Die 45. Solothurner Literaturtage – Welten, die aufeinandertreffen!

Wie gut, dass es in Zeiten globaler Krisen Gelegenheiten wie die Solothurner Literaturtage gibt, die in konstruktiver Weise versuchen, vieles von dem zu spiegeln, was Grund genug gäbe, an den gegenwärtigen Tatsachen und ihrer Wirkungen zu verzweifeln. Wie noch nie strömten Besucherinnen und Besucher, als wäre jedem bewusst, wie schmal der Grat geworden ist.

Die Solothurner Literaturtage sind das Flaggschiff im nationalen Literaturbetrieb. Als solches von beachtlicher Grösse und mit viel Masse und Wasserverdrängung. Kein Wunder, wenn der eine Kapitän von Bord geht, dass es zuweilen vernünftig ist, diesen schweren Kahn unter eine furchtlose Doppelleitung zu stellen. Nathalie Widmer und Rico Engesser, beide noch lange nicht so alt wie das Festival selbst, müssen bestehen im Spagat zwischen den Erwartungen jener, die Tradition und Beständigkeit hochhalten und anderen, die dem in die Jahre gekommenen Schiff am liebsten mehr als nur neue Segel setzen wollen. 

Aber ganz offensichtlich goutiert man der neuen Leitung den guten Mix zwischen modernem Gesicht und reifer Haltung. Schon am ersten Tag wurden die Veranstaltungen förmlich überrannt. Lange Schlangen bildeten sich vor den Eingängen und Interessierte mussten freundlich weggewiesen werden, weil jeder mögliche Sitzplatz besetzt war. Der Dichter und Schriftsteller Andreas Neeser meinte im Vorfeld seiner Lyriklesung, es würden sich wohl nur eine Handvoll Interessierter an seiner Lesung finden, weil gleichzeitig Kim de L’Horizon im grossen Landhaussaal las. Weit gefehlt. Klar, die Schlange vor dem Landhaussaal war überwältigend. Aber genauso jene, die sich vor dem Einlass zur Lesung von Andreas Neeser formierte. Und als der Dichter dann las, die Stimmung von raunender Erwartung in andächtige Stille überging, war das Sprachglück fast mit Händen zu greifen. So wie sich Neesers Gedichte den Konventionen entziehen, ohne mich zu brüskieren, so schafft es das Festival immer wieder zwischen Tradition und Zeitgeist Brücken zu schlagen.

Das Festival zählt 45 Lenze. Ich mag den neuen Anstrich, die motivierte Crew und die zurückhaltenden Steuerleute, die das «Festivalgeschäft» schon jahrzehntelang kennen und es bestens verstehen, die verschiedensten Strömungen unter die gleiche Takelage zu bringen.
So wie beispielhaft die 25jährige Newcomerin Mina Hava mit ihrem Debütroman «Für Seka» und der 80jährige Routinier, das literarisches Urgestein Christian Haller mit seiner Novelle «Sich lichtende Nebel».

Mina Hava bei ihrer Lesung in der SRF-Sendung «Kultur-Talk» in der Cantina del Vino

Mina Hava schrieb sich mit ihrem Roman «Für Seka» in eine tiefe Auseinandersetzung mit ihrer Herkunft Bosnien, dem Ort Omarska, der es im Krieg in den 90er Jahren nie in ein kollektives Bewusstsein schaffte, obwohl die Gräuel, die der Krieg in und um jenes Gefangenenlager anrichtete eine Wunde klaffen lässt, die bis heute weit weg von einer historischen Aufarbeitung steht. Was damals in Srebrenica vor den Augen der Weltöffentlichkeit geschah, ritzte sich ins kollektive Bewusstsein. Was in Omarska passierte, begegnete selbst der Autorin, deren Familie ganz in der Nähe lebt, erst im Laufe ihrer Recherchen zu ihrer Herkunft. Omarska, ein Konzentrationslager damals, noch heute eine Mine, in der gnadenlos ausgenutzt wird, was Menschenkraft und Natur hergibt. Omarska, ein Schreckensort ohne Denkmal, wo man alles andere als interessiert ist, die Leichen in Massengräbern mit ihren Geschichten zu Tage zu bringen.
«Für Seka» ist nicht einfach Geschichte, die erzählt wird, sondern ein literarischer Zettelkasten genau jener Recherchen, mit denen Mina Hava in Rückblenden in verschiedene Vergangenheiten taucht. Auch eine Auseinandersetzung zwischen Bosnien und der Schweiz, ihre eigenen Geschichte, die sich in der Schweiz nicht «abgebildet» findet. Einmal mehr auch eine Auseinandersetzung mit dem verklärten Begriff der «Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen».

