Interview mir Sieglinde Geisel, Jurymitglied #SchweizerBuchpreis 23/08

Liebe Sieglinde, du sitzt das dritte Jahr in der Jury des Schweizer Buchpreises, bist in diesem Gremium „Dienstälteste“. Ehre und Last zugleich? 

Weder noch. Ich bin ein ganz normales Jury-Mitglied. Allerdings möglicherweise mit einem Erfahrungsvorsprung: Ich weiß, wie unterschiedlich die Diskussionen, die „Chemie“ in der Jury jedes Jahr war. Es fasziniert mich jedes Mal aufs Neue, wie anders wir lesen – bei aller professionellen Leseerfahrung. Die Jurysitzungen sind eine unvergleichliche Gelegenheit, das eigene Urteil zu hinterfragen. Das hat zur Folge, dass ich mir als Leserin je länger, je weniger über den Weg traue. Eine Erfahrung, die sich mit jeder Jurysitzung erneuert.

Fast hundert Titel wurden eingereicht. Wie gross ist dein tatsächliches Lesepensum für den Buchpreis? Wählt man da die Bücher aus, die man schon gelesen hat? Oder musst du gar Bücher ein zweites Mal lesen, weil dich deine JurykollegInnen dazu nötigen? 

Wir teilen die Bücher so auf, dass jedes Buch von mindestens zwei Jurymitgliedern gelesen wird. Was von der Qualität her überzeugt, müssen dann alle lesen. Ich habe gar nicht gezählt, wie viele Bücher ich letztlich gelesen habe, es werden so um die fünfzig gewesen sein. Manches habe ich tatsächlich ein zweites Mal gelesen, um meinen Eindruck zu überprüfen. Die zweite Lektüre ist der Lackmus-Test: Entweder ich kenne schon alles und entdecke nichts Neues (das kann auch bei sehr komplex gebauten Romanen der Fall sein), oder ich sehe neue Dimensionen, erkenne interessante Widersprüche in den Charakteren, verborgene Handlungslinien oder sprachliche Eigenheiten, die mir bei der ersten Lektüre nicht aufgefallen waren. Sei es, weil ich nicht „wach“ genug war (gerade, wenn man so viele Bücher liest, ist man nicht immer gleich aufnahmefähig), sei es, weil das Werk eine Tiefe hat, die sich beim ersten Lesen nicht voll erschliesst.

Liest du ein Buch aus dieser Auswahl anders als jene Bücher, die du sonst als Buchkritikerin liest? 

Beim Jurylesen geht es darum, möglichst wenig Zeit mit jenen Büchern zu verbringen, die von der Qualität her nicht in Frage kommen. Wenn ein Buch mich in der ersten Hälfte nicht überzeugt, kommt es für den Preis nicht mehr in Frage, auch wenn es sich in der zweiten Hälfte berappelt. 
Wenn ich dagegen als Kritikerin lese, kosten mich oft gerade jene Bücher viel Zeit, die mir nicht gefallen, denn wenn ich einen Verriss schreibe, muss ich meine Kritik transparent begründen, und das bedeutet auch, dass ich meine Kriterien wieder neu reflektiere. Beim Rezensieren befinde ich mich oft im Feld des „Einerseits-Andererseits“, da muss ich auch Büchern gerecht werden, die für einen Preis nicht in Frage kämen.

Der Schweizer Buchpreis will den präsentierten Büchern „grösstmögliche Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit bieten“. Schielt man dann in den Schlund des öffentlichen Geschmacks? 

Laut Reglement wird der Schweizer Buchpreis für „das beste erzählerische oder essayistische deutschsprachige Werk“ vergeben. Die „grösstmögliche Aufmerksamkeit“ ist kein Kriterium für die Auswahl der Werke. In den drei Jahren, in denen ich dabei war, ging es in den Diskussionen nie um die öffentliche Aufmerksamkeit, sondern nur um die literarischen Kriterien, nach denen wir die eingereichten Werke beurteilten.
Deswegen stand die Jury paradoxerweise auch in der Kritik: Vor allem bei den Shortlists der letzten beiden Jahre wurde bemängelt, dass sich zu wenige bereits bekannte Werke darauf befanden. Letztes Jahr erhielt mit Kim de l’Horizons „Blutbuch“ sogar ein Debüt den Preis. Doch das hat m. E. mit der Innovationskraft der Schweizer Literaturszene zu tun. Bei mehr als der Hälfte der eingereichten Werke hatte ich den Namen der Autor:innen noch nie gehört, und das ist dann ein abenteuerliches Lesen mit vielen Entdeckungen. Manchmal raubt es mir den Atem, wenn ein Buch etwas macht, was ich noch nirgends gelesen habe.

