Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck

Es wird auch an diesem Tag heiss in Berlin. Ruth Lember, angesehene Ethikprofessorin, auf dem Zenit ihres Berufslebens, läuft morgens ihre Runde. Bis ein Hund, ein Biss, ein Mann, ein Couvert sie aus der Bahn wirft. Was wie in Stein gemeisselt schien, zerbröselt. Ulrich Woelk schrieb mit „Mittsommertage“ einen Roman über unsere fiebrig aufgeladene Gegenwart.

Ruth ist in diesen Mittsommertagen durchaus in Festlaune. Da ist nicht nur ihre Berufung als Mitglied des Deutschen Ethikrats. Ben, ihr Mann gewinnt einen Architekturwettbewerb, der Türen und Tore öffnen soll und Jenny, seine Tochter, die er mit in die Ehe brachte, studiert Kommunikation und scheint dort angekommen zu sein, wo sie schon immer hinwollte. Durchaus Glück angesichts dessen, was in der Ukraine passiert, was man in der Pandemie durchzustehen hatte und was sich in der flimmernden Hitzeglocke über der Hauptstadt überdeutlich manifestiert. Ruth spürt genau, dass nichts so ist, wie es scheint, ob im Beruf oder ihrer Ehe, ob mit ihren Idealen oder der scheinbaren  Perfektion ihrer inszenierten Gegenwart.

Als sie in den noch frischen Morgenstunden auf ihrer Laufrunde dem Lietzensee entlang von einem nicht angeleinten Hund gebissen wird, kein schlimmer Biss, aber einer, der mehr als nur zwei kleine Wunden hinterlässt, scheint etwas förmlich angestochen zu sein. Ein jahrzehntelang ruhender Einschluss der Zeit, der sich wie ein aufgestochener Furunkel als Gift in ihrem Körper, ihrem Sein, ihrer Gegenwart verteilt. Was mit einem harmlos scheinenden Biss seinen Anfang nimmt, entzündet sich mehr und mehr, bricht auf, bis Ruth gezwungen ist, ihr Leben nicht bloss zu überdenken, sondern neu zu ordnen.

Ulrich Woelk «Mittsommertage», C. H. Beck, 2023, 284 Seiten, CHF ca. 36.90, ISBN 978-3-406-80652-0

Den Biss des Hundes bekommt Ruth nach anfänglichem Zögern mit Hilfe von Antibiotika in den Griff. Aber als zuerst bei einer Vorlesung ein älterer Mann im Hörsaal sitzt, den sie nicht einordnen kann und dieser ihr wenig später noch einmal in einer Strassenbahn schräg gegenübersitzt und schlussendlich an der Tür ihres Büros an der Uni klopft und wie ein Geist aus einer vergessenen Vergangenheit auftaucht, schwant Ruth, dass sich etwas ausbreitet, das zu einem Gift werden kann. Denn Ruth spürt, dass ihr Leben eine Dynamik angenommen hat, der sie kaum mehr etwas entgegenhalten kann. Aus den Idealen der Vergangenheit ist satte Zufriedenheit geworden. Aus der Liebe mit Ben ein gut inszeniertes Nebeneinander ohne Leidenschaft und Zärtlichkeiten. Aus der Gegenwart einer 55jährigen erfolgreichen Professorin ein Leben in Zwängen und Mechanismen.

Der Mann, der in ihrem Büro auftaucht, ist Stav. Als Ruth jung war, auf der Suche nach Antworten, als man sich gegen Atomkraft und die Macht der Konzerne auflehnte und nach Wegen suchte, sich dem Unausweichlichen entgegenzustellen, war Stav nicht nur ihr geheimer Freund und Liebhaber, sondern Kampfgenosse. Er sei wieder augetaucht, weil er ihr übergeben wolle, was von jenem Kampf übrig-, zurückgeblieben sei, ein Umschlag mit Fotos, Plänen und Bekennerschreiben, den Spuren eines Geheimnisses, das Ruth eigentlich begraben geglaubt hatte, einem Geheimnis, von dem niemand wusste, auch Ben ihr Mann nicht.