nach seiner Lesung im voll besetzten Landhaussaal beim Signieren seiner Bücher

Oder Christian Haller, der heuer seinen 80. Geburtstag feierte und längst zu den ganz Grossen der Schweizer Literatur gehört. Ob als Romancier, Lyriker oder mit seiner kantigen Art auch als Essayist –  er mischt sich in aktuelle gesellschaftliche Fragen, in seinem neusten Essay «Blitzgewitter», wie weit digitale Medien unser Leben nachhaltig verändern.
Auch sein neuestes Buch, die Novelle «Sich lichtende Nebel» beschäftig sich mit der Wahrnehmung, dem Irritierenden. «Es kann nur existieren, wofür es Wörter, eine Sprache gibt.» Eine Geschichte darüber, wie eine Banalität einer weltbewegenden Idee die Initialzündung gibt. Christian Haller lässt Figuren auftreten, deren Biographien sich durch Handlungen und Ideen ineinander verschränken. Nach zwei Trilogien, die sich mit seiner Herkunft, seinem eigenen Leben auseinandersetzten, war der Stoff um Heisenberg und seine Quantenphysik wie eine neue, noch unbesetzte Keimzelle, die zur Novelle wurde. Eine Novelle, die viel mehr will als das Verbildlichen einer komplexen physikalischen Fragestellung. «Sich lichtende Nebel» ist eine Liebesgeschichte, nicht zuletzt eine zur Liebe des Sehens, des Erkennens.

Mina Hava und Christian Haller stellen Fragen, Schicht für Schicht. Die beiden Bücher repräsentieren das Suchen nach Antworten. Beide in reifer Distanz und doch so verschieden in der Überzeugung, was Erzählen bewirken soll. Sie bricht auf – er ordnet.

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon

„Was sind wir anderes als fortgesetztes Vermuten.“ Kurzprosa und Lyrik vom Feinsten 

Braucht es Mut, Lyrik zu veröffentlichen? Man könnte die Frage Andreas Neeser oder dem Verlag stellen. Andreas Neeser würde antworten, dass sich diese Frage gar nie stellt. Seine Lyrik ist Notwendigkeit! Jene der Welt etwas entgegenzusetzen, was in dem lauten Geschrei, Müll und all der verbalen Gewalt untergeht.

Nach bald einem Dutzend Veröffentlichungen mit Lyrik und Kurzprosa, ob in der Kunstsprache Deutsch oder Mundart, vereint sein neustes Werk alles, mit dem sich Andreas Neeser seit einem Vierteljahrhundert einen Namen macht. Schon im Titel seines neusten Buches „Nachts wird mir wetter“ demonstriert Andreas Neeser, was sein Schaffen ausmacht. Andreas Neeser kann Wörtern eine ganz überraschende Bedeutung geben, sie in ein anderes Licht setzen. „wetter“ ist klein geschrieben, wird zu einem emotionalen Zustand, einem Gefühl. Ein Wort, das sonst in seiner Bedeutung klar umrissen ist. Der Autor nimmt die Mundart ins Hochdeutsche hinein, gibt einzelnen Sätzen und Texten eine ganz eigene Färbung, einen Geschmack, der sich durchaus lokal verorten lässt, den Sätzen und Texten aber nichts von ihrer Gültigkeit, ihrem Verständnis nimmt. Ganz im Gegenteil; Andreas Neeser wird mit seiner Schreibkunst zu einem Unikat. Und Andreas Neeser experimentiert, scheut sich nicht, „Dinge“ in Verbindung zu bringen, die sich sonst nur gegenüberstehen, als würde er als Maler mit ganz verschiedenen Materialien und Ingredienzen ein Neues, Überraschendes kreieren.

