Ludwig Hohl «Die seltsame Wendung», Bibliothek Suhrkamp

Ludwig Hohl, 1904 geboren, lebte von 1924 bis 1931 mit Unterbrüchen in Paris. Glücklos im Veröffentlichen, permanent auf finanzielle Unterstützung angewiesen und kaum als Schriftsteller wahrgenommen, schrieb er immer an seinen „Epischen Grundschriften“, Notizbüchern, aus denen später auch das zu Lebzeiten unveröffentlichte Manuskript „Die seltsame Wendung“ entstand.

Ludwig Hohl, der erst sehr spät Anerkennung als Schriftsteller entgegennehmen durfte, lange Zeit als enfant terrible der Szene galt, fand erst 1970 durch die Vermittlung von Adolf Muschg mit Siegfried Unseld einen Verleger, der sich um sein Schreiben, seine Bücher bemühte. Als 1975 „Die Bergfahrt“ bei Suhrkamp erschien, war dieses Buch der Beginn seines späten Ruhms, einer ganzen Reihe bedeutender Ehrungen und Preise. Dass dieser eigenwillige Autor nicht vergessen ist, verdankt er der Eigenständigkeit seiner Texte, der Sorgfalt und Treue von Suhrkamp und seiner letzten Ehefrau Madeleine de Weiss Hohl, die 1985, fünf Jahre nach Ludwig Hohls Tod, die „Ludwig Hohl Stiftung“ ins Leben rief.

Ludwig Hohl «Die seltsame Wendung», Bibliothek Suhrkamp, 2023, 160 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22550-9

Die Novelle „Die seltsame Wendung“, erst 2023 aus einem vielfach überarbeiteten Manuskript editiert in der Bibliothek Suhrkamp erschienen, erzählt sehr anschaulich, in langen Passagen fast beschwörerisch von einem an sich und der Welt verzweifelnden Künstler in Paris. Auch wenn in „Die seltsame Wendung“ der Protagonist ein Maler ist, ist unschwer zu erkennen, dass Ludwig Hohl von sich, den Jahren in Paris, seiner Alkoholsucht, seinem Hunger, seiner Verzweiflung und Not erzählt. So wie Hohl damals kaum Einnahmen hatte und von Zuwendungen anderer abhängig war, weil er von dem Wenigen, das damals erschien, selbst ganz bescheiden in der Stadt der Kunst nicht leben konnte, so vegetiert der Unglückliche in Hohls Novelle in Paris, gebeutelt von Existenzängsten, zerrieben von seiner Sucht, unerkannt vom Kunstmarkt. Wankend zwischen Depression und Suff, zwischen Euphorie und Weltschmerz, zwischen Selbstüberschätzung und Selbstzweifeln taumelt der Mann durch ein noch junges Leben, das mit dem Umzug nach Paris so viel versprochen hatte. Aber die Liebe, mit der er nach Paris zog, ist zerbrochen und Schwänzel, ein ebenso glückloser Kunsthändler und doch einziger treuer Weggefährte des Malers, hält ihn mit kleinen Summen an der kurzen Leine.

„Die seltsame Wendung“ ist ein beklemmendes Selbstporträt eines Enthemmten. Aber Ludwig Hohl ist weder Exhibitionist noch Selbstdarsteller. „Die seltsame Wendung“ ist sprachlich von derart ungewohnter Wucht, Direktheit, dass dieser sprachliche Tauchgang in menschliche Abgründe zu einem bizarren Sprachbild wird, das in seiner Intensität absolut einzigartig ist, heute und erst recht damals, als Ludwig Hohl das Manuskript verfasste. Selbst der Rausch wird zur Sprachorgie. Obwohl einem die Alkoholfahne aus dem Text entgegenzuschwappen scheint, ist „Die seltsame Wendung“ ein Tripp, ein kolossales Sprachmonument. Ludwig Hohl schreibt hart und kompromisslos, schonungslos sich selbst und allen zukünftigen LeserInnen gegenüber. Ein Sprachexperiment, das Ludwig Hohl an der eigenen Biographie entlang durchexerziert.

