literaturblatt.ch gratuliert: Anna Stern ist Schweizer Buchpreisträgerin 2020! #SchweizerBuchpreis 20/11

Der diesjährige Schweizer Buchpreis geht an Anna Stern für den Roman «das alles hier, jetzt.» (Elster & Salis Verlag).

In der Begründung der Jury heisst es: «Anna Stern hat einem der ältesten Themen der Literatur eine völlig neue Form und unerhörte Töne abgewonnen. «das aller hier, jetzt.» handelt vom Tod eines geliebten Menschen, und die Autorin erzählt mit grosser experimenteller Kraft und zugleich mit hoher sinnlicher Intensität. Fast beschwörend wird die Vergangenheit wachgerufen und die Leserinnen und Leser in den Erinnerungsprozess einbezogen. Das Erzählverfahren ist höchst originell. Nicht nur kommt der Text über die gesamte Strecke ohne jede Gender-Fixierung der Figuren aus, es ist auch ein Roman in zwei Spuren: auf den linken Buchseiten die Gegenwart der Trauer, rechts die erinnerte Vergangenheit einer gemeinsamen Kindheit und Jugend – bis alles auf ein fulminantes Roadmovie-Finale zusteuert. Ein gleichermassen intimer wie kunstvoller Roman über zutiefst menschliche Erfahrungen.»

Rezension von «das alles hier, jetzt.» auf literaturblatt.ch

«Glücklich?»
«Ja, glücklich.»

Abnehmen oder wegdrücken? – Reaktionen der Nominierten #SchweizerBuchpreis 20/5

Man kennt die Erzählungen davon, wie das Nobelpreiskomitee die jeweiligen PreisträgerInnen kontaktiert, um ihnen mitzuteilen, dass sie zur Übergabe des prominentesten Preises nach Stockholm an eine königliche Nobelpreisverleihung eingeladen werden. Klar, der Nobelpreis ist in keiner Weise mit dem Schweizer Buchpreis zu vergleichen. Aber eine ganz spezielle Anerkennung ist er alleweil.

Spontan schrieb ich den fünf Nominierten mit der Bitte, diesen einen Moment zu schildern, als das Telefon klingelte und man sie über die Nominierung informierte:

Dorothee Elmiger: «An den Moment kann ich mich schon gar nicht mehr so genau erinnern: Ich sass in der Küche und hatte das Telefon am Ohr, draussen schien auf jeden Fall die Sonne!»

Nicht nur die Preissumme unterscheidet sich erheblich, gleich mit einer Stelle mehr, auch das Renommee des Preises lässt sich schlecht vergleichen. Schon alleine der Unterschied zwischen dem Deutschen und dem Schweizer Buchpreis in Sachen Publizität, medialer Aufmerksamkeit ist riesig. Während die Verleihung des Schweizer Buchpreises dem Schweizer Fernsehen einen Kurzbeitrag wert ist, wird die Verleihung des Deutschen Buchpreises live im Deutschen Fernsehen übertragen. Während sich der Schweizer Buchpreis vor allem auf nationaler Ebene abspielt, ist der Deutsche Buchpreis ein Ereignis im deutschsprachigen Europa.

Charles Lewinsky: «Ein Telefongespräch mit den Veranstaltern brachte die erfreuliche Nachricht. Ich habe mich darüber gefreut. Mehr gibt es nicht zu sagen. Da es meine dritte Nomination ist, bin ich in dieser Hinsicht vielleicht ein bisschen abgestumpft.»

Sollte man sich deshalb grämen? Nein. Im Schweizer Buchpreis spiegelt sich auch die Schweizer Buchlandschaft. Viele Buchveröffentlichungen von Schweizer Verlagen schaffen es nur ganz schwer über die Landesgrenzen. Sehr oft bleibt das Interesse an Schweizer Literatur angesichts der schieren Menge der Veröffentlichungen in den deutschen Buchhandlungen mässig, sieht man von den grossen Namen ab. Als ich für ein paar Wochen in Berlin arbeitete und immer wieder in einer der unzähligen Buchhandlungen abtauchte, wurde mehr als deutlich, dass die Schweizer Literatur nicht einmal ein Anhängsel ist, sondern bis auf einige wenig Namen inexistent.

Tom Kummer: «Happiness. Ich empfand ein grosses Glücksgefühl als ich von der Nominierung erfuhr. Und dann verspürte ich sofort den Drang, meiner Mutter anzurufen und zu berichten. Erstaunlich! Wie die Mutter doch immer wieder Ursprung der ganz grossen Gefühle wird – und dabei das Bedürfnis wachrüttelt, etwas mir sonst ganz Fernes zu beweisen: How To Be A Good Son!»

