Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Sie kennen die Geschichte. Ein Mann, ein Pfeil, ein Apfel. Seit ich denken kann, prangt auf der grössten Schweizer Münze das Konterfei jenes Helden, den man zum kollektiven Bewusstsein eines ganzen Staates, von Generationen wackerer Eidgenossen machte. Joachim B. Schmidt hat sie neu erzählt. Wirklich neu. Und wie!

Noch bis vor ein paar Jahren wurden Kinder in Schweizer Schulen mit heroischen Gefühlen regelrecht geimpft, dem Glauben, von jenen wackeren Recken abzustammen, die sich mit stolzer Brust gegen den übermächtigen und erdrückenden Feind zu wehren wussten. Erst in den letzten Jahrzehnten bröckelte dieser Mythos und selbst in den Lehrmitteln von Schulen werden jene Geschehnisse vor mehr als 700 Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees relativiert, nur noch als Gründungssagen erzählt. Und doch, ein Rest bleibt. Mit den wackeren Treichlern, den stämmigen Verweigern gegen eine Obrigkeit, den tapferen Ureidgenossen, die sich durch nichts und niemanden ihre Freiheit nehmen lassen. Man fotografiert sich wieder stolzer unter dem strammen Mann mit seinem tapferen Sohn auf dem Denkmal auf dem Markplatz des Urner Hauptortes.

Der Mythos Tell ist eine Schlagader des helvetischen Selbstbewusstseins, und nicht zuletzt einer ganzen Tourismusmaschinerie. Nicht auszudenken, wenn Schiller damals diesen Stoff nicht zu einem Theater gemacht hätte und die Geschichten nur ein paar Seiten im Weissen Buch von Sarnen geblieben wären. Als ich in der Ausbildung war, spielten wir Schillers Wilhelm Tell, der vor 200 Jahren in Weimar zum ersten Mal aufgeführt wurde und seither zum genetischen Code einer ganzen Nation gehört. Damals spielte ich Walter Fürst, einen der drei Eidgenossen, die an den Ufern des Vierwaldstättersees den Eid gegen die verhasste Obrigkeit über den See riefen: „Auf Tod und Leben!“

Zu ihnen drang auch die Geschichte dieses einen Helden, den man zwang, mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen, den man dann trotzdem fesselte, der den Soldaten auf dem Schiff entkam und mit einem Bolzen den verhassten Vogt Gessler erschoss. Schiller machte die Geschichte zu einem Heldendrama, bot mit seinem Theater eine Breitseite, um den heroischen Akt wirkungsvoll zu inszenieren.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Erstaunlich genug, dass sich ein Ausgewanderter traut, den Stoff neu zu erzählen. Eine Geschichte, an der man sich eigentlich nur die Finger verbrennen kann. Ein Bündner in Island inszeniert die Geschichte ganz neu, nimmt ihr (fast) allen Pathos, lässt sie mit Blut und Schweiss auferstehen, entschlackt bis auf die Geschichte einer Familie, die sich an den bewaldeten und felsigen Flanken jenes Sees gegen die Willkür einer übermächtigen Besatzungsmacht und das ewige Verlieren zu wehren versucht. Ich bewundere den Mut des Schriftstellers, der sich auch einen unverfänglicheren Stoff hätte aussuchen können, zumal es aus einem Land schreibt, das an Mythen reich ist. 

In Joachim B. Schmidts „Tell“ kämpft ein Jäger und Bauer gegen ein mehrfaches Trauma, jenes als Knabe in den pfarrherrlichen Gemächern, als junger Mann mit dem mitverschuldeten Verlust seines Bruders und als erwachsener Mann mit dem Bewusstsein, nicht der zu sein, der er sein sollte. Tell ist ein Gepeitschter, ein Getriebener, einer, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, den das Schicksal aber immer wieder zu Entscheidungen zwingt, denen er sich nie freiwillig stellen würde. Sein Leben ist ein Kampf, ein Kampf, den er irgendwann bezahlen muss.

Ich habe das Buch atemlos gelesen. Obwohl ich die Geschichte kenne. Somit kann es nicht an der Handlung liegen. Joachim B. Schmidt switcht in seinem Roman von Person zu Person, erzählt von Walter, Tells Sohn, seiner Frau Hedwig, die einst mit seinem Bruder verheiratet war, von Tells Mutter, Hedwigs Mutter, von Gessler, dem Vogt und Harras, seinem wilden Vasallen und vieler anderer, die in dem Drama rund um die aufkeimenden Uruhen, die an den Gestaden jenes Sees ihren Anfang nehmen. Tell kämpft am meisten gegen sich selbst. Gessler gegen die Rolle, die man ihm aufzwingt und Harras gegen die Ahnung, nie das zu werden, was er sich als Mann zuschreibt. Schmidts „Tell“ ist aber in seiner Spiegelung auch die Geschichte der Frauen dieser drei Gestalten; Tell mit seiner Frau Hedwig und seiner Mutter, die die Familie gleich mehrfach vor ihrer Vernichtung retten, Theresa, Gesslers Frau, die in der Ferne auf ihren Gemahl hofft und ahnt, dass sie ihn nie ihrer Tochter zeigen kann und all jene Frauen, die sich Harras nimmt, die blutend liegen bleiben, während er sein Gemächt einpackt.

Schmidts „Tell“ trieft, ist bestes Kino, haut einem um, zieht einem ganz nah an ein Geschehen, dass einem schaudern lässt. „Tell“ ist die Geschichte eines vielfach Sterbenden. Vielleicht auch die Sterbegeschichte des Mythos „Mann“, einer Sterbegeschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

Tell ist toll – mehrfach!

Interview

Was um Himmels Willen hat dich geritten, als du dich an den Stoff machtest? Braucht es die Distanz „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“? Warum ausgerechnet die helvetischste Sage?

Die Idee, die Wilhelm-Tell-Geschichte neu zu schreiben, trage ich schon lange mit mir rum. Die Person fasziniert mich, die Geschichte selbst ist grandios. Die Gewissheit, dass ausgerechnet ich sie schreiben muss, ein Auslandschweizer, erlangte ich in Island. Ja, in gewissem Sinne bin ich ausgezogen, um Tell neu zu entdecken und nach Hause zu bringen. Hier, in meiner Wahlheimat gibt es die Isländersagas, uralte Manuskripte über die Zeit der Entstehung des isländischen Volkes, die aber erst 200-300 Jahre später niedergeschrieben worden sind – also eine ähnliche Situation. Bloss: Hier in Island ist man stolz auf die Sagas und deren Helden, man glaubt, dass es sie wirklich gegeben hat, man zelebriert sie. Aber den Ausschlag gegeben hat der isländische Schriftsteller Einar Kárason, der vor wenigen Jahren die etwas komplizierte Sturlunga-Saga neu geschrieben hat, die Wirren des isländischen Bürgerkrieges aus der Perspektive der verschiedenen Mitbestreiter schreibt, womit man sich wunderbar in diese Welt und Situation hineinversetzen kann. Ich habe Einar Kárason getroffen, mich mit ihm über Tell unterhalten, und damit endlich die Form gefunden, in der ich «Tell» erzählen wollte.

In dem Stoff lauern Fallgruben noch und noch. Man könnte sich elend verheddern, nicht nur im Dreieck zwischen Mythos, Geschichtsschreibung und nachgefühlter Realität, sondern auch den Interessen all jener, denen Tell noch immer Leitfigur ist, in Zeiten von Treichlern erst recht.