Wir begleiten den Gebeutelten durch das Paris der Zwischenkriegszeit, von Kneipe zu Kneipe, von Absturz zu Absturz, vom wilden Eintauchen in aufflammende Schaffensschübe hinein in Ängste beklemmender Verlassenheit. Die Sprache selbst ist der Rausch, ein hundertseitiges Taumeln in Zwischenwelten!

Ob Ludwig Hohl, der das Manuskript nach etlichen Versuchen der Überarbeitung, mehrmaligem Verwerfen und offensichtlicher Teilvernichtung des Manuskripts mit der Veröffentlichung glücklich geworden wäre, bleibt dahingestellt. Wertvoll macht das Buch die Fülle an Ergänzungen, seien es Fotografien der herausgerissenen Manuskriptseiten, ein erhellendes Nachwort von Anna Stüssi, einer editorischen Notiz oder Selbstkommentaren Ludwig Hohls. Mit Sicherheit ein grossartiges Zeugnis!

Ludwig Hohl wurde am 9. April 1904 im schweizerischen Netstal im Kanton Glarus geboren. Nach Aufenthalten in Frankreich, Österreich und Holland, wo sein Hauptwerk «Die Notizen» entstand, lebt und arbeitete er als Schriftsteller über vierzig Jahre in Genf. Hohl war fünfmal verheiratet. Der dritten Ehe entstammt eine Tochter. Ludwig Hohl starb am 3. November 1980 in Genf.

Dies ist der 1500. Beitrag auf literaturblatt.ch.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp

Ein Mann kehrt an den Ort seiner Herkunft zurück. Nicht freiwillig, denn mit dem Tod seines alten Vaters kehren die Erinnerungen zurück, das, was er vor Jahren mit seinem Wegzug in die Stadt hinter sich lassen wollte. Florjan Lipuš schmaler Roman „Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein Sprachkunstwerk, ein literarischer Kristall, der das Licht auffächert!

Dass dieses Buch nach seiner deutschen Ersterscheinung 1989 im Residenz Verlag, die slowenische Erstausgabe unter dem Titel „Jalov Pelin“ erschien 1985 im Drava Verlag in Klagenfurt, nun in der gediegenen Bibliothek Suhrkamp erscheint, mag mit dem Gastland Slowenien an der Frankfurter Buchmesse 2023 zusammenhängen. Aber wahrscheinlich viel mehr mit der Tatsache, dass Florjan Lipuš längst zu einem Sprachgiganten geworden ist und die Bibliothek Suhrkamp jener Ort, dem dieser Text gebührt.

Florjan Lipuš «Die Verweigerung der Wehmut», Bibliothek Suhrkamp 1533, 2023, aus dem Slowenischen von Fabjan Hafner, 128 Seiten, CHF ca. 32.90, ISBN 978-3-518-22533-2

Als Florjan Lipuš 1981, vier Jahre zuvor, mit seinem Roman „Der Zögling Tjaž“, der von Peter Handke und Helga Mračnikar übersetzt wurde, viel Aufmerksamkeit weckte, stieg ein Stern auf, der zum Fixstern wurde, auch wenn der Autor selbst sich nie in den Vordergrund rückte. Florjan Lipuš Roman hat nichts von seiner Sprachmächtigkeit verloren. Als würde man vor einem kolossalen Bild stehen, von dem man erahnt, dass es auch in ferner Zukunft Besucherinnen und Besucher demütig werden lässt. „Die Verweigerung der Wehmut“ zeigt alles, womit sich Florjan Lipuš bis heute beschäftigt; mit der Klarheit und dem Farbenreichtum einer Sprache und den Erinnerungen zwischen Trauma und Traum. Dieser Roman lässt mich staunen. Da schreibt jemand, dessen Sprachmacht taumelnd macht, der nicht nur mit einem Instrument spielt, sondern mit einem ganzen Orchester. Sprache, die mich zutiefst berührt und eine Erzählweise, die mit jedem Buch den Schmerz in schöpferische Kraft umzuwandeln weiss.