Umso mehr tut es meiner Seele gut, wenn auf der Longlist des Deutschen Buchpreises die Namen von Dorothee Elmiger, Charles Lewinsky und Arno Camenisch auftauchen, noch mehr wenn Dorothee Elmiger mit «Aus der Zuckerfabrik» sogar auf der Shortlist zu finden ist. Und nichts desto trotz ist die Nominiertenliste des Schweizer Buchpreises eigentlich schon eine Anerkennung. Sind sich doch alle Mitglieder der Jury einig, dass diese fünf Bücher auf ein ganz speziell sichtbares Podest gehören.

Karl Rühmann: «Das Telefon klingelt zur Unzeit, wie immer, und dann ist es auch noch eine «unbekannte Nummer». Abnehmen oder wegdrücken? Man ist ein höflicher Mensch und wählt den grünen Knopf. Ohne viele Umschweife teilt mir eine freundliche Stimme mit, dass mein «Held» für den Schweizer Buchpreis nominiert worden sei. Ich muss mich erstmal setzen und dann nach Worten suchen, die auch nur einigermassen zu meinen Gefühlen passen. Das ist schwierig. Ein einfaches «Danke» trifft es nicht, ein Freudeschrei eher, doch dafür habe ich mich zu gut im Griff. Leider. Ich murmle etwas, wahrscheinlich sage ich «wunderbar» und «unglaublich» und «Freude», dann bin ich wieder mit der Nachricht allein. Seither schwebe ich über dem Boden und möchte noch eine ganze Weile nicht landen.»

PS Auch Anna Stern meldete sich per Mail und schrieb, sie wolle jenen Moment für sich behalten. Respekt!

Anna Stern «das alles hier, jetzt.», Elster & Salis #SchweizerBuchpreis 20/4

Ananke stirbt nach kurzer Krankheit. Eine junge Frau. Ihr Tod hinterlässt nicht nur eine Lücke, sondern pulverisiert ein ganzes Gravitationsfeld. Nichts ist mehr so, wie es einmal war, gar nichts. Und weil es nach 150 Tagen aus der Trauer keinen Weg zu geben scheint, machen sich Anankes Freunde auf, um sich ihrem Eingeschlossenen Luft zu machen.

Anna Sterns Roman überrascht nicht nur inhaltlich, sondern auch formal. Das kündigte sich schon in ihrem letzten, ihrem dritten Roman „Wild wie die Wellen des Meeres“ an. Aber mit „das alles hier, jetzt.“ geht die junge Schriftstellerin aus der Ostschweiz noch einen Schritt weiter. Ichor erzählt, wahrscheinlich ein Mann, wahrscheinlich. Er erzählt von der Zeit nach Anankes Tod und von der Zeit davor, den Erlebnissen als Kinder, als Jugendliche, als junge Erwachsene, mit Ananke zusammen oder in der Gruppe mit Freunden, in der kleinen Stadt am See.

„du hast angst vor dem vergessen und fängst an, alles aufzuschreiben.“

Anna Stern «das alles hier. jetzt.» Salis & Elster, 2020, 288 Seiten, CHF 34.90, ISBN 978-3-03930-000-6

Anna Stern erzählt in zwei Teilen. Der erste Teil, jeweils auf der linken Seite in schwarzer Schrift von der Zeit nach Anankes Tod und rechts in grauer, etwas blasserer Schrift von den Erinnerungen aus der gemeinsamen Zeit mit Ananke, vor der Krankheit, vor ihrem Tod. Die Gegenwart klar wie in Stein gehauen. Die Vergangenheit, die irgendwann einmal verblassen wird, auch wenn man daran nicht denken will und kann, grau geworden. Die Textstücke in diesem ersten Teil erzählen unabhängig voneinander und zwingen mich als Leser, das eine oder andere Mal vor- und zurückzublättern, obwohl mir die Autorin bei der Vernissage in Rorschach versichert, den ersten Teil könne man überall zu lesen beginnen. Vielleicht könnte man den Roman auch im letzten Viertel beginnen, dem zweiten Teil des Buches, in dem Anna Stern linear und „traditionell“ von Anankes Freunden erzählt, die mehr oder weniger gemeinsam beschliessen, ihren dunklen Tunnel der Trauer zu verlassen und „Nägel mit Köpfen zu machen“. Dann wiederum könnte man den ersten Teil danach lesen und er würde mir erschliessen, was die Freunde dazu treibt, in einer Nacht-und-Nebel-Aktion auf den Friedhof zu fahren.