Was Klimaaktivisten zur Strategie erklären, war Ruth damals Programm. Was ihrer Ziehtochter Jenny als Notwendigkeit erscheint und einer ganzen Generation den Atem raubt, schlummerte wie eine hart gewordene Pustel unter der gepuderten Gegenwart von Erfolg und aufgesetzter Zufriedenheit. Es ist heiss über der Stadt, fiebrig heiss. Was sich unter Ruths Haut in ihrem ganzen Körper ausbreitet, ist ein Gift, das sie zu Fall bringen droht, das alles mit sich in die Tiefe reisst. Ruth wird aus ihrem Gravitationfeld katapultiert.

Ulrich Woelk beschreibt, wie sich das Gift langsam entfaltet, wie es den Stein, auf dem Ruth ihre Gegenwart einrichtete und ihre Zukunft sieht, zerbröselt. Und Ulrich Woelk stellt Fragen. Was macht echtes Leben aus? Stellen wir uns dem, was die Zeit von uns fordert, was in der Vergangenheit tief unter den Schichten des Vergessens und Verdrängens modert? Sind wir ehrlich, uns selbst gegenüber und all jenen, von denen wir behaupten, sie zu lieben? Ist das, was wir an Rebellion in jungen Jahren durchleben wie der Biss eines Hundes, den man mit „Antibiotika“ behandeln kann? „Mittsommertage“ ist der Versuch einer Diagnose einer Gegenwart, die in Schieflage geraten ist, von Menschen, die sich nur allzu gerne täuschen lassen wollen.

Interview

In ihrem Roman ist es der Biss eines Hundes. Eigentlich nichts Spektakuläres. Aber mit anderem kombiniert wird der Biss zu einem Teil einer fatalen Kettenreaktion. Viele von uns erleben solche Situationen. Und einer, der wie ich Jahrzehnte joggte, mit Hunden sowieso. Situationen, die eine Lawine auslösen. Lawinen, die alles verändern. Das eine verschütten, anderes freilegen. War ein Hund die Initialzündung zu Ihrem Roman?
Die Ursprünge der Idee zu dem Roman liegen in den Vor-Corona-Jahren 2018 und 2019, als sich Greta Thunbergs Fridays for Future-Bewegung schnell zu einem weltweiten Phänomen entwickelte. Ich musste dabei an meine Studentenzeit denken. Ich hatte in Tübingen in den Achtzigern eine Kabarettgruppe, und „global warming“, wie es damals hiess, und das Ozonloch waren Themen. Dass gut dreissig Jahre später Schüler und Studenten für das Klima auf die Strasse gingen, hat mich beschäftigt. Da wirft die junge Generation der älteren etwas vor, was diese gar nicht anders gesehen hat – jedenfalls in jenen Kreisen, die man seinerzeit mit den Begriffen Alternativkultur oder Ökoszene etikettiert hat. Und aus diesem Widerspruch ist dann so peu á peu die Idee zu „Mittsommertage“ hervorgegangen. Die Szene mit dem Hund entspringt aber tatsächlich meinen Erfahrungen als Gelegenheitswalker. Und irgendwann dachte ich, dass sie ein hervorragender Einstieg in die Geschichte ist, die ich erzählen wollte.

Ruth und Ben zusammen mit seiner Tochter Jenny entsprechen so ziemlich dem „Durchschnittsbild“ einer erfolgreichen, westeuropäischen Familie. Beide haben Karriere gemacht, das Familiengefüge das „Resultat“ mehrerer Beziehungen, man wähnt sich auf der sicheren Seite – bis Ereignisse, die nicht zu steuern sind das doch so filigrane Gefüge mehr als nur ins Wanken bringen. Haben wir auf Sicherheit und Reibungslosigkeit getrimmte Bewohner der „ersten Welt» nicht längst die Bodenhaftung verloren, den Sinn für das „Risiko Leben“?
In der Vor-Coronazeit hätte man das sicher sehr uneingeschränkt behaupten können. Aber die Ereignisse seither – die Pandemie, der Krieg gegen die Ukraine, die wirtschaftliche Unsicherheit – haben schon dazu beigetragen, bei vielen das Gefühl einer unberechenbaren Bedrohung durch äussere Umstände aufkommen zu lassen. Diese Themen bilden den Hintergrund der Romanhandlung im Sommer 2022. Das ist der Ausgangspunkt für Ruth, meine Protagonistin: Die Welt ist diffus instabiler geworden, und nur beim morgendlichen Joggen um den See „kann Ruth sich der Vorstellung hingeben, dass sich überhaupt nichts geändert hat“, wie es gleich zu Beginn heisst. Und in diesem vermeintlich letzten sicheren Refugium passiert dann der Hundebiss, der eine für Ruth so fatale Kette von Ereignissen in Gang setzt.

