Dževad Karahasan «Einübung ins Schweben», Suhrkamp

Ein Mann, der hätte fliehen können, bleibt in der belagerten Stadt Sarajevo, weil er „zum ersten Mal die Gelegenheit habe, etwas länger in Grenzsituationen zu leben, um sein wirkliches Selbst kennenzulernen». Ausgerechnet in einer Stadt, in der andere verdammt zum blossen Überleben sind. „Einübung zum Schweben“ ist eine literarische Symphonie.

In Trauer um eine grosse europäische Stimme! 

Sarajevo im Frühling 1992; Peter Hurd, Dichter, Sprach- und Mythenforscher ist für eine Lesung in der Hauptstadt von Bosnien-Herzegowina eingeladen. Er wird begleitet von seinem einheimischen Übersetzer und Freund Rajko Šurup. Weil sich die Situation um die Stadt immer mehr zuspitzt und im März die ersten tödlichen Schüsse fallen, die Stadt am Beginn einer über vierjährigen Belagerung steht, heisst man den walisischen Gast, die Stadt so schnell wie möglich zu verlassen. Auch sein Freund drängt ihn. Aber Peter Hurd bleibt, glaubt, in eben diesem Moment die Stadt nicht verlassen zu können. Nicht weil er beabsichtigt zu helfen, sondern weil er die Erfahrung eines solchen Kriegs mitnehmen will, weil er das Existenzialistische einer solchen Situation miterleben will.

Peter Hurd quartiert sich zusammen mit seinem Freund im Haus von Rajkos Verwandten ein, unter dem gleichen Dach wie Mutter Ljuba und ihre fast erwachsene Tochter Sanja. Das Verhältnis der beiden Freunde ist das eines bewundernden Übersetzers und eines zerstreuten, sehr mit sich selbst beschäftigten Intellektuellen. Die immer grössere Not der Stadt sieht er als Experiment, jenem an sich selbst und jenem an den Menschen, die ihn umgeben. Schnell wird klar, dass der Krieg, die Belagerung, die Schüsse und Granaten immer und überall treffen können. Ob in einer Hochzeit, einer Beerdigung, in die Schlange vor der Bäckerei – überall trifft der Tod. Während sich die einen trotzig der Verrohung stellen, werden andere zu Nutzniessern. Während die einen verbissen versuchen, ihr Leben fortzusetzen, geben sich andere dem Fatalismus hin.

Dževad Karahasan «Einübung in Schweben», Suhrkamp, 2023, aus dem Bosnischen von Katharina Wolf-Grießhaber, 304 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-518-43122-1

Genau diese gegensätzlichen Bilder scheinen Peter Hurd zu betören. Er stürzt sich förmlich in eine Stadt, in der der Tod wütet, in der das hervorbricht, was in „normalen“ Zeiten unter einer Decke aus Konventionen verborgen bleibt. Rajko protokolliert die Veränderungen an seinem Freund. Immer mehr schwindet die Begeisterung und Verehrung für einen Freund, dessen Kunst Rajko stets über alles bewunderte. Peter entzieht sich ihm immer mehr, taucht ab in einer Stadt, der man sich entweder ergibt oder alles daran setzt, sie zu verlassen. Peter bleibt. Aber dieses Bleiben ist ein ganz anderes als das derer, die die Stadt lieben, die dort seit Generationen leben, denen die Stadt Heimat ist.

Sarajevo, eine Stadt, in der die einen hungern und die anderen prassen, die im Sommer nach den ersten Schüssen zu kochen beginnt, in der Unschuldige von Scharfschützen niedergestreckt werden und Granaten Menschenansammlungen treffen, die einen verzweifeln, die anderen Geschäfte machen. Ausgerechnet hier beginnt Peter seinen existenzialistischen Tripp noch auszuweiten, von seinem mehr und mehr zweifelnden Freund unverstanden. Peter nimmt Drogen. Sie sind leicht zu beschaffen in einer Stadt, in der es ausgerechnet davon im Überfluss zu kaufen gibt. Peter gibt sich dem Ausnahmezustand völlig hin, ein Aggregatzustand, der auch andere mitzureissen drohst, nicht zuletzt die junge Sanja, mit der Peter eine Liebe ohne Zukunft beginnt.

„Einüben ins Schweben“ ist vieles; ein Roman über eine Freundschaft, die an der Zeit zu zerbrechen droht, über einen Mann, der sich in einem Zustand treiben lässt, der wie das Schweben in einem Zwischenraum hängt, über den Versuch einer Grenzerfahrung mitten in einer kriegerischen Belagerung, mitten im Sterben, mitten im Kampf ums blosse Überleben. Und „Einüben ins Schweben“ ist die Chronik einer nicht sterben wollenden Stadt, einer Stadt, die sich aufbäumt, die einer jahrelangen Belagerung trotzt, in der Menschen leben, obwohl der Tod sich an jeder Ecke zeigt.

Dževad Karahasan erzählt in starken, kraftvollen Bildern, die in ihrer Unbarmherzigkeit bis an die Schmerzgrenze gehen. Was Dževad Karahasan in seinem Buch „Tagebuch der Übersiedlung“ () nur in Andeutungen schilderte, ist in „Einübung zum Schweben“ unmittelbar. Ein vielfacher Schmerz in einer Sprache, die mit einer Leichtigkeit überzeugt, die in scharfem Kontrast zur Szenerie steht. Dževad Karahasan geht es aber nie um die blosse Schilderung von Elend, Gewalt und Verzweiflung. „Einübung zum Schweben“ ist voller Binnengeschichten über jene Menschen in Sarajevo, die geblieben sind, denen man ihre Stadt auch mit Bomben und Granaten nicht nehmen konnte. Ein Buch, das in der Gegenwart, mit den Bezügen zur Belagerung der Ukraine, dem trotzigen Überleben dort von schmerzhafter Aktualität ist.

Dževad Karahasan, 1953 in Duvno/Jugoslawien geboren, zählt zu den bedeutendsten europäischen Autoren der Gegenwart. Sein umfangreiches Werk umfasst Romane, Essays, Erzählungen und Theaterstücke. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u. a. mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung 2004 und mit dem Goethepreis der Stadt Frankfurt 2020. Dževad Karahasan verstarb am 19. Mai 2023 im Alter von 70 Jahren in Graz.

Katharina Wolf-Griesshaber, geboren 1955, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Heidelberg und Bochum. Sie lebt und arbeitet als freie Übersetzerin in Münster.

Beitragsbild © Suhrkamp Verlag