Wie muss man sich das Auswahlverfahren innerhalb der Jury vorstellen? Müssen die fünf Bücher, die auf die Shortlist des Schweizer Buchpreises einstimmig in die letzte Runde geschickt werden? Wie heftig können solche Diskussionen werden?

Solche Diskussionen sind immer heftig, das ist die Essenz der Jury-Arbeit. Jeder Kopf liest anders, und jedem von uns hat schon das Herz geblutet, weil man für ein Buch, für das man brannte, keine Mehrheit erreichen konnte – weil die anderen es eben anders gelesen hatten. Auch das Gegenteil passiert: Man lehnt einen Roman ab, den die Mehrheit grossartig findet. Gerade nach meiner Erfahrung der drei Jahre bin ich überzeugt, dass die Shortlist bei einer anders zusammengesetzten Jury anders aussehen würde; es gibt kaum je „Selbstläufer“, die zwangsläufig auf die Shortlist kommen.

Wirst du anders wahrgenommen, seit du in der Jury mitarbeitest? Telefoniert und schreibt man dir, um dich über die wahren Perlen in Kenntnis zu setzen?

Nein. Ich denke, da liegt die Hemmschwelle bei den Verlagen hoch, und das weiss ich sehr zu schätzen. Vielleicht liegt es auch daran, dass ich in Berlin lebe und wenige persönliche Verbindungen zur Schweizer Verlagswelt habe. 

In der Vergangenheit stand der Schweizer Buchpreis schon mehrfach und immer wieder in der Kritik. Wie weit muss ein Jurymitglied konflikt- und kritikresistent sein? 

Ich darf mich als Jurymitglied nicht vorauseilend von einer möglichen Kritik beeinflussen lassen. Wenn ich die eingereichten Bücher lese, dann gibt es in diesem Moment nur mich und das Buch. Julian Schütt hatte angesichts der vielen Debüts auf den früheren Shortlists zu bedenken gegeben, dass der Schweizer Buchpreis kein Entdeckerpreis werden dürfe, sondern auch den Glamour der bekannten Namen brauche. Das mag ein berechtigter Einwand sein, doch steht er in einem Konflikt zum Reglement: Wenn die Bücher, die wir nach unserer Auseinandersetzung als die besten identifiziert haben, von unbekannten Autor:innen stammen, dürfen wir hier keine Kompromisse machen. Jurys können auch ein Korrektiv der Literaturkritik sein – gerade, weil wir Diskussionen führen und uns mit der Lesart der anderen auseinandersetzen. Als Kritikerin bin ich ja mit meinem Kopf weitgehend allein, da gibt es auch die Gefahr, dass man sich verrennt. Deshalb gibt es ja die vielen Hypes.

Es gibt etliche AutorInnen, die sich mittlerweile dem Schweizer Buchpreis verweigern. Die Gründe dafür sind vielfältig. Ein Kritikpunkt, der immer und immer wieder auftaucht, ist der, Bücher könne man nicht in eine Wettbewerbskonkurrenz schicken. Bücher würden nicht taugen, sie aneinander zu messen. Dieses Argument blitzt nur beim Schweizer Buchpreis auf. Aber im Gegensatz zu allen anderen Preisen ist hier die Auswahl der letzten im Scheinwerferlicht. Ist das gut so, wenn 4 MitkonkurrentInnen an der Preisverleihung in einer Mischung aus Enttäuschung und Verlegenheit artig mitklatschen?

Das ist eine schwierige Frage. Wenn es um die ganz grosse Kunst geht, ist der Wettbewerbsgedanke in der Tat nicht angemessen: Es hat keinen Sinn zu fragen, ob Kafka besser sei als Beckett. Wenn es jedoch darum geht, die sehr guten von den mittelmässigen Werken zu unterscheiden, kann man sehr wohl einen Wettbewerb durchführen. In diesem Sinn ist Literaturkritik ja immer ein inoffizieller Wettbewerb.
Alain Claude Sulzer war zwei Mal mit einem Roman auf der Shortlist und bekam dann jeweils den Preis nicht, und er hat letztes Jahr in einem Artikel in der NZZ am Sonntag freimütig bekannt, dass er sich diese „Demütigung“ kein drittes Mal antun wolle; deshalb macht er nicht mehr mit beim Buchpreis. Gerade für arrivierte Autor:innen kann es schwierig sein, wenn sie sich die Shortlist mit Debütant:innen teilen müssen, mit dem Risiko, dass der Preis an jemanden geht, der oder die im Literaturbetrieb noch keinen Status hat. Auch der Deutsche Buchpreis sieht sich mit diesem Problem konfrontiert: So soll der Erscheinungstermin des neuen Romans von Daniel Kehlmann vom Verlag bewusst so angesetzt worden sein, dass das Buch nicht für den Preis eingereicht werden konnte. Aber das ist nun mal the name of the game: Selbst wenn alle nominierten Bücher den Preis verdient hätten, kann nur ein Roman gewinnen. 
Auch das ist übrigens eine Erfahrung, die ich als Jurymitglied gemacht habe: Es ist überhaupt nicht ausgemacht, welches der fünf Bücher am Ende das Rennen macht. Wir lesen die Titel auf der Shortlist noch ein zweites Mal, oft mit überraschenden Ergebnissen. Auch diesmal bin ich gespannt auf unsere Diskussionen.