Aber Anna Stern springt formal noch mehr aus der Spur. Ausser den Namen ist nichts gross geschrieben, nicht einmal Satzanfänge. Vielleicht weil Namen das einzig Konstante sind, an das man sich halten kann. Und neben Ananke und dem Erzähler Ichor sind alle Namen so gewählt, dass sie seltsam androgyn erscheinen, geschlechtslos, als ob die Autorin Gefühle und die Art des Erinnerns von geschlechtspezifischen Vorstellungen abkoppeln möchte.
Zudem lässt die Autorin in vielen Sätzen das Verb weg, entseelt die Sätze, genauso wie Ananke mit ihrem Tod die Zurückgebliebenen entseelte. So wird Text und Form zu einem Spiegel der Geschichte.

Ananke war ein Fixstern. Mit ihrem Tod verschwand das Zentrum eines Sternensystems. Die Gravitation brach auseinander! Ananke war lebend ein Mythos, nach ihrem Tod nicht weniger.

„du bist müde, müde und schwer mit einem eigenartigen glück, mit dem gefühl, gleichzeitig in deinem Körper zu sein und ausserhalb, eins zu sein, ganz nah bei dir zu sein: traumgleich.“

Dass sich Anna Stern nicht an gängige Erzählmuster hält, ist erfrischend und konsequent. Anna Stern geht es nicht darum, den Lebens-, Leidens- und Sterbensweg einer jungen Frau zu erzählen. „das alles hier, jetzt.“ ist auch kein Trauerroman, kein Abschiedsroman, schon gar kein Protokoll. Anna Stern erzählt ungeheuer sinnlich und in dieser Sinnlichkeit höchst präzis und unemotional. „Unemotional“ darum, weil „kühl“ falsch wäre. Ihr Roman bewegt ohne zu erschüttern. Er hinterlässt nicht Trauer, sondern das pure Glück über ein absolut gelungenes Sprachabenteuer. An Anna Sterns Roman ist nichts zu viel und schon gar nichts zu wenig. Er ist mutig und konsequent. Und so wie die Autorin selbst, ganz eigen. 

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, schreibt und doktoriert in Zürich.»das alles hier, jetzt.» Zuvor erschienen «Wild wie die Wellen des Meeres» (2019, Roman, Salis), beim Bachmann-Wettbewerb in Klagenfurt 2018 mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, «Beim Auftauchen der Himmel» (2017, Erzählungen, lectorbooks), «Der Gutachter» (2016, Roman, Salis) und «Schneestill» (2014, Roman, Salis). Anna Stern ist Förderpreisträgerin der St. Gallischen Kulturstiftung. 2019 zeichnete die Stadt Zürich ihr literarisches Werk aus.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leafrei.com

Die Shortlist ist da! #SchweizerBuchpreis 20/2

Die Mischung hätte illustrer nicht sein können. Eine Mischung, die es in sich hat. Charles Lewinsky gehört seit Jahrzehnten zu den Grossen im deutschsprachigen Literaturhimmel. Die Ostschweizerinnen Dorothee Elmiger und Anna Stern zählen noch immer zu den Geheimtipps. Tom Kummer weiss sich zu inszenieren, nicht erst seit dem Klagenfurter Wettlesen. Und Karl Rühmann? Karl Rühmann ist die Überraschung!

© Lea Frei

Charles Lewinsky «Der Halbhart», Diogenes
Charles Lewinsky ist das Schwergewicht unter den Nominierten. Nur schon deshalb, weil er bereits zweimal unter den Nominierten zum Schweizer Buchpreis sass: 2011 mit seinem Roman «Gerron» und 2016 mit dem Roman «Andersen». Auch im Wettbewerb zum Deutschen Buchpreis stand und steht sein Name schon auf der Liste. Aber ein Wettbewerb soll überraschen! Charles Lewinsky ist einer der Namen, den man längst für seine literarischen Verdienste hätte adeln sollen. Wäre ich König, hätte ich dem Schriftsteller, Drehbuch-, Theater- und Hörspielautor, Musical- und Songtexter schon längst für sein Lebenswerk den Titel «Sir» verliehen. Charles Lewinsky ist eine Grossmacht, ein Tausendsassa, ein Schriftsteller, der sich stets neu erfindet.
Rezension von «Der Stotterer» (2019) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Dorothee Elmiger «Aus der Zuckerfabrik», Hanser
Dorothee Elmigers neues Buch ist kein Roman. Dorothee Elmiger versucht mit «Aus der Zuckerfabrik» die Welt zu verstehen, nimmt mich mit ihrem Buch mit auf ihre Kopfreise in die Tiefen des Denkens. Mit ihrem dritten Buch erscheint sie zusammen mit Charles Lewinsky nicht nur auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises, sondern auch auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis 2020. Erinnern wir uns an «Tauben fliegen auf» der Schweizerin Melinda Nadj Abonji. 2010 gewann sie mit ihrem zweiten Roman sowohl den Deutschen wie den Schweizer Buchpreis. Und Dorothee Elmiger hätte mit Sicherheit das Zeug dazu, es Melinda Nadj Abonji gleich zu tun. «Elmiger ist Dichterin, Historikerin, Analytikerin, Theoretikerin und begnadete Erzählerin in einem», schreibt die Presse.

