Liebe Leserinnen und Leser!

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Ihr Gartenbuch «Der goldene Grubber. Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr» (2014) wurde zum Dauerseller und unter die 25 schönsten Bücher des Jahres gewählt. Seit 2016 gestaltet Kat Menschik ihre eigene Buchreihe, jeder dieser Bände ist individuell gestaltet und ausgestattet: Shakespeares «Romeo und Julia» (2016), Kafkas «Ein Landarzt» (2016), E.T.A. Hoffmanns «Die Bergwerke zu Falun» (2017), Volker Kutschers «Moabit» (2017), Edgar Allen Poes «Unheimliche Geschichten» (2018) (ebenfalls eines der 25 schönsten deutschen Bücher des Jahres). Zuletzt erschien «Essen essen (mehr ist mehr!)» im Frühjahr 2019.

Kat Menschik besucht im kommenden Sommer das Literaturhaus Thurgau in Gottlieben am Seerhein! Weitere Informationen folgen.

Michael Kleeberg «Abschied von einem Apfelbaum», Plattform Gegenzauber

Sein Stamm ist auf dem ersten Meter zweimal in sich verdreht, als hätten zwei gewaltige Hände ihn in seiner Jugend ausgewrungen wie ein nasses Handtuch. Seine Rinde ist backsteinbraun, rostbraun geschuppt, erinnert an Echsenhaut, an Krokodilleder. Auf der Sonnenseite des schräg aufstrebenden Stamms breitet sich ein goldengrüner, feinst gefiederter Moosteppich aus, bei dessen Berührung man das Gefühl hat, die Mähne eines Pferdes zu streicheln. Die Unterseite des Stamms wirkt schiefergrau, erst beim längeren Hinsehen macht man einen leichten Mauveschimmer aus. Je höher es hinaufgeht, je dünner die Äste werden, desto weniger Schuppenrinde ist zu sehen, desto glatter wird die Oberfläche des Holzes, ein hellgeschecktes Grau mit dem in der Sonne gelblich leuchtenden Grünspan von Flechten.

Auf Kniehöhe hat auch der Stamm ein erstes Knie, bis zu dem er recht gerade aus der Erde wächst. In der Kniekehle imitieren zwei starke in den Stamm eingelassene Stränge Sehnen. Oberhalb der an einer Kniescheibe erinnernden Ausbuchtung neigt sich der Winkel auf sechzig Grad, und die Wuchsrichtung dreht sich um ein Achtel. Ein zweiter Knick auf Hüfthöhe verschiebt die Wuchsrichtung wieder um 30 Grad zurück. Auf zweieinhalb Metern Höhe gabelt sich der Stamm, zwei Meter von seinem Ausgangspunkt entfernt, in drei Hauptäste.

Der stärkste Ast strebt in der Kurve einer Kettenlinie nach oben – zwei weitere Äste gehen von ihm ab, einer davon fast vier Meter weit waagrecht ausgreifend –, um sich in der Krone in zwei weidenartig überhängende Kuppeläste zu gabeln. Der zweite Hauptast wächst, sich verjüngend, flacher hinauf, verzweigt sich an seinem Scheitelpunkt, von wo aus das Gewicht der Zweige sie in einer Art Kreuzrippengewölbe nach unten biegt. Der Dritte beschreibt einen kommunistischen Gruß: Nach einem knappen Meter waagerechten Wachstums zwingt ein angewinkelter Ellbogen ihn in die Senkrechte, drei Meter weit. Die Krone des Baums hat auf einer Höhe von vielleicht sechs Metern einen Durchmesser von wenigstens acht. Geformt ist er wie ein riesiger Sonnenschirm auf schiefem Fuß. In der Erntezeit hängen manche Zweige voller Früchte fast bis zum Boden hinab, ebenso im Januar, wenn nasser Schnee auf ihnen lastet und der Stamm schwarz schimmert wie das Fell eines Rappen.
Am Bizeps des einen Hauptastes ist ein steinerner Nistkasten aufgehängt, den ein Blaumeisenpaar zum Überwintern und im Frühjahr zum Nestbau nutzt. Außer den Meisen finden sich regelmäßig Amseln, Spottdrosseln, Kleiber, Zaunkönige im Baum, seltener Spatzen. Im Winter werden die Meisenknödel täglich auch von einem kopfüber an ihre Unterseite gekrallten Buntspecht aufgesucht, ab und an klingt das schrille Gekecker eines großen, blaubraun leuchtenden, nesträuberischen Eichelhähers aus der Krone, das Hunderte von Metern entfernt im Wald wieder aufgenommen und weitergetragen wird. Seit einigen Jahren sieht man zur Blütezeit immer weniger Bienen im Baum, während die Zahl der Hummeln konstant zu bleiben scheint. Zur Fruchtzeit zieht es die Wespen ins Geäst, manchmal hört man wie ein weit entferntes Moped das sonore Gebrumm der Hornissen, von dem sich einem die Nackenhärchen aufstellen, bevor man noch die erschreckend langen Körper rund um den Stamm auf und ab kreisen sieht.

Im Oktober trägt er mittelgroße Äpfel, deren Grundfarbe gelb ist, manchmal gesprenkelt wie von Sommersprossen, viele von ihnen mit errötenden oder sogar feuerroten Wangen, einige mit wie aufgebatikten grünen Flecken. Vierzig Kilo davon ernten wir in jedem Herbst, der Teleskop-Käscher muss in ganzer Länge ausgezogen werden, um die obersten, wie Glühbirnen leuchtenden aus der Krone zu greifen. In Wäschekörben bringen wir sie dann zu der in einem Hinterhof in Weißensee verborgenen Mosterei Neubert, wo neben verwilderten Gärtchen und rostigen Zäunen die große grünlackierte Presse brummt, über deren Rand die Äpfel direkt in das schäumende Gebrodel gekippt werden.

Gegen Ende März eröffnen die beiden Sauerkirschbäume, deren wie Chilischoten geformte Früchte im August zu Tausenden auf den Platten zerplatzen und rote Schlieren und Schmierspuren hinterlassen, die an die Überbleibsel eines Unfalls oder Massakers erinnern, mit ihrer blassgelben, seltsam unkörperlichen, pusteblumenhaften Blüte, den Frühlingsreigen. Sie hält sich nicht lange, ist schon schlaff und welk, wenn der Mirabellenbaum Anfang April sein christosches Zauberkunststück vollführt und seine noch winterlich kahlen Äste plötzlich mit einer vibrierenden weißen Schmetterlingswolke umhüllt, die jeden Tag weißer und dichter wird, so dass man selbst an grauen Tagen, am Stamm stehend und in die Krone hinaufblickend, die Augen zusammenkneift vor soviel flirrender Helligkeit. Die unvermeidlichen Regengüsse setzen dem Traum nach kaum zwei Wochen ein etwas schäbiges Ende in Form eines Konfettiregens. Immerhin bleiben als Hoffnungsboten die grünen, noch eingerollten Blätter. Es folgt, ebenso kurzatmig, so schön wie steril, das Erblühen der im Schatten des Hauses violett schimmernden Zierkirsche. Der Baum, rotbräunlich gefärbt, verströmt, wenn die Knospen sich öffnen, ein zartrosa Licht, das nach einer Woche schon schwächer wird und erlischt, um die Bühne freizugeben für die Pflaumenbäume. Währenddessen blenden die Forsythien die Augen wie strahlende, vom Himmel in den Garten gefallene Sonnen. Aber erst wenn sie von oben her ihre Blätter zu treiben beginnen und das bonnardsche Mimosengelb sich in den folgenden Wochen in Absinthgrün verwandelt, erst in den allerletzten Apriltagen, ermutigt von einer warmen

Woche, manchmal noch später, wie aus alter, in den Genen liegender Erfahrung manches Jahr erst nach den Eisheiligen, zeitgleich mit der Mauser der geduldigen Hainbuche, die seit November ihr pergamentenes, rohrzuckerbraunes, welkes Laub festhält, um dann innerhalb von zwei Tagen, vom Wipfel bis zum Boden, alle toten Blätter abzuschütteln und ebenfalls vom Wipfel her die lanzettspitzen Knospen innerhalb weiterer zweier Tage zu stark gemasertem, flaumiggrünem Frühlingslaub auszurollen, erst dann kommt die Stunde des Apfelbaums.

Er hat sich vorbereitet, langsam, geduldig. Anders als die Pflaumenbäume, die erst ihr Blütenfeuerwerk versprühen, um dann zu grünen, die rasch ihr Pulver verschossen haben, beginnt er mit einem grünen Schimmer der Kelchblätter, der einen Anflug von Frühling in die Winterschwärze des Baums setzt, und aus dem das dunkle, stark durchblutete Rosa der Knospenköpfe verheißungsvoll blinkt. Auch jetzt noch lässt er sich Zeit, eine Woche, um sich zu entfalten, eine Woche, um im Entfalten die rosige Außenseite des Blütenblattes nach unten und außer Sicht zu drehen und die schneeweißen Innenseiten zu präsentieren.

Die Fünf ist die Ordnungszahl der Apfelblüte, fünf Blütenblätter bilden einen Kranz, in dessen Zwischenräumen weitere fünf rosige Nebenblüten knospen. Haben sie sich alle geöffnet, wiegen sich mokkatassengroße Blütengebinde auf den Enden der Zweige, das Rosa ist fast ganz verschwunden, scheinbar verblasst in der Anstrengung des Wachsens und Sich- Öffnens, und nur noch hier und da eher zu ahnen als zu sehen, mehr eine Erinnerung auf der eigenen Netzhaut als eine tatsächliche Farbe. Meist sind es auf den Innenseiten der Blütenblätter nur hingehauchte Gouache-Flecken entlang der Längsmaserung des kapillarenfeinen Aderwerks.