Bei mir stehen die Geschichte und die Protagonisten im Vordergrund. Die Handlung und das Handeln muss glaubhaft wirken. Unbedingt. Ich habe keine politische Agenda. «Tell» ist keinerlei Propaganda. Wann immer ich am Abgrund dieser Fallgruben gestanden bin, habe ich mich gefragt, was der logischste Weg ist. Ich empfand es zum Beispiel immer als unglaubwürdig, dass Tell – der Bergbauer – der Einzige auf dem Habsburger Boot sein soll, der so ein Boot überhaupt steuern kann. Völlig Quatsch. Im «Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft» von den 1470er Jahren, eine der ältesten Tell-Quellen, steht auch, dass die Soldaten den Auftrag bekommen haben, Tell auf dem See zu versenken. So habe ich die Szene neu und logisch interpretiert. Oder dass Tell bewaffnet auf den Markt geht, wo er doch weiss, dass die Habsburger herrschen, grenzt an purer Dummheit und Ignoranz. Es ist viel logischer, dass er ganz einfach nicht mitgekriegt hat, dass er sich vor dem Hut hätte verbeugen müssen. Tell ist überfordert, die Armbrust wird ihm dann in die Hand gedrückt. Aber es ist so: Seit seiner Entstehung ist Wilhelm Tell für politische Zwecke missbraucht worden: Er ist eine Leitfigur, seine Verfasser wollen den Leuten sagen: Wir sind unabhängig, wir sind stolz, und wir sind überlegen. Kämpft! Darum erstaunt es mich nicht, dass sich die Freiheitstrychler mit Wilhelm-Tell-T-Shirt und herausgestreckter Brust gegen die Behörden und die Wissenschaft aufmüpfen. Sie kennen ja nur den Freiheitskämpfer-Wilhelm-Tell, der aus Stolz den Gruss verweigert. Die Rechte missbraucht ihn für ihre Propaganda schon lange. Die Linke versucht, ihn klein zu machen. Mein Tell ist nicht an Politik interessiert. Er ist ein Eigenbrötler. Er kämpft ums Überleben und hat ein Trauma zu verarbeiten. Er ist eine tragische Figur, die in einen Teufelskreis aus Gewalt gerät und sich nicht daraus befreien kann. Und es geht um Vaterschaft. Ein Thema, dass mir viel näher liegt. Darum möchte ich allen sagen: Gönnt dem Tell doch mal eine politische Pause. Er gehört uns allen, und er gehört vor allem sich selbst.

So ganz nebenbei erscheint in deinem Roman Sturla, Sohn des Sighvats, ein Normanne von einer Insel weit im Norden, auf einer Pilgerreise gen Süden. Den Mann gab es (zumindest lese ich das in der grossen Suchmaschine). Ist das nur eine Reminiszenz an deine neue Heimat oder schlummert da mehr?

Sturla ist eine Person aus der Sturlunga-Saga, die auch bei Einar Kárason auftritt. Darum hat sie bei Tell ein Cameo, zumal sie tatsächlich durch die Urschweiz gereist sein könnte auf dem Weg nach Rom. Ich interpretiere hier die Geschichte ganz frech auf meine Weise. Die Historiker sind sich einig, dass Tell seinen Ursprung nicht in Uri hat, sondern möglicherweise in Skandinavien. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo hat schon vor dem Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, dem Verfasser des Weissen Buches von Sarnen, über den norwegischen Toko geschrieben, der auch einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen musste. Die Geschichte könnte dann mit den Pilgern, die durch die Innerschweiz nach Rom reisten, zu uns gelangt sein, so die Vermutung. Ich drehe hier den Spiess um. Die Tell-Geschichte hat bei uns den Ursprung, und die Pilger haben sie in den Norden getragen. Ich mache das aber mit einem Augenzwinkern und nehme es mit den Jahreszahlen nicht allzu genau. Man verzeihe mir diese Frechheit. Aber ich finde eben, dass unser Wilhelm Tell der Beste von allen ist. Im Sinne von: «Wer hats erfunden?» Ich will, dass wir den Stolz auf diese grausam tolle Geschichte wiederfinden. 

Es sind ein ganzer Strauss von Dramen, die sich in deinem Buch miteinander verstricken. Mit Sicherheit wolltest du das schiller’sche Drama, das sich nur auf Männerseite abspielt, in einer starken Frauenseite spiegeln. Nicht ganz einfach, muss doch angenommen werden, dass die Rolle der Frau damals so gar nicht jener entspricht, die heute selbstverständlich sein sollte.

Mein «Tell» ist, wie gesagt, stark von den Isländersagas beeinflusst. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass die Frauen gar nicht so schlecht vertreten waren und durch ihr Handeln auch zu den Geschichten beitrugen, obwohl sie in der Hierarchie nur knapp über den Sklaven waren. Aber es gab sie eben doch, und wahrscheinlich hatten sie mehr Mitspracherecht, als ihnen die männlichen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zugestehen wollten. Vor etwa einem Jahr gab es im Landesmuseum in Zürich eine interessante Ausstellung unter dem Namen: Nonnen, starke Frauen im Mittelalter. Es findet ein Umdenken statt. Mir war es grundsätzlich ein Anliegen, eine realistische Welt aufzuzeichnen, und darin gibt es eben auch Frauen. Tell hat also nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter. Es gibt in «Tell» Nonnen, Bäuerinnen, eine Pfrundsfrau… Trotzdem diente mir Schillers veralteter Wilhelm Tell als Fundament. Auf ihm habe ich meinen aufgebaut. Was mich aber am meisten bei Schiller stört, ist seine Einteilung in Gut und Böse, alles ist schwarz und weiss. Ich habe versucht, nicht bloss Grautöne gemischt, sondern, wenn ich schon dabei war, ein Farbbild.

Hast du mit einer Armbrust geschossen, dich im Dreck mit Riesen geprügelt, in Fell gekleidet im Vierwaldstättersee Wasser geschluckt?

Genau darum bin ich wohl der Richtige für «Tell»! Mit dem Schwung der Isländersagas im Hintern habe ich mich am Schreibtisch zurück in meine alte Heimat begeben. Einer meiner drei Brüder hat früher tatsächlich Armbrüste gezimmert, was nicht ungefährlich war, mit diesen Brüdern habe ich gerungen und wir haben im eiskalten Hinterrhein Wasser geschluckt. Ich bin auf dem klösterlichen Bauernbetrieb in Cazis aufgewachsen, auf dem Julierpass habe ich einige Sommerwochen als Kind und Jugendlicher verbracht, habe dem Senn der Klosteralp helfen müssen, Kühe zu melken, Rinder zu zählen, Käse zu machen. Mit meinem Vater habe ich Bergwanderung gemacht, bin ihm hinterher gekeucht, ich habe Murmeltiere erschreckt, und einmal bin ich fast auf eine Kreuzotter getrampelt. Endlich konnte ich diese wunderbaren Erlebnisse verwerten.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Eva Schram

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes

«Die Eule über dem Rhein» vom Grossmeister Hansjörg Schneider ist ein liebender Blick auf die Stadt am Dreiländereck, ein Buch voller Erinnerungen, über das Schreiben, sein Wachsen, die grossen Lieben des Lebens, gegen das Vergessen, ohne Pathos aber mit den Augen eines Weisen.                                    

Es gibt Autoren, an denen ich mich nicht „vorbeilesen“ kann, nur schon deshalb, weil sie mich schon ein ganzes Leseleben begleiten. Noch während meiner Ausbildung las ich Hansjörg Schneiders Roman „Lieber Leo“, von einem der auf sein scheinbar gescheitertes Leben zurückschaut, verwundet, weil ihn seine Liebe ohne Abschied verlässt. Es war der erste Schneider im Regal. Ein Paar Jahre später provozierte Hansjörg Schneiders Theaterstück „Sennentunschi“ nicht nur das brave Theaterpublikum, nach einer Fernsehproduktion auch unsere Familie, weil mein Vater darauf bestand, das Gerät abzuschalten, er dulde keine Pornografie im Wohnzimmer. Und als kurz vor der Jahrtausendwende „Das Wasserzeichen“ erschien, noch immer mein liebstes Schneiderbuch, weil es mich mit seiner Sprache und seiner Geschichte in ganz neue Sphären wegzog, wurde ich endgültig zu einem Schneiderer, schon lange vor all den Hunkelerkrimis, und erst recht bei deren Verfilmungen mit Matthias Gnädinger.

