«Und seltsam: Weniger Sehen als Gesehenwerden! Ja, es verlangte ihn, ja, er begehrte, gesehen zu werden, und mehr noch als bloss gesehen – erkannt zu werden»

Lieber Gallus

Unser Lesezirkel hat aus meinen drei Vorschlägen Maja Haderlap («Nachtfrauen«), Nina Jäckle («Verschlungen«) und Peter Handke letzteren ausgewählt. Bisher hatte ich nur «Abschied des Träumers» und «Winterliche Reise» gelesen, um die Kontroverse um Serbien zu verstehen, was nur teilweise gelang. Ich freute mich auf eine intensivere Auseinandersetzung mit dem Nobelpreisträger von 2019. Ein Rezensent hat geschrieben, die 200 Seiten von der «Ballade des letzten Gastes» seien an zwei Abenden gut zu lesen, Handke hätte in diesem Alterswerk zu einer einfacheren Sprache gefunden.

Ich aber kämpfte mehrere Abende erfolg- und ratlos um das Verstehen dieses knorrigen Buches mit seiner rätselhaften Sprache und kaum zu erfassendem Inhalt. Nach fünfzig Seiten dachte ich: Dieses Buch kann ich nicht fertiglesen. Irgendwie wollte ich nicht aufgeben und kaufte die Biografie von Malte Herwig «Meister der Dämmerung». Diese Biografie ist ein Meisterwerk, voller Selbstzeugnissen Handkes, beispielsweise dessen Briefen an seinen leiblichen Vater, sehr spannend zu lesen, mit vielen Hinweisen auf die Verarbeitung persönlicher Ereignisse in den Texten und reich bebildert. Ein sehr lesenswertes Werk! Angeregt durch diese eindrückliche Lebensgeschichte las ich «Wunschloses Unglück» und «Die Lehre der Sainte-Victoire», zwei sehr persönliche und berührende Bücher, in einer mir verständlichen, wunderbaren Sprache, die ich dank der Hinweise in dieser Biografie mit Genuss lesen konnte. Dass Peter Handke seinem leiblichen Vater erst mit 18 Jahren begegnet ist und seine Mutter 1971 Selbstmord gemacht hat, dass er bereits in der Schule ein kluger genau beobachtender Einzelgänger war, das alles erleichterte mir den Zugang zu diesem widersprüchlichen Autor. Es gelang mir, die «Ballade des letzten Gastes» ganz zu lesen, die kunstvolle Sprache und die verwirrenden Bilder auf mich wirken zu lassen, auch wenn viele Passagen für mich weiterhin fremd bleiben.

Peter Handke «Die Ballade des letzten Gastes», Suhrkamp, 185 Seiten, CHF ca. 35.90, ISBN 978-3-518-43154-2

Für mich ist der letzte kurze Abschnitt dieser Ballade am besten gelungen, ein Gedicht voll eindrücklicher Bilder, sehr anregend und bereichernd:
«Als ich mich schnarchen hörte beim Schlaf im Bombentrichter. Aus heiterem Himmel angefallen von einem Schmetterling. Der Tag ohne Vogelflug.»
Malte Herwig schreibt: «Handkes Werke sind Bruchstücke einer grossen Konfession, und die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der er seine Selbsterforschung betreibt, ist einmalig. Hier schreibt einer über sich, aber stellvertretend für alle, die der Welt noch nicht so abhanden gekommen sind, dass sie sich nicht einmal mehr für sich selber interessieren.»

Mit diesen Worten hoffe ich, dass die Uraufführung von «Mein Tag im anderen Land» gestern Abend in Villach erfolgreich verlief. Dein Beitrag im Literaturblatt hat mir übrigens auch sehr geholfen, Peter Handke besser zu verstehen.