Die Geschichte des Romans ist schnell erzählt. Ein Mann, der in der Stadt ein neues Leben aufgebaut hat, kehrt ins Dorf seiner Herkunft, seiner Kindheit, seines Traumas, seines Urschmerzes zurück. Sein Vater ist gestorben, man trägt ihn zu Grabe. Schon im Zug dorthin drängt sich in Träumen und Gedanken der Alp der Vergangenheit auf; die Verschleppung der Mutter, die Strenge und Härte des Vaters und die Enge des Ortes tief in den Bergen Südkärntens. Er erreicht das Dorf und bleibt doch für sich. Er taucht ein in die Riten und Gebräuche eines Dorfes, den immer wiederkehrenden Totengesang eines Lebens, das von Traditionen und Geboten geprägt ist. Er bleibt aussenvor, ein Betrachter, der weniger durch das Geschehen, als durch das, was es auslöst, in die archaische Gegenwart hineingezogen wird. Es tauchen Bilder, Vergessenes, Vedrängtes auf, so intensiv, dass es den Erzähler hinaustreibt, weiter hinein ins Tal, bis an jenen Ort, wo von den Resten jenes Hauses, in dem das Urtrauma geschah, fast nichts mehr zu erkennen ist. Aber was sich die Natur zurückgenommen hat, bleibt in den Erinnerungen des Erzählers wie ein zäher, klebriger Brei.

„Die Verweigerung der Wehmut“ ist ein lyrisch geschriebener Prosatext, der weit mehr als bloss nacherzählen will. In lange mäandernden Sätzen, farbig gezeichneten Bildern zwischen Groteske und Traumbildern, hyperrealistischen Szenarien und tiefsitzender Melancholie, beschreibt Florjan Lipuš einen Mann, der mit sich kämpft, der sich den Resten einer verlorenen Kindheit anzunähern versucht. Als ob der Autor die Sicht zurück mit den inneren Bildern einer Camera obscura beschreibt; über die Wirklichkeit hinausfliessend. Florjan Lipuš kann, was vielen verwehrt bleibt; Er braucht die Sprache nicht, er spielt auch nicht mit ihr – seine Sprache ist Musik!

Florjan Lipuš, geboren 1937 in Kärnten, lebt in Sele/Sielach (Unterkärnten). Er veröffentlicht auf Slowenisch: Romane, Prosa, Essays, szenische Texte. Mehrere seiner Bücher erschienen in deutscher Übersetzung, darunter «Der Zögling Tjaž», übertragen von Peter Handke und Helga Mracnikar. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, zuletzt 2018 den Grossen Österreichischen Staatspreis und 2019 den Goldenen Verdienstorden der Republik Slowenien.

Fabjan Hafner, geboren 1966 in Klagenfurt, studierte Deutsche Philologie und Slawistik (Slowenisch ) in Graz und war seit 1998 am Robert-Musil-Institut für Literaturforschung in Klagenfurt tätig. Für seine Übersetzungen, unter anderem von Florjan Lipuš und Tomaž Šalamun, wurde er vielfach ausgezeichnet. Hafner lebte bis zu seinem Tod im Jahr 2016 in Feistritz im Rosental/Bistrica v Rozu (Südkärnten).

«Schotter» von Florjan Lipuš, Rezension

«Seelenruhig» von Florjan Lipuš, Rezension

Beitragsbild © Marco Lipuš

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp

Nachdem Peter Handke 2019 für seine Literatur wohlverdient den Nobelpreis erhalten hatte, es aber nicht vermeiden konnte, dass sich der Fokus der Öffentlichkeit auf all die Nebenschauplätze richtete, war ich wie immer gespannt, was Neues vom dem Dichter mit königlichen Ehren zu erwarten war.