Diese Blütenblätter sind nicht ganz glatt, sondern ein wenig verknittert wie die ungebügelten Ärmel eines Seidenhemds. Im Entfalten umschließen sie zunächst die Mitte noch schalenartig, biegen sich dann jedoch immer weiter nach außen, um in einer fast obszönen Geste der Entblößung Staubgefäße und Stempel nicht nur zugänglicher zu machen, sondern sie gleichsam nach oben zu pressen, fast so, als ob eine Frau ihre Schamlippen auseinanderzöge, um ihrem neugierigen Liebhaber mittels ein wenig Drucks aus dem Beckenboden ihre Klitoris zu offenbaren.

Im Innern der Blüte rankt sich feinstes Kabelwerk, hellgrün, das sich dann zu einem Strauß aus herzförmigen, blassgelben Staubgefäßen und höher aufragenden Stempeln bündelt und öffnet, meist fünf an der Zahl. Die Stiele und Kelchblätter unter den Blüten sind flaumig behaart wie Jungmädchenarme, so dass es fast wie Nebel um die Stiele spielt.

Der Eindruck des zur Gänze blühenden Baums hat etwas von der Ausschüttung eines Füllhorns, von Überschwang, von Mit-vollen-Händen-Herschenken. Es ist eine bäuerliche, keine distinguierte Pracht, keine Spur von Maß oder Etikette, keine bürgerliche Reserve, kein haushaltender Wille zum Sparen, keine taktische Beschränkung. Es ist das Glück eines jungen Mädchens vom Lande, das sich von Natur aus schön weiß, sich zu festlichem Anlass zu putzen, etwas anachronistisches, eine alte Weise.
Seine äußersten Zweige berühren dann fast die höchsten des Fliederbuschs, und es wirkt als werde durch den Kontakt, den manchmal ein Windstoß hervorruft, das Kommando zum Erblühen von dem weißleuchtenden Obstbaum an die noch dunkel verschlossenen Knospen des Strauches weitergeleitet, der dann sozusagen den Staffelstab übernimmt und das hellere Violett des Blüteninneren, ihren Duft freigebend, offenbart, wenn von der Pracht des Apfelbaums nur noch weißer Hochzeitsreis auf dem Rasen übriggeblieben ist und er selbst eine bräunlich-gelbliche Färbung annimmt wie ein angeschnittener Apfel, der zu lange an der Luft gelegen hat, denn nur noch Staubgefäße und Stempel stehen wie miniaturisierte Springbrunnen auf den leeren Blütenständen, unter denen das Laub mächtig wächst.
Wenn man unter ihm sitzt, scheint das vielstimmige Vogelgezwitscher aus ihm zu kommen, scheint der Baum zu singen, als sei er eine Art Orgel: Die tieferen Töne entströmen dem Stamm, die höchsten dem feinen Gezweig der Krone. Das gequetscht Quietschende der Grasmücken und Finken, die gepfiffenen Koloraturen der Amseltriller, dazwischen rhythmisches Morsen.
An einem windigen, warmen 30. April studiere ich seine Bewegungen: Ein leises, würdiges Wiegen der weit ausgreifenden Äste, Pendelschläge der dünneren Zweige. Die Blüten schütteln sich, das Laub vibriert, als überliefe es eine Gänsehaut, oszilliert im Sonnenlicht. Konzentriert man den Blick auf Einzelheiten, sieht man das Elektronenrasen der Insekten, bei dem man Standort und Geschwindigkeit nie genau unterscheiden kann, so dass der Eindruck eines Flimmerns der vom Baum überwölbten Luft entsteht. Bei Sturm schüttelt er sich wie ein Tier, dem der Wind durchs Fell oder die Mähne zaust.
Im Frühling erinnert die Blüte an die duftig auf schaumigen Mittelmeerwellen tanzenden Blumengirlanden auf Noel-Nicolas Coypels „Entführung der Europa“: Sahnebaisers des Rokoko.
Im Sommer gleicht das Licht- und Schattengeflocke unter seinem Laubdach einer elektrischen Cloisonné-Malerei, deren Zellen in unregelmäßigen Abständen aufblinken. Wässert man an heißen Spätnachmittagen den Boden rund um den Stamm, hat man das Gefühl, ein Tier zu tränken, das gierig und dankbar die Flüssigkeit aufnimmt. Im November ruft der Baum die Erinnerung an einen bretonischen Calvaire irgendwo im Norden des Finisterre zwischen Morlaix und Brest herauf: nasser schwarzer Granit, der Inbegriff von Trostlosigkeit. Zu Weihnachten, wenn die reifbedeckten Zweige in der Morgensonne zuckrig glitzern, geht etwas Heimeliges, Trautes von ihm aus, und bei seinem Anblick sage ich mir Brechts GedichtDie Vögel warten im Winter vor dem Fenster her: „Ich bin die Amsel. Kinder, ich bin am Ende …“

In den Abschiedsschmerz, der ein Vorausahnen der Tatsache ist, dass man die Präsenz des Selbstverständlichen doch erst richtig schätzen kann, wenn sie nur noch in der Erinnerung existiert, aber in der täglichen Gegenwart ein Loch, ein Fehlen sein wird, mischt sich eine Prise von Neid, den der Ruhe- und Rastlose immer gegenüber dem Sesshaften empfindet, der all das, was man anderswo sucht, schon längst zu besitzen scheint, ohne Aufhebens, ganz beiläufig, oder wie der Weise sagt: ohne je seinen Garten verlassen zu haben. Wie alt er sein mag? So alt wie das Haus, fünfzig Jahre? Oder noch älter? Was alles um ihn herum vorgegangen ist, während er stoisch und ahnungslos mit nichts als Wachsen und Früchtetragen beschäftigt war! Keine zwanzig Meter von ihm teilte die Mauer dreißig Jahre lang Berlin von seinem Umland. Zwanzig Meter weiter, und seine Äpfel wären in zwei Staaten gefallen. Aber das hätte die Grenzpolizei der DDR nicht toleriert, die im Mauerstreifen jeden Baumwuchs mit Pflanzengiften unterband. Bei starkem Westwind, berichten die Nachbarn, sind ihnen davon die Geranien eingegangen, dem Baum hat es nichts angehabt. Geschichte ficht einen Baum nicht an, sofern er ihr nicht im Wege steht.

Wenn die Menschen und die Naturgewalten ihn lassen, müsste er länger leben als ich. Eigentlich ist er es, der sich von mir verabschieden müsste.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu: Bericht auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Lothar Köthe

Alain Claude Sulzer «Unhaltbare Zustände», Shortlist #SchweizerBuchpreis19/9

1968. Für die einen bricht ein neues Zeitalter an, für die anderen löst sich alles auf, was ein Leben lang Bestand hatte. Für die einen ist es der Startschuss für ein neues Bewusstsein, ein neues Lebensgefühl, für die andern der endgültige Zusammenbruch all dessen, worauf man baute. Der neue Roman von Alain Claude Sulzer ist ein Schaufenster in die Vergangenheit.

© Lea Frei

Seit Jahrzehnten ist Stettler der hoch angesehene Schaufensterdekorateur im Quatre Saisons, jenem Warenhaus in der Stadt, das etwas von den grossen Edelwarenhäusern der Metropolen aufleuchten lässt, aber eben immer gut schweizerisch provinziell bleibt. Die Enthüllungen seiner Schaufensterdekorationen waren Jahrzehnte eine Angelegenheit, die die ganze Stadt bewegte. Stettler in seinem Kittel der unbestrittene Monarch in den Räumen, in denen jeweils die nächste Dekoration entworfen wurde. Bis 1968. Nicht nur in den Stassen der Stadt rumort es. Auf der Münsterturmspitze weht eines Morgens eine Vietcong-Flagge und man setzt Stettler einen jungen Wilden vor das Sonnenlicht, der nach Ansicht des Chefs frischen Wind in die Schaufenster des Quatre Saisons bringen soll, Stettlers bisheriges uneinnehmbares Königreich.

© Lea Frei

Was Stettler in dieser schwierigen Zeit aufrecht bleiben lässt, ist der Briefwechsel mit Lotte Zerbst, einer Pianistin aus dem grossen Nachbarland, bekannt durch Schallplatteneinspielungen und Radiosendungen. Er, der Musik liebt, dem Radiosendungen die einzige Zerstreuung sind, seit er seine Mutter, mit der er zusammenlebte, beerdigen musste, fand eines Tages den Mut, Lotte Zerbst einen Brief voller Bewunderung zu schreiben. Und Lotte Zerbst, tief in ihrer Seele verletzt durch das dereinst schändliche Verhalten ihres grossen Lehrers, fühlt sich nicht nur geschmeichelt, sondern verstanden.

So wie Stettler ist Lotte vom Leben in ein Nischendasein gedrängt, aus der Zeit gefallen, einsam, antiquiert. Stellter, der schon in jungen Jahren spürte, dass er nicht wie die Masse tickt und Lotte, die wohl für die Masse spielt, aber abgeschottet von ihr in ihrer eigenen Welt lebt, noch entfernter als Stettler, der unmittelbar spürt, dass seine einstmals uneingeschränkte grosse Geste als Schaufensterdekorateur nicht mehr gefragt ist. Während Demonstranten vom Wasserstrahl von den Strassen gefegt werden, fegt Stettler die Zeit weg, wird Lotte von der Bühne gefegt, als man ein Klavierkonzert des sowjetrussischen Komponisten Schostakowitsch absagt, weil dieser als Repräsentant kommunistischer Weltanschauung mitverantwortlich gemacht wird für das, was die Grundfesten der Gesellschaft erschüttert.

