Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp

Ein Mann kehrt an den Ort seiner Herkunft zurück. Nicht freiwillig, denn mit dem Tod seines alten Vaters kehren die Erinnerungen zurück, das, was er vor Jahren mit seinem Wegzug in die Stadt hinter sich lassen wollte. Florjan Lipuš schmaler Roman „Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein Sprachkunstwerk, ein literarischer Kristall, der das Licht auffächert!

Dass dieses Buch nach seiner deutschen Ersterscheinung 1989 im Residenz Verlag, die slowenische Erstausgabe unter dem Titel „Jalov Pelin“ erschien 1985 im Drava Verlag in Klagenfurt, nun in der gediegenen Bibliothek Suhrkamp erscheint, mag mit dem Gastland Slowenien an der Frankfurter Buchmesse 2023 zusammenhängen. Aber wahrscheinlich viel mehr mit der Tatsache, dass Florjan Lipuš längst zu einem Sprachgiganten geworden ist und die Bibliothek Suhrkamp jener Ort, dem dieser Text gebührt.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp 1533, 2023, aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22533-2

Als Florjan Lipuš 1981, vier Jahre zuvor, mit seinem Roman „Der Zögling Tjaž“, der von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt wurde, viel Aufmerksamkeit weckte, stieg ein Stern auf, der zum Fixstern wurde, auch wenn der Autor selbst sich nie in den Vordergrund rückte. Florjan Lipuš Roman hat nichts von seiner Sprachmächtigkeit verloren. Als würde man vor einem kolossalen Bild stehen, von dem man erahnt, dass es auch in ferner Zukunft Besucherinnen und Besucher demütig werden lässt. „Die Verweigerung der Wehmut“ zeigt alles, womit sich Florjan Lipuš bis heute beschäftigt; mit der Klarheit und dem Farbenreichtum einer Sprache und den Erinnerungen zwischen Trauma und Traum. Dieser Roman lässt mich staunen. Da schreibt jemand, dessen Sprachmacht taumelnd macht, der nicht nur mit einem Instrument spielt, sondern mit einem ganzen Orchester. Sprache, die mich zutiefst berührt und eine Erzählweise, die mit jedem Buch den Schmerz in schöpferische Kraft umzuwandeln weiss.

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein Mann, der in der Stadt ein neues Leben aufgebaut hat, kehrt ins Dorf seiner Herkunft, seiner Kindheit, seines Traumas, seines Urschmerzes zurück. Sein Vater ist gestorben, man trägt ihn zu Grabe. Schon im Zug dorthin drängt sich in Träumen und Gedanken der Alp der Vergangenheit auf; die Verschleppung der Mutter, die Strenge und Härte des Vaters und die Enge des Ortes tief in den Bergen Südkärntens. Er erreicht das Dorf und bleibt doch für sich. Er taucht ein in die Riten und Gebräuche eines Dorfes, den immer wiederkehrenden Totengesang eines Lebens, das von Traditionen und Geboten geprägt ist. Er bleibt aussenvor, ein Betrachter, der weniger durch das Geschehen, als durch das, was es auslöst, in die archaische Gegenwart hineingezogen wird. Es tauchen Bilder, Vergessenes, Vedrängtes auf, so intensiv, dass es den Erzähler hinaustreibt, weiter hinein ins Tal, bis an jenen Ort, wo von den Resten jenes Hauses, in dem das Urtrauma geschah, fast nichts mehr zu erkennen ist. Aber was sich die Natur zurückgenommen hat, bleibt in den Erinnerungen des Erzählers wie ein zäher, klebriger Brei.

„Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein lyrisch geschriebener Prosatext, der weit mehr als bloss nacherzählen will. In lange mäandernden Sätzen, farbig gezeichneten Bildern zwischen Groteske und Traumbildern, hyperrealistischen Szenarien und tiefsitzender Melancholie, beschreibt Florjan Lipuš einen Mann, der mit sich kämpft, der sich den Resten einer verlorenen Kindheit anzunähern versucht. Als ob der Autor die Sicht zurück mit den inneren Bildern einer Camera obscura beschreibt; über die Wirklichkeit hinausfliessend. Florjan Lipuš kann, was vielen verwehrt bleibt; Er braucht die Sprache nicht, er spielt auch nicht mit ihr – seine Sprache ist Musik!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter «Der Zögling Tjaž», übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.