Sein Band „Nachts wird mir wetter“ ist in vier Kapitel unterteilt. Im ersten Teil „Naturalia“ widmet sich Andreas Neeser in Kurzprosa Erinnerungen an seinen Grossvater, jener Gegend, dem Garten, den Spaziergängen mit einem Mann, der ihm als Junge gleichermassen Geheimnis und Heimat war.

 

So keime und sprieße ich|inwendig|bilde ich Zellen
mit holprigem Nichts. Ich glaube, ich werde – ein
wahreres Leben. Respekt und Vernunft. Akzeptieren
was ist, und dann loslassen, alles, was war. Wie das
klingt, Hokuspokus, Reiki – im Gegenteil: Dreimal am
Tag geh ich raus mit dem Hund. Überhaupt bin ich
Möglichst oft draußen, ich brauche das Licht. Und die
Luft. Meine Kreise sind enger geworden, Termine sind
Selten, Verholzen braucht Energie, meine ganzen
Reserven – und das ist ein Glück.

 

Andreas Neeser «Nachts wird mir wetter», Haymon, 2023, 80 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-7099-8182-5

Feine Betrachtungen über das eigene Sein, ein Nachspüren der eigenen Verletzlichkeit, ohne die Spur von Weinerlichkeit. Da verrät ein Mann seine Schwachheit, seine Ängste über den Zustand der Welt und seiner selbst.

Im zweiten Teil unter dem Titel „Zungen“ sind es Gedichte über Biographisches, Erfahrungen des Werdens, Erkundungen ohne den Zwang, erkennen zu müssen. Da in jedem in Deutsch geschriebenen Gedicht auch einzelne Mundartwörter eingeflochten sind oder eine einzelne Zeile wie ein Einschluss in einem Stein erscheint, sind diese Gedichte Umkreisungen von Geschmäckern, Gerüchen und Konsistenzen des Lebens. Die Mundarteinschliessungen werfen dabei einen ganz speziellen Schatten, erzeugen schimmerndes Licht.

 

Erweckung

Manchaml noch seh ich dich
damals
am See unserer Kindheit
erwateten zwei sich die Freiheit
und trauten sich
bis zu den Kniekehlen, manchmal
noch seh ich dich
licht auf der Sandbank
so nackt wie noch nie
standest du füdleblutt da als
ein Vorspiel auf Mundart und
Später erfuhr ich
Bei aufkommender Brise
den körnigen Klang deiner Brüste
viel praller und näher am Herz
warst du Blütter als
nackt
bist du immer noch
Zustand von Haut.

 

Mit „Einsagen. Aus“ ist der dritte Teil betitelt. Gedankenfetzen, angehängt an ein Satzzeichen. Gedanken, die schmerzen, die der Dichter nicht ausbreiten will, denen er in der Kürze den Stich mitten hinein lässt:

 

I

: Die Namen der Dinge –
doch das wär zu einfach
für alles.

II

: Aus der Haut fahren
ohne zu wissen
wohin.

III

– wäre das Grauen
nicht so unsagbar
farblos.

 

Auch im letzten Teil „Wettermachen“ bringt Andreas Neeser Wörter in neue Kombinationen, auch wenn hier Mundartausdrücke keine Rolle spielen. Aber das, was der Dichter in Mundart zu schaffen vermag, das gelingt ihm auch in der Kunst- und „Hochsprache“. Er bringt Sprache und Ausdruck in ein anderes Licht, als ob er mit einer einfachen sprachlichen Bewegung, einem Verschieben, den natürlichen Fluss eines Gedankens in neue, andere Bahnen lenken würde.