Stettler, eingesperrt in seine Rolle, seine Anschauung und seinen strickten Lebenswandel fühlt sich mehr und mehr ohnmächtig gegenüber dem Wirken der Zeit. Er, der sich ein Leben lang für einen Macher hielt, wird nicht nur ausgebremst, sondern mehr und mehr schleichend kaltgestellt.

Alain Claude Sulzers Roman ist fein gebaut, geschrieben, als läge über dem ganzen Roman ein Schimmer des Bedauerns. Bedauern darüber, dass eine Welt unterging, eine Welt, in der man am Telefon die Auskunft fragen konnte, wenn das Lexikon nicht reichte. In der man sich über fünf verschiedene Fernsehsender wunderte und ein Haarschnitt allein schon Provokation war. Alles passt an diesem Roman. Die Sprache hat genau jenen Stich ins Sepia, wie das Weltbild der beiden Protagonisten, die einem in eine fremd gewordenen Welt eintauchen lassen. Alain Claude Sulzer macht sie, die untergehende Welt damals, an zwei Polen fest; zwei Künstlern, sie durch den Äther, er nur durch ein Glas vom Geschehen der Welt getrennt.

Und unter allem klingt die Musik. Alain Claude Sulzer weiss, was mit einer Musikerin passiert, die ihr Spiel, ihr Stück, ihre Musik so sehr verinnerlicht, dass sie nicht mehr nach Noten spielt, die Klänge Teil ihrer Existenz werden. Ich spüre, wie nah der Autor seinen Protagonisten kommt, und im Falle der Musik auf ganz innige Weise.

„Unhaltbare Zustände“ ist ein köstliches Buch, ein wahrer Lesegenuss! Dass Alain Claude Sulzer mit diesem Buch mit einer Nomination für den Schweizer Buchpreis 2019 beehrt wird, ist mehr als verdient. Schon mit seinen ersten Romanen, allen voran „Urmein“ aus dem Jahr 1998, gewann er meine Bewunderung.

Ein kleines Interview mit Alain Claude Sulzer:

1968, in jenem Jahr, in dem ihr Roman spielt, waren sie 15. Vielleicht zu jung, um in irgend einer Form mitgerissen zu werden, vielleicht. 1980, als Zürich von den Opernhauskrawallen heimgesucht wurden, waren Sie 27. Was ist ihnen geblieben? Was passiert mit Ihnen, wenn Sie junge Menschen heute für das Klima und die „Rettung der Welt“ demonstrieren sehen?
Es bleibt mir nichts anderes übrig, als es aus einiger Distanz zu konstatieren. An «die Rettung der Welt“ zu glauben fällt mir allerdings nicht erst seit heute schwer. Es sind schon etliche Versuche schiefgelaufen.

Stellers Antwort auf die Veränderung der Welt und seiner unmittelbaren Umgebung ist gegen sein Naturell die absolute und ultimative Provokation. Wie sehr trägt ein Schriftsteller wie Sie die Lust zur Provokation mit sich?
Provokation treibt mich weder am Schreibtisch noch „im Leben» an. 

Stettler wohnt noch immer in der Altstadtwohnung, die er Jahrzehnte mit seiner Mutter teilte. Nicht das einzige Setting Stettlers, das er eigentlich noch viel länger hätte erhalten wollen. Und vielleicht hätte Stettler das ehemalige Mutterzimmer in der Wohnung nie vollkommen entleert, wenn die Umwälzungen in der Welt und in seiner Umgebung nicht so grundlegend gewesen wären. Aber so wurde aus dem Mutterzimmer ein Fernsehzimmer, aus dem Zimmer der Rechtschaffenheit das Tor zur Moderne. Müssen wir stets aus der Komfortzone gestossen werden, damit sich Dinge ändern?
Ja, vermutlich ist das so, und dazu sind nicht unbedingt historische Umwälzungen notwendig (wie im Falle Stettlers, der sich, nicht ganz zu Unrecht, als Opfer einer solchen sieht); es genügen Veränderungen im kleinen privaten Rahmen – Tod, Krankheit, Verlust aller nur denkbaren Güter -, um die Kontinuität des bislang Gewesenen dauerhaft zu unterbrechen.

Der Schaufensterdekorateur Stettler verstand seine Arbeit am führenden Warenhaus der Stadt als Welterschaffung. Ein Schaufenster soll gefallen, dem Auge schmeicheln, die Produkte im Haus von der besten Seite zeigen, als Errungenschaft eines immer fortschreitenden Wohlstands. Sein neuer Kollege, den ihm sein Chef vor die Nase stellt und als Hoffnungsträger einer ganzen Branche feiert, versteht seine Aufgabe diametral anders. Er will provozieren. So wie heute die Kunst in vielen Bereichen, die Politik immer offensichtlicher, die Wirtschaft nicht nur in der Werbung und der Vermummte beim Samstagabendfussballspiel. Ist Ihr Roman auch ein bisschen Nostalgie? Die Trauer um eine verlorene Zeit?
Auch wenn ich selbst – anders als manche Kritiker es seltsamerweise sehen wollen – so gut wie nichts mit Stettler gemein habe (selbst mein Interesse an Schaufenstern ist eher dürftig), gibt es tatsächlich nostalgische Momente, in die der Leser/die Leserin unweigerlich versetzt werden, sofern sie sich an ähnliche Momente in ihrer Vergangenheit erinnern. Die Nostalgie dürfte bei jüngeren Lesern deutlich geringer sein. Unter Nostalgie verstehe ich aber nicht das wohlige Versinken in einer Welt, in der alles besser war, sondern einfach deren Betrachtung. Natürlich war – wie jeder weiss oder wissen kann – auch retrospektiv nichts besser als es wirklich war, und wann war es das schon?

Ein unüberlesbares Element Ihres Romans ist die Musik. Ihre Liebe für die Musik. Ist Musik ton- und klanggewordene Sehnsucht? Sehnsucht nach Harmonie? Nach Ordnung? Überschaubarkeit?
All dies, ja. Zudem ist Musik im Augenblick ihrer Ausführung einmalig, unwiederholbar, man kann sie nicht nachlesen, man kann nicht zurückblättern, man kann sich nicht länger an eine Viertelnote klammern, als sie dauert; insofern ist für Sehnsucht weniger Platz als für Gegenwart, Musik geht immer weiter.

© Lea Frei

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« (KiWi 1249) und »Aus den Fugen« (KiWi 1360). Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den Prix Médicis étranger, den Hermann-Hesse-Preis und den Kulturpreis der Stadt Basel.

Webseite des Autors

Illustrationen © Lea Frei

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis19/3

5 Namen, 5 Bücher. 4 Frauen, 1 Mann. 2 Debütromane, 1 «Zweitling», 2 Werke in langer Reihe. Vom Kleinräumigen ins Grossräumige, von rissiger Idylle bis zur Endzeitstimmung. Die Shortlist des Schweizer Buchpreises 2019 hat es in sich und überrascht. Wie immer. Was sie auch tun soll.

© Lea Frei

Freuen sie sich! Der kleine Strauss an Büchern könnte unterschiedlicher und vielseitiger nicht sein. Wer sie alle liest, wird staunen, wie breit sich Literatur lesen lässt, dass sich sowohl Inhalte wie Erzählweisen diametral voneinander unterscheiden können. Lesen Sie nicht nur die Bücher, sondern nutzen sie die vielen Möglichkeiten, die Autorinnen und den Autor auf ihrer langen Lesereise zu begegnen (z. B. am 25. Oktober im Literaturhaus Zürich oder an der BuchBasel vom 8. – 10. November).

Für den Schweizer Buchpreis 2019 hat die Jury über 70 Titel aus 45 Verlagen geprüft. Der Jurysprecher Manfred Papst sagt zur Wahl: „Die Bandbreite an Themen und Herangehensweisen war gross, und es gab viele interessante junge Stimmen. Die Jury hat sich für fünf eigenwillige und überraschende Texte entschieden:

Jury: In ihrem Roman «GRM.Brainfuck» treibt Sibylle Berg den entfesselten Neoliberalismus auf die Spitze und attackiert eine moralisch verkommene Zwei-Klassen-Gesellschaft mit ihrer eigenen entfesselten Phantasie. Dieser Entwicklungsroman ist eine Mind Bomb von emotionaler Wucht.»

Sibylle Berg ist ein Eckpfeiler in der deutschsprachigen Literatur, Garantin dafür, dass Literatur Leserinnen und Leser an die Grenzen der Wohlfühlzone bringt – zuweilen auch darüber hinaus. Sibylle Berg schreibt keine Literatur fürs Nachttischchen. Wenn man dann doch vor dem Schlaf liest, kann sich das Gelesene durchaus störend in den Schlaf schleichen.

© Lea Frei

«GRM.Brainfuck»
Vier Kinder in einer heruntergekommenen Stadt in Grossbritannien, in einem kaputten Staat, der auf Überwachung setzt. Sibylle Berg (*1962) verlängert in «GRM.Brainfuck» (Kiepenheuer & Witsch, 2019) eine brutale Gegenwart in eine gnadenlose Zukunft.

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Jury: «Im vielschichtigen Roman «Der Sprung» zeigt die Autorin Simone Lappert in einem raffiniert konstruierten Geschichtenmosaik, wie ein einziger dramatischer Moment auf verschiedene Einzelschicksale einwirkt.»