Hansjörg Schneider «Die Eule über dem Rhein», Diogenes, 2021, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-257-07162-7

Mit „Die Eule über dem Rheinknie“ hat Hansjörg Schneider bei Diogenes kurze Prosa veröffentlicht, Kolumnen von 2015 bis 2017 und Betrachtungen über sein Leben. Auf dem Dach des Basler Münsters sitzt eine steinerne Eule. Sie blickt über den Rhein auf „die andere Seite“. Hansjörg Schneider, der mit seiner Familie früh nach Basel zog, blieb immer ein Aargauer, obwohl er längst ein Basler Urgestein ist. Wie die Eule blickt er in seinem Schreiben auch stets leicht erhöht „auf die andere Seite“, auf eine Schweiz, die ihm oftmals eng erscheint, sein Basel, vom Geldadel erdrückt, hinüber ins Elsass, in die Vogesen, wo er auch seinen Ermittler Hunkeler schickte, wenn ihm das Geschehen am Rheinknie auf die Pelle ging. „Die Eule über dem Rheinknie“ ist der Blick eines Mannes, der das Leben aus dem vergangenen Jahrtausend mit ins neue nimmt, von einem, der an den Gewohnheiten festhält, nicht aus dumpfem Trott, sondern weil ihm sein Tun, Denken und Handeln lieb geworden ist. Ein Schriftsteller, der noch immer von Hand schreibt, ein Heft nach dem andern füllt, mittlerweile mehrere hundert, einen Schatz, den er dem Schweizerischen Literaturinstitut übergab. Der sein Geschriebenes noch immer mit einer mechanischen Schreibmaschine abtippt und gleich korrigiert, kürzt oder ergänzt, dem das Tippen als körperliche Handlung ebenso wichtig ist, wie das Geräusch, auf das er nicht verzichten will.

Hansjörg Schneiders Blick schweift, manchmal ganz nah, wenn er von seinen Nachbarn erzählt, von den Alten in seinem Quartier, den Begegnungen im Supermarkt, wie sehr wir uns in unserem Hafen sicher fühlen, wie sehr wir uns an all die Annehmlichkeiten gewöhnt haben. Von seinen Spaziergängen in der Stadt, vorbei an den gestylten Joggern. Dann zurück in die Vergangenheit, in seine Kindheit und Jugend in Zofingen, über den Schmerz, mit seinen Krimis nie an die Solothurner Literaturtage eingeladen worden zu sein, über seine Zeit in Paris als bettelarmer Niemand. Über seine Schriftstellerkollegen Guido Bachmann, Dieter Fringeli, Christoph Mangold und Werner Schmidli, mit ihm ein Basler Pentagon, von denen alle bis auf ihn gestorben sind, die man mehr und mehr vergisst.

Hansjörg Schneider schreibt mit seinem ganz eigenen Witz und Schalk, nicht ohne Kopfschütteln über sich selbst. Er schreibt von einem Mann, der sein Leben und Tun liebt, der mit seinem Schreiben seine zweite grosse Liebe gefunden hat. Der kein Blatt vor den Mund nimmt, wenn er Schwätzer mit Namen nennt und sich zuweilen Schmerz darüber einschleicht, was alles unwiederbringlich verloren geht. Aber das darf ein Mann von 83 Jahren, dessen Blick fast immer ein liebender und freundlicher ist.

Warum nicht mit der Eule über dem Rhein in den schneider’schen Kosmos einsteigen!

Interview

Ich schreibe Ihnen meine Fragen von Hand auf Papier. Sie schreiben noch immer in Hefte ebenfalls von Hand und tippen es anschliessend in eine mechanische Schreibmaschine. Schwingt da der Wunsch des Haptikers mit, „Spuren“ zu hinterlassen?
Ich schreibe erst von Hand, dann in die Schreibmaschine, weil ich es so gelernt habe und nie einen Grund sah, davon abzuweichen. Ausserdem finde ich meine Handschrift schön, obschon sie offenbar schwer zu entziffern ist. Aber es stimmt schon: Heimlich bin ich stolz auf meine handschriftlich gefüllten Hefte.

Ihr Buch ist eine Liebeserklärung an Ihre Mutter, Ihre Kindheit, den Blick in die Weite, die Stadt Paris und viele Freunde, die nicht mehr sind, darunter auch Werner Schmidli, einen Schriftsteller, von dem ich wie von Ihnen alles gelesen habe, der mir lieb ist, auch wenn er mich einst mit meinem Bücherstapel in Händen zum Signieren ganz an den Schluss der Warteschlange schickte. Fühlen Sie sich manchmal alleine gelassen?
Natürlich finde ich mich alleine gelassen, natürlich sitze ich allein am Tisch. Mit 83 Jahren ist das wohl normal.

Sie arbeiteten wie Peter Bichsel vor mehr als einem halben Jahrhundert als Lehrer. Ich bin es in meinem Brotberuf noch immer, schon 37 Jahre lang. Manchmal leide ich etwas unter dem Sisiphos-Effekt, an den immer gleichen Problemen, die man den Berg hinauf schiebt und rollt. Obwohl ich ein grosser Leser bin und mir das freie Schreiben in der Schule ganz zentral erscheint – nicht bloss Sprachübungen – entmutigt mich die Entfremdung von der Sprache manchmal, die Verflachung und Verarmung. Muss man Angst um die Sprache haben? Wird echte Auseinandersetzung mit Sprache immer seltener, einsamer?
Ich habe mein Germanistikstudium mit Stellvertretungen an aargauischen Bezirksschulen verdient, mit weissem Hemd und Krawatte und lauter Militärköpfen im Lehrerzimmer. Da wollte ich nicht mitmachen.
Heute ist es ganz anders in den Schulen, viel lockerer. Da ich den Lehrerberuf als sehr wichtig erachte, könnte ich mir heute ein Lehrerdasein gut vorstellen. Über die Sprache würde ich mir keine grossen Sorgen machen. Sie lebt, sie verändert sich, wie sie sich immer verändert hat.

Warum zählen Krimis mit einem literarischen Anspruch, so wie Ihre Hunkeler-Krimis noch immer zu minderwertiger Literatur? Zumindest im deutschsprachigen Raum, ganz im Gegensatz zu den „Angelsachsen“?
Die Verachtung des Krimis als Literaturgattung ist völlig idiotisch. Am besten nimmt man sie einfach nicht zur Kenntnis. Für mich ist der Krimi eine wunderbare Gattung. Man kann erzählen, beschreiben, was und wie man will. Schreiben heisst, sich die Freiheit nehmen, die man sich nehmen will.

Sie sind 83. Ihr Werk ist umfangreich, vielfältig und gross. Bald werde ich vor einer Gruppe „Studierender“ stehen und ihnen von der aktuellen CH-Literaturszene erzählen. Lauter Menschen, die davon träumen, dereinst ein Buch mit ihrem Namen in Buchhandlungen zu finden. Was würden Sie den mehr oder minder jungen Hoffenden raten, waren Sie doch auch einmal einer, auf den niemand gewartet hatte.
Selbstverständlich hat keiner auf mich gewartet, als ich jung war. Ich erhielt nur Absagen, von Zeitungen und Verlagen, auch von Theatern. Bis es eben doch geklappt hat, mit viel Glück. Natürlich ist Erfolg etwas Schönes. Aber der Grund, warum man schreibt, ist ja das Schreiben selber.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter „Sennentuntschi“ und „Der liebe Augustin“, war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine „Hunkeler“-Krimis, verfilmt mit Matthias Gnädinger, führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel

Daniela Krien «Der Brand», Diogenes

Ein Viertel Jahrhundert verheiratet. Eltern zweier Kinder. „Aus dem Gröbsten raus“. Aber die beiden Stadtmenschen Rahel und Peter ahnen, dass ihre Ehe an einem Wendepunkt angekommen ist. Daniela Krien leuchtet in ein Zerwürfnis. Wenn auch mit schwacher Funzel.

Zwischen Rahel und Peter ist das Brennen erloschen. Nach beinah dreissig Jahren ist ihnen die Leidenschaft abhanden gekommen. Sie ist Psychotherapeutin, er Literaturprofessor, beide fest eingebunden planen sie Ferien in den Bergen, Zeit füreinander. Obwohl das Virus sie zwang, ihre Ferien nicht allzu weit von ihrem Zuhause zu verbringen und sie beide nicht mehr wirklich an Aufwind glauben, erreicht sie kurz vor der Abreise die Mitteilung, dass das Haus in den Bergen abgebrannt sei und man ihnen eine Alternative im Dorf anbieten könne. Kaum abgesagt und den Ärger fürs erste geschluckt, erreicht sie ein weiterer Anruf einer Freundin Rahels Mutter, ihr Mann Viktor habe einen Schlaganfall erlitten und man suche jemanden, der für ein paar Wochen das Haus in der Uckermark hüten würden, während sie ihrem Mann in der Klinik beizustehen versuche.