Gibt es festgelegte Kriterien? Orientiert sich die Jury an aktuellen Themen, Diskussionen, Strömungen?

Kriterien für Literatur kann man kaum festlegen. Das ist auch das Spannende an den Diskussionen: Wir bringen alle unsere eigenen Kriterien mit. Für mich sind Innovation, Kreativität, Risikobereitschaft ein wichtiges Kriterium: Macht jemand etwas mit der deutschen Sprache, was noch niemand vor ihm oder ihm gemacht hat? „Make it new!“, so definierte Ezra Pound einmal die Aufgabe der Autor:innen. Im Weiteren geht es um die Plausibilität von Figuren und Handlungen. Doch dann gibt es Werke, die meine „willing suspension of disbelief“ strapazieren – und die das auf so zwingende Weise tun, dass ich nicht widerstehen kann. 
Kriterien gibt es am ehesten für rein handwerkliches Können: Funktionieren Perspektivwechsel? Sind die Dialoge lebendig? Finden sich Klischees, Stilblüten, etc.? Doch dann gibt es wieder Romane, die alles richtig machen, zugleich jedoch so öde sind, dass ihnen jede Relevanz abgeht. Auch wenn ein Roman von brennend wichtigen Dingen handelt, dies jedoch auf literarisch unbedarfte Weise tut, kommt er für den Schweizer Buchpreis nicht in Frage. Denn eine Geschichte ist nur so gut, wie sie erzählt wird. 
Ich wurde letztes Jahr mehrfach mit dem Verdacht konfrontiert, dass wir Kim de l‘Horizons „Blutbuch“ wegen seiner Thematik ausgezeichnet hätten und dem Modetrend des Non-Binären aufgesessen seien. Doch dieser Vorwurf kam ausschliesslich von Leuten, die das Buch nicht gelesen hatten. In den Jurydiskussionen ging es nur um die literarischen Qualitäten: den Wagemut, den Erfindungsreichtum, den sprachlichen Drive. Das kann man auch in der Laudatio auf der Website des Schweizer Buchpreises nachlesen.

Noch ein Buch ausserhalb jeder Konkurrenz, das du empfehlen willst? 

Ich empfehle die grosse Schweizer Autorin Eleonore Frey, die mit 84 Jahren immer noch ein Geheimtipp ist. Es kommt fast nie vor, dass eine Literaturwissenschaftlerin auch Prosa schreibt: Eleonore Frey war bis 1997 Titularprofessorin am Deutschen Seminar in Zürich, ich habe bei ihr studiert. Sie erschafft Literatur mit dem Wissen darüber, wie Literatur gemacht ist – und doch ist in ihren Romanen und Erzählungen nichts „gemacht“. Ihre Texte sind verspielt, hellwach, und sprachlich sind sie so kühn wie sorgfältig. Mit jedem Werk überrascht mich Eleonore Frey aufs Neue.

Sieglinde Geisel, geboren 1965 in Rüti/ZH (Schweiz), lebt in Berlin seit 1999 freie Journalistin, regelmässige Mitarbeit bei Deutschlandfunk Kultur, SRF2 („Literatur im Gespräch“), bei der Republik u.a., 2016: Gründung des Online-Literaturmagazins tell, Schreibcoach. Jurymitglied 2021, 2022, 2023.

Beitragsbild © Lena Mucha

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Tell revisited

In seinem neuen Roman Tell kreiert Joachim B. Schmidt eine alternative Erzählung des Tellmythos, die mit dem Altbekannten nur wenig zu tun hat. 

Gastbeitrag von Sophie Waldner
Sophie Waldner studiert an der Universität Basel Deutsche Philologie und Mathematik. Literatur und was man mit ihr machen kann, fasziniert sie schon immer. Dieses Seminar war ihre erste Berührung mit Literaturkritik, aber bestimmt nicht ihre letzte.