 

D-Day

Wie Geschwader von Bäuchen
zuehen sie westwärts, gestaffelt
von unten
glänzen die Schuppen
gewittergrau, schieferschwarz
unzeitliches Licht.

Kein Zweifel, sie kriechen an Land
aber uns geht es gut.

 

Andreas Neeser ist mit seinem Lyrikband Gast an den 45. Solothurner Literaturtagen vom 19. – 21. Mai 2023

Andreas Neeser, geboren 1964, lebt in Suhr bei Aarau. Studium der Germanistik, Anglistik und Literaturkritik an der Universität Zürich. Von 2003 bis 2011 Aufbau und Leitung des Aargauer Literaturhauses Lenzburg. Seit 2012 freier Schriftsteller. Zahlreiche Buchveröffentlichungen im Bereich Lyrik und Prosa. Für seine vielfältigen literarischen Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt 2012 mit Atelierstipendien im Künstlerhaus Edenkoben und im Schriftstellerhaus Stuttgart sowie 2014 mit einem Werkbeitrag der Kulturstiftung Pro Helvetia. Der Gedichtband «Nachts wird mir wetter» geht ausserdem als vertontes Text-Stück auf Lesereise – mit Andreas Neeser und der Jazz-Musikerin Sarah Chaksad.

Auf literaturblatt.ch besprochen: «Alpefisch» (2020) Mundartroman, «Wie wir gehen» (2020) Roman, «Nüüt und anders Züüg» (2017) Mundartprosa, «Wie halten Fische die Luft an» (2015) Lyrik

Webseite des Autors

Beitragsbild ©  Ayse Yavas 

Eleonore Frey «Cristina», Engeler

Dass Eleonore Frey mit ihrer Erzählung „Cristina“ an die Solothurner Literaturtage eingeladen wurde, ist ein erster Schritt. Eigentlich würde der Autorin nichts weniger als einer der grossen Literaturpreise zustehen, sei es für ihre neuste Erzählung „Cristina“ oder für ihr Gesamtwerk, mit dem die Dichterin seit über dreissig Jahren für Eingeweihte zum Fixstern am deutschsprachigen Literaturhimmel gehört.

Woran es liegt, dass sich nur ein einziges Buch, das Eleonore Frey je schrieb, Roman nennt, mag ein Geheimnis sein. Vielleicht ist es aber auch nur Teil genau jener Bescheidenheit, die diese Autorin ausmacht, sei es in der Art und Weise ihres Auftritts oder in den Themen, aus denen Eleonore Frey Literatur macht. Ihr Schreiben ist ein Veredelungsprozess. Die ehemalige Professorin für Neuere Deutsche Literatur verwendet ihr Instrumentarium unspektakulär, nie explizit, sondern immer im Dienst des Kunstwerks. Klar ist da eine Geschichte, die erzählt werden will, aber Eleonore Frey durchsetzt ihren Stoff mit feinen Linien, denen sie mit aller Konsequenz folgt, ohne jede Vorhersehbarkeit. Sie umkreist ihren Stoff in verschiedenen Perspektiven, leuchtet ihn nie aus, sondern spürt der Wirkung nach, die Sprache und Inhalt entwickeln. So bescheiden sich ihre Erzählung „Cristina“ auf Verkaufstischen gibt, so dicht, überraschend und überzeugend ist „Cristina“. Was Eleonore Frey kann, ist selten genug – Sprache, die funkelt!