Fabjan Hafner, geboren 1966 in Klagenfurt, studierte Deutsche Philologie und Slawistik (Slowenisch ) in Graz und war seit 1998 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt tätig. Für seine Übersetzungen, unter anderem von Florjan Lipuš und Tomaž Šalamun, wurde er vielfach ausgezeichnet. Hafner lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2016 in Feistritz im Rosental/Bistrica v Rozu (Südkärnten).

«Schotter» von Florjan Lipuš, Rezension

«Seelenruhig» von Florjan Lipuš, Rezension

Beitragsbild © Marco Lipuš

Florjan Lipuš «Schotter», Jung und Jung

«Schotter» ist keine Geschichte, aber erzählte Geschichte. «Schotter» ist lautes Denken darüber, was Vergessen und Verdrängung anrichten kann, wenn Leiden und Erinnerung zum Permaschmerz werden. «Schotter» verlangt von Leserinnen und Lesern genauso viel ab, wie es Florjan Lipuš Überlebensfrage ist, sich zu erinnern.

Florjan Lipuš musste als Kind mitansehen, wie seine Mutter wie eine Kriminelle verhaftet und abgeführt wurde, weil sie als Partisanen verkleidete Gestapomänner bewirtete, während Florjans Vater in der deutschen Wehrmacht Kriegsdienst leistete. Florjan Lipuš Urtrauma, über das er in allen seinen Büchern auf die eine oder andere Weise schreibt. Sein erster Identitätsverlust, aber längst nicht sein letzter, weil er dort geblieben ist, an der Grenze der Sprachen, der Sprachgrenze zwischen Deutsch und Slowenisch, an der Grenze zwischen Vergessen und Bewahren, an einer Grenze, an der sich noch immer unüberwindbare Gräben ziehen, Gräben in denen Hass und Verblendung mottet, Hass, der sich bis in die Gegenwart manifestiert und Lipuš befürchtet, dass die Zeit jene Wunden nicht heilt.

Überall finden Gedenkmärsche statt «gegen das Vergessen». So auch diesen Frühling in Klagenfurt, der Hauptstadt Kärntens, jenen zum Gedenken, die am 29. April 1943 wegen angeblichen Hochverrats nach einem Schnellgericht hingerichtet wurden, darunter Bewohner jenes Ortes, in dem Florjan Lipuš aufwuchs. Dabei sind die Motive jener, die daran teilnehmen ganz verschieden; von tiefem Verlustschmerz über Angehörige oder Freunde bis zur reinen Neugier. Was macht dieses Gedenken mit einem Dorf, in dem jeder jeden kennt? – Und Florjan Lipuš kennt sein Dorf, ein Dorf, das wie viele andere damals mitten in den Wirren des Krieges steckte, eines Krieges, der im Mai 1945 nicht einfach aufhörte wie ein lang andauerndes Unwetter.

Florjan Lipuš entlarvt das verräterische Grinsen jener, die mit dem Ausspruch «Alles wird gut» jede Woge glätten, jede Tiefe füllen, jede Untiefe verbergen. Aus «Schotter» schreit die Angst, dass nichts besser wird, dass die Geschichte keinen Anlass zur Hoffnung gibt, dass das Böse aus der Vergangenheit in der Gegenwart verschwinden würde. Es versickert in den Schottersteinen zwischen den Baracken, in denen Frauen wie seine Mutter gemartert und gequält wurden. Doch was versickert, ist nicht weg, nur verborgen, mottet und fault im Untergrund weiter.