Peter Handke wäre nicht Peter Handke, hätte er mit seinem neuen Buch in der Bibliothek Suhrkamp nicht überrascht. Wer auf den vergrämten Missverstandenen spekulierte oder den in sich Gekehrten, Trotzigen erwartete, wurde ebenso überrascht wie ich, der ich auf einen «Handke wie immer und nie» hoffte und mit seinem neuen Buch „Mein Tag im anderen Land“ so völlig überrascht und verblüfft wurde. Klar, auch ich lese jeden geschliffenen Satz aus dem Kosmos Handke in der Erwartung, Spuren, Hinweise und Rückschlüsse ziehen zu können, was der Text hinter den Sätzen verborgen mitteilt. Und „Mein Tag im anderen Land“ bietet dafür Breitseite genug. Die „Dämonengeschichte“, wie Peter Handke sein Buch untertitelt, ist alles; ein grosses Rätsel, ein verschlüsseltes Gleichnis, ein heller Traum, ein Tag in einer Zwischenwelt.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit ganz scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

Das Buch ist eine Aufzeichnung. Der Mann schreibt, was ihn durch den Tag begleitet hat. Das Buch beginnt: „In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe.“ Es ist ein Gang in eine Welt gleich daneben. Als wäre der Mann auch einen langen Wachtraum gegangen. Er spricht mit Menschen, Tieren und Dingen. Manchmal laut, manchmal leise. Manchmal in einer Sprache, die niemand zu verstehen weiss, die sich allen Deutungen entzieht. Einen Tagtraum, aus dem er nicht zu entfliehen weiss, an dem er leidet, von dem er gerne erlöst werden würde; „Dass mich doch endlich einmal der Blitz träfe. Dass einer ein Messer zöge und es mir in das Herz stiesse.“ Bis er um die Stunden der Mitternacht sogar seine Zukünftige trifft, die ihn mit „He, Seltsamer!“ anspricht.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Ich las „Mein Tag im andern Land“ auf seltsame Weise berührt, verzückt und verunsichert. Ein Handke eben doch!

Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschliessenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman «Die Hornissen». Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks «Publikumsbeschimpfung».
Seitdem hat er mehr als dreissig Erzählungen und Prosawerke verfasst. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, 2019 mit dem Literaturnobelpreis.

Philipp Frei, geboren 1965 in St.Gallen, Malerei und Zeichnung,  lebt und arbeitet in Zürich und Küsnacht, Atelier in Zürich.

Beitragsbilder © Philipp Frei

Annie Ernaux «Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp

Stirbt die Mutter oder der Vater, drängen sich Fragen der eigenen Existenz auf. Vielleicht, weil man mit dem Tod der Eltern unmittelbar auf sich selbst zurückgeworfen ist, weil einem das Gefühl des Getragenseins genommen wird, weil die Endlichkeit unweigerlich vor Augen rückt. Annie Ernaux setzt im Titel ihres Erinnerungsbuches an ihre Mutter einen unbestimmten Artikel. «Eine Frau» ist ein Buch über eine ganze Generation von Frauen.

«Ich werde ihre Stimme nie mehr hören. Sie, ihre Worte, ihre Hände, ihre Gesten, ihr Gang und ihre Art zu lachen waren es, die die Frau, die ich heute bin, mit dem Kind, das ich gewesen bin, verbunden haben. Ich habe die letzte Brücke zu der Welt, aus der ich stamme, verloren.»
Die letzten drei Sätze des nicht einmal 100seitigen Romans von Annie Ernaux, von dem sie selbst schreibt, es sei «keine Biographie und natürlich auch kein Roman, eher etwas zwischen Literatur, Soziologie und Geschichtsschreibung». Keine Biographie, weil Annie Ernaux fast ganz auf Wertungen verzichtet und ganz auf den Anspruch, ein vollständiges Bild zeichnen zu wollen, mit ihrem Schreiben ein Leben auszuleuchten. Kein Roman, weil Annie Ernaux nie in die Rolle ihrer Mutter hineinschlüpft, nie nachzuempfinden versucht, was die Mutter denkt und fühlt. Obwohl Annie Ernaux bei ihren LeserInnen viel Mitgefühl und Resonanz erzeugt, bleibt ihr Schreiben erstaunlich sachlich, ganz nah an Fakten, Fakten die den Sepiagilb behalten, nie verklären, nie beschönigen und schon gar nicht romantisieren.