Simone Lappert überzeugte schon 2014 mit ihrem Debütroman «Wurfschatten». Mit «Der Sprung» gelang ihr aber weit mehr Aufmerksamkeit – mit Recht! Und seit dem vergangenen Internationalen Lyrikfestival in Basel im Januar dieses Jahres freue ich mich auch auf Simone Lapperts ersten Lyrikband. Die junge, umtriebige Schriftstellerin ist ein grosses Versprechen für die Zukunft!

© Lea Frei

«Der Sprung»
Eine junge Frau steht auf dem Dach eines Mietshauses und weigert sich herunterzukommen. Das bringt den Alltag verschiedener Menschen aus dem Gleichgewicht. Aus unterschiedlichen Blickwinkeln erzählt Simone Lappert (*1985) in «Der Sprung» (Diogenes, 2019) von Halt und Freiheit.

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Jury: «Der Traum vom Familienidyll auf dem Land erweist sich in Tabea Steiners Debütroman «Balg» als trügerisch. Der Alltag mit Kind ist für Antonia und Chris anstrengender als erwartet, zur Isolation und Überforderung gesellt sich eine zunehmende Entfremdung. Diese Entwicklung zeichnet Tabea Steiner in einer einfachen, lakonischen Sprache mit glasklaren Bildern nach.»

Tabea Steiner, schon lange tätig als Organisatorin verschiedener Literaturfestivals (Literaare in Thun oder Aprillen in Bern), als Moderatorin, Literaturvermittlerin lebt ganz in der Literatur. Dass ihr jetziger Verlag Edition Bücherlese zusammen mit ihr ins Rennen um den Schweizer Buchpreis geschickt wird, freut mich sehr.

© Lea Frei

«Balg»
Timon, ein «Problemkind», steht im Zentrum des Debütromans «Balg» (edition bücherlese, 2019) von Tabea Steiner (*1981). Aus wechselnden Perspektiven erzählt sie von Überforderung und Ausgrenzung in einem Dorf, das nicht zur Idylle taugt.

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Jury: «Alain Claude Sulzer erzählt in seinem Roman «Unhaltbare Zustände» die Geschichte eines gewissenhaften alternden Angestellten. Der Autor schildert in einer Sprache, die sich und uns Zeit lässt, eine so vielschichtige wie anrührende Figur.

Seit Alain Claude Sulzers Roman «Urmein», der vor mehr als 20 Jahren bei Klett-Cotta erschien, bin ich treuer Begleiter des Basler Schriftstellers. Ein Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderem teilzuhaben.

© Lea Frei

«Unhaltbare Zustände»
Die Schaufenster des Dekorateurs Stettler sind legendär, über viele Jahre pilgern die Leute zum Warenhaus, um sie zu sehen. Doch dann kommt Stettlers Leben ins Wanken. Alain Claude Sulzer (*1953) beleuchtet in «Unhaltbare Zustände» (Galiani, 2019) die gesellschaftlichen Umbrüche der 1968er Jahre auf ungewöhnliche Weise.

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Jury: «Ein Zug zwischen Paris und Zagreb, eine junge Frau zwischen den Ländern und Sprachen ihres Lebens: «Die Nachkommende» von Ivna Žic ist ein Debüt von grossem Sprachbewusstsein und sinnlicher Intensität.»

Ivna Žic, eine neue Stimme, «wie aus dem Nichts» schreibt der Tages Anzeiger, eine frische Art des Erzählens. Eine Lesereise, bei der ich als Leser oder Leserin mit einsteige, weg und hin – oder hin und weg. Ihr Erstling «Die Nachkommende», erschien beim renommierten Wallstein Verlag.

© Lea Frei

«Die Nachkommende»
Ivna Žic (*1986) verbindet in ihrem Debütroman «Die Nachkommende» (Matthes & Seitz, 2019) die Geschichte einer jungen Frau, die unterwegs zu ihrer Familie in Kroatien ist, mit einer Liebesgeschichte in Paris. Eine vielschichtige Spurensuche zwischen damals und heute.

Und seien sie weiterhin dabei, wenn litertaturblatt.ch seinen Senf dazu gibt!

Sämtliche Illustrationen © Lea Frei (lea.frei@gmx.ch)

Linus Reichlin «Keiths Probleme im Jenseits», Galiani

Ein Versprechen aus der Vergangenheit zwingt Fred, alles stehen und liegen zu lassen, um seinem Freund Ben, der mittlerweile Promiarzt in Kalifornien ist, in Not beizustehen. Fred tut es wirklich, obwohl sein Leben nicht das eines Kompromisslosen ist. Ben fährt ihn auf eine Insel mitten im Meer. Auf eine Insel, auf der die Musikgeschichte neu geschrieben werden soll.

Fred ist Lehrer, Buchautor und bald sechzig. Einem seiner Bücher über Quantenphysik schenkte der Zufall hohe Verkaufszahlen und sogar eine Übersetzung ins Amerikanische. Fred ist Single und braucht Bildschirm und Decknamen, um mit dem weiblichen Geschlecht in Kontakt zu kommen. Seine Arbeit als Lehrer von gelangweilten Teenagern, die nicht akzeptieren können, dass sich das Universum nicht um sie dreht, ödet ihn an. Das einzige, was ihn wirklich am Leben hält, ist seine Liebe zur Musik. So lässt er sich mit seiner Coverband an Hochzeiten, Geburtstagen und Scheidungsfeten engagieren. Sein grosses Idol ist Keith Richards, Leadgitarrist und Songwriter der Rolling Stones, der Mann mit Stirnband, exzessivem Leben und einem Gesicht, in dem jede Falte ein Leben erzählt.

Ausgerechnet bei einem Date mit einer Internetbekanntschaft erfährt Fred, dass Keith Richards gestorben sein soll. Etwas, was nicht sein soll, denn Fixsterne gehen nicht unter. Aber als sich die Befürchtung bestätigt, ist Fred der Ruf seines alten Freundes von der anderen Seite des grossen Wassers gerade recht, auch wenn ihn sein Musikfreund aus seiner Coverband mit dem Ende seiner Freundschaft droht, sollte er nicht rechtzeitig zum Engagement an einer Scheidungsparty sein.
Fred fliegt und wird von Ben, dem Arzt und Lynn seiner Begleitung empfangen. Aber statt helfen, statt irgend einer Not die Stirn bieten zu können, zwingt ihn Ben, eine 5-Millionen-Schweigeverpflichtung zu unterschreiben im Hinblick auf all das, womit er konfrontiert werden wird. Auf der Insel, die nur mit Taxibooten erreicht werden kann, stehen zwei Häuser. Ein grosses und ein kleines. Und während in den Medien die Beerdigung Keith Richards in allen Einzelheiten verfolgt wird, behaupten die beiden Ärzte Lynn und Ben, dass sich im Obergeschoss des Haupthauses Keith Richard von seinem Sterben erhole.

Fred, der sich mit Fragen der Wahrscheinlichkeit auseinandersetzt, scheint es nicht verwunderlich, dass eben jene Wahrscheinlichkeit ausgerechnet sein Idol aussuchte, um ihn vor der Sterblichkeit zu retten. Aber was für eine Rettung, wenn man zu einem Leben in einer Parallelwelt verbannt ist, wenn man seiner Bedeutung als Meilenstein in der Musikgeschichte nicht ins Fundament krachen will und dieses zerbröseln könnte, wenn man der bleiben will, der man über Jahrzehnte geworden ist, nicht dieser eine, der von den Toten auferstanden ist. Was für eine Rettung, wenn man als Toter nicht einmal mehr an die Millionen auf Bankkonten herankommt, wenn man Erinnerung bleiben will, eine gute Erinnerung und kein Untoter.

«Es gibt nur eine einzige Säule, auf der das Leben ruht, und diese Säule heisst Wahrscheinlichkeit.»

Fred soll helfen Probleme zu lösen, weil Fred an die Wahrscheinlichkeit glaubt. Und Fred ist mit auf der Insel, wie sein Leben eine leere Schublade ist und sie nun endlich mit Bedeutung gefüllt werden soll. Erst recht, als Fred den Gang ins verbotene Obergeschoss wagt und sieht, dass da wirklich Keith Richards sitzt, mit den Füssen in einer Plastikwanne. Fred und Keith freunden sich an, weil irgendwann beide gleichzeitig eine Gitarre in Händen halten, für Keith genauso wie für Fred das Tor zu einer neuen Welt, einer Welt mit unbegrenzten Möglichkeiten. Beide soll die Musik retten, Fred aus seiner Bedeutungslosigkeit, Keith aus seinem Dasein auf einer Insel im Nirgendwo.

Linus Reichlin erfindet sich mit jedem seiner Romane neu. «Keiths Probleme im Jenseits» sprudelt vor Ideen und Skurrilitäten. Zugegeben, ich war mir bei der Lektüre nicht immer sicher, ob Linus Reichlin den Bogen nicht überspannt. Aber vielleicht ist das meine helvetische Lesart eines helvetischen Schriftstellers, der so gar nicht tut, womit ich gerechnet hätte. Linus Reichlin nimmt mich mit an den Pool von Jonny Depp, an den Tisch mit Don Was, dem Musikproduzenten von Bob Dylan, Joe Cocker oder Elton John, weit, weit weg von den Kleinbürgersorgen um Termine, in eine Welt zwischen Schein und Sein, zwischen Traum und Trauma.
Es braucht für die Lektüre jenen Funken Wahrscheinlichkeit, den man jeder möglichen Wendung des Lebens geben muss!

