Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes

Stefanie vor Schultes Debüt „Junge mit schwarzem Hahn“ fällt aus der Zeit. In der Art des Erzählens, seiner Geschichte, der Kulisse, der Sprache und dem Lesegefühl. Als befinde man sich irgendwie, irgendwo in einer fernen Vergangenheit, in einem Märchen, der Fantasie nicht weit entfernt. Aber genau das, dieses Querliegen, ist der Reiz dieses aussergewöhnlichen Romans.

Wir leben in keiner märchenhaften Zeit. Genauso wenig waren vergangene Zeiten märchenhaft. Und doch erinnert „Junge mit schwarzem Hahn“ an Märchen. Ein Junge mit reinem Herzen, in seinem Dorf ausgestossen und missverstanden, macht sich auf eine Suchwanderung, besteht „Prüfungen“ und wird am Schluss für seine guten Taten belohnt. Auch wenn keine Zwergen, Hexen, Riesen und Zauberer vorkommen, so doch ein schwarzer Hahn, der den Jungen überall hin begleitet und in grosser Not zu ihm spricht. Ein schwarzer Vogel, genauso nicht ernst genommen wie der Junge selbst. Ein Junge, den man im Dorf nach dem gewaltsamen Tod seiner ganzen Familie seinem Schicksal überlässt, der sich da und dort durch sein Tun einen faulen Apfel oder eine harte Kante Brot verdient. Man sprich kaum mit ihm. Er schläft in den Ruinen seines Elternhauses, seinen Hahn an seiner Brust, das einzige, was ihm geblieben ist.

Stefanie vor Schulte «Junge mit schwarzem Hahn», Diogenes, 2021, 240 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-257-07166-5

Bis ein Fremder im Dorf auftaucht. Ein Maler, der die Kirche ausmalen soll. Ein Mann, der das Helle im Herzen des Jungen erkennt und ihn an seiner Seite leben lässt, bis die Wirren im Dorf so unerträglich werden, dass sie beide gezwungen sind, den Ort in aller Heimlichkeit zu verlassen; Martin, der Junge mit reinem Herzen, weil er sah, wie ein schwarzer Reiter vor dem Dorf ein Mädchen mitnahm und der Maler, weil er sich mit dem, was er an die Wände der Kirche malte, an der Boshaftigkeit der Dorfbewohner rächen wollte. Sie machen sich gemeinsam auf den Weg durch eine Welt, die von Krieg und Anarchie gebeutelt wird, in der Banden und Wolfsrudel Angst und Schrecken verbreiten. Sie finden Schutz in den Mauern einer Stadt, in der der Maler ein Lustbild malen soll. Sie werden dabei in die Wirren von Eifersucht, Neid und Falschheit auseinandergerissen. Martin muss erneut fliehen, rettet einen Reiter vor dem sicheren Tod und landet auf dem Schloss seiner Gemahlin, einer Frau, die in ihrer unsäglichen, unstillbaren Eitelkeit das Leben von Kindern nimmt.

Stefanie vor Schulte erzählt mit einer ungeheuren Selbstverständlichkeit, schildert das Leben eines Jungen, den ein schwarzer Hahn, den man in jener Zeit allzu leicht zu einem Zeichen des Satans macht, immer weiter in die Wirren von Boshaftigkeit und Elend führt, ein Leben, das eine Bestimmung haben soll, einen Weg, der all dem etwas entgegensetzt, was sonst die Dunkelheit zu schlucken droht. Was den Roman so erfrischend macht, ist die Überraschung darüber, dass er so gar nicht in die Literaturlandschaft der Gegenwart passt und sich mit keinem Satz um jene Themen rankt, denen man sonst alles Papier der Welt opfert. Stefanie vor Schulte erzählt in einer Sprache, die holzschnittartig, kantig und mit kurzen Sätzen Stimmungen und Bilder erzeugt, die wiedergibt, was eine Welt bestimmt, die aus der Sicht des Jungen fast nur aus langen dunkeln Schatten besteht. Vielleicht wirken da die Fähigkeiten einer Bühnenbildnerin, die eine ausserordentlich plastische, fast theaterhafte Kulisse entwirft. Und zudem bedient sich der Autorin der Sehnsucht nach Helden, die mit klarem Blick, reinem Herzen und klugem Kopf gegen die Urgewalten der Welt bestehen. Der Sehnsucht nach einer deutlichen Stimme, die einem einflüstert, vor allem dann, wenn einem alles den Mut zu rauben scheint.

Ein erstaunliches Buch voller Überraschungen.

Stefanie vor Schulte, 1974 in Hannover geboren, ist studierte Bühnen- und Kostümbildnerin. Sie lebt mit ihrem Mann und vier Kindern in Marburg. «Junge mit schwarzem Hahn» ist ihr erster Roman, der im Rahmen des Harbour Front Literaturfestivals Hamburg für den Klaus-Michael Kühne-Preis nominiert wurde.

Beitragsbild © Gene Glover