Ruth hat eine Vergangenheit, die sie für sich beerdigte, von der nicht einmal Ben etwas wusste. Sie schleppt einen Teil ihres Lebens herum, der unter Verschluss hätte bleiben sollen. Eine Vergangenheit im „radikalen Widerstand“.  Ist dieser Hundebiss letztlich nicht ein Glück? Er beisst etwas auf.
So kann man das rückblickend natürlich sehen. Aber immerhin kommt Ruth nach dem Biss durch einen anaphylaktischen Schock beinahe ums Leben. Bis zu diesem Zeitpunkt konnte sie mit der Verdrängung ihrer Vergangenheit recht gut, erfolgreich und glücklich leben – abgesehen vielleicht davon, was ja immer mal wieder an ihr nagt, dass sie kein eigenes leibliches Kind hat. Auch das ist eine Folge ihrer Vergangenheit und der Tatsache, dass sie Karriere als Philosophie-Professorin gemacht hat und zum Mitglied in den Deutschen Ethikrat berufen wird. Doch da sie sich mit der Tochter ihres Mannes sehr gut versteht, ist sie mit sich im Reinen. Jenny kommt mit Ruth in politischer Hinsicht sogar besser klar als mit ihrem Vater, der für Klimakleber und Gendersprache nicht besonders viel übrig hat. Dass dieses berufliche und familiäre Gefüge, in dem Ruth sich gut eingerichtet hat, am Ende einzustürzen droht – das ist für sie zunächst mal eine Katastrophe. Als Erzähler gewähre ich ihr am Schluss aber eine Art Lichtblick. In jedem Ende liegt ja auch ein Anfang, das stimmt. Doch ob von Ruths bisherigem Leben noch etwas zu retten ist, lasse ich bewusst offen.

Jenny ist jung und wie viele aus ihrer Generation sehr wohl aufgeschreckt durch die Klimaprotestaktionen in Städten und Ballungszentren. Ich glaube, sie spürt wie viele, dass es unmöglich sein kann, dass das Weltgeschehen ohne Kurswechsel an einer globalen Katastrophe vorbeischrammen kann. Warum traut sich Ruth nicht, ihren Panzer aus Sicherheit und Angst zu verlassen?
Es ist ja sehr menschlich, dass man versucht, an dem, was gut funktioniert hat, so lange wie möglich festzuhalten. Die Anzeichen, dass etwas nicht mehr stimmt, kommen für Ruth sehr schleichend. Sie spürt, dass ihrer Ehe allmählich der Schwung abhanden kommt. Als Jenny auszieht, ist das Leben mit Ben ungewohnt und nicht so frei, wie beide sich das vorgestellt haben. Es hat für sie als Paar nie eine Zeit ohne Jenny gegeben. Die äusseren Veränderungen stellen Ruths Leben aber nicht gleich auf den Kopf. Es gibt für sie einfach nicht den Punkt, alles radikal infrage zu stellen. Und dann kommt es in dieser Woche, von der ich erzähle, in wenigen Tagen zum Einsturz ihres Lebenssystems. Der Hundebiss ist der berühmte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.

Stav taucht auf. Der Mann aus der Vergangenheit. Eigentlich der perfekte Gegenentwurf zum Leben von Ruth und Ben. Selbst ich als Leser traute ihm zu Beginn alle möglichen bösen Absichten zu, weil er ausgerechnet in dem Moment, wo Ruth in den Fokus einer grossen Öffentlichkeit tritt, mit brisanten Zeugnissen aus der Vergangenheit auftaucht. War meine Lesereaktion eine von Ihnen „programmierte» Absicht
Als Autor war mir bewusst, dass Stav zu Beginn, da man seine Absichten noch nicht kennt, als ambivalente Person in Erscheinung tritt und sich damit ein Spannungsmoment verbindet. Es ist ein klassisches Motiv des Erzählens. „Der unheimliche Gast“ bei E.T.A. Hoffmann oder der Landbesitzer Pozzo in „Warten auf Godot“. Beim Lesen oder Zuschauen weiss man, diese Figuren bringen etwas in Bewegung – auch wenn diese Bewegung bei Beckett als einem Vertreter der Moderne komplett ins Leere läuft. Als Autor fühle ich mich dem Erzählen literarisch mehr verbunden als dem Formalen. Bestimmte Dinge werden immer unser Interesse wecken: Die Tür geht auf, und man fragt sich, wer hereinkommt? Da sieht man hin.