Eleonore Frey «Cristina», Engeler, 2022, 168 Seiten, CHF 18.00, ISBN 978-3-907369-06-7

Cristina ist eine noch junge Frau, die mit Hilfe ihres Mannes auf eine Vergangenheit zurückschaut, die ihr beinahe alles genommen hat. Ein Kind, ein selbst bestimmtes Leben, eine Zukunft und die Hoffnung. Cristine war schon immer ein Kind, das Grenzen auslotete, dass schon früh spüren musste, dass ein Mädchen- oder Frauenleben im Portugal des ausgehenden 19. Jahrhunderts nicht viel zählt. Frauen hatten zu dienen, zu funktionieren. Und als sie nach einer wilden Bekanntschaft mit dem Matrosen Fernando mit siebzehn schwanger wird, ist die Katastrophe besiegelt. Nicht so sehr jene der jungen Frau, als die der Familie, der Mutter, des Vaters, einer ganzen Stadt. Und weil die Schande verborgen werden muss, schickt Cristinas Mutter die junge Schwangere gegen ihren Willen zu einer Tante weit weg aus Land. Die Tante ist Hebamme und mit der wachsenden Freundschaft der beiden Frauen wächst auch die Hoffnung auf eine Zukunft zusammen mit dem werdenden Kind. Aber Cristinas Mutter erweist sich bei der Geburt des Kindes als böser Engel. Zusammen mit einem Pfarrer lässt sie den neugeborenen Jungen von Cristina ungesehen wegbringen, behauptet er sei tot und gibt ihn zur Adoption frei. Der Schmerz für die junge Mutter ist unsäglich. Noch bleibt sie bei der Tante, beginnt eine Ausbildung als Hebamme, aber ihr Entschluss, ihr Kind zu finden, wird zur Manie. Jeden Jungen, der im Alter ihres Sohnes sein könnte, spricht sie an, stets in der Hoffnung, dieser würde ihre Stimme erkennen.

Jahre später trifft Cristina ein letztes Mal ihre Mutter und stellt all die Fragen, die sich nie beantworten liessen. Aber ihre Mutter antwortet nur: Ein Kind? Du hast nie ein Kind gehabt. Das hast du geträumt. Für Cristina ist ihre Mutter gestorben, Jahre vor ihrem eigentlichen Tod.

Wie viel Schmerz kann man ertragen? Gibt es Wunden, die sich nie verschliessen? Eleonore Freys Erzählung spiegelt die Unverträglichkeiten in den Leben vieler Frauen damals, Leben die sich bis in die Gegenwart spiegeln. Geschichten, die offenbaren, dass nicht das Leben selbst wichtig ist, sondern bloss dessen Wirkung. Wie leicht wirft man drohender Schande gegenüber alles in einen Topf! „Cristina“ ist ein mit aller Zartheit nacherzähltes Stück Frauenschicksal, eine Erzählung, die einem in die Knochen fährt, über die Mechanismen einer Zeit, die weder geografisch noch zeitlich weit von der unseren entfernt ist. „Cristina“ ist eine starke Erzählung über eine starke junge Frau, der Familie und Kirche das Rückgrat brechen wollten – und es nicht schafften.

Ich verneige mich tief vor einer grossen Erzählerin!

Eleonore Frey, geboren 1939 in Frauenfeld, lebt in Zürich. Von 1958 bis 1966 studierte sie Germanistik, Romanistik und Komparatistik an der Universität Zürich und der Sorbonne. 1966 promovierte sie mit einer Arbeit über Franz Grillparzer; 1972 erfolgte ihre Habilitation. Von 1982 bis 1997 wirkte sie als Titularprofessorin für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich.

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer schrieb sich in einen Rausch. „Die Inkommensurablen“ ist eine flirrende Momentaufnahme in der Metropole Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bestechend virtuos begleitet sie vier Leben, die in diesen Tagen schicksalshaft miteinander verschlungen werden, in einer Stadt, die in den Wirren der Zeit kocht.

Inkommensurable – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik; nicht messbar, nicht vergleichbar.

Am 28. Juni 1914 starb bei einem Attentat das deutsch-österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Nachdem Russland eine Teilmobilmachung anordnete, Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte und wenig später Russland die Generalmobilmachung erliess, wuchs die Spannung in Europa bis zum Überlaufen. In Wien wartete man elektrisiert auf die unmittelbaren Auswirkungen der Spannungen zwischen den Grossmächten. 