Gibt es eine angemessene Form des Erinnerns? Genügt ein Augenblick, eine Denkpause, ein Gedenkmarsch, der sich nur wenig in das Leben des Einzelnen einmischt? Ich spüre in den Sätzen dieses Buches den ungestillten Schmerz, das ewig scheinende Wehklagen darüber, dass gewisse Verletzungen durch nichts getilgt werden können. Im Gegenteil. Die Angst vor versuchter Tilgung potenziert den Schmerz.

Florjan Lipuš schreibt mit spitzem Bleistift gegen das Vergessen, schreibt von Hand auf Papier, gegen das Flüchtige, das Ungefähre, gegen das Oberflächliche. Als würde sich die Spur seines Bleistiftes durch das Papier hindurch in die Seelen seiner Leserinnen und Leser graben, einer Sorte Mensch, denen Achtsamkeit mehr als nur Modewort ist, die Bücher wie Schätze mit sich herumtragen, auch wenn der Edelstein von dunkler, lichtschluckender Farbe ist. Er leidet mit den Frauen, die seine Mütter waren, den Frauen, denen man alles Grauen auferlegte, die keine Chance hatten, ihm zu entrinnen.

Ein kleines Interview mit Florjan Lipuš:

Es sind immer die gleichen oder ähnlichen Themen, um die sich ihr Schreiben bemüht. Fühlen Sie sich manchmal nicht als Gefangener?
Als Gefangener fühlt man sich als Kärntner Slowene in mancherlei Hinsicht, allein schon wegen der Sprache und der Reaktion der Öffentlichkeit auf sie, durch familiäre Verhältnisse, durch persönliche Entscheidungen, durch die man sich freiwillig in die Gefangenschaft begibt. Auch das Dorf nimmt einen gefangen.

Sie schreiben in „Schotter“ über „das Dorf“, mit Sicherheit über ihr Dorf, in dem Sie schon seit Jahrzehnten leben. Hat sich das Verhältnis zwischen Ihnen und dem Dorf und umgekehrt in all den Jahren verändert?
Es hat sich stark zum Schlechten verändert. Mein Verhältnis zum Dorf hat sich sicher verschlechtert und umgekehrt auch.

Der Krieg, die Gewalt sitzt sitzt wie ein unsterblicher Virus in den Genen der Menschen. Ist die Hoffnung auf „Frieden“ Augenwischerei? Vor allem jetzt, wo sich eigentlich die ganze Kraft der Menschheit hin zum Klimaschutz bündeln müsste?
Hier sind Berufenere aufgerufen, für vernünftige und brauchbare Lösungen zu sorgen.

Sie waren einmal Lehrer. Stünden Sie vor einer Schar junger Lehrerinnen und Lehrer, was würden Sie ihnen ganz besonders ans Herz legen?
Als Lehrer fühlte ich mich ganz und gar und in jeder Hinsicht für die mir anvertrauten Kinder verantwortlich, aber ich würde nie Erwachsenen irgendwelche Ratschläge erteilen. Ich fände es anmassend, meinen Mitmenschen irgendetwas ans Herz zu legen.

Ich weiss, dass Sie mit Bleistift schreiben. Eine fast zärtliche Geste angesichts der Wucht, die in Ihrer Sprache liegt. Im Gegensatz zur Lebensspur lässt sich jene eines Bleistifts radieren. Liegt darin der Reiz solchen Schreibens?
Der Bleistift hat für mich nur einen Sinn, nämlich Bleistift zu sein, einfach und praktisch. Und radiert wird auf meinen Blättern überhaupt nicht, sondern durchgestrichen und neu formuliert. So kann es sein, dass ein Satz dann im Buch eine halbe Seite oder einige Millimeter Bleistift verbraucht hat.

Manuskriptseite, vom Autor zur Verfügung gestellt © Florjan Lipuš

«Schotter» ist Mahnmal. «Schotter» ist Denk-mal!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach, Unterkärnten. Er veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Ubersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen: Petrarca-Preis 2011, Franz-Nabl-Preis 2013 und Grosser Österreichischer Staatspreis 2018.