Sind wir eine Gesellschaft der Opportunisten geworden?
Ich denke, es hat zu allen Zeiten beides gegeben: Opportunismus und Überzeugungshandeln. Es ist sogar so, dass aus dem einen das andere hervorgehen kann. Die Umweltbewegung ist dafür auch ein Beispiel: Die Anfänge dieser Bewegung aus den Siebziger- und Achtzigerjahren waren eine von tiefen Überzeugungen getriebene Entwicklung. Mittlerweile – das jedenfalls ist mein Eindruck – sind eine Menge Opportunisten auf den Zug aufgesprungen. Es kostet nicht mehr viel, für Umwelt- und Klimapolitik einzutreten, es ist fast schon wohlfeil. Man hat den Eindruck, alle sind dafür, und trotzdem wird weiter Auto gefahren, ungebremst konsumiert und in den Urlaub geflogen. Das schürt Frustrationen, Ärger und Ängste.
Eines kann man aber sagen: Ruth ist sich dieser Problematik bewusst. Es ist ihr wichtig, ihre Handlungen und Überzeugungen immer wieder daraufhin zu überprüfen und zu hinterfragen, ob sie nicht auch längst einem opportunistischen Prinzip folgen. Dass sie sich immer wieder auch in Frage stellt, verbindet mich als Autor mit ihr. Am Ende gesteht sie sich ein, dass sie zu dem Stehen muss, was ihr widerfahren ist. Sie schiebt die Schuld nicht anderen in die Schuhe. Als Autor muss ich immer auch ein Teil meiner Figuren sein, ich muss sie in mir aufspüren können. Und das ist bei Ruth so.

Ulrich Woelk (1960) lebt als freier Schriftsteller in Berlin. Er studierte Physik und Philosophie. Sein erster Roman «Freigang» erschien 1990. Zuletzt veröffentlichte er mit großem Erfolg den Roman «Der Sommer meiner Mutter«, der auf der Longlist des deutschen Buchpreises stand und in mehrere Sprachen übersetzt wurde. Für die Fertigstellung von «Für ein Leben» erhielt Ulrich Woelk den Alfred-Döblin-Preis.

Ulrich Woelk «Planetenschreiber 1: Merkur», Plattform Gegenzauber

Ulrich Woelk «Nacht ohne Engel», Rezension auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bettina Keller

Yves Ravey «Taormina», Liebeskind

Ein Ehepaar fliegt nach Sizilien. Es sollen nicht nur ein paar Tage Ferien werden. Die Tage sollen die Ehe, oder was davon übrig geblieben ist, retten oder wenigstens kitten. Aber schon auf dem Weg zum Hotel werden die Tage zu einer Katastrophe, die das Paar in ihren Grundfesten erschüttert.

Der Roman „Taormina“ zählt etwas mehr als hundert Seiten. Auch wenn Yves Ravey die Dimensionen dieser Katastrophe nicht episch ausrollt, sticht das Geschriebene mitten ins Herz. Nicht nur wegen der Intensität und der maximalen Verknappung, sondern weil es Yves Ravey schafft, auf diesen wenigen Seiten gleich mehrere gesellschaftliche Themen zur Kernschmelze zu bringen.

Luisa und Melvil haben Ferien dringend nötig. Ziel ist die antike Hügelstadt Taormina an der Ostküste Siziliens. Eine Woche in einem feinen Hotel mit Ausflügen im Mietauto nach Catania und Syrakus. Die Zeit vor dem Kurzurlaub war nicht nur beruflich belastend. In der Ehe der beiden schwelt der Konflikt. Man ist dünnhäutig geworden. So wie auf der Insel ein Vulkan noch dosiert ausbricht, so speit jeder in dieser Ehe gerade so viel Gift und Galle, dass es nicht zum grossen Ausbruch kommt. Die Woche auf Sizilien soll eine Atempause sein, eine Möglichkeit, mit der Versöhnung wenigsten zu beginnen, Ruhe zwischen sie zu bringen.