Nun wünsche ich euch noch angenehme Tage in der Heimat dieses aussergewöhnlichen Schriftstellers und sende herzliche Grüsse aus der Innerschweiz

Bär

Lieber Bär

In Griffen, einem kleinen Ort im Drautal in Südkärnten, kann man seit ein paar Jahren im ehemaligen Stift ein Handke-Museum besichtigen. Als ich das Museum zum ersten Mal besuchte, dachte ich, es wäre ein Wallfahrtsort für Handke-Begeisterte geworden, ein Blick ins Leben des Nobelpreisträgers mit allen Höhen und Tiefen, einem Shop mit Büchern von und über den Dichter, einer anwesenden Museumsleitung. Das über 500 Jahre alte Kloster, das vor 200 Jahren aufgelöst wurde, die Gebäude privater Nutzung zugeführt und die Kirchen zu Pfarren, sind mehr als bloss in die Jahre gekommen. Es war kein Mensch anzutreffen. Und als ich neugierig und etwas verunsichert durch die feuchten Räume des Stifts streifte auf der Suche nach dem Handke-Museum, sah ich bloss auf dem angrenzenden Friedhof zwei Frauen, die sich um die Blumen auf den Gräbern bemühten.

Man scheint in Griffen, in Kärnten, in Österreich durchaus stolz auf den Nobelpreisträger zu sein, bekam er doch dieses Jahr das «Große Goldene Ehrenzeichen am Bande für Verdienste um die Republik Österreich». Die Ausstellung im Stift ist ein aufschlussreicher Blick in ein Leben, das schon in frühen Jahren eine deutliche Richtung bekam, in ein Schreiben, das sich wenig um Konventionen und Strömungen kümmerte, ein Wirken, das stets eigenwillig und eigensinnig ist und war. Eigenschaften, die in der Gegenwart immer schwieriger werden, in der «fremde» Ein- und Ansichten schnell zu vernichtenden Urteilen führen, in einer hyperempfindlichen Gesellschaft, die sich immer schwerer tut, andere Meinungen zu akzeptieren.

Das Handke-Museum in Griffen ist ein seltsamer Ort. Als wäre es Pflicht geworden. Als hätte man ihm das Leben entzogen. Als würde man sich ein bisschen schämen.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Umso beeindruckender war die Uraufführung des Stückes „Mein Tag im anderen Land“ an der «Neuen Bühne Villach«. Michael Weger, Schauspieler, Regisseur und verantwortlich für die Bühnenbearbeitung der «Dämonengeschichte» von Peter Handke, die 2021 bei Suhrkamp erschien, performte sich mitten in den Text, ganz nah ans Publikum, unmittelbar.

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Handke ist Handke.

 

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp

Nachdem Peter Handke 2019 für seine Literatur wohlverdient den Nobelpreis erhalten hatte, es aber nicht vermeiden konnte, dass sich der Fokus der Öffentlichkeit auf all die Nebenschauplätze richtete, war ich wie immer gespannt, was Neues vom dem Dichter mit königlichen Ehren zu erwarten war.

Peter Handke wäre nicht Peter Handke, hätte er mit seinem neuen Buch in der Bibliothek Suhrkamp nicht überrascht. Wer auf den vergrämten Missverstandenen spekulierte oder den in sich Gekehrten, Trotzigen erwartete, wurde ebenso überrascht wie ich, der ich auf einen «Handke wie immer und nie» hoffte und mit seinem neuen Buch „Mein Tag im anderen Land“ so völlig überrascht und verblüfft wurde. Klar, auch ich lese jeden geschliffenen Satz aus dem Kosmos Handke in der Erwartung, Spuren, Hinweise und Rückschlüsse ziehen zu können, was der Text hinter den Sätzen verborgen mitteilt. Und „Mein Tag im anderen Land“ bietet dafür Breitseite genug. Die „Dämonengeschichte“, wie Peter Handke sein Buch untertitelt, ist alles; ein grosses Rätsel, ein verschlüsseltes Gleichnis, ein heller Traum, ein Tag in einer Zwischenwelt.