Der Übersetzer Johann Strutz, geboren 1949, lebt als Literaturwissenschaftler und Übersetzer in Ruden/Ruda, Kärnten. 2011 erhielt er den Österreichischen Staatspreis für Literarische Übersetzer.

Rezension von Florjan Lipuš «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

«Ich schreibe, um mich selbst zu retten» literaturblatt.ch vom 17. 11. 2017

«Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert» Florjan Lipuš erhält den Österreichischen Staatspreis 2018

Beitragsbild © Sandra Kottonau

Wenn sich Grösse in der Enge fast verliert; Florjan Lipuš

Der Grosse Österreichische Staatspreis ging 2018 an den Schriftsteller Florjan Lipuš. Vor einem Jahr besuchte ich den Schriftsteller in seinem Haus in Südkärnten und begegnete einem bescheidenen Schriftsteller, der in aller Stille für die Sprache, für die Literatur, gegen das Vergessen, gegen seinen Alptraum ankämpft. Unweit von seinem Haus las Florjan Lipuš im slowenischen Kulturverein Trat in Sittersdorf.

Männer mit schwarzen Anzügen und farbigen Krawatten eröffneten die feierliche Lesung im Kulturzentrum der kleinen südkärntner Ortschaft Sittersdorf. Damit ehrte Sittersdorf jenen Schriftsteller zur Verleihung des Österreichischen Staatspreises, ausgerechnet jene Gemeinde, an die Florjan Lipuš nach einem unseeligen Streit seine Ehrenbürgerschaft zurückgegeben hatte.

Jene Gemeinde, deren Gemeinderäte in der ersten Reihe sassen, stimmte 2017 gegen zweisprachige Ortsschilder, deutsch und slowenisch. Jenem Gemeinderat gab Florjan Lipuš nach dieser Verweigerung einer «offenen Zweisprachigkeit» die vor mehr als 20 Jahren verliehene Ehrenbürgerschaft zurück. Florjan Lipuš, der zwar slowenisch spricht und schreibt, aber weit über den slowenischen Sprachraum geschätzt und verehrt wird, weiss, was Ausschluss und Verweigerung von Vielfalt in Kärntens Geschichte ausrichtete. Der Ortstafelstreit in Südkärnten ist ein unleidiges Kapitel in einem seit Generationen schwelenden Sprachenstreit in Südkärnten. In diesem Streit steckt ein tief verwurzeltes Misstrauen der jeweils anderen «Volksgruppe» gegenüber, über Generationen nicht zuletzt von der Politik geschürt, durch Weltkriege bis tief in die Seelen der Landschaft gebrannt, geschossen und eingeschnitten.

Schon vor zwei Jahren war Florjan Lipuš für den Grossen Österreichischen Staatspreis vorgeschlagen, bekam ihn aber nicht. Die Begründung damals: Florjan Lipuš schreibe nicht auf Deutsch. Das sorgte international für Kritik, nicht nur in der Literaturszene. Slowenisch ist eine von mehreren Sprachen in Österreich, eine Diskussion darüber sollte gar nicht erst geführt werden müssen, so der Tenor damals.

So zart die Person des 81jährigen, so kräftig das Schreiben und die Texte des Autors, so unverrückbar und stur die Fronten des Stellvertreterkrieges in den Tälern Südkärntens. So sehr die Geschichten, Romane und Erzählungen des grossen Schriftstellers um Vergebung ringen, mit der Vergangenheit kämpfen, sich in tiefen Verletzlichkeit ereifern, so schwer tut sich die Heimat des Dichters mit seiner Zweisprachigkeit. Ausgerechnet dieses kleine Zeichen, mit dem Vielfalt und Offenheit demonstriert werden könnte, wächst sich im kleinen Dorf südlich der Drau zu einem K(r)ampf aus.