Nachdem sie am Flughafen das Mietauto in Empfang genommen hatten, fahren sie Richtung Taormina. Es ist schon spät, die Nächte im Hotel bezahlt. Man erwartet sie. Aber weil Melvil genau spürt, dass er sich in diesen Tagen an den Wünschen seiner Frau orientieren muss, fährt er von der Autobahn ab, weil Luisa, das Meer nicht nur sehen, sondern spüren will. Aber der Schotterweg Richtung Meer entpuppt sich als Weg ins Nirgendwo, vorbei an Bauschutt, durch schlammige Pfützen. Melvil nippt an einer provisorischen Bar, die an Werktagen wahrscheinlich Bauleute bewirtet, einen Espresso, während Luisa in der anbrechenden Dämmerung einen Weg zum Wasser sucht.

Yves Ravey «Taormina» Liebeskind, 2023, aus dem Französischen von
Holger Fock und Sabine Müller, 112 Seiten, CHF ca. 28.90, ISBN 978-95438-168-5

Und dann, beide schon leicht genervt, wieder im Auto auf dem Weg zurück auf die Strasse nach Taormina, rumpelt es mit einem Mal. Melvil am Steuer für einen kurzen Moment unkonzentriert, Luisa durchgefroren, weil sie Regen und Wind zurück ins Auto trieb. Beide spüren den Ruck, wissen im Moment des Aufpralls, dass sie hätten stehen bleiben sollen. Aber so wie es in ihrer Ehe schon lange kein Innehalten mehr gab, weil man sich nicht aufhalten lassen wollte, weil man dachte, das eigene Leben nie aus der Selbstbestimmung geben zu wollen, fahren sie weiter, das Schlimmste ahnend, sich gegenseitig beschwichtigend.

Am nächsten Morgen, nach einer kühlen Nacht im Mietauto, kommen sie im Hotel an. Mittlerweile haben sie aus der Presse erfahren, dass an der Küste ein Flüchtlingskind zu Tode gefahren wurde. Zwischen den beiden breitet sich eine klebrige Suppe aus gegenseitigen Vorhaltungen und Beschuldigungen aus. Man beschwichtigt und tröstet sich mit fadenscheinigen Argumenten, es müsse doch gar nicht ihr eigenes Unglück gewesen sein. Aber weil Melvil alles daran setzt, in einer Autowerkstatt den Schaden ungeschehen machen zu lassen und der Garagist sehr wohl merkt, dass der Fremde mit seinem Ansinnen finanziell leicht zu schröpfen ist, als die Polizei in ihr Hotelzimmer eindringt, das Geld langsam knapp und die Gereiztheit zwischen den Eheleuten unerträglich wird, zieht sich die Schlinge immer enger zu.

Ein Flüchlingskind wir durch Touristen zu Tode gefahren. Korrupte Polizisten, gierige Handwerker, falsche Freunde. Wann wird aus dem Unglück Katastrophe? Warum schafft man es nicht, im richtigen Moment vom falschen Zug abzuspringen, einer unweigerlich desaströsen Dynamik zu entfliehen? Warum wollen wir uns mit Beschwichtigungen trösten? Warum ist es so schwierig, Fehler einzugestehen?

Luisa und Melvil rasen auf einen Abrund zu. Und selbst in jenen Momenten, in denen sie wissen müssten, dass der Pfeil längst abgefeuert ist, halten sie sich an einer Hoffnung fest, die den Zustand unserer Gesellschaft widerspiegelt. „Taormina“ von Yves Ravey tut weh, muss wehtun.

Yves Ravey, 1953 in Besançon geboren, arbeitete lange Jahre als Lehrer an einer Mittelschule. Er ist Autor von siebzehn Romanen, für die er mehrfach ausgezeichnet wurde. Seine Theaterstücke kamen in Frankreich an vielen renommierten Bühnen zur Aufführung, u.a. an der Pariser Comédie-Française und am Théâtre national de Marseille. Auf Deutsch erschienen bislang die Romane «Bruderliebe» (2012) und «Ein Freund des Hauses» (2014).

