Während sich heute Helikoptereltern um die verkannte Hochbegabung ihrer Kinder sorgen und sich Erwachsene unter fachkundiger Leitung gegen teures Kursgeld auf dicken Matten balgen, war und ist das Leben an anderen Orten, die sich nicht einmal einen Steinwurf davon befinden, ein Kampf ums nackte Überleben. „Hundesohn“ ist die Geschichte eines solchen, träf und mit mitreissendem Sound geschrieben, leidenschaftlich und wuchtig!
Sonja M. Schultz macht Musik. Nicht nur wenn sie singt (davon kann man sich unter ihrer Website überzeugen), auch wenn sie schreibt. Und dabei hat ihr erster Roman derart viel Zug, Witz und Gespür, dass „Hundesohn“ vieles vereint: Er ist voller geladener Action, in denen sich die Dinge in Zeitlupe überstürzen und ineinander verhaken, holzschnittartig gezeichnet, wenn die Protagonisten wie Archetypen aus der Geschichte in den Vordergrund treten, eine Achterbahnfahrt, wenn ich als Leser erneut in einen Abgrund gestossen werde, von dem ich nicht weiss, ob es ein Auftauchen gibt.
Herbert nennt sich Hawk, hat den Namen seines Vaters abgelegt, verscharrt und begraben, als er mit fünfzehn von zuhause ausriss, weg von einem Vater, der seine Deutschen Schäfer in den Zwingern besser behandelte wie seinen für ihn missratenen Sohn – einen Hundesohn. Hawk wie seine Mutter, die mit den amerikanischen Besatzern als Schreibkraft hängenblieb und froh war, nicht wieder in die Einöde von Kansas zurückkehren zu müssen.
Hawk kommt nach drei Jahren Gefängnis frei, entschlossen, seinem Leben endlich eine Richtung zu geben, aufzuräumen, Oberwasser zu gewinnen. Aber kaum in der Spur zündet man Miss Stetson an, die Verkörperung dessen, was ein Anfang hätte sein können, mit allem drin, ausser der letzten Versicherung, die im Schliessfach einer Bank lagert. Miss Stetson, wohl in die Jahr gekommen, aber ein echter Alfasund Sprint. Die Polizei behandelt Hawk wie Dreck, ebenso Lu, die in ihrer Bar Les fleurs du mal hinter den Tresen steht und doch einmal seine Braut war, die ganze Welt, denn als er ins Treppenhaus zu seiner Wohnung ganz oben steigt, verrät der Dunst von Benzin und weisse Federn im Treppenhaus, dass oben nichts ist, wie es sein sollte. Seine Wohnung verwüstet, im Sofa steckt ein Messer, mit dem man ‚Bastard‘ in die Polster schnitt.
Die Rache aus der Hamburger Unterwelt? Der lange Arm derer, für die er jahrelang gedient hatte, die Hoffnung auf ihn gesetzt hatten, für die er im ganzen Land herumgekarrt war, den Stoff fliessen liess? Hawk tappt im Dunkeln, weiss nicht, wie ihm geschieht, wie ihm geschah, als Lu ihm den Laufpass gab, wie ihm geschah, als das Leben an der kurzen Leine seines Vaters unerträglich wurde, wie ihm geschah, als man ihn einbuchtete, zuerst im Heim und dann im Knast, wie ihm geschieht, als man ihn krankenhausreif schlägt und er sich bloss mit einem Leintuch bedeckt vor dem Schläger mit Helm und schwarzer Ledermontur retten kann.
„Hundesohn“ ist eine Irrfahrt durch ein verkorkstes Leben, die Geschichte eines Mannes, der nie Schlechtes, nie Böses will, dem es aber nie gelingt, aus einer Spirale von Gewalt, Unglück, Naivität und grossen Träumen herauszuspringen. Das Pech klebt am Leben, nicht nur an seinem, auch an den Leben jener, die untrennbar mit ihm verbunden sind. „Hundesohn“ erzählt von den Nachkriegsjahren in der Abgeschiedenheit eines stämmigen Kriegers aus dem versunkenen Traum eines Tausendjährigen Reiches, der in der verwundeten Pampas weit weg von allem das versucht, was Familie sein soll, bis in den Kietz im Sommer 1989, kurz vor der Wende, von Aufbruch zu Aufbruch.