Ein Interview mit Linus Reichlin:

Sie schreiben einen Roman über die Wahrscheinlichkeit. Eine Geschichte, in der ausgerechnet jener, der an sie mehr als nur glaubt, scheitert. Sie ziehen Schubladen, die sonst tunlichst verschlossen bleiben, um ein Leben, das eine leere Schublade ist, mit Leben zu füllen. Ihr Schreiben muss ein ziemliches Abenteuer gewesen sein!

Es gab zwei Phasen: In der einen schrieb ich ein Jahr lang eine erste Fassung, die absoluter Mist war, völlig misslungen. Danach schrieb ich in drei Monaten fast in einem einzigen Atemzug die zweite Fassung, an der dann keinerlei Korrekturen mehr notwendig waren. Der Stoff war schwierig, weil er mit dem dramaturgischen Maximum beginnt. Der Produzent Samuel Goldwyn sagte mal, das Rezept für eine gute Geschichte sei: «Mit einem Erdbeben beginnen und dann langsam steigern». Das war hier genau das Problem, aber es ist gelöst!

Fred ist ein Einsamer. Ausgerechnet zu seinem Idol, das fast ein ganzes Leben unerreichbar schien, dass wegzusterben drohte, entwickelt sich eine Freundschaft zwischen Geben und Nehmen. Aber auch sie scheitert. Träume scheitern, die Liebe scheitert. Was scheitert nicht?

© Susanne Schleyer

Wir werden geboren, und unweigerlich sterben wir. Man kann also von einem grundsätzlichen Scheitern sprechen. Aber zwischen all dem Scheitern gibt es ja auch immer Momente des Glücks, des Gelingens, der Zuneigung. Fred und Keith erleben wunderschöne Momente, in denen ihnen grossartige Songs gelingen, und Fred selbst ist ein Mensch, der selbst mit prekären Situationen gut zurecht kommt. Dass der Held am Ende scheitert, liegt vielleicht auch an David Bowies Geist, wer weiss …

Sie überraschen mit jedem ihrer Romane. Es gibt kein Reichlin’sches Thema, die immer gleichen Fragen, die sie kreisen lassen. Sie scheinen sich als Schriftsteller stets neu zu erfinden. Birgt das nicht auch eine Gefahr, nämlich jene, die treue Leserin, den treuen Leser zu erschrecken?

Doch, die Gefahr gibt es durchaus. Aber man verändert sich mit der Zeit, wieso also sollte man stets über die gleichen Themen schreiben? Ich bin jetzt in einer Phase, in der es mich interessiert, originelle Stoffe mit philosophischem Hintergrund auf witzige Weise zu beschreiben. Ich bin auf der Suche nach einem Humor, der aus der Tiefe kommt, so zu sagen einem nachdenklichen Lachen. «Keith» ist das erste Buch aus dieser Serie. 

Nichts ist unmöglich, schon gar nicht das Scheitern. Aber nur aus Angst dort zu verweilen, wo man sich eine sicher geglaubte Existenz eingerichtet hat, das scheint nicht ihr Plan zu sein. Wo lag die Uridee, der Urgedanke ihres Romans?

Die Idee kam auf unübliche Weise. Ich erwachte morgens und hatte fast die ganze Geschichte schon im Kopf. Normerweise dauert es Wochen, bis eine Geschichte konzipiert ist, hier nicht. Sobald Keith Richards und der Tod so zu sagen zusammenkamen, entwickelte sich die Geschichte ganz von selbst. Das Schreiben war anfangs schwierig, kein Wunder bei einem solchen Thema, aber die Ideenfindung nicht.

Sie lieben Musik und kennen sich aus. Man begegnet vielen Namen und noch viel mehr Musiktiteln. Wenn man sich beim Schreiben so sehr in der Welt der Musik bewegt, hört man dann auch die entsprechende Musik?

Natürlich! Es sind fast ausschließlich Lieblingssongs von mir, die erwähnt werden. Ich bin zur Musik der 70er aufgewachsen, das war ein großes Glück, denn die Musik jener Zeit war außergewöhnlich gut, und es gab eine Menge hervorragender Musiker; David Bowie, die Stones, Hendrix, Joplin, Lou Reed, Led Zeppelin – lauter Ausnahmetalente. Und für mich eine der zentralen Figuren war und ist Keith Richards. Er verkörpert diese Zeit wie kein anderer.

Vielen Dank!

Linus Reichlin, geboren 1957, lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Für seinen in mehrere Sprachen übersetzten Debütroman «Die Sehnsucht der Atome» erhielt er den Deutschen Krimi-Preis 2009. Sein Roman «Der Assistent der Sterne» wurde zum Wissenschaftsbuch des Jahres 2010 (Kategorie Unterhaltung) gewählt. Über seinen Eifersuchtsroman «Er» schrieb der Stern: »Spannend bis zur letzten Minute«. 2014 erschien «Das Leuchten in der Ferne», ein Roman über einen Kriegsreporter in Afghanistan. 2015 folgte der Roman «In einem anderen Leben», 2016 «Manitoba».

Rezension von Linus Reichlins «Manitoba» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Sandra Kottonau

„Zeugnis ablegen“, ein Schriftstellergespräch zwischen Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu

Michael Kleeberg verbringt zwei Monate als Writer in Residenz im Literaturhaus Lenzburg. Eine einmalige Gelegenheit, um zwei schreibende Schwergewichten über ihre Arbeit sprechen zu hören. Der berlinkritische Hauptstädter, weit gereiste Michael Kleeberg und der aus Rumänien stammende, leidenschaftliche Geschichtenerzähler Catalin Dorian Florescu.

Zwei vor Publikum einzuladen, um herauszufinden, was so unterschiedlich Schreibende verbindet. Mich Literaturverliebten dabeizuwissen, wenn der Mann spricht, der mit „Der Garten im Norden“ vor 20 Jahren ein Buch schrieb, das in meiner Bibliothek so lange ich lebe einen Sonderstatus geniesst. „Der Garten im Norden“ strahlt noch immer aus, was er vor zwei Jahrzehnten an unvergesslichen Leseeindrücken hinterliess. So wie „Jakob beschliesst zu lieben“ 2011 von Catalin Dorian Florescu! Zwei Reliquien in meinen Bücherregalen.

Beide schrieben in ihrer Anfangszeit Theater, eine von vielen Parallelen in den Leben der beiden. Michael Kleeberg über den RAF-Terror, Catalin Dorian Florescu ein Stück in der Empörung über die Schreckenszeit im Ceaușescu-Rumänien. Aber weder das eine noch das andere wurden aufgeführt, schon gar nicht eine Komödie über den RAF-Terror in einer Zeit, als die Agitatoren in gewissen Kreisen Helden waren.

«Ein fantastisches und hartes Jahrhundert zwischen dem Schwarzen Meer und der amerikanischen Metropole New York. Ein Roman voller Tragik und Komik, eine literarische Reverenz an die Fähigkeit des Menschen, sein Glück zu suchen, zu überleben und allen Widrigkeiten zum Trotz zu lieben.»

Kleeberg übersetzt vom Französischen und Englischen ins Deutsche, reist viel und gerne, was sich auch in seinem letzten Roman „Der Idiot des 21. Jahrhunderts“ niederschlug, ein Roman, der niemanden geringeren als „der Idiot“ von Dostojewski zum Paten hat.
In Catalin Dorian Florescus Romanen dreht sich alles um Sehnsucht nach Freiheit. Im Roman „Der Mann, der das Glück bringt“ treffen sich zwei nach den Terroranschlägen von 9/11 in New York und erzählen sich im Schutz eines Theaters ihre Geschichten. Florescu ist durch und durch Geschichtenerzähler. Ein Mann, der zu sprudeln beginnt, sobald ihm Zuhörer ihre Aufmerksamkeit schenken. Etwas, was man Florescu gerne entgegenbringt, denn er „rauscht“, stichelt, schwärmt und legt ein Panorama aus, ufert zuweilen aus, selbst dann, wenn man ihn zu mässigen versucht. Er schwelgt in seinen Bildern und Geschichten, die er mit sich herumträgt, wie kein anderer in der CH-Literatur.

Orient und Okzident, Einwanderer, Auswanderer, Aussteiger, Islam, Christentum, Kapitalismus und die Suche nach dem Glück: Michael Kleeberg erzählt Geschichten und «Schicksale in einer globalisierten Welt. In diesem großen Wurf gelingt es ihm, die wichtigen Fragen unserer Zeit in packende Literatur zu verwandeln.»

Michael Kleeberg verarbeitete in seinem Roman „Der Idiot des 21. Jahrhundert“ 15 Jahre Erfahrungen mit dem Mittleren Osten. Seinen Ursprung nahm der Roman, als Michael Kleeberg vor vielen Jahren im Iran am Grab des iranischen Nationaldichters Hafis (1315 – 1390) stand, bei seinem Mausoleum, zusammen mit Tausenden Menschen mit ihm. Lauter Menschen, die dort die Verse des Dichters aus dem 14. Jahrhundert rezitierten, eines Mannes, der in jenem Land noch viel höher angesehen ist als Goethe in Deutschland oder Shakespeare in England. Gedichte, die damals in vollendeter Poesie Widerstand aussprachen. Worte, die heute fassen, was sich im Iran wegen fehlender Opposition niemand offen auszusprechen traut. Worte, die mit Hafis einen unantastbaren Paten haben. Eine Stimme für die sonst Stummen. Angetan von der Lektüre Goethes „Der fernöstliche Diwan“ schrieb Michael Kleeberg mit „Der Idiot des 21. Jahrhunderts ein Panorama durch das Ost-West-Verhältnis, durch die Zeit. Seine Erfahrungen, die untrennbar mit dem Mittleren Osten verzahnt sind, über die Geschehnisse dort, die sich mit Europa verbeissen und darüber wie das über Jahrhunderte labile Verhältnis zwischen den beiden Polen gerade jetzt geprägt ist von maximaler Distanz angesichts grösstmöglicher Nähe durch Internet und soziale Medien.