Daniela Krien «Der Brand», Diogenes, 2021, 272 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-257-07048-4

Was am Anfang bloss einzige Alternative ist und ein Liebesdienst an einem Paar, mit dem man sich schon ein Leben lang verbunden fühlt, wird immer mehr zu einem Ort, der Klarheit und Perspektiven in das Leben der beiden Verlorenen bringen könnte. Rahel, geplagt von ihren Stimmungsschwankungen, vermisst Peters Leidenschaft. Auch wenn das noch nie viel war, das grosse Feuerwerk ausgeblieb, erklärt Peter ziemlich trocken, dass er keine Lust mehr verspüre. Die Lunte brennt nicht mehr. Rahel hat zu akzeptieren, mehr noch. Das Auseinanderleben, die immer grösser werdende Distanz, reisst an ihrem Selbstverständnis. Und Peter? Peter will einfach nur weg. Weg aus dem aufgeheizten Universitätsbetrieb. Weg von den Brandherden dort, weil er während einer Vorlesung mit einer non-binären Studierenden ungewollt und tollpatschig in einen Konflikt vor Publikum geriet. Ein Konflikt, dem man ihm aufzwang, für den er schlicht weder Lust noch Kraft hatte, sich zu stellen.

Drei Wochen auf einem Hof in der Uckermark. Mit Pferden, Hühnern und Katzen, einem grossen Haus mit vielen Zimmern, einem Stall und einem Nebengebäude, in dem Viktor, der den Schlaganfall erlitten hatte, schon Jahrzehnte ein Künstleratelier führt. Für Rahel ist der Ort ein Ort der Erinnerungen. Und als sie aus Neugier und Unruhe Schubladen öffnest und in Skizzen und Zeichnungen blättert, erhärtet sich ein Verdacht, den sie als Keim schon ein Leben lang mit sich herumträgt.

Daniela Krien erzählte in einem Interview, dass sie eben solche Ferien in einem Haus machte, weil ein Feuer einen Strich durch Ferienpläne machte. Der Hof dort draussen in der Einsamkeit wird zur Bühne eines Zweipersonenstücks. Während der Mann ganz unerwartet auf diesem Hof seine perfekte Erholung zu finden scheint, beginnt ein anderes Feuer, ein Schwelbrand aus Rahels Vergangenheit, der die Krise der sonst rational Denkenden noch potenziert. Eigentlich ein perfektes Setting über ein Paar, das sich aufgezwungenen Veränderungen stellen muss. Ein Geschichte, die mich eigentlich berührt, zumal es doch reichlich eigenartig ist, dass es noch immer Paare gibt, die sich dem Abenteuer einer Langzeitbeziehung oder gar einer lebenslangen Partnerschaft stellen. Trotzdem hätte ich mir in dieser Geschichte etwas mehr Pfeffer gewünscht. Die Figuren bleiben eigenartig blass. Die Geschichte kocht auf kleinem Feuer. Wo bleibt der innere Kampf um eine Ehe, die ausgelutscht zu sein scheint? Wo jener Kampf der Psychologin mit der eigenen Überforderung? Wo jener mit einer Vergangenheit, die sich immer mehr querstellt? Wo der Brand im Leben des Professors, der doch eigentlich nur seine Arbeit machen will und von gegenwärtigen Verbalauseinandersetzungen zerfressen wird?

„Der Brand“ ist ein schöne Geschichte, leicht zu lesen, gute Unterhaltung. Mehr nicht. Schade.

Daniela Krien, geboren 1975 in Neu-Kaliss, studierte Kulturwissenschaften und Kommunikations- und Medienwissenschaften in Leipzig. Seit 2010 ist sie freie Autorin, 2011 erschien ihr Roman «Irgendwann werden wir uns alles erzählen», der von Emily Atef verfilmt wird. Ihr letzter Roman, «Die Liebe im Ernstfall«, stand monatelang auf der Bestsellerliste und wurde in mehr als 20 Sprachen übersetzt. Daniela Krien lebt mit ihren zwei Töchtern in Leipzig.

Beitragsbild © Maurice Haas / Diogenes

Bei Joachim B. Schmidt braut sich was zusammen.

Winterschlaf? Joachim B. Schmidt hat ihn sich redlich verdient. Am 23. Februar nächsten Jahres erscheint sein nächster Roman «Tell», Nach «Kalmann» sein zweiter, bei Diogenes erscheinender Roman.

Aus der Vorschau des Verlags:
Joachim B. Schmidt schreibt Geschichte neu. In seinem fulminanten Roman wird die Tell-Sage ein Pageturner, ein Thriller, der an moderne Netflix-Serien erinnert. Beinahe 100 schnelle Sequenzen, erzählt von 20 verschiedenen Protagonisten, rasen wie an einer Lunte auf einen überwältigenden Showdown zu, der sich nicht vor denen grosser Blockbuster verstecken muss. Schmidts Fiktion, seine Vision des Tell machen die Erzählung so einzigartig, frisch und zwingend. Die moderne Erzählweise hat er sich bei einem der grossen isländischen Erzähler abgeschaut: Einar Karáson, der die Sturlungen-Saga neu erzählte. Hier wie dort sprechen die Protagonisten, was dem Text Gegenwärtigkeit und Authentizität verleiht. Im Zentrum von Schmidts Erzählung steht der ›Mensch‹ Wilhelm Tell – ein Wilderer und Familienvater, ein Eigenbrötler und notorischer Querulant; ein Antiheld, einer, der überhaupt kein Held sein will, der eigentlich nur seine Ruhe, genug zu essen und seinen Leiterwagen haben will. Und eine Kuh verkaufen. Immer näher kommen ihm die verschiedenen Stimmen und erkunden, wie eine einzige Gewalttat grössere und grössere Kreise zieht. Schmidt bringt uns die Figuren des Mythos nahe und erzählt eine unerhört spannende Geschichte – auch für diejenigen, die noch nie etwas von Wilhelm Tell gehört haben.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, stammt aus Graubünden und lebt seit über zehn Jahren mit seiner Familie in Reykjavik. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten. Ausserdem betreibt er einen Reiseblog und arbeitet als Touristenführer in Island.

«Einsame Weihnachten in Island» Kurzgeschichte auf der Plattform Gegenzauber

“Kalmann“, „Mossflüstern“, Rezensionen auf literaturblatt.ch

Kristín Elva Rögnvaldsdóttir

Joachim B. Schmidt

Louise Brown «Was bleibt, wenn wir sterben» Erfahrungen einer Trauerrednerin, Diogenes

Sterben, Tod und Trauer sind Tatsachen, mit denen man sich schwer tut, weil sie den Menschen mit seiner Endlichkeit konfrontieren, selbst dann, wenn man ihnen beruflich und professionell begegnet. Louise Brown, ausgebildete Journalistin, wuchs in einen ganz speziellen Beruf hinein, in den der Trauerrednerin. In „Was bleibt, wenn wir sterben“ erzählt sie von ihren Beweggründen, den Begegnungen und all dem was Sterben und Tod aufreisst.