Sonja M. Schultz erzählt ihren Roman, als würde sie durch den Sucher einer Superacht-Kamera sehen. Ihre Schreibe ist fast dokumentarisch, tief eingetaucht in die Gerüche, den Mief jener Zeit. Grossartig erzählt, von umwerfender Wahrhaftigkeit!
Ein Interview mit Sonja M. Schultz:
Hawk ist ein Looser, und doch nicht nur in seinem Kern „ein guter Mensch“. Beschreiben sie in ihrem Roman eine Welt, die den Schwächeren frisst? Trotz ungebrochenem Lebenswillen, Muskelpaketen und Schlauheit reicht es ihm doch nicht, sein Leben in den Griff zu bekommen. Sehnen wir uns nicht nach Siegern?
Siegende Helden sind langweilig. Dennoch ist die Sehnsucht nach Siegern und starken Helden das Fatale, die grosse Versuchung für uns widersprüchliche, verletzliche, ins Leben geworfene Wesen mit wackeligen Selbstbildern. Hawk hat mit den in ihn eingepflanzten Ideologien von „Härte“ und „Männlichkeit“ zu kämpfen, die ihm den Horizont und das Gefühl vernebeln. Ich hoffe und glaube, er bleibt sympathisch, weil seine Gedankenwelt so durchsichtig, sein Wunsch, Stärke zu zeigen, zum Scheitern verurteilt und auch berührend ist. Weil sein kindliches Selbst immer durchscheint. Weil er nichts schnallt, aber untergründig so viel Potential hätte, empathisch und emotional intelligent zu sein. Hätte Hawk Fussnoten, würden da die Theweleit’schen „Männerphantasien“ auftauchen. Die sind historisch, beschreiben aber nach wie vor auch Teile unserer gegenwärtigen Welt.
Sie sind 1975 geboren. Ihr Roman spielt nach dem Krieg bis 1989, kurz vor der „Wende“. „Damals“, in der ersten Erzählebene des Romans, waren sie 13, haben Telefone mit gekringeltem Kabel, Kassettenrekorder und den Alfasund noch erlebt. Und doch ist jene Zeit im Vergleich zu heute in vielem fast „prähistorisch“, nur schon angesichts der globalen Probleme, die sich uns stellen. Wie tief mussten sie recherchieren? Wie weit vertrauten sie den Bildern in ihrem Innern?
Ich fand es befreiend, von einer Zeit ohne Mobiltelefon, Internet und Datenüberforderung zu erzählen, und es hat Spass gemacht, eigene Erinnerungsbilder und Stimmungen unterzubringen – aber auch biografische Schnipsel anderer Leute. Bilder unserer Vergangenheit sind ja in irgendwelchen Schichten des Hirns sehr präsent und erzeugen beim Hervorholen einen merkwürdigen nostalgischen oder gruseligen Kitzel. Ich habe aber auch jedem Bild hinterherrecherchiert: Wie war das mit den Sirenentests am Wochenende? Wie sahen diese Oldschool-Telefone aus? Was genau war im Care-Paket meiner Mutter? Ich weiss noch: Trabis auf der Reeperbahn.
„Hundesohn“ bezieht sich auch auf den Vater des Protagonisten Hawk, einen Veteranen aus dem Grossen Krieg, einem, dem Härte und eiserne Konsequenz in Fleisch und Blut übergegangen ist. Ein Prinzip, das im Umgang mit Hunden klappt, aber nicht in einer Ehe und schon gar nicht in der Erziehung. Hawks Kindheit steht im krassen Gegensatz zu vielen heutigen Erziehungsprinzipien, Stichwort Helikoptereltern. Ihr Roman besticht ebenfalls durch „letzte Konsequenz“ – bis zum Schluss. Drängte sich das auf?