Sowohl Kleeberg wie Florescu sind Schriftsteller, die, bevor sie mit dem eigentlichen Erzählen und Schreiben beginnen, tief in ihre Themen hineintauchen, umfangreich recherchieren, um Wahrhaftigkeit zu generieren. Noch viel mehr aber, um das Erzählen glaubhaft, das Erzählen auf der Wahrheit abstützen zu können. Erfindung muss legitim sein, ihr Erzählen damit ein Recht bekommen. Recherche bilde den Boden, mehr als nur Kulisse. Sie prägt das Geschehen, den Weg einer Geschichte und nicht zuletzt eine Arbeitsethik. Literatur ist mehr als Behauptung. „Ein gut sitzender Anzug“, so Florescu, in dem man sich sicher schreibend bewegen kann. Recherche ist Suchen und Vergessen zugleich. Was von der Suche bleibt, wirkt durch die physische Anstrengung des Schreibens in den Text. Aus Wissen wird Intuition. Recherche ist der Erhalt der Würde jener Personen, von denen erzählt wird, selbst wenn sie „erfunden“ sind.

Ein Roman ist immer Findungsprozess, das Resultat unzähliger Spuren, die mit Hilfe der Recherche und Sprache eine literarische Spur durch die Zeit geben. „Ich will Zeugnis ablegen“, meinten beide, Michael Kleeberg und Catalin Dorian Florescu.

Michael Kleeberg, geboren 1959 in Stuttgart, lebt als Schriftsteller und Übersetzer (u.a. Marcel Proust, John Dos Passos, Graham Greene, Paul Bowles) in Berlin. Sein Werk (u.a. «Ein Garten im Norden», «Vaterjahre») wurde in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt. Zuletzt erhielt er den Friedrich-Hölderlin-Preis (2015), den Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung (2016) und hatte die Frankfurter Poetikdozentur 2017 inne.

© Lothar Köthe

 

Catalin Dorian Florescu, geboren 1967 in Timişoara in Rumänien, lebt als freier Schriftsteller in Zürich. Er veröffentlichte die Romane «Wunderzeit» (2001), «Der kurze Weg nach Hause» (2002) und «Der blinde Masseur» (2006). Er erhielt zahlreiche Stipendien und Preise – u. a. den Anna Seghers-Preis und 2011 den Schweizer Buchpreis. Im Jahr 2012 wurde  er mit dem Josef von Eichendorff-Literaturpreis für sein Gesamtwerk geehrt.

© Martin Walker

Rezension von «Der Nabel der Welt» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Die Freiheit ist möglich» auf literaturblatt.ch

 

„Sodeli“, und dann wars vorbei, das 10. WORTLAUT-Literaturfestival St. Gallen

Auch wenn die Kälte noch immer im Schatten hockte und grosse grauschwarze Schneeberge mitten in der Stadt Saft liessen, war es neben der Sonne die Literatur, die am letzten Märzwochenende mein Herz erwärmte. Noch bevor an meinem Fenster zuhause der knorrige Aprikosenbaum zu blühen beginnt, schlug die Literatur aus, machte das Wort laut.

Die Zeichnungen, die diesen Text begleiten, sind von der Illustratorin Lea Frei, mit der ich an den kommenden Solothurner Literaturtagen die Veranstaltungen sowohl textlich wie zeichnerisch begleiten werde. Über die Resultate dieses spannenden Unternehmens wird auf literaturblatt.ch informiert.

Im Stundentakt schob sich Höhepunkt an Höhepunkt. Im grossen Saal im Waaghaus, fast versteckt im Splügeneck, mit Pastis in der Hauptpost, lautstark im Palace und der Grabenhalle. Da auch ich mich nicht zerreissen kann, war die Wahl zwischen „Laut“, „Luise“, „Rinks“ und „Lechts“, den vier zur Tradition und St. Galler Spezialität gewordenen Veranstaltungsreihen schnell gefällt. Von Tabea Steiner und Joachim Bitter souverän begleitet und moderiert, lauschte ich der Reihe „Luise“. Sechs Autorinnen und Autoren, die mit ihren Büchern eindrücklich bewiesen, dass Literatur fast alles kann; bezaubern, unterhalten, aufrütteln, verunsichern, beglücken und faszinieren!

Sechs Bücher, die es unbedingt zu lesen lohnt:

Auch in seinem zweiten Band zu den „Menschlichen Regungen“ von Tim Krohn begleitet mich bekanntes Personal aus dem ersten Band „Herr Brechbühl sucht eine Katze“. Herr Brechbühl wohnt noch immer alleine im Erdgeschoss eines Zürcher Mietshauses, wo ihm das kleine Mädchen aus der vierten Etage den Vorschlag macht, mit ihrer Familie die Wohnung zu tauschen, weil ihre Mutter im vierten Stockwerk keine Katze haben wolle. Er brauche die Wohnung im Erdgeschoss, die so praktisch wäre, doch gar nicht dringend, er könne ja auch ein paar Treppen weiter oben alt werden und sterben. Aber Herr Brechbühl will nicht in die vierte Etage, aber vielleicht eine Katze. Und auf der Suche nach einer solchen findet er Samira, eine Frau, die aus der Raupe Brechbühl einen Schmetterling zu machen versteht. Eine Frau, die Brechbühl nicht nur aus seinem Panzer schält, ihn regelrecht ins Leben zieht, in eines mit Geistern, Zeichen, Räucherstäbchen und Gestalten aus dem Reich der Toten. „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein Roman, der köstlich unterhält, geschrieben von einem Autor, der nicht einfach mit menschlichen Regungen spielt, sondern meisterlich konstruiert und fabuliert.

Jens Steiner hält der Gesellschaft einen Spiegel vor Augen. Auch ihrer Augenwischerei, wenn man sich mit einem Ranking der Recycelns den uneingeschränkten Konsum zu erleichtern versucht, um all jene Leerstellen, die das immerwährende Entsorgen bringt, möglichst schnell wieder mit „Neuem“ aufzufüllen. „Mein Leben als Hoffnungsträger“ ist aber mehr als ein Abenteuerroman auf einem Recyclinghof. Philipp, der junge Mann, der sich dort anstellen lässt, ist, so angepasst sein Leben und Tun an jenem Ort scheint, ein „Verweigerer“. Einer, der sich dem Würgegriff von Leistung, Besitz und Fortschritt verschliesst und verweigert, der einen Kampf auszustehen hat mit sich selbst und seiner Umgebung. Jens Steiner leuchtet das Kleinräumige aus.

In „Max“ lässt sich Markus Orths Zeit mit Erzählen. Er hangelt sich nicht von einem zu nächsten Cliffhanger, die man als Leser unbedingt aufgelöst haben will. „Max“ ist aber auch mehr als eine Künstlerbiographie über den Maler Max Ernst, ein Buch, das vergöttert und verehrt, einen Künstler auf einen steinernen Sockel hebt. „Max“ ist ein Sittengemälde einer verrückten Zeit, über einen „verrückten“, aber keineswegs entrückten Künstler. Sechs mit den Musen seines Lebens überschriebene Kapitel, sechs Frauen, die ein wildes Leben begleiteten. Vor Beginn seines Romanprojekts habe er nicht mehr als zwei, drei Bilder des Künstlers gekannt. Erst durch die Auseinandersetzung über einen Schreibauftrag wurde er der Fülle gewahr, die das Leben und Schaffen Max Ernsts ausmachte. Markus Orths las jene Szene aus seinem Roman, als der Medizinstudent Max Ernst an einer Ausstellung in einer Nervenheilanstalt mit Werken von Insassen Henrik begegnet, einem Mann, der aus Brot Plastiken formt, die immer und immer wieder die Auseinandersetzung mit einem übermächtigen Vater zeigen. Max Ernst geht nach Haute und schreibt: „Ich werde malen, sonst nichts!“

Wazlaw, ein nicht mehr junger Mann, ein Heimatloser, ein Arbeitsmigrant, folgt dem Drift, immer auf der Suche, einer unendlichen Heimatsuche. Ein Leben, das in der Schwebe bleibt, ein Roman, bei dem vieles in der Schwebe bleibt, keine einfache Geschichte, so wie das Leben nie einfach ist. Ein Bohren in tiefe Schichten, in die Sedimente des Lebens. Anja Kampanns grosse Kunst ist die Sprache, das, was sie in ihrem ebenfalls bei Hanser erschienen Gedichtband „Proben von Stein und Licht“ (Als wären die Gedichte Gesteinsproben des darauf folgenden Romans!) aufs eindrücklichste bewies. Eine Sprache, die sich dem chronologischen Erzählen verschliesst, viel mehr sein will als das Nacherzählen einer Idee, einer Geschichte. Es sind Bilder, die durch alle Sinne dringen, klar gezeichnet und doch mehr als nur abbildend. „Wie hoch die Wasser steigen“ ist ein Buch, das man nicht in allem zu verstehen baucht, genau so, wie man Schostakowitsch niemals als Ganzes verstehen kann. Es ist, als stünde man ganz nah an einem riesigen Gemälde. Man sieht Farben, Punkte und Linien, den Pinselstrich und weiss, das nichts dem Zufall überlassen wurde. Erst in der Distanz, mit der Dauer des langsamen Lesens wird das Ganze sichtbar, das viel mehr ist als eine Geschichte.