Florjan Lipuš ist die Bescheidenheit in Person. Aber eine Bescheidenheit, die kein Blatt vor den Mund nimmt, die sich einmischt. Mit dem Grossen Österreichischen Staatspreis ist zu hoffen, dass dem Dichter die gebührende Aufmerksamkeit zuteil wird und dass all die Werke, die in Deutsch nicht mehr erhältlich sind, wieder verlegt und gelesen werden.

Wären Ortsschilder-, Sprachen- und Ehrenbürgerstreit nicht Tatsachen, wären sie perfekter Stoff für einen Roman über die oberflächliche Idylle einer wunderschönen Landschaft, freundliche Leute und ein Dorf, über dem die Kirche thront, ein Idyll, dass sich Wirklichkeit und Tatsache entgegenstellt. Wenn es früher die Angst vor Vereinnahmung war, so hat sich heute die Angst nur minimal verlagert, die Angst vor «Kulturverlust» der sarazzinisch, feindlichen Übernahme, der global intellektuellen Verladung, geistiger «Verwüstung». Der Sprachenstreit ist ein Stellvertreterstreit.

Der Saal in Sittersdorf war voll. Ich sass in der hintersten Reihe. Die Texte der Musik waren slowenisch, die Texte, die Florjan Lipuš las, slowenisch. Das einzige, was ich an diesem Abend verstand, waren die übertrieben lauten Lacher und die Klingeltöne in den Taschen der Alten. Ich verstand kein Wort. Macht nichts. Ich verstehe Florjan Lipuš auch sonst. Ich war da, weil ich dem Autor die Ehre erweisen wollte, weil da ein Grosser las!

Auszug aus der Begründung des Kunstsenats des Grossen Österreichischen Staatspreises: «Florjan Lipuš, der 1937 als Sohn einer Magd in Lobnig oberhalb von Bad Eisenkappel/Zelezna kapla geboren wurde, ist ein Kärntner Schriftsteller slowenischer Sprache, der bereits 1981 mit seinem von Peter Handke und Helga Mracnikar ins Deutsche übersetzten Roman «Der Zögling Tjaž» in der internationalen Literaturwelt großes Aufsehen erregt hat. Im «Zögling Tjaž» ist sein gesamtes erzählerisches Opus thematisch angelegt, das er in zahlreichen Romanen und Erzählungen weiterentwickelt und entfaltet hat. Lipuš behandelt in seiner Literatur den Widerstand gegen den Nationalsozialismus, die Vertreibung und Ermordung der Kärntner Slowenen, die Geringschätzung der slowenischen Minderheit durch die Mehrheitsbevölkerung, aber auch die Rettung der schwindenden Welt slowenischer Wörter und Wendungen als Grundlage einer neuen selbstbewussten Identität.»

Rezension von «Seelenruhig» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Marko Lipus

Florjan Lipuš „Seelenruhig“, Jung und Jung

Florjan Lipuš ist Stilist. „Seelenruhig“ ist kein Roman, keine Erzählung und auch kein Essay. Aber Sprachkunst, solche, die man nicht so einfach in sich hineingiessen kann. Es sind Sprachbilder, um die ich mich bemühen musste, die sich nicht so einfach erschlossen. Und doch betört mich das schmale Büchlein, bettet mich ein in eine dicke Wolke aus Fabulierfreude, rätselhaften Innenansichten und der Gewissheit, dass Sprache viel mehr erzeugen kann, als blosse Wiedergabe.

In Florjan Lipuš Seele ist keine Ruhe. Und doch passt der Titel. Der grosse Kärntner begegnet den verstorbenen Seelen; seiner Mutter, seinem Vater, seiner Grossmutter. Er streift durch die Landschaft seiner Heimat, vorbei an Orten, an denen scheinbar nur noch wenig erinnert an das, was einmal unauslöschlich schien. An die Orte seiner Kindheit. Den Stein, nicht weit vom kleinen Hof seiner Eltern, auf dem sein Vater während der Arbeit auf dem Feld ausruhte. Ein Stein, der heute mitten in einem Wald Wanderer dazu einlädt, eine Rast einzulegen. Ein Stück Wald, in dem nichts mehr an den einstigen Hof, sein einstiges Zuhause erinnert. Das vergessen sein wird, wenn er, Florjan Lipuš einmal nicht mehr sein wird.

