In den letzten Jahren sind Tausende von Flüchtlingen im Mittelmeer ertrunken und ein Vielfaches davon Traumatisierte. Das sind Zahlen, Statistiken, die niemals widerspiegeln, was in jeder einzelnen dieser menschlichen Katastrophen durchlebt werden muss. Davide Enia ist mit «Schiffbruch vor Lampedusa» so nahe an die Schicksale herangegangen, wie es Respekt zulässt. Ein Buch, das Fakten und Zahlen pulverisiert und die durchlittenen Schicksale vieler ganz nah an ein inneres Auge lässt.
Wir kennen Fotos und Reportagen. Manche sind tief eingebrannt, unauslöschlich bis in die Träume hineingemischt. Und doch ist es das Wort und nur es, das es schafft, mehr als nur einen Eindruck zu stempeln. Wenn Menschen erzählen. Von ihrem Zuhause, das sie zurücklassen, ihren Familien und Freunden, einer Heimat, die sich hinter ihnen verschliesst. Von der langen Reise, den Schleppern, der Angst, den Misshandlungen, der rohen Gewalt. Von den langen, wortlosen Märschen durch die Wüste, vorbei an jenen, die für immer liegenbleiben. Vom langen Warten in Lagern, der Willkür jener, die die Macht besitzen, von Vergewaltigungen und Folter. Von den endlosen Fahrten in einem überfüllten Schlauchboot, dem langsamen Sterben, dem Hoffen auf Rettung. Vom Ertrinken, vom Verdursten, vom Wahnsinn und dem Auftauchen eines Schiffes. Von den Männern und Frauen, die ihnen bei diesem einen Schritt ins Boot, auf den Steg, auf die Mole helfen und der Odyssee die mit der Rettung erst beginnt. Von den Flüchtenden und den Rettern, den Kapitänen und Rettungstauchern, Traumatisierten wie nach einem Krieg, Mensch gegen Mensch.
«Auf See gibt es kein Abwägen von Alternativen, jedes Leben ist heilig. Und wer Hilfe braucht, dem wird geholfen.»
Die nicht einmal zehn Kilometer lange Insel Lampedusa, mitten im Mittelmeer zwischen Tunesien und Sizilien, einst eine freundliche Touristeninsel mit nicht einmal 5000 Einheimischen, ist seit dem Arabischen Frühling die erste vorgelagerte rettende Insel auf einer unsäglich langen, für uns Europäer kaum nachvollziehbaren Flucht. Zehntausende schaffen es auf lausigen Booten über das Meer, ohne Essen, ohne Trinkwasser, meist auch mit viel zu wenig Treibstoff, hoffen auf Rettung, auf einen Funken Zukunft. Tausende schaffen es nicht, fast ausnahmslos junge Menschen, denn nur ihnen ist eine solche Strapaze zuzumuten. Kinder, schwangere Frauen, Säuglinge in den Armen ihrer Mütter.
«Ich weiss nicht, weshalb ich überlebt habe. Ich bin einer der letzten fünf, der diese Leute lebendig gesehen hat, und trotzdem wüsste ich nicht, wie ich ihren Familien, den Dorfbewohnern gegenüber ihren Tod schildern sollte. Ich war erst siebzehn Jahre alt.»
Davide Enia wollte sich selbst ein Bild von der Situation machen, jenen eine Stimme geben, die sich auf der Insel um die Gestrandeten bemühen, alleine gelassen von Politik und Bürokratie. Einheimische, die nach einem ersten Schock teilen, was sie haben, die ebenso wenig wissen wie ihnen geschieht, wie all jene Hoffnungslosen, die nach dem Ausgestandenen in metallic schimmernden Wärmedecken an der Mole sitzen. Er besucht Freunde auf der Insel, zusammen mit seinem Vater, einem ehemaligen Kardiologen, der fotografiert (-> Fotos zum Text!). Es spricht der Rettungstaucher, den Davide Enia nur den «Samurai» nennt, ein Mann, aus dessen Gesicht tausend Schicksale sprechen. Ein Mann, der den Schrecken, das Elend, den Tod wie eine unsichtbare Kette um den Hals mit sich herumträgt. Es sprechen aber auch alle die liegengebliebenen Dinge in den verlassenen Booten, die die Einheimischen in einem leeren Haus wie in einem Museum sammeln.
«Meine Freunde sind alle da draussen.»
Davide Enia berichtet und erzählt und gibt den Menschen eine Stimme. Auch wenn er die Flüchtenden nur selten sprechen lässt. Was Gesichter, die Blicke, das Leid im Leben der Rettenden hinterlassen, genügt. Und weil der Autor gleichzeitig von seiner Familie erzählt, der Annäherung an seinen wortkargen Vater und seinen sterbenden Onkel, weil es auf beiden «Schauplätzen» um Heimat, Entfremdung und darum geht, ob man diesen einen, unsagbar grossen Schritt wagt, sind die Schilderungen in «Schiffbruch vor Lampedusa» erträglich. Davide Enia nähert sich behutsam, genauso wie sein Vater mit dem Objektiv.
Lampedusa, «europäisches» Territorium, gehört eigentlich zum afrikanischen Kontinent. Die Flucht ist noch lange nicht ausgestanden, auch wenn die Geflohenen mit letzter Kraft den Boden unter ihren Füssen küssen. Entkommen sind sie noch lange nicht.
Warum ein solches Buch lesen? Weil Davide Enia etwas schafft, was angesichts der Zahlen, Statistiken, Fakten und endlosen politischen Debatten unsichtbar wird; der Schrecken, die Menschen, die Schicksale und die Tatsache, dass niemand einen solchen Fluchtweg riskiert, der nicht radikal in seiner Existenz bedroht ist. Dabei von Wirtschaftsflüchtlingen zu sprechen, ist angesichts der Lebensqualität von Millionen Europäern ein Hohn.
Davide Enia, geb. 1974, ist Dramatiker, Schauspieler und Autor mehrerer Romane. Für seine dramatischen Texte, die er teilweise selbst inszeniert und aufführt, hat er bedeutende italienische Theaterpreise gewonnen. Sein erster Roman «Così in terra» (2012) wurde in bisher achtzehn Sprachen übersetzt.
Nachwort: Albert Ostermaier
Die Übersetzerin Susanne Van Volxem, geboren 1965, ist Lektorin, Übersetzerin und Autorin. Sie lebt mit Mann und Kind in Frankfurt am Main. Olaf Matthias Roth, geb. 1965, studierte Romanistik und Germanistik. Er übersetzt aus dem Französischen, Italienischen und Englischen, außerdem arbeitet er als Leiter der Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Theater Kiel.
Alle Fotos © Francesco Enia / Webseite
Ich danke Francesco Enia für die freundliche Erlaubnis, seine Fotos in meinen Text einfügen zu dürfen!