Fast voll war der Saal bei Dana Grigorcea! Sympathien stürmten wie Fruchtfliegen auf die Frau mit den Fingernägeln im gleichen Rot wie das schmale Büchlein, das von so viel Leidenschaft erzählt. Nach dem letzten Roman „Das primäre Gefühl von Schuldlosigkeit“, einem Stadtroman, einem Roman über Herkunft, episodisch erzählt, war es die Lust auf eine Liebesgeschichte mit viel „Zug“, eine Geschichte, die in Zürich spielt. Auch ein Experiment, ob die gewonnenen Leser/innen ihrer letzten beiden Romane, die miteinander verwandt sind, ihr mit einer Liebesgeschichte folgen würden. „Schreiben am Scheitern vorbei.“ „Die Dame mit dem maghrebinischen Hündchen“, eine Tänzerin, die den Zenit ihres Erfolgs bereits überschritten hat, die einst mehr war, als sie zu erhoffen gewagt hatte, eine Ballerina. Eine Liebe zu einem Fremden, einem verheirateten Kurden, einem Mann, der sich sonst nicht in ihren Kreisen bewegt. Eine scheinbar leichtfüssige Novelle „in einer der schönsten Städte der Welt, mit freundlichen, sorglos wirkenden Menschen“.

Und zuletzt Nicol Ljubić. 1977 brennt Hartmut Gründler lichterloh. Ein Mann, der über lange Zeit unauffällig zur Untermiete im Haus der Familie Kelsterberg lebt. Eine Geschichte zum einen aus der Perspektive des zehnjährigen Sohnes der Familie und Jahrzehnte später aus der Rückschau desselben bei den Besuchen bei einer alt gewordenen Mutter. Damals, 1977, war Hanno Kelsterberg nicht nur Zeuge zunehmender Radikalisierung im Protest Hartmut Gründlers, sondern Zeuge einer «tektonischen Verschiebung» innerhalb der Familie, einer schmerzhaften Entfremdung der Eltern, der Emanzipation seiner Mutter, dem Abfallen seines Vaters. Drei Jahrzehnte später besucht Hanno seine greise Mutter. Die Katastrophe von Fukushima ist für die Mutter keine Keule einer falschen Atompolitik, sondern logische Konsequenz und damit lang erwartete Bestätigung für den Kampf Hartmut Gründlers, eines verkannten Messias. „Ein Mensch brennt“ ist provokant und mit politischem Ausrufezeichen geschrieben über ein vergessenes Kapitel deutscher Geschichte.

 

 

 

 

Den Organisierenden meinen grossen Dank und tiefen Respekt. Vor allem Joachim Bitter, Mitinitiant, Moderator und Literaturfreund aus Leidenschaft!

Alain Claude Sulzer «Die Jugend ist ein fremdes Land», Galiani

Keine Autobiographie, kein Roman, eine Sammlung von Geschichten, die nicht seine Person ins Zentrum stellt, sondern die Zeit, die sich im Leben Alain Claude Sulzers spiegelt. Für jene wie mich, die das Werk des Autors kennen, aufschlussreich, obwohl sich Alain Claude Sulzer als Motiv erstaunlich zurückhält. Für jene, die Alain Claude Sulzer noch nicht entdeckt haben eine Sammlung von Perlen aus den 60ern und 70ern.

Alain Claude Sulzer schrieb die Texte über Jahrzehnte, viele davon für Zeitschriften. Er beschreibt eine Zeit, von der nicht viel übrig geblieben scheint, in der sich aber trotzdem viele wiedererkennen werden, ein Stück Schweiz der 60er und 70er; vom Landessender Beromünster, von der Sehnsucht eines Lebens als Bohemien in Paris, vom unzähmbaren Groll zwischen Eltern, dem eingeschlafenen Zorn seinen Lehrern gegenüber. Literarische Schaufenster in eine verbilchene Zeit, in der die Fernseher zu flimmern und die Reisedistanzen zu schrumpfen begannen. In eine Zeit, in die ein Junge, ein Jugendlicher seinen Fuss hineinsetzte, unspektakulär zu wachsen begann, um mich dann später mit seinen Büchern zu überzeugen. Unauslöschlich für mich bleibt das Leseerlebnis seines 1998 erschienen Romans «Urmein», ein Roman über ein halb verfallenes Schloss, bewohnt von einer ungewöhnlichen Gemeinschaft aus Künstlern, Abenteurern und Damen der Gesellschaft, 1911 oberhalb vom bündnerischen Thusis.
«Die Jugend ist ein fremdes Land» ist ein Lesereisebuch in eine vergangene Zeit mit orangen Vorhängen, schwarzen Spannteppichen, an der Grenze zwischen «les welsches» und dem deutschschweizer Spiessbürgertum im baslerischen Riehen. Im letzten Text des Buches mit dem Titel «Weder noch» schreibt Alain Claude Sulzer: «Dieses Buch beginnt an einem beliebigen Punkt … es gibt keine Chronologie. Die Erinnerung denkt nicht in klar bestimmten Zeitfolgen.» Lichtblitze aus der Vergangenheit, erzählt und aufgeschrieben von einem Autor, der es versteht, aus der Normalität den Glanz des Speziellen herauszufiltern, der mir das Gefühl gibt, an etwas Besonderen teilzuhaben.

Alain Claude Sulzer, 1953 geboren, lebt als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Er hat zahlreiche Romane veröffentlicht, zuletzt die Bestseller »Zur falschen Zeit« und »Aus den Fugen«. Seine Bücher sind in alle wichtigen Sprachen übersetzt. Für sein Werk erhielt er zahlreiche Preise, u.a. den «Prix Médicis étranger», den «Hermann-Hesse-Preis» und den Kulturpreis der Stadt Basel.

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Volker Kutscher und Kat Menschik „Moabit“, Galiani

In der von Kat Menschik gestalteten Reihe „Lieblingsbücher“ wählt die Illustratorin gemeinsam mit dem Verlag die jeweiligen Materialien aus und bestimmt Satz und Layout. So entstand der 4. Band einer wirklich illustren Reihe; „Der Landarzt“ von Franz Kafka, „Romeo und Julia“ von William Shakespeare, „Die Bergwerke von Falun“ von E. T. A. Hoffmann – und nun „Moabit“ von Volker Kutscher.

Die Justizvollzugsanstalt Moabit steht seit fast 140 Jahren, mittlerweile unter Denkmalschutz aber noch immer als Haftanstalt genutzt, mitten in Berlin. Volker Kutschers kriminalgeschichtliche Lunte brennt aber über die Gefängnismauern hinaus ins Berlin der Dreissigerjahre und explodiert in der Kneipe „Bei Mathilde“, einem Eckhaus am Lenzener Platz.

Kurz vor Ende einer mehrjährigen Haftstrafe wird Adolf Winkler, den die Szene nur „den Schränker“ nennt, im Moabit von einem eben erst Eingesperrten mit einem Messer angegriffen und beinahe erwürgt. Nur ein Zufall rettet Adis Leben, der nach seiner Haftentlassung bei einer Willkommensfeier in der Amor-Diele feststellen muss, dass seine Gang nicht mehr die ist, die er damals wegen bandenmässigem Raubüberfall verlassen musste. War er im Moabit das Opfer eines Machtkampfs?

Die Goldenen Zwanziger in Berlin waren auch die Goldenen Zwanziger der Berliner Unterwelt. Volker Kutscher gelingt es in diesem Kurzkrimi zusammen mit der Illustratorin Kat Menschik ausgezeichnet, etwas vom Flair, dem überbordenden Lebenshunger jener Zeit einzufangen. Wer mit dem schmucken Büchlein in der Hand eintaucht, fühlt, sieht und riecht das Brodeln der wilden Jahre in einem Berlin, das kurze Zeit später in der Weltwirtschaftskrise zu implodieren droht.

Zum Juwel macht den Krimi aber Kat Menschik mit ihrer unvergleichlichen Art, eine Geschichte mitzuerzählen. „Moabit“ ist mehr als ein Krimi, mehr als ein Buch, auch mehr als ein illustriertes Buch. „Moabit“ ist buchgewordene Antithese zum gebetsmühlenartigen Abgesang auf das gedruckte Buch. „Moabit“ aus dem Hause Galiani ist genau das, was ein Reader nie und nimmer erreichen kann – ein Fest für die Sinne! Grossartig! Das Weihnachtsgeschenk!

Volker Kutscher, geboren 1962, arbeitete nach dem Studium der Germanistik, Philosophie und Geschichte zunächst als Tageszeitungsredakteur, bevor er seinen ersten Kriminalroman schrieb. Heute lebt er als freier Autor in Köln. Mit dem Roman »Der nasse Fisch«, dem Auftakt seiner Krimiserie um Kommissar Rath im Berlin der Dreißigerjahre, gelang ihm auf Anhieb ein Bestseller, dem bisher fünf weitere folgten. Die Reihe ist die Vorlage für die internationale Fernsehproduktion »Babylon Berlin«.