Annie Ernaux: „Eine Frau», Bibliothek Suhrkamp, 2019; 88 Seiten, 27.90 CHF., ISBN: 978-3-518-22512-7.

Vielleicht liegt die Faszination ihres Schreibens in dem, was es auslöst. Wir sind alle Töchter und Söhne. Unsere Mütter und Väter sterben. Was sie hinterlassen, lässt sich in keinem Fall einfach wegwischen, begleitet uns ein ganzes Leben, bewusst oder unbewusst. All das, was einen Vater oder eine Mutter ausmachte, liess uns zu dem werden, was wir sind. Wer in einen Spiegel schaut, sieht viel mehr als nur sich selbst. Mütter sterben, verschieben eine Existenz. Mütter sind immer da, in welchem Aggregatzustand auch immer. Sie waren Jahrzehnte der Boden, auf dem es keimte, das Kissen, auf das man fiel oder sich zurücklehnen konnte, Zündstoff und Bremse, Knautsch- und Komfortzone.

Annie Ernaux› Mutter erkämpfte sich ihren Platz, jenen in ihrer Familie, an der Seite ihres Mannes, im Geschäft als Unternehmerin, in der Gesellschaft. Auf ihrer Fahne stand «Um jeden Preis die Lage verbessern», ihre eigene, die ihrer Familie, die ihrer Kinder, ihrer Tochter. Dafür arbeitete sie von früh morgens bis in die Nacht, ein ganzes Leben lang, bis ihr Krankheit und Demenz das Szepter aus der Hand nahmen. Ihr grösster Wunsch war es, der Tochter all das zu geben, was ihr verwehrt blieb, trotz ermahnenden Sätzen wie «Du hast so viel und bist trotzdem nie zufrieden». Eine Frau, die Liebe mit Strenge gleichsetzt, die an der Ladentheke mit aller Freundlichkeit die Kundschaft bediente, um Augenblicke später Ohrfeigen in der Küche zu verteilen wegen übermässigem Lärm. Und später, in den unruhigen Siebzigern, als der Vater starb, wurde aus der Tochter-Mutterbeziehung ein veritabler Klassenkampf.

«Eine Frau» berührt ungemein!

über den Vater

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux «Der Platz», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux «Der Platz», Bibliothek Suhrkamp

Annie Ernaux bezeichnet sich selbst als «Ethnologin ihrer selbst». Weit gefehlt, wer glaubt, die Schriftstellerin betreibe damit Nabelschau. «Der Platz» ist eine Liebeserklärung an den toten Vater, eine Liebeserklärung an die Entschlossenheit eines Lebens.

Mehr als ein Vierteljahrhundert nach seinem Erscheinen und seiner Erstübersetzung auf Deutsch unter dem Titel «Das bessere Leben» erschien «la place» in einer sorgfältig neu übersetzten Ausgabe im vergangenen Jahr in der legendären Bibliothek Suhrkamp, in der «Bibliothek der Klassiker der Moderne». Annie Ernaux’s Erzählkosmos ist sie selbst, ihre Geschichte, ihre Herkunft, ihre Familie. Und kaum einer Autorin oder einem Autor sonst gelingt diese Art der Erkundung auf eine so schlichte, bescheidene, sachliche und fast dokumentarische Art wie Annie Ernaux. Kein Wunder spaltet die Autorin. Die einen werfen ihr vor, man lese nur immer und immer wieder das gleiche, Banales. Andere bezeichnen ihr Schreiben als geniale Mischung von Autobio- und Historiographie.