Peter Handke «Mein Tag im anderen Land», Bibliothek Suhrkamp, 2021, 93 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-518-22524-0

Ein Mann wandelt durch einen Tag. Manchmal in einer realen Welt, manchmal im Dazwischen, zwischen Traum, Wahn, Fata Morgana und Realität. Von sich selbst und seiner Schwester begleitet, manchmal ganz nah, manchmal weit abdriftend. Er geht durch einen Ort, einen Ort, ebenso unbekannt wie vertraut. Geht wie von Sinnen und doch mit ganz scharfem Gespür für das, was sich neben der Realität offenbart. Er redet mit lauten Zungen, schwadroniert, schreit und gebärdet sich wie ein Entfesselter, verbreitet Schrecken und Verunsicherung, um dann mit einem Mal wieder der ganz Sanftmütige und Ruhige zu werden. Vielleicht erkennt man dort den Autor selbst, wenn man sich erinnert an seine selbstvergessenen literarischen Erkundungen, seine ruhigen Worte in der lichtdurchfluteten Schreibstube seines Hauses, in den Betrachtungen in seinem verwachsenen Garten. Aber ebenso in der verbalen Entgleisung, wenn man Handke zu reduzieren versucht, wenn man ihm auf die Pelle rückt.

Das Buch ist eine Aufzeichnung. Der Mann schreibt, was ihn durch den Tag begleitet hat. Das Buch beginnt: „In meinem Leben gibt es eine Geschichte, die ich noch keinem Menschen erzählt habe.“ Es ist ein Gang in eine Welt gleich daneben. Als wäre der Mann auch einen langen Wachtraum gegangen. Er spricht mit Menschen, Tieren und Dingen. Manchmal laut, manchmal leise. Manchmal in einer Sprache, die niemand zu verstehen weiss, die sich allen Deutungen entzieht. Einen Tagtraum, aus dem er nicht zu entfliehen weiss, an dem er leidet, von dem er gerne erlöst werden würde; „Dass mich doch endlich einmal der Blitz träfe. Dass einer ein Messer zöge und es mir in das Herz stiesse.“ Bis er um die Stunden der Mitternacht sogar seine Zukünftige trifft, die ihn mit „He, Seltsamer!“ anspricht.

So seltsam die Erzählung, so seltsam die Sprache. Peter Handke bedient sich einer Sprache, die wie die Geschichte selbst leicht daneben klingt, ebenso wie die Geschichte entrückt, nicht der Welt hier und der Zeit jetzt entsprechend. Eine Sprache, die beinah singt, die Haken schlägt und Kringel zeichnet, die anders ist als das, was der Realität entspricht, die mich wegzieht, meinen Blick verbaut.

Ich las „Mein Tag im andern Land“ auf seltsame Weise berührt, verzückt und verunsichert. Ein Handke eben doch!

Peter Handke wird am 6. Dezember 1942 in Griffen (Kärnten) geboren. Die Familie mütterlicherseits gehört zur slowenischen Minderheit in Österreich; der Vater, ein Deutscher, war in Folge des Zweiten Weltkriegs nach Kärnten gekommen. Nach dem Abitur im Jahr 1961 studiert er in Graz Jura. Im März 1966, Peter Handke hat sein Studium vor der letzten und abschliessenden Prüfung abgebrochen, erscheint sein erster Roman «Die Hornissen». Im selben Jahr 1966 erfolgt die Inszenierung seines inzwischen legendären Theaterstücks «Publikumsbeschimpfung».
Seitdem hat er mehr als dreissig Erzählungen und Prosawerke verfasst. Sein Werk wurde mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, 2019 mit dem Literaturnobelpreis.

Philipp Frei, geboren 1965 in St.Gallen, Malerei und Zeichnung,  lebt und arbeitet in Zürich und Küsnacht, Atelier in Zürich.

Beitragsbilder © Philipp Frei