Kat Menschik ist freie Illustratorin. Sie gibt dem Feuilleton der FAZ die optische Prägung, diverse von ihr illustrierte Bände erlangten Kultstatus, u. a. Haruki Murakamis Schlaf. Zahlreiche ihrer Bücher bekamen Auszeichnungen als schönste Bücher des Jahres. Bei Galiani sind erschienen: „Der Mordbrand von Örnolfsdalur und andere Isländersagas“ (2011) sowie „Kalevala“ (2014), „Der goldene Grubber“, Von großen Momenten und kleinen Niederlagen im Gartenjahr (2014).

 

Tim Krohn «Erich Wyss übt den freien Fall», Galiani

Tim Krohns Romanserie „Menschliche Regungen“ ist ein fantastisches Projekt und geht mit „Erich Wyss übt den freien Fall“ in seine zweite Runde. Eine Enzyklopädie der „Menschschlichen Regungen“; Courage, Perfektionismus, Eloquenz, Geiz, Familiensinn, Zorn, Begierde, Originalität… über 65 neue menschliche Regungen. Und weil Tim Krohn immer wieder in Kontakt tritt mit jenen Menschen, die eine dieser Regungen aussuchen und mit weiteren Begriffen einbetten, ist das, was in den beiden bisher erschienenen Bänden geschah, durchaus repräsentativ dafür, was die Welt an der Röntgenstrasse in Zürich ausmacht.

Sie kennen den altmodischen, aber noch immer reizvollen Adventskalender mit den kleinen Türchen, von denen man jeden Tag eines öffnen darf und mehr oder weniger überrascht wird, von dem, was sich dahinter verbirgt. Auch der zweite Band „Erich Wyss übt den freien Fall“ ist ein solcher Kalender, ein überdimensionaler, ein ganzes Haus, in dem sich nach und nach alle Türen öffnen, nicht nur die in die Wohnungen und Zimmer. Ein städtischer Kosmos, in dem sich das Leben auf vielfältigste Weise durchaus spektakulär manifestiert.

Sonst mag ich Serien nicht. Keine Brunettikrimis, keine Netflix-Serien, nicht einmal Gesamtausgaben. Sobald ich mich geknechtet fühle, krampft sich mein Misstrauen. Und wenn wie bei bei «Game of Thrones» um Film, Buch und Autor ein wahrer Hype ausbricht, stachelt das meinen Widerwillen noch an. So ganz anders bei Tim Krohns urbanem Quartierepos. Es fliesst kein Blut, kein Drache speit Feuer, es öffnen sich keine Abgründe, selbst die Intrigen bleiben in Bodennähe. Was in dem Zürcher Mietshaus passiert, erkenne ich wieder. Es riecht und fühlt sich an wie die Wirklichkeit. Ich mag das ganz normale Personal, selbst jenes, mit dem ich in der Wirklichkeit lieber nichts zu tun haben möchte. Tim Krohn erzeugt Nähe, weil sich die Menschen, die er leben, lieben und sterben lässt, mit dem herumschlagen, was Realität ist. Die Schauspielerin Selina kämpft um ihr Filmprojekt, Julia als alleinerziehende Mutter in ihrem schlecht bezahlten Beruf als Lektorin um ihre Existenz, Pit und Petzi als Studenten und junges Paar, Moritz der Lebenskünstler und Hubert Brechbühl, die Leitfigur aus dem ersten Band als schüchterner Liebhaber um ihre Lieben, Familie Costas ums tägliche Brot (das allzu oft als Fisch auf dem kleinen Balkon brutzelt) und Erich Wyss mit seiner Frau Gerda gegen die Tücken von Alter und Familie.

Tim Krohns Personal wächst mir derart ans Herz, dass ich mir mit Sicherheit auch Band 3 nicht entgehen lassen werde. So gesehen ist das Rezept kein anderes als bei jeder anderen Serie. Ich will nichts versäumen, selbst den Schmerz darüber nicht, dass Personen ziemlich plötzlich verschwinden. So wie Paul Lutz, der als neuer Hauswart seine Stelle antritt und sich zuallererst in seine Dienstwohnung durchkämpfen muss, weil die vom Verwandtschaftsbesuch der Familie Costas annektiert wurde. Ich mochte diesen Paul, der sich mit der umtriebigen Familie anzufreunden versuchte, letztlich aber scheiterte an seinem strategischen Bemühen, im Mietshaus für Ordnung zu sorgen.

Ich leide mit! In Band 2 mit Erich Wyss, einem schon lange pensionierten Tramfahrer. Einem, der ein Leben lang nicht nur seiner Frau Gerda treu war, sondern auch seiner Redlichkeit, dem Vorsatz, ein guter Mensch zu nsein. Ausgerechnet ihm schlägt das Schicksal nicht nur in die Knie, sondern mitten ins Herz. Nach der Geburtstagsfeier seiner Frau Gerda, bei der fast das ganze Haus mitfeierte und Gerda noch einmal richtig ausgelassen tanzte, entreisst der Tod ihm seine Frau. Und als wäre das nicht genug, versuchen ein ungeratener Sohn und ein durchtriebener Enkel aus Erich Wyss einen Strohmann für dunkle Geschäfte zu formen. Aber nicht so mit Erich Wyss. Dieser schlägt zurück, nachdem er auch schon im ersten Band einiges einzustecken hatte. Erst recht, als er sich nach dem Tod seiner Frau nur noch um sich zu sorgen braucht und sein Fundament Familie zu bröckeln beginnt. So wie die einen im Haus an der Röntgenstrasse um ihre Familie kämpfen, streitet Erich gegen sie. So heftig Erich seinen Sohn Sepp vor die Türe setzen muss, so sehr wird Pit von seinem Vater vor die Türe gesetzt und ausgegrenzt. Wahrscheinlich auch dies ein Qualitätsmerkmal des Kohn’schen Kosmos. So wie „Game of Thrones“ jene Welt nicht in Gut und Böse aufteilt, zeigt Tim Krohn in seiner Romanserie keine krassen Gegensätze, aber Menschen in sehr verschiedenen, durchaus gegensätzlichen Lebenssituationen. Pit, der Philosophiestudent, der im ersten Band ziemlich ausufernd die Grenzen der körperlichen Liebe auslotete und versuchte, ist in Band 2 ein Gestrandeter, ein Verzweifelter. Ernüchtert bricht er sein Studium ab und sieht sich nicht nur wegen dieses Entschlusses mit einem übermächtigen Vater konfrontiert, der ihm seine Familie verweigert.
In „Erich Wyss übt den freien Fall“ leide ich an nichts so sehr mit wie an „Familie“! So viel Sehnsucht und magische Liebe darin steckt, so viel Schmerz, Demütigung und Bedrohung kann aus ihr erwachsen.

Was ich am Unternehmen „Menschliche Regungen“ bewundere, ist die pure Lust des Autors an Ent- und Einwicklung, die Souveränität, mit der Tim Krohn erzählt und mir immer noch eine Tür öffnet, ohne sich zu verzetteln. Auch wenn mir die Lebensentwürfe der Protagonisten im Roman nicht alle gleich nah kommen, bleiben sie realistisch.

„Erich Wyss übt den freien Fall“ ist auch ein Buch über den Weltenbruch im Jahr 2001, über 9/11 und seine Folgen. Und das Bild, das im Buchtitel durchscheint, „The Falling Man“, stimmt letztlich treffend für Erich Wyss. Sein Turm brennt. Ein Turm, der durch ein Verbrechen in Brand gerät. Ein Turm, der einzustürzen droht. Aber Erich Wyss wird nicht aufschlagen, nicht zerstört liegen bleiben.

Ich liebe viele Bilder im Roman von Tim Krohn; wenn Herr Brechbühl mit der Tuba auf dem Rücken in den Glarner Alpen Höhepunkte sucht, wenn Costas aus der Not Pornofilme mit Literatur synchronisieren, wenn im Stadttheater Solothurn telefonierende Zuschauer während der Vorstellung von Schauspielern geohrfeigt werden.
Tim Krohn bleibt nicht an der Oberfläche. So gross die Liebe zu seinem Personal ist, so tief lässt er blicken. Zum Beispiel dann, wenn Max Frischs Fragebogen zur Hoffnung beantwortet wird. Und zwar nicht einfach so. Da helfen zwei Flaschen Château Lafite und der Umstand, dass die Fragen am Telefon beantwortet werden, ohne Möglichkeit, das Gesicht zu verlieren.

Und noch ein Versprechen von mir: Geniessen Sie Band 2 „Erich Wyss übt den freien Fall“. Jedes Buch für sich ist ein Leseabenteuer der besonderen Art. Lassen Sie sich verführen, anstecken und mitreissen!

Tim Krohn ist 1965 in Nordrhein-Westfalen geboren, wuchs ab seinem zweiten Lebensjahr in der Schweiz im Glarnerland auf und wohnte danach gut zwanzig Jahre lang in Zürich, in einer sehr liebenswerten Genossenschaft. Inzwischen lebt er mit Frau und Kindern in Santa Maria Val Müstair. Er ist freier Schriftsteller. Er schrieb zuletzt die Romane „Quatemberkinder“ (1998), „Irinas Buch der leichtfertigen Liebe“ (2000), „Vrenelis Gärtli“ (2007) und „Ans Meer“ (2009), die Erzählbände „Aus dem Leben einer Matratze bester Machart“ (2014) und „Nachts in Vals“ (2015) sowie zahlreiche Theaterstücke, so auch die Vorlage zum „Einsiedler Welttheater 2013“. Er gewann unter anderem das Berliner Open Mike, den Conrad-Ferdinand-Meyer-Preis, den Preis der Schweizerischen Schillerstiftung und den Kulturpreis des Kantons Glarus.

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Titelfoto: Sandra Kottonau