“Ein Schriftsteller, der sein ganzes Leben an ein und demselben einzigen Text schreibt.“

Florjan Lipuš schreibt gegen das schwere Erbe seiner eigenen Lebensgeschichte an. Nicht nur dass man ihm als kleiner Junge seine Mutter durch Denunziation, Folter und Mord nahm. Da lastet auch ein stummer Vater, der ihm durch sein beharrliches Schweigen nicht nur seine Fragen, sondern auch seine Antworten vorenthielt. Antworten, nach denen Lipuš auch nach 80 Jahren noch sucht. Immer und immer wieder, mit jedem seiner Bücher, und in diesem mit ganz besonderer Perspektive. Ein Buch voller Fragen an den Vater, an seine Geschichte, an in den Tod gezerrte Geheimnisse.

“Sie wusste um den Albtraum, der früher auf ihm gelastet hatte und den sie mit vereinten Kräften vertrieben hatten, eigentlich war sie es, die an die Stelle des Albs ihre Liebkosungen und ihren Liebesüberschwang eingesetzt hatte.“

“Seelenruhig“ ist ein Buch über seine Leidenschaft. Eine Leidenschaft, die schon in seinen frühen Jahren, fühlbar, spürbar und sichtbar wird. Ein Blitzen um und über ihm. Eine feinstoffliche Wahrnehmung. Er beschreibt sie so bildhaft, spürt seinen Empfindungen nach, dass er mich mitnimmt, mich während des Lesens glauben macht, diesen ganz nah zu kommen. Auch wenn es sich im Nachhinein nur als Sehnsucht erweist, es dem Autor in dieser Weise gleichtun zu können.

“Wenn wir uns der Sprache bedienen, enthüllen wir mit ihr unseren Kern, geben wir unsere Charakterfestigkeit kund, kehren wir das Innerste nach aussen.“

Ich bewundere Florjan Lipuš für seinen Mut. Einen Mut, den er selbst wohl gar nicht als solchen erkennen würde. Er tut, was er kann. Und das kann er mit jedem seiner Bücher unverwechselbarer. Wie da einer schreibt, über Leidenschaft, Lust und Zorn. In einer Art, die mich zweifeln lässt, ob ich selbst schon zu taub, zu blind, zu einfältig bin, oder das Vergessen schon alles schluckte. Zorn dann, wenn sein ambivalentes Verhältnis zur Kirche hervortritt. Die Sehnsucht nach Entschleunigung, wenn ihn eine Kirche mit Ruhe umschliesst. Und die unverhohlene Kritik über eine Kirche, die zur Selbstreflexion unfähig ist. Eine machtversessene Kirche, darüber wie sehr sie knechtet und alles andere als an der Mündigkeit ihrer Seelen interessiert ist. In diesen Passagen des Buches ist keine Altersmilde zu spüren. Sein Text geisselt und schimpft.

Zugegeben, die „Erzählung“ verlangt einem einiges ab. Aber Florjan Lipuš belohnt mich mit einer Tiefe, von der es in der aktuellen Literatur dergleichen nicht viele gibt.

Florjan Lipuš veröffentlicht auf Slowenisch Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt den Petrarca-Preis 2011 und den Franz-Nabl-Preis 2013.

Titelfoto: Sandra Kottonau

Florjan Lipuš „Ich schreibe, um mich selbst zu retten.“

Über dem Kärntner Jauntal direkt am Waldrand über der 200Seelen-Ortschaft Sele/Sielach wohnen Maria und Florjan Lipuš. Florjan Lipuš ist einer der bedeutendsten österreichischen Schriftsteller der Gegenwart. Ich besuchte den 80jährigen zusammen mit meiner Frau und staunte über die Zartheit dieses grossen Schriftstellers.