© Lea Frei

Anna Stern «das alles hier, jetzt», Elster & Salis
Anna Stern, Umweltnaturwissenschaftlerin und Autorin, schreibt sich mit jedem neu erscheinenden Buch tiefer, höher, prägnanter in die Szene. Anna Stern stellt die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, experimentiert mit ihrem Schreiben, verbindet in ihren Büchern die verschiedensten Sparten der Kunst. Sie schreibt kompromisslos und wer Anna Stern schon einmal lesend und argumentierend erlebt hat, weiss, was es heisst, ganz für eine Sache einzustehen. Es ist längst Zeit, dass Anna Stern einen grossen Preis für ihr Schreiben verliehen bekommt. Es ist längst Zeit, dass man Anna Stern den Platz einräumt, der ihr gebührt.
Rezension von «Wild wie die Wellen des Meeres» (2018) auf literaturblatt.ch

© Lea Frei

Tom Kummer «Von schlechten Eltern», Tropen
Tom Kummer – ein bunter Vogel, der weiss, wie Geschichten erzählt werden müssen, nicht nur weil er einst die Hollywoodstories fürs Schweizer Publikum aufbereitete, weil er ein ausgezeichneter Journalist ist, sondern weil er in seinem Schreiben zeigt, dass Dichtung und Wahrheit nicht in zwei verschiedenen Schubladen gebettet liegen. Das eine mischt sich mit dem andern, unweigerlich, ob man es wahrhaben (wieder so ein Wort) will oder nicht. Sein neuer Roman «Von schlechten Eltern», von den einen gefeiert, von den andern mit Distanz quittiert (wie könnte es bei Tom Kummer anders sein). Tom Kummers Protagonist in seinem Roman ist ein VIP-Chauffeur, der vom Flughafen nach Bern oder Zürich fährt, ein Geschichtensammler, der noch viel mehr mit sich herumschleppt, alles zwischen Himmel und Hölle.

© Lea Frei

Karl Rühmann «Der Held», rüffer & rub
Und Karl Rühmann? Kennen sie Karl Rühmann? Karl Rühmann schrieb vor zwei Jahren den Roman «Glasmurmeln, ziegelrot», ein wunderbares Buch, das in der Öffentlichkeit niemals jene Aufmerksamkeit erreichte, die der Roman verdient hätte. Dass Karl Rühmann unter den Nominierten ist, freut mich ungemein. Und ich stelle mir seine Überraschung mit grösstem Vergnügen vor, die ihn heimsuchen wird, wenn er von seiner Nominierung erfährt! Lesen sie seinen Roman «Der Held» aus dem Verlag rüffer & rub, einem Verlag, in dem Karl Rühmann fast das ganze literarische Programm ausmacht. Ein Roman, der aus dem Internationalen Tribunal in Den Haag eine literarische Bühne macht – existenziell!
ein Interview mit Karl Rühmann auf der Verlagsseite
Rezension von «Glasmurmeln, ziegelrot» auf literaturblatt.ch

Ich bin von der Shortlist beeindruckt. Sie ist listengewordener Mut! Der Beweis dafür, wie vielfältig die Schweizer Literatur sein kann – und angesichts all derer, die sich nicht auf der Liste finden, aber das Zeug dazu absolut hätten, ein starker Jahrgang!

Illustrationen © leafrei.com

Highlights aus den 41. Solothurner Literaturtagen

Fast gleich viele wie im letzten Jahr, als es einen neuen Besucherrekord zu verzeichnen gab! Die Solothurner Literaturtage leben, glänzen und tun genau das, was die Besuchenden an diesem Festival zu schätzen wissen.