Sabine Müller studierte Ethnologie, Malaiologie und Soziologie an der Universität zu Köln, sowie Indonesisch an der Gadjah Mada Universität in Yogyakarta. Sie ist sowohl als Übersetzerin für Englisch und Indonesisch als auch als Redakteurin in Köln tätig.

Holger Fock, geboren 1958 in Ludwigsburg, studierte Theaterwissenschaft, Germanistik und Philosophie und übersetzt seit 1983 französische Literatur, zuletzt zusammen mit seiner Frau Sabine Müller «Kompass» von Mathias Énard, was ihm die Nominierung für den Preis der Leipziger Buchmesse 2017 einbrachte. 2011 erhielt er den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis.

Beitragsbild © Mathieu Zazzo

Robert Seethaler «Das Café ohne Namen», Claassen

Einmal im Leben allen Mut fassen und jenen Schritt wagen, der einem etwas von jenem Glück bringt, dass überall zu spriessen scheint. Robert Seethales Roman „Das Café ohne Namen“ ist die Geschichte eines Mannes, der sich am Glück durch seine Gegenwart hangelt, zurückhaltend erzählt aber mit viel Liebe für jene, denen das Siegen nicht in die Wiege gelegt ist.

Wer Bilder aus den letzten Jahren des Krieges und der Nachkriegszeit in den Grossstädten Deutschlands sieht und jene des Krieges jetzt in der Ukraine, kann sich kaum vorstellen, dass dereinst wieder ganz „normale“ Leben an jenen Orten stattfinden kann. Auch grosse Teile der Stadt Wien standen in Schutt und Asche. Ein Jahrzehnt stand die Stadt unter Zwangsverwaltung der Siegermächte. Aber noch ein Jahrzehnt später, in der Zeit, in der Robert Seethalers neusten Roman zu spielen beginnt, schien in der Stadt an der Donau alles im Umbruch, alles möglich. Wer es sich zutraute, wagte den Schritt in die Selbstständigkeit. Die Zukunft schien rosig, die Vergangenheit, das Versagen der Väter wollte man hinter sich lassen. Eine Generation später wuchs aus den Trümmern eines verlorenen Krieges, aus den Trümmern einer Idiologie ein scheinbar neuer Mensch, ein scheinbar neues Bewusstsein. Überall wurde gebaut, die Wirtschaft prosperierte.

Simon, der den Krieg bloss noch als Kind erlebte, dessen Eltern ihre Leben auf ganz unterschiedliche Art und Weise an den Krieg verloren. Sein Vater satrb den Heldentod im Feldlazarett, seine Mutter kurz danach an einer Blutvergiftung. Simon verdient sein Brot, sein Bett mit Gelegenheitsarbeiten auf dem Markt; mal dort etwas helfen, hier was austragen. Es reicht grade so, um über die Runden zu kommen. Man mag ihn, nimmt seine Hilfe gerne in Anspruch, nicht zuletzt deswegen, weil er nicht jede Hilfeleistung mit Geld vergolten haben will. Er ist zufrieden, auch wenn er weiss, dass es nicht ewig so weitergehen will, erst recht dann nicht, wenn weil dereinst das Glück auch auf seiner Seite stehen soll.

Robert Seethaler «Das Café ohne Namen», Claassen, 2023, 288 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-546-10032-8

Frisch einquartiert bei einer Kriegswitwe übernimmt er ein leerstehendes Café nicht weit vom Markt, auf dem er als Gelegenheitsarbeiter sein Auskommen fand. Ein heruntergekommenes Gefiert, schmutzig, wenig versprechend. Aber Simon weiss, dass es seine Chance sein muss. Kaffee, Limonade, Himbeersoda, Wein und Bier, Schmalzbrot mit oder ohne Zwiebel, Essiggurken und Salzstangen – nicht viel. Und weil ihm kein Name richtig erscheint, bleibt das Café jenes ohne Namen.

Auch wenn die Anfangszeit schleppend verläuft, entwickelt sich das Café mehr und mehr zu einem Treffpunkt all jener, denen im Leben ein Stück Zuhause fehlt, aber auch jener unruhigen und mutlosen Seelen, die in der aufstrebenden Stadt durch die Maschen fallen, traumaisiert von ihrer Vergangenheit, fallengelassen von der Gegenwart, erschlagen von der Zukunft. 