Düster, eigensinnig, einzelgängerisch, so wirkt Joachim B. Schmidts Wilhelm Tell. Tatsächlich hat seine Version kaum Gemeinsamkeiten mit Friedrich Schillers Werk. Während bei Schiller die Befreiung der Schweiz eine essenzielle Rolle spielt, konzentriert sich Schmidt in seiner Erzählung vielmehr auf die Schicksale der einzelnen Charaktere.

Schiller und Schmidt stimmen bei den Hauptfiguren und der Erzählung des traditionellen Mythos überein. So finden sich bei Schmidt natürlich auch Hedwig, Tells Frau, Walter, ihr Sohn, und Gessler, der Landvogt, wieder. Auch muss Tell einen Apfel von Walters Kopf schiessen, weil er sich nicht vor Gesslers Hut verbeugt und wird anschliessend verhaftet. Er kann sich mitten im Sturm vom Boot retten und rächt sich schliesslich an den Habsburgern.

Doch die Dynamik ist eine neue. Ganz anders als Schillers Helden, meiden die Leute Schmidts Tell. Selbst die Tiere weichen ihm aus, machen einen Bogen um ihn, beobachtet der kleine Walter. Die Menschen fürchten ihn: Es jagt mir jedes Mal einen Schauder über den Rücken, wenn ich diesen Burschen zu Gesicht bekomme.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Episodenweise beschreibt Schmidt die Gedanken und Motivationen aus der Perspektive verschiedener Figuren. Nach und nach setzt sich ein Bild von Wilhelm Tell zusammen, das wahrlich tragisch ist. Von insgesamt 87 solcher Unterkapitel sind nur drei aus Tells Sicht verfasst, alle seine Gedanken richtet er an Peter, seinen Bruder. Dieser ist auf einer gemeinsamen Wanderung in den Bergen verunglückt. Danach hat Willhelm die Aufgaben seines Bruders übernommen, ist in dessen viel zu grosse Fussstapfen getreten. Dabei geht es in erster Linie um die Arbeit auf dem Tellhof. Zudem kümmert er sich um die bereits schwangere Hedwig und heiratet sie noch vor der Entbindung.

Auch Gessler gleicht kaum dem herrischen, boshaften Landvogt aus Schillers Drama. Die Brutalität meiner Männer stösst mich ab. Er sehnt sich viel mehr nach seiner Frau und seiner Tochter, welche erst nach seiner Abreise auf die Welt gekommen ist.

Der legendäre Apfelschuss ist einzig darin zu begründen, dass Gessler unglücklicherweise gerade anwesend ist, als Tell vor dem Hut stehen bleibt, ohne sich zu verbeugen – also muss Gessler sein Gesicht vor den Soldaten wahren. Nur weil zwei Männer zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen sind, nimmt die Geschichte ein tragisches Ende.

Die Sprache ist einfach und unverblümt. So denkt einer der Soldaten bei sich: Er glaubt wohl, der Allvater dieser dreckigen Meute zu sein. So ein Mondkalb!. Schmidt tabuisiert auch nichts. Vergewaltigung und Kindsmissbrauch sowie deren Folgen sind genauso Thema wie der brutale Kampf zwischen Tell und einem von Gesslers Männern.

Die unterschiedlichen Perspektiven erinnern durchaus an Szenenwechsel in einem Blockbuster, mit dem Tell auf dem Einband verglichen wird. Ob dies jedoch tatsächlich ein Gewinn ist, ist fragwürdig.

Zwar lassen die Episodenhaftigkeit und deren Kürze nicht zu, dass während der Lektüre Langeweile aufkommt. Doch die Häufigkeit der Wechsel und die Anzahl der Protagonisten nehmen dem Buch wieder einiges an Schwung. 20 Figuren erzählen aus ihrer Sicht, wobei die Hälfte völlig ausgereicht hätte. Sie alle brauchen eine Hintergrundgeschichte, um ihren Auftritt zu rechtfertigen. Dass die Perspektive alle zwei bis drei Seiten wechselt, macht es des Weiteren etwas schwierig, im Blick zu behalten, welche Sicht gerade eingenommen wird.

Dennoch ist Schmidts Grundidee, Tell als einen von Schicksalsschlägen geprägten Charakter darzustellen, erfrischend. Sie passt hervorragend zum Puls der Zeit: Männer, insbesondere Helden, auch einmal von einer verletzlichen Seite zu zeigen. Tell ist eine geeignete Lektüre für alle, die offen für einen Bruch mit der traditionellen Tellerzählung sind und am Abend mal ein paar Stunden freihaben. Denn das Buch aus der Hand zu legen ist schier unmöglich.