2012 erschien bei Suhrkamp eine Neuauflage des 2003 auf slowenisch erschienenen Romans „Boštjans Flug“ mit einem Nachwort von Peter Handke. Nicht erst damals war mir Florjan Lipuš ein Begriff. Aber seitdem nehme ich mir bei jedem Besuch im Geburtsort meiner Frau nicht weit von dem des Schriftstellers vor, diesen zu besuchen. Aber Florjan Lipuš ist in keinem Telefonverzeichnis zu finden, keine Adresse, im Netz bloss wage Angaben zu seinem Wohnort. Das soll wohl so sein. Florjan Lipuš liebt nichts mehr als die Stille. Also klingelten wir an der Haustür einer Familie Lipuš, an einer Tür zu einem Haus mit grossem Garten. So wie mir mein Schwager, der nicht weit von dem Haus Felder bewirtschaftet, riet. Meine Frau mit einer Tasche, ich mit einem Bündel Bücher unter dem Arm. Kein Wunder war die Frau, die uns öffnete misstrauisch. Ich an ihrer Stelle hätte Zeugen Jehowas vermutet.

Florjan Lipuš, ein grosser, stiller Schreiber, Dichter und Denker, der nirgendwo sonst leben könnte als an diesem ruhigen Ort zwischen Karawanken und Drautal. Jenem Gebiet, das wegen seiner Zweisprachigkeit Deutsch/Slowenisch wie kaum eine andere Gegend in Mitteleuropa im 20. Jahrhundert zwischen die Fronten geriet. 1937 kam Florjan Lipuš dort zur Welt, ein Kärntner Slowene. „Kärnten ist das einzige Land in Europa, das sich vor einer Sprache fürchtet.“

Florjan Lipuš schrieb Romane und Erzählungen. Sein erster Roman „Der Zögling Tjaž“ (Zmote dijaka Tjaža, 1972) wurde 1981 übersetzt von Helga Mračnikar und Peter Handke, mit dem er gemeinsam ein kirchliches Gymnasium besuchte. Alle Texte Florjan Lipuš drehen sich um seine Heimat, ohne dass er ein Heimatschriftsteller geworden wäre. Niemand schreibt schärfer als er über ein Land „am Arsch der Welt“, im Würgegriff von Zwängen und Normen. Es sind Bilder seiner Kindheit und Jugend, die ihn noch immer drangsalieren, die Verschleppung und den Mord an seiner Mutter 1943 durch die Gestapo, das Zürückgelassensein, die Lieblosigkeit. Lipuš, Sohn einer Magd und eines Knechts misstraut den Menschen, misstraut sich selbst, seinem Glück und erst recht dem Leben als „Künstler“. Seit mehr als 50 Jahren schreibt der Dichter in der Abgeschiedenheit seines Zuhauses mit Bleistift. Lipuš, der nichts so sehr verabscheut wie Oberflächlichkeit. „Ich müsste lügen, wenn ich sagen würde; ich schreibe um gelesen zu werden. Ich schreibe, um mich selbst zu retten. Florjan Lipuš, dessen Mutter im KZ Ravensbrück umgebracht wurde, weil man ihr durch eine hinterhältige Falle unterstellen konnte, mit Partisanen zu sympathisieren, dessen Vater bei der Wehrmacht war und der nach dem Tod seiner Mutter allein mit seinem kleinen Bruder im Haus zurückblieb, schreibt gegen das Trauma seiner Kindheit. Er kämpft gegen das Vergessen, das Vergessen von Geschichte. Er schreibt gegen den Schmerz, gegen das Vergessen unter dem tonnenschweren Gewicht einer Jahrhundertkatastrophe. Lesen Sie „Boštjans Flug“ in der wunderschonen Ausgabe aus dem Suhrkamp Verlag, übersetzt von Johann Strutz! Die Zartheit in seiner Person spiegelt sich in der Zartheit seiner Bilder und Sprache.

Auf literaturblatt.ch erscheint bald eine Besprechung zu seinem bei Jung und Jung erschienen Roman «Seelenruhig».