Annie Ernaux nimmt den Tod ihres Vaters als Anlass über ihn und sein Leben zu erzählen, ein Leben von Beginn des 20. Jahrhunderts, an zwei Kriegen vorbei, von bitterster Armut, dem Kampf ums Überleben, der permanenten Ernüchterung und der Angst vor Verlust. Ihr Vater konnte kaum lesen, kaum schreiben. Zeitlebens waren ihm Bücher, Bildung, Intellekt suspekt. Er war Bauer, Arbeiter, schaffte es irgendwann selbst Besitzer eines kleinen Lebensmittelladens mit Ausschank zu werden, wurde aber nie der, der sich in seinem Stand sicher fühlte. Sein Leben bestand aus Arbeit, Kampf und der Einsicht, dass einem nichts geschenkt wird. Selbstverständlichkeiten aus heutiger Sicht, wie Ferien oder minimaler Luxus waren ihm fremd. Durch nimmermüden Einsatz gewonnener Überfluss verpflichtete zu Hilfe und Unterstützung jener, denen das Glück sich verweigerte. Leben bestand aus Arbeit. Man lebte, um zu arbeiten. Auch wenn sich heute solche Sätze umkehren, liest sich die Lebensgeschichte dieses Mannes als wäre sie prähistorisch. Dabei braucht man nur in den Fotoalben unserer Gross- und Urgrosseltern zu stöbern und man trifft sie wieder, die Ehepaare, die schwarz gekleidet vor einer drapierten Kulisse mit todernstem Gesicht dem Fotografen in die Linse starren.

Auch wenn sich der Text nüchtern, fast sachlich gibt, drückt der Schmerz hindurch, die Trauer darüber, nie jene Nähe zum Vater gewonnen zu haben, die das letzte Verstehen ermöglicht hätte, das beiderseitige Verstehen: «Vielleicht hätte er lieber eine andere Tochter gehabt.»

«Vielleicht sein grösster Stolz, sogar sein Lebenszweck: dass ich eines Tages der Welt angehöre, die auf ihn herabgeblickt hatte.»

Annie Ernaux will verstehen. Sie öffnet sich selbst das Fenster zur Vergangenheit und blickt auf das Leben ihres Vaters, dem sie nur schreibend nahe kommen kann. Annie Ernaux schenkt mir als Leser einen Blick mitten in dieses Leben, eine Vergangenheit, die sich leicht verklärt, sei es durch Filme oder die Literatur selbst. Annie Ernaux beschönigt nichts. Wer ihre Bücher liest, spürt dem haftenden Gerüchen von Armut und Demut nach. Ihr Erzählen ist nüchtern, ohne Metaphern, chronologisch, ohne Abschweifungen. Einzige kurze Reflexionen über das Schreiben selbst durchziehen den Text, machen klar, mit wie viel Ringen das Schreiben verbunden ist.

«Der Platz» ist eine Annäherung an den Vater. «Eine Frau» jene an ihre Mutter. Ein perfekter Einstieg in das Leseabenteuer Annie Ernaux!

© Catherine Hélie / Editions Gallimard

Annie Ernaux, geboren 1940, bezeichnet sich als »Ethnologin ihrer selbst«. Sie ist eine der bedeutendsten französischsprachigen Schriftstellerinnen unserer Zeit, ihre zwanzig Bücher sind von Kritik und Publikum gleichermassen gefeiert worden.

Sonja Finck, geboren 1978 in Moers, studierte Literaturübersetzen in Düsseldorf. Inzwischen lebt sie als literarische Übersetzerin in Berlin und Gatineau (Kanada). 2019 erhielt sie den Eugen Helmlé-Übersetzerpreis.

Annie Ernaux über ihr Schreiben und ihr Buch «Der Platz»

Beitragsbild © Sandra Kottonau