Als mein Vater im Sterben lag, rief man mir an und bat mich zu kommen. Ich stieg ins Auto und fuhr wie in Trance zum Spital, in dem man mit schwindender Hoffnung um das Leben meines Vaters kämpfte. Zusammen mit meiner Mutter sass ich in den Fluren vor dem Zimmer, in dem mein Vater lag. Man hatte erklärt, es sei nicht schön, dem beizuwohnen, was man mit dem Körper meines Vater mache, um ihn ins Leben zurückzuholen. Eine gefühlte Ewigkeit später liess man uns dann ein, weil man alle Maschinen entfernt hatte. Er lag da, bis zur Brust zugedeckt. Er war tot, seine Augen geschlossen, seine Haut schon kalt. Bis zu jenem Zeitpunkt, ich war selbst schon Vater, schon öfters Zeuge einer Beerdigung und mir durchaus bewusst, dass das Leben endlich ist, schlug mir das Unumstössliche, das absolut Endgültige und die Tatsache der endgültig gekappten Verbindung zu meinem Vater wie eine Faust in Magengrube und Gesicht zugleich. Fassungslos versuchte ich einzuordnen, was nicht sein sollte. Er lag da und war unsäglich weit weg. Es hatte ihn weggenommen, meiner Mutter, meiner Familie, mir. Es würde keine Blicke mehr geben, keine Umarmungen, kein Erwidern, bloss noch die Erinnerung.

Louise Brown «Was bleibt, wenn wir sterben. Erfahrungen einer Trauerrednerin», Diogenes, 2021, 256 Seiten, CHF 30.00, ISBN 978-3-257-07176-4

Wahrscheinlich ist das die eigentliche Qualität dieses Buches. Louise Brown konfrontiert und ruft in Erinnerung. „Was bleibt, wenn wir sterben“ ist keine literarische Prosa, keine Sammlung von Trauerreden und auch keine Lebenshilfe. Louise Brown begleitet mich zu meiner Erinnerung, ruft zurück, was in meiner Erinnerung in ganz speziellen Räumen eingelagert zu sein schein. Ich habe jenen Tag, als mein Vater starb, nicht vergessen. Auch nicht die Tage danach, als meine Mutter und ich am Tisch sassen und taten, was nach dem Tod eines Vaters und Ehemannes zu tun ist. Ich habe auch nicht vergessen, wie ich um Worte, Sätze und Erinnerungen rang, als ich mich entschloss, die Trauerrede meines Vaters selbst zu schreiben und zu halten. Das erschreckende Bewusstsein, dass viele Erinnerungen, viel Wissen mit dem Tod eines Menschen unwiederbringlich verloren ist, dass jene Sätze, die man dann möglichst gefasst vor der Trauergemeinde vom Blatt liest, um nicht allzu oft in die Gesichter von Familie und Freunden schauen zu müssen, nur ein ganz kleines Fenster sind in ein Leben, dass in jenem Zimmer im Krankenhaus mit dem Ausschalten von Maschinen endete. Aber Louise Brown macht jene Räume, in denen meine Erinnerungen an das Sterben und den Tod eingelagert sind, weit auf. Sie ermuntert mich, sie nicht gleich wieder einzulagern, etwas aus ihnen zu formen und wenn es nur die Absicht ist, mich endlich mit meinem eigenen Ende auseinanderzusetzen.

Bei Louise Brown war es wohl ganz ähnlich. Selbst mit dem Tod konfrontiert, von Trauer gepeinigt und erstmal sprachlos gemacht, versucht sie als Trauerrednerin dem Sterben und dem Tod jenen Stellenwert zurückgeben, dem ihm eigentlich gebührt. Sterben werden wir alle. Der Tod ist unleugbar. Louise Brown erzählt, wie sie von der Journalistin zur Trauerrednerin wurde. Von vielen Begegnungen mit Hinterbliebenen, Zurückgebliebenen, Trauernden. Von der Konfrontation mit jenem letzten Kapitel des Lebens, das oft mit viel Schmerz und Leid verbunden ist. Mit Fragen: Was macht den Menschen, der gestorben ist, aus? Sind es die blossen Lebensdaten, die Karriere oder die kleinen und grossen Liebenswürdigkeiten, die jene schmunzeln lassen, die sich erinnern? Die Güte und das Gute?

Louise Browns Buch macht demütig.

Louise Brown, geboren 1975 in London, zog als Jugendliche mit ihrer Familie ins norddeutsche Ostholstein. Sie studierte Politikwissenschaft in Nordengland, Kiel und Berlin. Sie ist Journalistin und seit einigen Jahren auch als Trauerrednerin in Hamburg tätig. Dort moderierte sie auch das erste «Death Café». In ihrem Podcast «Meine perfekte Beerdigung» spricht sie mit Menschen darüber, wie sie einmal verabschiedet werden wollen. Louise Brown lebt mit ihrem Partner, zwei Kindern und Hund in Hamburg.

Beitragsbild © Gene Glover / Diogenes

Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes

Stefanie vor Schultes Debüt „Junge mit schwarzem Hahn“ fällt aus der Zeit. In der Art des Erzählens, seiner Geschichte, der Kulisse, der Sprache und dem Lesegefühl. Als befinde man sich irgendwie, irgendwo in einer fernen Vergangenheit, in einem Märchen, der Fantasie nicht weit entfernt. Aber genau das, dieses Querliegen, ist der Reiz dieses aussergewöhnlichen Romans.

Wir leben in keiner märchenhaften Zeit. Genauso wenig waren vergangene Zeiten märchenhaft. Und doch erinnert „Junge mit schwarzem Hahn“ an Märchen. Ein Junge mit reinem Herzen, in seinem Dorf ausgestossen und missverstanden, macht sich auf eine Suchwanderung, besteht „Prüfungen“ und wird am Schluss für seine guten Taten belohnt. Auch wenn keine Zwergen, Hexen, Riesen und Zauberer vorkommen, so doch ein schwarzer Hahn, der den Jungen überall hin begleitet und in grosser Not zu ihm spricht. Ein schwarzer Vogel, genauso nicht ernst genommen wie der Junge selbst. Ein Junge, den man im Dorf nach dem gewaltsamen Tod seiner ganzen Familie seinem Schicksal überlässt, der sich da und dort durch sein Tun einen faulen Apfel oder eine harte Kante Brot verdient. Man sprich kaum mit ihm. Er schläft in den Ruinen seines Elternhauses, seinen Hahn an seiner Brust, das einzige, was ihm geblieben ist.

Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes, 2021, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07166-5

Bis ein Fremder im Dorf auftaucht. Ein Maler, der die Kirche ausmalen soll. Ein Mann, der das Helle im Herzen des Jungen erkennt und ihn an seiner Seite leben lässt, bis die Wirren im Dorf so unerträglich werden, dass sie beide gezwungen sind, den Ort in aller Heimlichkeit zu verlassen; Martin, der Junge mit reinem Herzen, weil er sah, wie ein schwarzer Reiter vor dem Dorf ein Mädchen mitnahm und der Maler, weil er sich mit dem, was er an die Wände der Kirche malte, an der Boshaftigkeit der Dorfbewohner rächen wollte. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg durch eine Welt, die von Krieg und Anarchie gebeutelt wird, in der Banden und Wolfsrudel Angst und Schrecken verbreiten. Sie finden Schutz in den Mauern einer Stadt, in der der Maler ein Lustbild malen soll. Sie werden dabei in die Wirren von Eifersucht, Neid und Falschheit auseinandergerissen. Martin muss erneut fliehen, rettet einen Reiter vor dem sicheren Tod und landet auf dem Schloss seiner Gemahlin, einer Frau, die in ihrer unsäglichen, unstillbaren Eitelkeit das Leben von Kindern nimmt.

Stefanie vor Schulte erzählt mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit, schildert das Leben eines Jungen, den ein schwarzer Hahn, den man in jener Zeit allzu leicht zu einem Zeichen des Satans macht, immer weiter in die Wirren von Boshaftigkeit und Elend führt, ein Leben, das eine Bestimmung haben soll, einen Weg, der all dem etwas entgegensetzt, was sonst die Dunkelheit zu schlucken droht. Was den Roman so erfrischend macht, ist die Überraschung darüber, dass er so gar nicht in die Literaturlandschaft der Gegenwart passt und sich mit keinem Satz um jene Themen rankt, denen man sonst alles Papier der Welt opfert. Stefanie vor Schulte erzählt in einer Sprache, die holzschnittartig, kantig und mit kurzen Sätzen Stimmungen und Bilder erzeugt, die wiedergibt, was eine Welt bestimmt, die aus der Sicht des Jungen fast nur aus langen dunkeln Schatten besteht. Vielleicht wirken da die Fähigkeiten einer Bühnenbildnerin, die eine ausserordentlich plastische, fast theaterhafte Kulisse entwirft. Und zudem bedient sich der Autorin der Sehnsucht nach Helden, die mit klarem Blick, reinem Herzen und klugem Kopf gegen die Urgewalten der Welt bestehen. Der Sehnsucht nach einer deutlichen Stimme, die einem einflüstert, vor allem dann, wenn einem alles den Mut zu rauben scheint.