Aber Solothurn ist auch „Familientreffen“ der kleinen Schweizer Literaturszene. Die Schriftsteller-Nationalmannschaft spielt die sich ewig wiederholende Revanche gegen Rakete Solothurn (1:1!), im Park auf der anderen Aareseite performen die alten Hasen Bänz Friedli, Patrick Tschan, Wolfgang Bortlik, Maurizio Pinarello und Franco Supino ihre Texte unter dem ausladenden Geäst der Uferplatanen, in denen sich ebenso lautstarkes schwarzes Gefieder eingenistet hat. An langen Tischen zwischen der Geburtsstädte der Solothurner Literaturtage, dem Restaurant Kreuz, in dem 1978 Autoren wie Peter Bichsel und Otto F. Walter das Festival gründeten und dem Landhaus branden engagierte Gespräche zwischen den „wilden Jungen“, den „Literaturaktivistinnen“, die sich mit Recht gegen Verkrustungen, betonierte Hierarchien und die ewig Gestrigen auflehnen und aufregen. Und zwischen allen sitzt, plaudert und pafft der ungekrönte König von Solothurn, der mittlerweile 84jährige Peter Bichsel.

Ferdinand von Schirach, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Es gab sie, die grossen Namen, auch wenn die aktuelle Deutsche Buchpreisträgerin Inger-Maria Malke mit ihrem preisgekrönten Roman „Archipel“ fehlte. Ferdinand von Schirach, Judith Schalansky, Thomas Hürlimann oder der in Paris lebende Türke Nedim Gürsel oder alt gediente Säulen der Schweizer Literaturszene; Lukas Hartmann, Milena Moser, Ruth Schweikert, Klaus Merz oder die nimmer müden Ernst Halter und Beat Brechbühl.

Aber was muss unbedingt gelesen werden:
„Kaffee und Zigaretten“ von Ferdinand von Schirach. Kein Nahrungsratgeber, obwohl die beiden momentan meistverkauften Bücher im deutschsprachigen Raum solche sind. Ferdinand von Schirach verkauft seine Süchte auch nicht als Eingangstore in die grossen Erkenntnisse der Welt. Es geht in seinem Buch um die grossen Fragen des Lebens. Gibt es eine Grenze zwischen Gut und Böse? Wann gilt ein Leben als erfolgreich oder gescheitert? Ferdinand von Schirach ist verstörend ehrlich, direkt und auf seine Weise authentisch. Nach Bestsellern mit den Titeln „Tabu“ oder „Strafe“, in denen er von seinen zwanzig Jahren Erfahrung als Strafverteidiger erzählt, ist „Kaffee und Zigaretten“ sein persönlichstes Buch über eine Jugend voller Traumatisierungen. Ferdinand von Schirachs Auftritt, etwas zischen welt- und staatsmännisch und empfindsamer Scheu beschreibt exakt, was im Buch geschieht. Er breitet aus, sich und die Welt, macht kein Geheimnis aus seinen Depressionen und dem Leiden an der Welt und fordert mehr als deutlich, dass ihm ein Leben mit Respekt und deutlich gelebter Ethik überlebenswichtig erscheint.

Wild wie die Wellen des Meeres“ von Anna Stern und „Balg“ von Tabea Steiner. Wie gut, waren sie da! Zwei engagierte junge Autorinnen in so gänzlich verschiedener Lebens- und Schreibsituation. Anna Stern, eine Akademikerin, die sich in ihrem Brotberuf wissenschaftlich mit Umweltfragen beschäftigt, Tabea Steiner eine „junge Wilde“, die sich auf ganz vielen Bühnen und Wirkungsfeldern innerhalb des Literaturbetriebs bewegt. Anna Stern erzählt vom Fluchtversuch einer jungen Frau, eine Geschichte, die sich geographisch aus der Heimat entfernt und Tabea Steiner jene eines Ausgegrenzten, das eingezwängte Dasein in dörflicher Enge. Beide Bücher sind auf literaturblatt.ch besprochen. Ich würde mich nicht wundern, wenn die beiden Titel im September auf der ominösen Shortlist des Schweizer Buchpreises erscheinen würden.