In einer Stimmung aus Euphorie, Umbruch, Ausgelassenheit und Fatalismus steigt am Wiener Hauptbahnhof ein junger Mann aus dem Zug. Hans hat ein Inserat in der Zeitung gelesen. Das Inserat einer Psychoanalytikerin, einer Frau, von der er sich Klärung verspricht. Dass Hans, der im Tirol Pferdeknecht war, und mit seinem Verschwinden auf dem Hof eine Rückkehr unmöglich macht, in eben jenem Wien auftaucht, das zu kippen beginnt, ist Zufall. Hans, der ungewohnt belesen ist und durchaus weiss, was sich auf dem Kontinent abspielt, hat keine Ahnung, in was für eine Stadt er eintaucht. Er war noch nie in Wien. Er war überhaupt noch nie weg, nur immer bei seinen Pferden, von denen er sicher war, dass sie ihn besser verstehen als alle andern auf dem Hof.

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta, 2023, 352 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98647-1

Zielsicher, aber mit kaum mehr Geld in der Tasche, findet er das Haus der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, kann sie überreden, ihn kurz anzuhören und Hans erzählt. Hans ist davon überzeugt, dass er Dinge träumt, von denen andere danach erzählen, dass seine Gedanken mit deren anderer in unerklärlicher Verbindung sind – inkommensurabel, ein Begriff, von dem nicht nur Hans keine Ahnung hat. Nach seiner kurzen Audienz bei der Psychoanalytikerin trifft er Klara und Adam, von denen er förmlich mitgerissen, mitgespült wird. Klara und Adam sind PatientInnen von Helene Cheresch, Klara eine junge Mathematikerin und Adam Sprössling einer Offiziersfamilie. Klara ist kurz davor, ihr Studium in Mathematik zu beginnen als eine der ersten Frauen in Wien und Adam weiss, dass seine Familie mit aller Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich als Freiwilliger meldet, um mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einem heldenhaften Einsatz zum schnellen Sieg zu helfen.

Zu dritt sind sie im Gewusel der brodelnden Grossstadt unterwegs, zuerst zu einem Diner in Adams Elternhaus, das wie erwartet im Desaster endet, später dorthin, wo Klara aufwuchs, in die Gosse, einem Ort, dem Hans mit der gleichen Abscheu begegnet wie das Adams Elternhaus. Hans als Knecht, der an Ordnung glaubt, Adams Eltern, die an eine gottgegebene Ordnung glauben, die ihnen sämtliche Privilegien zugesteht, die ihnen schon seit Generationen versprochen sind.

Ein Dreigespann in einer kochenden Menschensuppe. Hans, der Knecht, Klara, das Mädchen aus der Gosse und der Adlige Adam, durch „Zufall“ zu SchicksalsgenossInnen vereint. Ein ganzes Land, eine Stadt in einem fiebrigen Zustand, weil alles spürt, dass eine Zeitenwende alles verändern wird. Eine ganz ähnliche Situation wie in der Gegenwart, wo jeder, der nicht blind und abgeschottet lebt, genau spürt, dass diese fiebrigen Zustände an Intensität zunehmen.

Raphaela Edelbauer hat jene Tage im Sommer 1914 ausgesucht, eigentlich bloss 24 Stunden, in denen gleich mehrere Welten zu implodieren drohen. Ganz bestimmt das Resultat einer gross angelegten Recherche. Aber die Recherche dient nicht der blossen Staffage. In Raphaela Edelbauers Buch tauche ich in die Tiefen jener Zeit. Ihr Roman will jedoch kein Abbild sein, so wie der Maler, selbst wenn er „realistisch“ malt nie die Realität abbildet. „Die Inkommensurablen“ ist Destillat, im Brennglas betrachtet, schrill und doch glasklar. „Die Inkommensurablen“ ist ein Sprachkunstwerk mit Untiefen, Verzerrungen, Doppelböden und Verschränkungen mit Mathematik und Philosophie. Kein einfaches Lesevergnügen – aber selbst das orientiert sich an Zeiten wie damals und heute.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

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Beitragsbild © Apollonia Bitzan