(Dieser Text entstand im Rahmen eines Seminars zur Literaturkritik im Frühjahr 2022 an der Uni Basel, Seminarleitung: Daniel Graf, Literaturkritiker beim Republik Magazin.)

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Seine Romane «Tell» und «Kalmann» waren Bestseller; mit «Kalmann» erreichte er den 3. Platz beim Schweizer Krimipreis und erhielt den Crime Cologne Award. «Tell» war auf Platz 1 der Schweizer Bestsellerliste. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavík.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Eva Schram

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes

Sie kennen die Geschichte. Ein Mann, ein Pfeil, ein Apfel. Seit ich denken kann, prangt auf der grössten Schweizer Münze das Konterfei jenes Helden, den man zum kollektiven Bewusstsein eines ganzen Staates, von Generationen wackerer Eidgenossen machte. Joachim B. Schmidt hat sie neu erzählt. Wirklich neu. Und wie!

Noch bis vor ein paar Jahren wurden Kinder in Schweizer Schulen mit heroischen Gefühlen regelrecht geimpft, dem Glauben, von jenen wackeren Recken abzustammen, die sich mit stolzer Brust gegen den übermächtigen und erdrückenden Feind zu wehren wussten. Erst in den letzten Jahrzehnten bröckelte dieser Mythos und selbst in den Lehrmitteln von Schulen werden jene Geschehnisse vor mehr als 700 Jahren an den Ufern des Vierwaldstättersees relativiert, nur noch als Gründungssagen erzählt. Und doch, ein Rest bleibt. Mit den wackeren Treichlern, den stämmigen Verweigern gegen eine Obrigkeit, den tapferen Ureidgenossen, die sich durch nichts und niemanden ihre Freiheit nehmen lassen. Man fotografiert sich wieder stolzer unter dem strammen Mann mit seinem tapferen Sohn auf dem Denkmal auf dem Markplatz des Urner Hauptortes.

Der Mythos Tell ist eine Schlagader des helvetischen Selbstbewusstseins, und nicht zuletzt einer ganzen Tourismusmaschinerie. Nicht auszudenken, wenn Schiller damals diesen Stoff nicht zu einem Theater gemacht hätte und die Geschichten nur ein paar Seiten im Weissen Buch von Sarnen geblieben wären. Als ich in der Ausbildung war, spielten wir Schillers Wilhelm Tell, der vor 200 Jahren in Weimar zum ersten Mal aufgeführt wurde und seither zum genetischen Code einer ganzen Nation gehört. Damals spielte ich Walter Fürst, einen der drei Eidgenossen, die an den Ufern des Vierwaldstättersees den Eid gegen die verhasste Obrigkeit über den See riefen: „Auf Tod und Leben!“

Zu ihnen drang auch die Geschichte dieses einen Helden, den man zwang, mit einer Armbrust einen Apfel vom Kopf seines Sohnes zu schiessen, den man dann trotzdem fesselte, der den Soldaten auf dem Schiff entkam und mit einem Bolzen den verhassten Vogt Gessler erschoss. Schiller machte die Geschichte zu einem Heldendrama, bot mit seinem Theater eine Breitseite, um den heroischen Akt wirkungsvoll zu inszenieren.

Joachim B. Schmidt «Tell», Diogenes, 2022, 288 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07200-6

Erstaunlich genug, dass sich ein Ausgewanderter traut, den Stoff neu zu erzählen. Eine Geschichte, an der man sich eigentlich nur die Finger verbrennen kann. Ein Bündner in Island inszeniert die Geschichte ganz neu, nimmt ihr (fast) allen Pathos, lässt sie mit Blut und Schweiss auferstehen, entschlackt bis auf die Geschichte einer Familie, die sich an den bewaldeten und felsigen Flanken jenes Sees gegen die Willkür einer übermächtigen Besatzungsmacht und das ewige Verlieren zu wehren versucht. Ich bewundere den Mut des Schriftstellers, der sich auch einen unverfänglicheren Stoff hätte aussuchen können, zumal es aus einem Land schreibt, das an Mythen reich ist. 

In Joachim B. Schmidts „Tell“ kämpft ein Jäger und Bauer gegen ein mehrfaches Trauma, jenes als Knabe in den pfarrherrlichen Gemächern, als junger Mann mit dem mitverschuldeten Verlust seines Bruders und als erwachsener Mann mit dem Bewusstsein, nicht der zu sein, der er sein sollte. Tell ist ein Gepeitschter, ein Getriebener, einer, der eigentlich nur seine Ruhe haben will, den das Schicksal aber immer wieder zu Entscheidungen zwingt, denen er sich nie freiwillig stellen würde. Sein Leben ist ein Kampf, ein Kampf, den er irgendwann bezahlen muss.