Franco Supino, Foto © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Auch wenn Simonetta Somaruga ihrem Mann bei seiner Lesung am Sonntag einen Besuch abstattete und ich mich einmal mehr wunderte, dass eine Ministerin in der Schweiz wie jede andere als Privatperson durch die Solothurner Innenstadt spazieren kann, ohne dass an jeder Ecke ein bis auf die Zähne bewaffneter Soldat jeden Anwesenden mit durchdringendem Blick nach seinem Gewaltpotenzial scannt und mir der neue Roman ihres Mannes ausgesprochen gut gefällt (Eine Rezension und Interview mit Lukas Hartmann folgt!), war es der Rückkehrer Thomas Hürlimann, der mit seiner ersten Lesung aus seinem vor einem Jahr erschienen Roman „Heimkehr“ den Solothurner Literaturtagen einen grossartigen Abschluss bescherte.
Thomas Hürlimann ist unbestritten einer der Grossen, nicht nur in der Schweiz, sondern in der ganzen deutschsprachigen Literatur. „Das Gartenhaus“, eine Novelle, die die Geburtsstunde des vielvermissten Ammann-Verlags bedeutete, ist genauso Eckpfeiler, wie fast alle folgenden Publikationen, Prosa oder Theater. Und jetzt, nach Krankheit, langer Abwesenheit, las Thomas Hürlimann zum ersten Mal vor grossem Publikum aus seinem Roman „Heimkehr“. Heinrich Übel, Fabrikantensohn, hat ein schwieriges Verhältnis zu seinem Vater. „Heimkehr“ beschreibt die Rückkehrversuche eines Sohnes in die verlassene Welt der Familie. Ein Autounfall katapultierte ihn aus seinem Leben, seiner Identität. „Heimkehr“ ist ein vielschichtiger Roman mit einem grossen Bruder, Max Frischs „Stiller“. Dem Tod von der Schippe gesprungen, sei alles neu gewesen, erzählte Thomas Hürlimann. Auch das Schreiben. Ein zu der Zeit fast fertiger Roman musste noch einmal neu erzählt werden. Die Frage „Bin ich oder bin ich nicht mehr?“ war in der Fassung vor der Krankheit und dem drohenden Tod nicht vorhanden. Thomas Hürlimanns Roman sprudelt vor Fabulierlust, Witz bis hin zur „Klamotte“. Ein grosses Buch!

Beitragsbild zeigt Viola Rohner © Sabrina Christ und Samuel Mühleisen

Rückblick: Andri Beyeler eröffnete das 11. Wortlaut Literaturfestival St. Gallen

Don Quijotes Kampf gegen Windmühlen stand damals für den aussichtslosen Kampf der untergehenden Aristokratie des 17. Jahrhunderts gegen den «technischen Fortschritt». Kämpft ein Literaturfestival diesen Kampf im 21. Jahrhundert? Den Kampf gegen den blossen Konsum, gegen die Berieselung, das frühlingshafte Wetter, gegen die Übermacht all dessen, was in einer Stadt wie St. Gallen sonst noch läuft?

«Wörter können ihre Bedeutung verändern», sagte Christine Lötscher, freie Literaturkritikerin und Rednerin an der diesjährigen Eröffnungsfeier. Genau das macht Literatur aus, unterscheidet sich von Journalismus und Geschichtsschreibung, zumindest in ihrer ursprünglichen Idee. Aber von Geschichtsschreibung bis Geschichten schreiben sind es nur ein paar wenige Buchstaben. Literatur pflegt den Fake bis zur Vollkommenheit, aber Fake ist noch lange nicht Literatur. Literatur spielt mit Inhalt, Sprache, Text und Wort.

Ideales Beispiel dafür, wofür das Wortlaut steht, für die Verbindung von «klassischer» Literatur, Comic, Kabarett, Spoken Word und Illustration war der diesjährige Starter Andri Beyeler am 11. Literaturfestival. Ein Text wie ein Trommelfeuer, vorgetragen von einer Schauspielerin, illustriert vom Autor selbst, geschrieben wie ein Theater, Kleinstadtmythen, die sich in einem Gasthaus in existenzielle Intensitäten hinaufschaukeln. Andri Beyeler, der bisher vor allem für die Bühne schrieb und dessen Text sich auch als Buch erst dann entfaltet, wenn er laut und mit viel Dynamik gelesen wird, schuf mit «Mondscheiner» ein aussergewöhnliches Sprachkunstwerk.

Beyeler formuliert das, was sonst im Kopf ausgeblendet wird, gibt den Gedanken jene Spur, die neben dem reinen Erzählen sonst vergessen wird. Andri Beyeler erzählt nicht wie andere sonst, lässt aus, wiederholt, kommentiert, schwingt zu ganz eigener Komik auf, zu einer Sprache, die dem Leben, den Gedanken, nicht unbedingt dem Denken und schon gar nicht der Struktur huldigt, schwingt sich zu Witz auf, der in seiner Beyeler’schen Entfaltung ganz eigen ist und wirkt.

Andri Beyeler ist Theatermann, badet in seinem Text über drei Figuren in einem Kleinstadtkosmos, genauso in Sprache wie in Auslassungen, Wort- und Sprachspielen, feinen Kommentaren, durchaus gesellschaftskritisch, sehr oft beissend und entlarvend, spielt mit der Dramatik des Alltags, mit dem, was sich im Alltäglichen an Dramatischem abspielt, den Bildern «dazwischen», jenen Momenten, wo andere während des Sehens blinzeln.

