozialkundelehrer Krafft «schlecht beeinflusst» wird und schlussendlich sogar ganz mit der Familie bricht. Zum andern, weil sich auch die Schwester niemals fassen lässt, der Onkel, der Bruder seiner Mutter angeblich nur noch die Konfrontation sucht.

Das mit allen Mitteln verteidigte Familienidyll, das der Vater wenn nötig auch mit juristischen Mittel zu verteidigen weiss, kippt endgültig, als die Mauern der alten Mühle fallen, des letzten Überbleibsels einer Geschichte, die man mit viel Strategie unter einer soliden Grabplatte verschwinden lassen wollte. Der Fall jener Mauern hört nicht mehr auf, sie decken alles zu, was Mutter und Vater mit ihrem Schweigen im Verborgenen belassen wollten. Bis der mittlerweile zum Schriftsteller gewordene Erzähler durch eine Freundin erfährt, dass nichts von der angeblichen Familiengeschichte und hochgehaltenen Familientradition so ist, wie der Schein es wahren sollte.

«Die Familie» ist durchaus exemplarisch. Fast am Schluss steht der Erzähler vor einem Grab. Nicht jenem seiner Familie, aber am Grab einer jüdischen Familie, die wie Hunderttausende anderer unter der Hakenkreuzfahne enteignet und vernichtet wurde. So wie sich damals Familien «pulverisierten», tut dies die Wahrheit mit der Familie des Erzählers.

«Es bedeutet, dass es mich gar nicht gibt.»

Andreas Maiers Roman fesselte mich! Kaum ein Gefüge ist derart zerbrechlich wie «Familie». In keinem Gefüge kann ein Virus derart katastrophale Auswirkungen haben wie in der Familie. Viren, die durch Lüge und Schweigen freigesetzt werden und dieses Gefüge über Generationen vergiften. Andreas Maier schrieb keine Anklage, aber man spürt sein Leiden. Wie in keinem seiner Bücher bisher.

© Jürgen Bauer

Andreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier lebt in Hamburg.

Rezension über «Der Kreis» (2016) auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Andreas Maier «Der Kreis», Suhrkamp

Andreas Maier ist ein Meister der Sprache. Wer ihn und sein Schreiben mag, ist vorsichtig, wenn es ums Weiterempfehlen seiner Bücher geht. Dieses Geschenk ist zu kostbar, als dass es unverstanden und ungeliebt weggelegt werden darf!

In seinem neuen Buch «Der Kreis» erzählt Andreas Maier aus seiner Kindheit, nicht wirklich in Romanform, schon gar nicht chronologisch. Sein Grossprojekt ist mit «Der Kreis» einen Band weiter. Der Gang durch seine Heimat wird schlussendlich 11 Bände umfassen, eine Familiensaga aus der Wetterau, ein Selbstportrait, mit viel Fiktion sehr ernst genommen, ein autobiographischer Zyklus. Eine Ich-Figur, die allzu oft mit dem Autor Andreas Maier verwechselt oder gleichgesetzt wird, ein fiktionaler Kosmos angelehnt an die Realitäten der Vergangenheit, ohne Handlung, die den Autor «nur langweilt». Seit Beginn des gross angelegten Projekts stehen die Tiel der 11 Bände fest, der Setzkasten, der aber noch leer ist. Die Romane sind viel mehr eine Ortsbegehung, geographisch und psychologisch, familiär und gedanklich, erzählerische Essays, die mit der vom Verlag aufgesetzten Bezeichnung «Roman» allzu sehr Geschichten erwarten lassen. Mit seinen Büchern will Andreas Maier seine Fragen beantworten, im Roman «Der Kreis» unter anderem die Frage nach der Kunst, was sie sein soll. Maier ist Analytiker und Beobachter seines kindlichen Ichs. Das Buch beginnt mit Streifzügen durch die Bibliothek seiner Mutter, Streifzüge eines Siebenjährigen, der die Welt aus Versatzstücken zu verstehen versucht, schon damals tastend auf der Suche nach dem Kern. Andreas Maier beschreibt das Lesenlernen einer Welt, von innen nach aussen mit den Augen und dem Verstand eines Jungen. Schon spannend deshalb, weil Maier bewusst macht, wie viele Spekulationen die Welt der Erwachsenen bei Kindern provozieren.

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Auf dem Literaturmarkt wird verlangt, mindestens alle zwei Jahre ein Buch zu schreiben, möglichst einen Roman, möglichst dick (aufgetragen). Möge er wenn möglich, auf eine der Long- und Shortlists kommen. Andreas Maier aber will nicht Bücher um jeden Preis «heraushauen». Sein Buch, sein Projekt entzieht sich den gängigen Mustern der Buchmode, erfrischend. «Ich hörte auf, Romane zu schreiben und begann einfach zu schreiben, ohne zu enden, zumindest vorläufig.» Mag sein Projekt manchem wie ein Hamsterrad erscheinen, Andreas Maier taucht mit jedem Band neu, nicht mit dem Anspruch einer Chronologie, erzählt die Figur, dieses Ich immer wieder neu. Es müsse «entstehen», eine Tür aufgehen, zu dem, was er schon lange erzählen wollte. «Es kommt drauf an, was ich nicht erzähle, damit es funktioniert.» Seine Bücher sind «Krankheits- und Glaubensgeschichte», eine Grundlagenklärung, im Wissen darum, welches Privileg er geniesst, als Schriftsteller leben zu können.

Wenn Andreas Maier liest, sind es durchaus Geschichten, aber kleine Geschichten, genauso als sässe er bei einem Glas Weisswein (!) am Tisch mit anderen und würde erzählen, mal dies, mal das. Verstärkt durch die Gestik während des Lesens, seine Rechte, die seinen Vortrag zu dirigieren scheint.

3056_maier_andreasAndreas Maier wurde 1967 im hessischen Bad Nauheim geboren. Er studierte Altphilologie, Germanistik und Philosophie in Frankfurt am Main und ist Doktor der Philosophie im Bereich Germanistik. Er lebte wechselweise in der Wetterau und in Südtirol. Andreas Maier wohnt in Hamburg.