Ich habe das Buch atemlos gelesen. Obwohl ich die Geschichte kenne. Somit kann es nicht an der Handlung liegen. Joachim B. Schmidt switcht in seinem Roman von Person zu Person, erzählt von Walter, Tells Sohn, seiner Frau Hedwig, die einst mit seinem Bruder verheiratet war, von Tells Mutter, Hedwigs Mutter, von Gessler, dem Vogt und Harras, seinem wilden Vasallen und vieler anderer, die in dem Drama rund um die aufkeimenden Uruhen, die an den Gestaden jenes Sees ihren Anfang nehmen. Tell kämpft am meisten gegen sich selbst. Gessler gegen die Rolle, die man ihm aufzwingt und Harras gegen die Ahnung, nie das zu werden, was er sich als Mann zuschreibt. Schmidts „Tell“ ist aber in seiner Spiegelung auch die Geschichte der Frauen dieser drei Gestalten; Tell mit seiner Frau Hedwig und seiner Mutter, die die Familie gleich mehrfach vor ihrer Vernichtung retten, Theresa, Gesslers Frau, die in der Ferne auf ihren Gemahl hofft und ahnt, dass sie ihn nie ihrer Tochter zeigen kann und all jene Frauen, die sich Harras nimmt, die blutend liegen bleiben, während er sein Gemächt einpackt.

Schmidts „Tell“ trieft, ist bestes Kino, haut einem um, zieht einem ganz nah an ein Geschehen, dass einem schaudern lässt. „Tell“ ist die Geschichte eines vielfach Sterbenden. Vielleicht auch die Sterbegeschichte des Mythos „Mann“, einer Sterbegeschichte, die noch lange nicht zu Ende geschrieben ist.

Tell ist toll – mehrfach!

Interview

Was um Himmels Willen hat dich geritten, als du dich an den Stoff machtest? Braucht es die Distanz „von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“? Warum ausgerechnet die helvetischste Sage?

Die Idee, die Wilhelm-Tell-Geschichte neu zu schreiben, trage ich schon lange mit mir rum. Die Person fasziniert mich, die Geschichte selbst ist grandios. Die Gewissheit, dass ausgerechnet ich sie schreiben muss, ein Auslandschweizer, erlangte ich in Island. Ja, in gewissem Sinne bin ich ausgezogen, um Tell neu zu entdecken und nach Hause zu bringen. Hier, in meiner Wahlheimat gibt es die Isländersagas, uralte Manuskripte über die Zeit der Entstehung des isländischen Volkes, die aber erst 200-300 Jahre später niedergeschrieben worden sind – also eine ähnliche Situation. Bloss: Hier in Island ist man stolz auf die Sagas und deren Helden, man glaubt, dass es sie wirklich gegeben hat, man zelebriert sie. Aber den Ausschlag gegeben hat der isländische Schriftsteller Einar Kárason, der vor wenigen Jahren die etwas komplizierte Sturlunga-Saga neu geschrieben hat, die Wirren des isländischen Bürgerkrieges aus der Perspektive der verschiedenen Mitbestreiter schreibt, womit man sich wunderbar in diese Welt und Situation hineinversetzen kann. Ich habe Einar Kárason getroffen, mich mit ihm über Tell unterhalten, und damit endlich die Form gefunden, in der ich «Tell» erzählen wollte.

In dem Stoff lauern Fallgruben noch und noch. Man könnte sich elend verheddern, nicht nur im Dreieck zwischen Mythos, Geschichtsschreibung und nachgefühlter Realität, sondern auch den Interessen all jener, denen Tell noch immer Leitfigur ist, in Zeiten von Treichlern erst recht.