Andri Beyeler, geboren 1976 in Schaffhausen, lebt in Bern. Mitglied der freien Tanz-Theater-Gruppe Kumpane. Mehrere Theaterstücke, Bearbeitungen und Übertragungen. 2017 wurde er von der Stadt Bern mit dem «Welti-Preis für das Drama» ausgezeichnet.

***

Am Samstag Nachmittag war ich als Moderator engagiert. Hier einige Eindrücke:

Lesung im «Raum für Literatur» in der Hauptpost St. Gallen mit Anna Stern und ihrem bei Salis erschienenen Roman «Wild wie die Wellen des Meeres»,

mit der Lyrikerin und Essayisten Monika Rinck aus ihrem bei kookbooks erschienen Lyrikband «Alle Türen»

und mit Daniela Krien, die aus ihrem zweiten, bei Diogenes erschienenen Roman «Die Liebe im Ernstfall» las.

Das 45. Literaturblatt hofft auf AbonnementInnen!

Reaktionen auf das 44. Literaturblatt:

«Ich möchte ihnen ein großes Kompliment dafür aussprechen, was Sie da quasi „nebenher“ auf die Beine stellen – ein großartiges und wunderbares Zeugnis für das, was Leidenschaft vermag!“
Christian Torkler, Schriftsteller

«Ich komme gerade zurück aus Hamburg und habe das analoge Literaturblatt im Postfach gefunden. Vielen Dank, Gallus! Das war eine richtige Überraschung. Ich bin sehr froh, dass dir das Buch gefallen hat. Vielen Dank für was du geschrieben hast über ‹Unter den Menschen›. Ich glaube, du hast das Buch nicht nur mit deinem Kopf, auch mit deinem Herzen gelesen. Hartelijke groet uit Amsterdam!»
Mathijs Deen, Schriftsteller

«Es ist sehr schön geworden, ist ein richtiges Objekt.»
Katrin Seddig, Schriftstellerin

«Herzlichen Dank für die treffende Rezension von „Stromland“ im Literaturblatt, ein wirklich sehr besonderes und aussergewöhnliches Format, das ich so noch nicht gesehen habe. Ich hoffe, sie führen es noch lange Zeit weiter!»
Florian Wacker, Schriftsteller

«Wieder liegt so ein wunderschönes Literaturblatt vor mir. Ein jedes ist ein Kunstwerk. Man kann sie nicht nur mit Freude lesen, sondern auch mit Freude anschauen. Danke Gallus. Einfach grossartig.»
Margrit Schriber, Schriftstellerin

Anna Stern «Wild wie die Wellen des Meeres», Salis

Ava hat sich abgesetzt. Was formell ein Praktikum in einem schottischen Naturschutzgebiet ist, ist eigentlich die Insel, auf die sich Ava absetzen will, um ein neues Leben zu beginnen, all jene Fragen für sich zu beantworten, die die «untergegangene» Heimat nicht mehr beantworten konnte. «Wild wie die Wellen des Meeres» macht die Gischt spürbar, das Salz auf den Lippen, den Schmerz des Verlorenen und die Sehnsucht nach Liebe und Ordnung.

«Wild wie die Wellen des Meeres» ist ein Sedimentroman, der beim Lesen Schicht um Schicht freilegt, als sei ich der Archäologe, als würde ich die Stein gewordenen Wurzeln eines Lebens freilegen, Wurzelfaden um Wurzelfaden.

Ava ist schwanger, erfährt dies erst kurz bevor sie nach Schottland abreist. Aber sie reist trotzdem. Sie braucht Distanz zu einem Leben, dass sich in der Enge verkeilt hat. Distanz zu Paul, dem werdenden Vater, dem Mann, der nicht zu ihrem Mann an ihrer Seite werden kann, solange die Geister der Vergangenheit sie nicht in Ruhe lassen. Distanz zu ihrer Familie oder dem, was davon übrig geblieben ist, dem Tod ihrer Mutter, dem Unfall ihres Vaters und den Beinahekatastrophen um ihre jüngeren Geschwister. Distanz vor dem Gefühl, viel mehr als Heimat verloren zu haben. Distanz zu Therapie und Zwängen, aus denen sie sich nur selbst befreien kann.

Ich bin manchmal nicht ich, sagt Ava, es tut mir leid.