Ein erstaunliches Buch voller Überraschungen.

Stefanie vor Schulte, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. «Junge mit schwarzem Hahn» ist ihr erster Roman, der im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg für den Klaus-Michael Kühne-Preis nominiert wurde.

Beitragsbild © Gene Glover

«Einsame Weihnachten in Island» von Joachim B. Schmidt

Siebzehn Jahre ist es jetzt her. Ich verbrachte meine ersten Island-Weihnachten im tiefen Fjord Hvalfjörður, eine knappe Autostunde von Reykjavik entfernt. Der Winter war bisher kalt und windig gewesen, bissig, aber verglichen mit Graubünden schneearm. Der Bauernhof lag seit Wochen im Schatten des Bergmassivs Esja. Manchmal tunkten die tiefen Wolken den ganzen Fjord in ein aprikosengoldenes Licht. An der Küste gefror selbst das salzige Meerwasser, doch die seltsam poröse Eisschicht zerbrach durch das Spiel der Gezeiten in tellergrosse Schollen, der Fjord gefror nie ganz zu. Gab es Schnee, verwehte ihn der Wind und häufte ihn hinterm Stall zu einem enormen Haufen an. Einmal öffnete ich die hintere Stalltür von innen – und stand jäh vor einer Wand aus Schnee. Das war nicht so schlimm: Die Kühe wollten sowieso nicht raus. Sie wiederkäuten gelassen ob den pfeifenden Winterstürmen. Der Bauer erzählte mir, dass sich Kühe in Island am 13. Weihnachtstag miteinander in Menschensprache unterhielten, aber sofort verstummten, sobald sie einen bemerkten. Wie gerne hätte ich mich mit ihnen unterhalten!

Die Weihnachten fern der Heimat zu verbringen, war ein seltsamer Gefühlskoktail aus Melancholie und Entspanntheit, Neugier und Heimweh. Zwar genoss ich die Ruhe, ich las Bücher, schaute Filme, hörte Musik, schrieb Briefe, aber ich schleppte ein schweres Herz mit mir rum. Ich wartete sehnsüchtig auf Briefpost oder Telefonanrufe aus der Heimat, und war zugleich fasziniert über die Isländer und ihre Bräuche. Einsamkeit macht zudem kreativ. Ich spürte den Drang zu schreiben, zu musizieren, zu singen. In der kleinen Holzkirche der Gemeinde, weiter hinten im Tal hatte ich eine Orgel entdeckt. Oft sass ich mutterseelenallein in dieser Kirche und machte Lärm, griff völlig enthemmt in die Tasten, keine Menschenseele weit und breit. Herrlich. Hätte jemand die Kirchtür aufgestossen, wäre ich so plötzlich verstummt, wie die Kühe am 13. Weihnachtstag.
Der Priester lud mich einmal in seine Stube ein, tischte Tee auf und verwickelte mich in ein Gespräch über Gott und die Welt. Er konnte gut Deutsch, war an mir interessiert. Dieser Besuch war wie Balsam auf meine vereinsamte Seele.
An Weihnachten lud mich der Bauer ein, ihn in die Messe zu begleiten, doch ich zog es vor, meine freien Stunden in der vereisten Winterlandschaft zu verbringen, hinauszuwandern, vorbei an erstarrten Wasserfällen und baumlose Berghängen. Ich erklomm einen alten Vulkankegel, der während der letzten Eiszeit entstanden war. Die Lava hatte sich einen Weg nach oben durch den Eiszeitgletscher gefressen und dabei Unmassen an Gletschereis weggeschmolzen, möglicherweise eine Gletscherflut ausgelöst. In den Flanken waren bizarre Steinformationen zu finden, schockerstarrte Lava, fremde Welt. Der Wind auf dem Vulkan war so schneidend, dass es mir den Atem verschlug. Meine klammen Finger schmerzten.
Beim Abstieg trat ich unüberlegt auf eine Schneefläche, worunter sich blankes Eis verbarg. Meine Füsse schnellten in die Höhe, ich klatschte hart auf die Eisfläche und rutschte sofort die Vulkanflanke hinunter, gewann augenblicklich an Tempo. Mit Händen und Füssen versuchte ich, die Talfahrt zu verlangsamen. Vergebens. Erst der schneefreie, nackte Erdboden weiter unten stoppte mich. Ich schlitterte übers Geröll, die Steine prügelten mich, aber schliesslich kam ich zum Stillstand. Ich blieb dann eine Weile sitzen. Nichts gebrochen.

Meine ersten Weihnachten in Island lehrten mich, dass ein einziger, fataler Fehltritt genügt, um den Kurs des Lebens zu ändern.
Als ich zurück auf dem Bauernhof war, erzählte mir der Bauer, dass der Priester nach mir gefragt habe, verwundert darüber, mich nicht an der Weihnachtsandacht gesehen zu haben. Er habe ihm daraufhin mitgeteilt, dass Joachim seinen Gott draussen in der Natur suchen gegangen sei, und darüber war ich ihm dankbar.
Am Abend machte ich die Stallarbeit, fütterte und molk die Kühe. Seltsam. An jenem Abend fühlte ich mich, als wäre ich in Island angekommen, mit Leib und Seele, zufrieden, lebendig, aber müde. Ich freute mich auf meine Bücher, mein Bett und meine weiteren Jahre in Island.
«Nur mal ganz sachte, Junge. Rupf nicht so!», sagte eine tiefe Stimme.
Ich schaute mich um. Der Bauer war in der Milchkammer.
«Wer ist da?», rief ich.
Keine Antwort. Niemand war da. Nur die Kuh, der ich soeben das Melkzeug etwas unsanft abgenommen hatte, ich muss in Gedanken versunken gewesen sein, drehte ihren Kopf zu mir, schaute mich an, wiederkäute, steckte sich die Zunge nacheinander in beide Nasenlöcher, schnaubte – und schaute wieder nach vorn.

«Gleðileg jól og farsælt komandi ár!»

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Joachim B. Schmidt, geboren 1981 in Graubünden, ist Journalist und Schriftsteller. Seine ersten drei Romane erschienen in einem kleinen Verlag aus dem bernischen Emmental (Landverlag). 2020 war «Kalmann» aus dem Hause Diogenes dann der lang ersehnte Durchbruch zu einem grösseren Publikum. Seit 2007 lebt Joachim B. Schmidt in Island, wo er mit seiner Familie in Reykjavik lebt und Touristen über die Insel führt.

Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

Webseite des Autors

Beitragsbild © Joachim B. Schmidt

Kent Haruf «Lied der Weite», Diogenes

Manchmal macht Lesen richtig glücklich. Man legt sich nach der letzten gelesenen Seite das Buch auf die Brust, schliesst die Augen und lässt diesen einen magischen Moment noch eine Weile nachklingen, den Nachglanz, das wohlige Gefühl, dass die Lektüre eines solchen Buches hervorruft. Mit «Lied der Weite» von Kent Haruf passierte es! Und wie!

Letzthin besuchte ich zum allerersten Mal einen Freund in dessen Wohnung. Einen Leser! Was für ein Vergnügen, vor dessen Bücherregalen zu stehen. Viele meiner Lieblinge, Favoriten und Geheimtipps waren da, spiegelten sich im Regal meines Freundes. Aber es gab auch Namen, die ich gar nicht oder nur vage kannte. Einer von ihnen war Kent Haruf, ein amerikanischer Schriftsteller, der 2014 mit 71 Jahren starb.

Kent Haruf schrieb sechs Romane. Mittlerweile sind vier von ihnen bei Diogenes erhältlich. Ich fragte meinen Freund, mit welchem Buch ich in die Haruf’sche Welt eintauchen sollte. „Lied der Weite“, meinte er. Was ich dann auch tat und mit grösstem Lesevergnügen belohnt wurde. Ein Lesevergnügen, dass förmlich nach Vertiefung ruft und mich zwang, schon einmal auf Vorrat die anderen drei Romane anzuschaffen.