Bei mir stehen die Geschichte und die Protagonisten im Vordergrund. Die Handlung und das Handeln muss glaubhaft wirken. Unbedingt. Ich habe keine politische Agenda. «Tell» ist keinerlei Propaganda. Wann immer ich am Abgrund dieser Fallgruben gestanden bin, habe ich mich gefragt, was der logischste Weg ist. Ich empfand es zum Beispiel immer als unglaubwürdig, dass Tell – der Bergbauer – der Einzige auf dem Habsburger Boot sein soll, der so ein Boot überhaupt steuern kann. Völlig Quatsch. Im «Lied der Entstehung der Eidgenossenschaft» von den 1470er Jahren, eine der ältesten Tell-Quellen, steht auch, dass die Soldaten den Auftrag bekommen haben, Tell auf dem See zu versenken. So habe ich die Szene neu und logisch interpretiert. Oder dass Tell bewaffnet auf den Markt geht, wo er doch weiss, dass die Habsburger herrschen, grenzt an purer Dummheit und Ignoranz. Es ist viel logischer, dass er ganz einfach nicht mitgekriegt hat, dass er sich vor dem Hut hätte verbeugen müssen. Tell ist überfordert, die Armbrust wird ihm dann in die Hand gedrückt. Aber es ist so: Seit seiner Entstehung ist Wilhelm Tell für politische Zwecke missbraucht worden: Er ist eine Leitfigur, seine Verfasser wollen den Leuten sagen: Wir sind unabhängig, wir sind stolz, und wir sind überlegen. Kämpft! Darum erstaunt es mich nicht, dass sich die Freiheitstrychler mit Wilhelm-Tell-T-Shirt und herausgestreckter Brust gegen die Behörden und die Wissenschaft aufmüpfen. Sie kennen ja nur den Freiheitskämpfer-Wilhelm-Tell, der aus Stolz den Gruss verweigert. Die Rechte missbraucht ihn für ihre Propaganda schon lange. Die Linke versucht, ihn klein zu machen. Mein Tell ist nicht an Politik interessiert. Er ist ein Eigenbrötler. Er kämpft ums Überleben und hat ein Trauma zu verarbeiten. Er ist eine tragische Figur, die in einen Teufelskreis aus Gewalt gerät und sich nicht daraus befreien kann. Und es geht um Vaterschaft. Ein Thema, dass mir viel näher liegt. Darum möchte ich allen sagen: Gönnt dem Tell doch mal eine politische Pause. Er gehört uns allen, und er gehört vor allem sich selbst.

So ganz nebenbei erscheint in deinem Roman Sturla, Sohn des Sighvats, ein Normanne von einer Insel weit im Norden, auf einer Pilgerreise gen Süden. Den Mann gab es (zumindest lese ich das in der grossen Suchmaschine). Ist das nur eine Reminiszenz an deine neue Heimat oder schlummert da mehr?

Sturla ist eine Person aus der Sturlunga-Saga, die auch bei Einar Kárason auftritt. Darum hat sie bei Tell ein Cameo, zumal sie tatsächlich durch die Urschweiz gereist sein könnte auf dem Weg nach Rom. Ich interpretiere hier die Geschichte ganz frech auf meine Weise. Die Historiker sind sich einig, dass Tell seinen Ursprung nicht in Uri hat, sondern möglicherweise in Skandinavien. Der dänische Geschichtsschreiber Saxo hat schon vor dem Obwaldner Landschreiber Hans Schriber, dem Verfasser des Weissen Buches von Sarnen, über den norwegischen Toko geschrieben, der auch einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schiessen musste. Die Geschichte könnte dann mit den Pilgern, die durch die Innerschweiz nach Rom reisten, zu uns gelangt sein, so die Vermutung. Ich drehe hier den Spiess um. Die Tell-Geschichte hat bei uns den Ursprung, und die Pilger haben sie in den Norden getragen. Ich mache das aber mit einem Augenzwinkern und nehme es mit den Jahreszahlen nicht allzu genau. Man verzeihe mir diese Frechheit. Aber ich finde eben, dass unser Wilhelm Tell der Beste von allen ist. Im Sinne von: «Wer hats erfunden?» Ich will, dass wir den Stolz auf diese grausam tolle Geschichte wiederfinden. 

Es sind ein ganzer Strauss von Dramen, die sich in deinem Buch miteinander verstricken. Mit Sicherheit wolltest du das schiller’sche Drama, das sich nur auf Männerseite abspielt, in einer starken Frauenseite spiegeln. Nicht ganz einfach, muss doch angenommen werden, dass die Rolle der Frau damals so gar nicht jener entspricht, die heute selbstverständlich sein sollte.

Mein «Tell» ist, wie gesagt, stark von den Isländersagas beeinflusst. Aus ihnen ist zu entnehmen, dass die Frauen gar nicht so schlecht vertreten waren und durch ihr Handeln auch zu den Geschichten beitrugen, obwohl sie in der Hierarchie nur knapp über den Sklaven waren. Aber es gab sie eben doch, und wahrscheinlich hatten sie mehr Mitspracherecht, als ihnen die männlichen Historiker des 19. und 20. Jahrhunderts zugestehen wollten. Vor etwa einem Jahr gab es im Landesmuseum in Zürich eine interessante Ausstellung unter dem Namen: Nonnen, starke Frauen im Mittelalter. Es findet ein Umdenken statt. Mir war es grundsätzlich ein Anliegen, eine realistische Welt aufzuzeichnen, und darin gibt es eben auch Frauen. Tell hat also nicht nur eine Ehefrau, sondern auch eine Mutter, eine Schwiegermutter und eine Tochter. Es gibt in «Tell» Nonnen, Bäuerinnen, eine Pfrundsfrau… Trotzdem diente mir Schillers veralteter Wilhelm Tell als Fundament. Auf ihm habe ich meinen aufgebaut. Was mich aber am meisten bei Schiller stört, ist seine Einteilung in Gut und Böse, alles ist schwarz und weiss. Ich habe versucht, nicht bloss Grautöne gemischt, sondern, wenn ich schon dabei war, ein Farbbild.