Ich weiss nicht, ob ich die Frage verstehe – was ist die „letzte Konsequenz“? Aber interessiert hat mich die intergenerationell weitergegebene Unfähigkeit zu kommunizieren, und mit den eigenen Emotionen umzugehen. Diese verknöcherte, immer weiter fortgepflanzte (oft männliche) Wut. Der diffuse Frust. Die blockierten Körper. Die Helikoptereltern – sind die nicht möglicherweise auf eine kleine, sehr schichtabhängige Blase beschränkt? Und die emotionale Verpanzerung und Unsicherheit ist immer noch am prägendsten für die meisten Menschen?
Es spielen die wilden 60er und 70er mit, der Kietz, die Unterwelt, das Drogenmilieu. Sie verstehen die Sprache, haben den Sound in sich, den Ton. Ich rieche den Siff, wenn ich lese. Alles wirkt erstaunlich authentisch, auch ihre Schilderungen einer männlichen Innenwelt. Da reicht Recherche nicht. Haben sie in Lokalen in St. Pauli geschrieben? Sich mit dem Sound der Zeit berieselt? Filme aus der Zeit geschaut? Séancen mit Rainer Werner Fassbinder abgehalten?
All das habe ich getan. Wobei das Gespräch mit Fassbinder nicht so ergiebig war, da war, glaube ich, Kokain im Spiel. Aber die Recherchen haben mir unglaubliche Freude bereitet, besonders das Eintauchen ins historische St. Pauli über Fotobände (Anders Petersen), Interviewsammlungen (Hubert Fichte), Filme (Klaus Lemke), linguistische Untersuchungen (Klaus Siewert), um nur einige zu nennen. Auf dem Papier habe ich ein Faible für Siff. Die Reeperbahn ist mir einigermaßen vertraut, weil ich in der Nähe aufgewachsen bin (Schleswig-Holstein), und sie für mich schon, als ich noch Kind war, eine grosse Selbstverständlichkeit hatte. Männliche Innenwelten, behaupte ich, sind mir auch vertraut. Und ich habe Boxunterricht genommen.
Hawk ist einer, der mit sich und seiner nächsten Umgebung zu kämpfen hat. Was in der Welt geschieht, in Zeitungen steht oder auf der Mattscheibe vorgehalten wird, berührt ihn nur am Rande. Das spiegelt sich auch in der Gegenwart, einer Zeit, in der sich viele kaum mehr für tiefere Zusammenhänge interessieren, weil sie zu sehr mit sich und ihrem ganz eigenen Kampf beschäftigt sind. Da sind doch Parteien, die schimpfen und pöbeln, die verurteilen und kategorisieren genau das Richtige? Schreiben sie in zwanzig Jahren einen Roman über einen kahlrasierten, tätowierten Aufrechten aus dem Jahr 2019, der seinen Sohn Adolf tauft? Die Literatur scheint sich bisher nicht in dieses Minenfeld zu trauen.
Aber war es nicht immer so? Gut, die Welt ist vernetzter, dadurch komplexer geworden und global in ihren Grundfesten bedroht, was aber mental – ausser bei den jüngsten Generationen – noch nicht angekommen zu sein scheint. Ich habe mich in meinem Leben so lange mit Holocaust und Nationalsozialismus beschäftigt, dass ich das eigentlich nie mehr tun wollte. Aber natürlich geht das Thema nicht weg, in mir auch nicht. Vorsatz: In zwanzig Jahren möchte ich bitte ein hundertseitiges Poem verfassen, das alle in Lust, Ekstase und weltumspannende Harmonie versetzt. Oder nicht?
Sonja M. Schultz, geboren 1975, wuchs im Hamburger Umland auf und studierte Theaterwissenschaften und Kulturelle Kommunikation in ihrer Wahlheimat Berlin. Sie schreibt über Film und Geschichte («Der Nationalsozialismus im Film. Von Triumph des Willens bis Inglourious Basterds«) und tritt mit Spoken Word auf alternativen Bühnen auf. Mit ihrem Debütroman «Hundesohn» war sie 2017 Stipendiatin der Autorenwerkstatt des Literarischen Colloquiums Berlin.
Am 7. November liest Sonja M. Schultz aus «Hundesohn» im Bodmanhaus Gottlieben.
Beitragsbild © Sonja M. Schultz