Kent Harufs Romane spielen alle in einer fiktiven nordamerikanischen Kleinstadt namens Holt, ein paar Autostunden entfernt von Denver. Ein Kaff. Haruf generiert Bilder, zumindest bei mir, die mich an solche des Malers Edward Hopper erinnern. Bilder, die sich nicht zu bewegen scheinen, Bilder, die nichts verklären, ganz im Gegenteil. Standbilder, die sich in die Erinnerung eingraben.

Victoria ist 17. Sie ist schwanger. Und als die Übelkeit und das Verlangen, das Geheimnis mit jemandem zu teilen, die junge Frau zwingen, es der Mutter erzählen, stellt die Mutter die Tochter vor die Tür. Ihr ging es damals genauso. Eigentlich hätte es ihre Tochter besser machen sollen. Der Ausschluss ist endgültig, die Tür bleibt zu. Auch jene zu dem nicht viel älteren Jungen, den sie beim Tanzen kennenlernte und sie irgendwann wie eine leergetrunkene Dose stehen liess.

Kent Haruf «Lied der Weite», Diogenes Taschenbuch, 2019, 384 Seiten CHF 17.90, ISBN 978-3-257-24503-5

Tom Guthrie ist Lehrer in Holt. Eigentlich ein guter, wohlgesonnener Lehrer, wenn da nur der eine Junge nicht wäre und seine renitenten Eltern. Eine Familie, die ihn aus der Reserve lockt, die ihn seine Ruhe vergessen lassen. Der eigentlich genug an den Sorgen um seine Familie hat, mit einer Frau, die in ihren Depressionen erstickt und den beiden Jungs Ike und Bobby, die nicht wissen wie ihnen geschieht, denen man keine Fragen mehr beantwortet, viel zu oft sich selbst überlassen werden. Tom Guthrie versucht alles, um seine Mitte nicht zu verlieren, etwas, was ihm genommen wird, als ihm vor seinem Schulzimmer einer seiner Schüler die Faust ins Gesicht schlägt.

Und die alten Brüder McPherons, die weit draussen seit Jahrzehnten eine Farm betreiben, mehr schlecht als recht, sich längst in ihrem Alleinsein eingerichtet haben, jeden Tag nehmen, wie er kommt. Es ist kalt in Holt. Im Haus der McPherons ist es auch kalt. Man spricht nicht viel, die Zeit ist liegen geblieben, wie alles andere auch, ausser das Vieh und die Kühe, die trächtig sein sollen, damit es einen Frühling geben kann. Eines Tages steht eine junge Schwangere vor der Tür, Victoria. Die beiden nehmen sie auf, richten ihr das Zimmer, in dem einst die Eltern schliefen. Victoria bleibt, auch wenn die McPherons nur zögerlich lernen, mit der jungen Frau umzugehen.

Das Leseglück, das sich einstellt, passiert nicht, weil die Geschichte wie Honig fliesst. In Kent Harufs Geschichte sitzen Stacheln! Er schmeichelt nicht. Keine Sonnenuntergänge, kein Kitsch, keine Romantik, dafür ganz viel Liebenswürdigkeit neben Abgründen. Kent Haruf lässt sein Personal nicht grundsätzlich scheitern. Es sind nicht die Katastrophen, die Kent Haruf zu einem Buch macht, sondern die Stimmungen, die er mit seinem Erzählen evoziert. Haruf schreibt seismographisch.

Kent Haruf, geboren 1943 in Colorado, war ein amerikanischer Schriftsteller. Alle seine sechs Romane spielen in der fiktiven Kleinstadt Holt im US-Bundesstaat Colorado. Er wurde unter anderem mit dem Whiting Foundation Writers’ Award, dem Wallace Stegner Award und dem Mountains & Plains Booksellers Award ausgezeichnet. Sein letzter Roman, «Unsere Seelen bei Nacht», wurde zum Bestseller und mit Jane Fonda und Robert Redford in den Hauptrollen verfilmt. Haruf starb 2014.

Rudolf Hermstein, geb. 1940, studierte Sprachen in Germersheim und ist der Übersetzer von u.a. William Faulkner, Allan Gurganus, Doris Lessing, Robert M. Pirsig und Gore Vidal. Er wurde mit dem Literaturstipendium der Stadt München sowie mehrfach mit Stipendien des Deutschen Übersetzerfonds ausgezeichnet.

Beitragsbild © Philippe Matsas/Opale/Leemage/laif

Sasha Filipenko «Rote Kreuze», Diogenes

Eine junge Fremdsprachensekretärin im sowjetrussischen Aussenministerium gerät 1941 in die Mühlen der stalinistischen Säuberungen. Einem jungen Mann wird im Minsk der Gegenwart durch einen tödlichen Tumor die Frau genommen, die Frau, die sein Kind in ihrem Bauch trägt. Sasha Filipenko hat in seinem Romandebüt viel gewagt und viel gewonnen. Mit Sicherheit viele begeisterte LeserInnen!

Alexander ist noch jung. Er versucht in Minsk, der Hauptstadt Weissrusslands, einen neuen Lebensabschnitt, vielleicht sogar ein neues Leben zu beginnen. Noch ist seine kleine Tochter bei seinen Eltern, die Wohnung leer und hohl, das Neue nicht begonnen, das Alte noch viel zu nahe. In der Wohnung gegenüber wohnt eine alte Frau, allein, wie die Maklerin erzählt, mit Alzheimer, wohl nicht mehr lange. So wie Alexander, nachdem ihm eine heimtückische Krankheit die Frau weggerissen hatte, ein neues Leben zu finden versucht, neuen Tritt, so versucht sich die neunzigjährige Tatjana Alexejewna  auf der anderen Seite des Treppenhauses gegen das Verschwinden ihrer Erinnerungen zu stemmen. Alexander will sich von der Vergangenheit befreien. Tatjana Alexejewna will retten, was angesichts der sich einschleichenden Krankheit noch zu retten ist.

Sie treffen sich im Treppenhaus. Alexander will eigentlich seine Ruhe. Aber Tatjana setzt alles daran, den neuen Nachbar in ihre Geschichte hineinzuziehen. Sie will erzählen, „weil Gott Angst hat vor mir. Zu viele unbequeme Fragen kommen da auf ihn zu.“ Aber wenn ihre Erinnerungen so einfach ausgelöscht werden, dann scheint Gott sie ein letztes Mal von der Klippe zu stossen. Deshalb lässt Tatjana wenig Widerspruch zu, als Alexander ihr den Rücken zeigen will.

Sasha Filipenko «Rote Kreuze» Diogenes, 2020, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07124-5

Unwillig folgt Alexander ihr in ihre übervolle Wohnung, die mehr einem Atelier gleicht. Überall stehen Bilder herum, für ihn nicht ersichtlich ob fertig oder nicht. Tatjana erzählt; von ihren Eltern, die sich in Paris kennenlernten, wie sie in London 1910 zur Welt kam, wie ihr Vater nach der russischen Revolution in diesem neuen Land, an diesem neuen Aufbruch teilhaben wollte, wie sie mit neunzehn im Tessin war und im kleinen Porlezza auf der anderen Seite der Grenze einen jungen Mann kennenlernte, wie sie nach Moskau zurückkam, ihren Vater begrub und eine Stelle beim NKID, beim Volkskommissariat für Auswärtige Angelegenheiten, dem heutigen Aussenministerium bekam.

Alexander hört zu, ein Leben wie jedes andere. Bis Tatjana davon erzählt, dass ihr Mann während des 2. Krieges in Gefangenschaft geriet und sie seinen Namen auf einer Liste des Roten Kreuzes fand. Alexander hört weiter zu und wird Zeuge eines Schicksals, einer Familie, einer Frau, die in den Mühlen der Geschichte beinahe zerrieben wurde und nur unter absoluter Kraftaufwendung aufrecht bleiben konnte. Tatjana gerät als Frau eines „Landesverräters“ in Lagerhaft, wird von ihrer Tochter getrennt, verliert alles – nur ihren Kampfeswillen nicht. Das, das spürt sie, was ihr der Alzheimer nehmen kann.