Hast du mit einer Armbrust geschossen, dich im Dreck mit Riesen geprügelt, in Fell gekleidet im Vierwaldstättersee Wasser geschluckt?

Genau darum bin ich wohl der Richtige für «Tell»! Mit dem Schwung der Isländersagas im Hintern habe ich mich am Schreibtisch zurück in meine alte Heimat begeben. Einer meiner drei Brüder hat früher tatsächlich Armbrüste gezimmert, was nicht ungefährlich war, mit diesen Brüdern habe ich gerungen und wir haben im eiskalten Hinterrhein Wasser geschluckt. Ich bin auf dem klösterlichen Bauernbetrieb in Cazis aufgewachsen, auf dem Julierpass habe ich einige Sommerwochen als Kind und Jugendlicher verbracht, habe dem Senn der Klosteralp helfen müssen, Kühe zu melken, Rinder zu zählen, Käse zu machen. Mit meinem Vater habe ich Bergwanderung gemacht, bin ihm hinterher gekeucht, ich habe Murmeltiere erschreckt, und einmal bin ich fast auf eine Kreuzotter getrampelt. Endlich konnte ich diese wunderbaren Erlebnisse verwerten.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, aufgewachsen im Schweizer Kanton Graubünden, ist 2007 nach Island ausgewandert. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten, Journalist und Kolumnist. Der Doppelbürger lebt mit seiner Frau und zwei gemeinsamen Kindern in Reykjavik.

Webseite des Autors

Beitragsbilder © Eva Schram

Bei Joachim B. Schmidt braut sich was zusammen.

Winterschlaf? Joachim B. Schmidt hat ihn sich redlich verdient. Am 23. Februar nächsten Jahres erscheint sein nächster Roman «Tell», Nach «Kalmann» sein zweiter, bei Diogenes erscheinender Roman.

Aus der Vorschau des Verlags:
Joachim B. Schmidt schreibt Geschichte neu. In seinem fulminanten Roman wird die Tell-Sage ein Pageturner, ein Thriller, der an moderne Netflix-Serien erinnert. Beinahe 100 schnelle Sequenzen, erzählt von 20 verschiedenen Protagonisten, rasen wie an einer Lunte auf einen überwältigenden Showdown zu, der sich nicht vor denen grosser Blockbuster verstecken muss. Schmidts Fiktion, seine Vision des Tell machen die Erzählung so einzigartig, frisch und zwingend. Die moderne Erzählweise hat er sich bei einem der grossen isländischen Erzähler abgeschaut: Einar Karáson, der die Sturlungen-Saga neu erzählte. Hier wie dort sprechen die Protagonisten, was dem Text Gegenwärtigkeit und Authentizität verleiht. Im Zentrum von Schmidts Erzählung steht der ›Mensch‹ Wilhelm Tell – ein Wilderer und Familienvater, ein Eigenbrötler und notorischer Querulant; ein Antiheld, einer, der überhaupt kein Held sein will, der eigentlich nur seine Ruhe, genug zu essen und seinen Leiterwagen haben will. Und eine Kuh verkaufen. Immer näher kommen ihm die verschiedenen Stimmen und erkunden, wie eine einzige Gewalttat grössere und grössere Kreise zieht. Schmidt bringt uns die Figuren des Mythos nahe und erzählt eine unerhört spannende Geschichte – auch für diejenigen, die noch nie etwas von Wilhelm Tell gehört haben.

Joachim B. Schmidt, geboren 1981, stammt aus Graubünden und lebt seit über zehn Jahren mit seiner Familie in Reykjavik. Er ist Autor mehrerer Romane und diverser Kurzgeschichten. Ausserdem betreibt er einen Reiseblog und arbeitet als Touristenführer in Island.

«Einsame Weihnachten in Island» Kurzgeschichte auf der Plattform Gegenzauber

“Kalmann“, „Mossflüstern“, Rezensionen auf literaturblatt.ch

Kristín Elva Rögnvaldsdóttir

Joachim B. Schmidt