Die Feldstation des Reservats (Das Beinn Eighe National Nature Reserve) liegt unweit des kleinen schottischen Dorfes Kinlochewe an der Westseite des Landes mit Sicht auf Loch Maree. Ava will dort Ruhe finden, um einen Weg, vielleicht einen Ausweg zu finden. Gegen den Willen fast aller, trotz der Bedenken Pauls, ihres Freundes, der nicht verstehen will und kann, dass man Probleme gemeinsam lösen kann. Paul ist Polizist, daran gewöhnt und daraufhin geschult, dass man Probleme anpacken soll. Ava und Paul sind seit ewig ein Paar. Ava kam als junges Mädchen in Pauls Familie, ausgesiedelt aus einer Familie, der der Boden entzogen wurde. Paul, zuerst mehr ein grosser Bruder, acht Jahre älter, wird Vertrauter, Freund. Und als Ava Studentin wird, ziehen sie zusammen, in eine kleine Mansardenwohnung. Aber nicht nur die Wohnung wird Ava schnell zu eng. Es ist die Vergangenheit, die sich nicht abschütteln lässt, auch wenn Ava sich den Fragen verweigert.

Sorgen, sagt Ava, ich mag es nicht, wenn man mit Fesseln anlegt.

Ava kämpft. Sie kämpft mit sich und der Entscheidung, ob sie ihr ungeborenes Kind behalten kann oder nicht. Sie kämpft gegen die Geister aus der Vergangenheit, die selbst ihre Träume dominieren. Sie kämpft gegen die Liebe, weil sie ihr nicht traut, weil sie sich fürchtet, damit neuen Katastrophen Platz zu geben. Sie kämpft mit Fragen an Die Welt, ohne je eine Frage an sie selbst zuzulassen. Aber sie kämpft vor allem gegen sich selbst. Ein Kampf, der sie letztlich in Lebensgefahr bringt. Ava will in ihrer Enge Weite spüren, das Meer, dieses verlorenen Gefühl Everything is going to be alright.

Anna Stern schrieb einen facettenreichen Roman, bildstark, verspielt und mit grosser Sogwirkung. Ein Roman, der die Umweltwissenschaftlerin nicht ausklammert, voller Engagement für alles, was Leben bedeutet, für die grossen Fragen der Zeit und die ewig grossen Fragen des Menschseins, Fragen die Ava seit ihrer Kindheit an das Leben stellt. So wie Ava (Avis hiesst Vogel) mit zwei ungleich farbigen Augen sich weder der Vergangenheit noch der Zukunft stellt, so ungleich sind Lee und Luv ihres Lebens, von abweisender Kälte wie die Winde in Schottland bis irritierende Wärme wie unter der Decke zusammen mit Ava. „Wild wie die Wellen des Meeres“, eine Collage aus Realität und Traum, Songtexten und Briefen, Familienfotos und Polaroid-Bildern, Notizen und Erzähltem.

Anna Stern, geboren 1990 in Rorschach, lebt in Zürich. Studium der Umweltnaturwissenschaften an der ETH Zürich. Seit 2018 Doktorat am Institut für Integrative Biologie. 2017 Teilnahme an der Kunstausstellung EAM Science Meets Fiction mit den Kurzgeschichten «Karte und Gebiet» und «Quecksilberperlen». 2014 erschien ihr erster Roman «Schneestill», 2016 «Der Gutachter», in dem Ava Garcia und Paul Faber zum ersten Mal auftauchen (beide Salis). 2017 folgte der Erzählband «Beim Auftauchen der Himmel» bei lectorbooks. Die Arbeit am neuen Roman wurde von der Pro Helvetia und dem Kanton St. Gallen mit Werkbeiträgen unterstützt.

Anna Stern liest an den Wortlaut-Literaturtagen 2019 in St. Gallen, vom 28. – 31. März. Moderiert wird die Lesung von Gallus Frei.

Webseite der Autorin

Beitragsbilder aus dem Roman, mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags. Vielen Dank! © Anna Stern (Titelbild: © Anna Stern, nach leagueoflostcauses.com)

Buchpremière mit Anna Stern im KOSMOS Zürich

Mal rückwärts, mal vorwärts und voll lyrischer Lakonie erzählt Anna Stern in ihrem dritten Roman die Geschichte eines jungen Paares von ihrem vermeintlichen Ende hin zu ihren Anfängen. Sie legt damit einen beeindruckenden Text über den Umgang mit Trauer, die Unausweichlichkeit der Vergangenheit und die trügerische Authentizität von Erinnerungen vor.

Gerne laden wir Dich zur Buchvernissage im Buchsalon des KOSMOS ein, am Dienstag 12. Februar um 20.00 Uhr. Anna Stern wird lesen und mit Gallus Frei (literaturblatt.ch) über ihren Roman sprechen, wir offerieren einen Apéro danach.