Alexander kann sich der Ehrlichkeit, der offensiven Nähe seiner Nachbarin nicht entziehen. So sehr nicht, dass Tatjana es schafft, dass auch Alexander zu erzählen beginnt. Seinem Leben als Schiedsrichter, dem einen Abend, als er seine zukünftige Frau kennenlernt, ihrem gemeinsamen, unschuldigen Glück und dem Moment, als man ihnen im Krankenhaus eröffnete, dass Alexanders Frau noch vor Ende ihrer ersten Schwangerschaft an den Folgen eines Hirntumors sterben wird. Der Mann, der auf dem Fussballfeld über richtig und falsch entscheidet, dem wird jede Entscheidung aus der Hand genommen. Bis es an ihm liegt, ob man nach dem langsamen Sterben und dem klinischen Tod seiner Frau alles daran setzen soll, das neue Leben im Leib seiner Frau mit allen medizinischen Mitteln zu ermöglichen. Ein Zustand, der kaum auszuhalten ist. Während seine Frau für tot erklärt wird, liegt ihr noch immer künstlich warm gehaltener Leib auf einer Liege im Spital, für niemanden mehr erreichbar.

Aber Lisa kommt zur Welt.

Tatjana wurde durch die Geschichte Mann und Tochter genommen. Alexander rettete wenigstens seine Tochter. Und doch sind sie beide Verlassene, jeder auf seine Art mit dem Vergessen konfrontiert.

Sasha Filipenko ist ein ausserordentlicher Roman gelungen. Geschichte spielt mit uns. Tatjana ist in ihrem fast hundertjährigen Leben selbst als Sekretärin im NKID mitten im Krieg. Sie bearbeitet Anträge der verschiedensten Kriegsparteien, die sich um Kriegsgefangene bemühen – und in den Mühlen der UdSSR abgeblockt werden. Bis auch der Name ihres Mannes auftaucht. Alexander ist Opfer eines anderen Krieges, eines scheinbar kleinen Krieges, dem Töten, das eine Krankheit anrichtet. Zwei Geschichten prallen aufeinander und aus der anfänglich einseitigen Anhänglichkeit der alten Frau wird eine Freundschaft über den Tod hinaus.
Sasha Filipenko wählt dabei eine ganz spezielle Erzählstrategie, denn immer wenn Tatjana oder Alexander zu erzählen beginnen, kippt während zwei Sätzen die Perspektive. Ich tauche in einem einzigen Satz weg vom Erzähler direkt ins Geschehen. Eine Strategie mit ungeheurer Wirkung. Sasha Filipenko erzeugt einen Strudel, dem man sich nicht entziehen kann.

Sasha Filipenko, geboren 1984 in Minsk, ist weissrussischer Schriftsteller, der auf Russisch schreibt. Nach einer abgebrochenen klassischen Musikausbildung studierte er Literatur in St. Petersburg und arbeitete als Journalist, Drehbuchautor, Gag-Schreiber für eine Satire-Show und Fernsehmoderator. «Rote Kreuze» ist der erste seiner fünf Romane, der auf Deutsch erscheint. Sasha Filipenko ist leidenschaftlicher Fussballfan und lebt in St. Petersburg.

Ruth Altenhofer, geboren 1979, studierte Slawistik in Wien sowie in Rostow am Don und Odessa. wurde 2012 und 2015 für Übersetzungen von Marina Zwetajewa/Boris Pasternak und von Wjatscheslaw Pjezuch mit dem Übersetzerpreis der Stadt Wien ausgezeichnet.

 Beitragsbild © Lukas Lienhard

«Kalmann» im Literaturhaus Thurgau

Zuerst verliebte sich Joachim B. Schmidt in die Insel, später in Kristin Elva Rögnvaldsdóttir. Jetzt lebt der Schriftsteller seit mehr als einem Jahrzehnt mit seiner Familie auf Island und es scheint, als wäre er mit „Kalmann“ , seinem vierten Roman, endlich auf dem Weg an den Ort, wo er hingehört.

Im Wissen darum, dass es absolut nicht selbstverständlich ist, dass der Betrieb eines Literaturhauses in diesen Zeiten aufrecht erhalten werden kann und darf, war der Abend mit Joachim B. Schmidt gut besucht und zeigt, wie sehr man gerade jetzt nach Kultur lechzt. Ein Abend mit Literatur. Ein Abend in Island in einem kleinen Dorf ganz im Norden der Insel, die nicht nur beim Schriftsteller selbst ein Sehnsuchtsort ist. Ein Abend mit Leidenschaft und Witz, mit Spontaneität und tiefen Bildern!

„Kalmann“ ist mehr als ein Buch. Vielleicht ist „Kalmann“ sogar ein Lebensgefühl. Wenn Joachim B. Schmidt aus seinem Roman liest, wird Kalmann lebendig, sein Grossvater, das Meer, die Kälte, Raufarhövn, dieses Dorf, das auch in Wirklichkeit auf verlorenem Posten steht, heruntergewirtschaftet, vergessen, irgendwie auf der anderen Seite der Zivilisation.

Joachim B. Schmidt «Kalmann», Diogenes, 2020, 352 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07138-2

Joachim B. Schmidt wollte eigentlich einen Krimi schreiben. Auch ein bisschen aus der Verzweiflung heraus, dass sich seine ersten drei Romane nicht annähernd so verkaufen liessen, dass eine Familie sich damit nur ein Zubrot verdient hätte. Mit einem Krimi, einem Islandkrimi, hätte es klappen sollen. Das eine klappte, das andere nicht. Denn obwohl reichlich Blut fliesst, die Polizei zuweilen mit einem Grossaufgebot auftaucht, Drogen in Unmengen versteckt werden, ist „Kalmann“ kein Krimi geworden. „Kalmann“ ist eine Liebesgeschichte. Eine Liebesgeschichte an eine Insel, an die Menschen, an einen Ort, an diesen einen Menschen, der zufrieden in seinem Häuschen lebt, Polarfüchse vom Dorf fern hält und manchmal mit Petra hinaus aufs Wasser fährt um Grönlandhaie zu fangen, die er nach dem Rezept seines Grossvaters zu Gammelhai verarbeitet. Kein Krimi, aber der Erfolg seines Romans stellte sich trotzdem ein. Vielleicht deshalb erst recht.

Wer den Zeiten zum Trotz doch noch Zeuge einer der zauberhaften Lesungen mit Joachim B. Schmidt lauschen möchte, findet Infos dazu auf seiner Webseite.

Lesen Sie „Kalmann“!

«Was aber am meisten Freude und Spass bei der Lektüre bereitet, ist Joachim B. Schmidts Sprache, seine Kunst, einen Schauplatz, Menschen lebendig zu machen. Genaue Beobachtung. Liebe zu den Feinheiten und eine grosse Portion Witz machen die Lektüre zu einem aussergewöhnlichem Vergnügen. Joachim B. Schmidt erzählt aus einer Perspektive ganz nahe an seinem schrulligen Protagonisten. Selbst wenn es Leute in Raufarhövn gibt, die Kalmann aus lauter Gewohnheit nicht ernst nehmen; Kalmann kann erzählen, auch wenn seine Sicht eine etwas andere ist und er sich manchmal seinen Grossvater zurück an seine Seite wünscht, der gewusst hätte, was von der Sache zu halten ist.»
Rezension von «Kalmann» auf literaturblatt.ch

«Was gibt es Schöneres, als mit einem Freund die Bühne zu teilen. Takk fyrir mig, kæri Gallus. Der Auftritt im Bodman-Haus wird mir in guter Erinnerung bleiben, mehr noch: DAS Highlight auf meiner Schweiz-Tournee 2020. Das Publikum im märchenhaften Gottlieben zähle ich ab sofort zum Kalmann-Freundeskreis und schlage eine Partnerschaft zwischen Raufarhöfn und Gottlieben vor. Bis zum nächsten Mal, euer Joachim B. Schmidt»

Beitragsbilder © Sandra Kottonau / Literaturhaus Thurgau