Die noch junge Mila wird zu seiner Hilfe und irgendwann gelingt es Simon gar, einen Tag in der Woche nicht im Schankraum zu erscheinen, um an der Donau dem Wasser zuzuschauen. Er freundet sich mit dem Fleischermeister auf der anderen Seite der Strasse an, dessen Familie ungewollt mehr und mehr wächst, dessen Frau abzudriften droht und einer Geschäft, das von den ersten Supermärkten arg in Bedrängnis gerät. Nicht alle in Wien gehören zu den Gewinnern. Auch Simon nicht.  Oder Renè Wurm, einem der Ringer vom Neumarkt, die in inszenierten Schaukämpfen vom grossen Geld, von einer Karriere in Amerika träumen. Ein grosser, schwerer Mann, furchteinflössend aber mit der grossen Sehnsucht nach Nähe und einem Ort, der sein Zuhause ist. Oder mit der Witwe, bei der Simon sein Zimmer hat, einer Frau, die in ihrer Vergangenheit hängengeblieben ist und immer mehr in eine fortschreitende Demenz taumelt.

Was Robert Seethalers Roman lesenwert macht, ist die Leichtigkeit seines Erzählens. Ein ruhiger Streifzug durch die Stadt Wien um 1970. Man riecht den alten Mief in den Gassen. Man friert mit, wenn der alte Ofen aussteigt oder gar explodiert. Man sieht in Lumpen gekleideten Gescheiterten, die über dem ewig gleichen Glas in einer schummrigen Ecke des Cafés ihr Dasein aussitzen. Man begleitet diesen freundlichen, zurückhaltenden Mann, der ein Café betreibt wie damals seinen Dienst am Markt. Robert Seethalers Roman ist Denkmal all jener, die an der Seite der Verlierer das Leben meistern. Die Menschen, die in dem Café ein Stück Zuhause, ein Stück Heimat und Geborgenheit finden, sind Archetypen. Er erzählt einfach und süffig, ohne Effekthascherei, so unverkrampft und leicht, dass mich das Lesen für einmal in einen fast tranceartigen Zustand versetzt, ohne die harten Schickale jener Zeit schönzureden.

Robert Seethaler, geboren 1966 in Wien, ist ein vielfach ausgezeichneter Schriftsteller und Drehbuchautor. Seine Romane «Der Trafikant» (2012), «Ein ganzes Leben» (2014) und «Das Feld» (2018) wurden zu grossen internationalen Publikumserfolgen. Seine Bücher wurden in über 40 Sprachen übersetzt. Mit seinem Roman «Ein ganzes Leben» stand er auf der Shortlist des International Booker Prize. Zuletzt erschien von ihm der Roman «Der letzte Satz» (2020) bei Hanser Berlin. Robert Seethaler lebt in Berlin und Wien.

Beitragsbild © Urban Zintel

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen», Limmat

Sarah Elena Müller zu Gast im Literaturhaus Thurgau

Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.

Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5

Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.

Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin im Literaturhaus Thurgau.

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat

Anna Ospelt ist eine Meisterin der Miniatur. Sie malt mit scheinbar schnellem Strich Bilder, die sich einbrennen und hängen bleiben, öffnet Türen und grosse Fenster, die Verborgenes, Vergessenes, Verlorenes zeigen. Sie schreibt Bilder, die die Kraft des ganz Grossen bergen.

Anna Ospelts zweites Buch nach „Wurzelstudien“, mit dem sie sich mit ihrer Herkunft beschäftigte, eine lyrische Selbstbetrachtung durch die Natur, das Sichtbare hindurch ins Unsichtbare, die Erinnerung, jenem Wurzelgefüge, das das Woher beschreibt, legt die Dichterin mit „Frühe Pflanzungen“ eine eigentliche Fortsetzung vor. Wieder spielt die Natur, spielen Pflanzen, das Leben um sie herum eine wichtige Rolle. Aber in ihrem neusten Buch richtet sich der Blick noch mehr gegen innen. Weil da ein neues Leben wächst, weil ein Leben zu pulsen beginnt, das eine Mutter in einen ganz neuen Zusammenhang verwebt. Weil die Mutter spürt, wie verletzlich diese Zweisamkeit ist.

Ich sticke auf dem Stoff meiner Grossmutter, mit dem Faden meiner Mutter.

Ich bin ein Mann. Und vielleicht trifft mich dieses Buch gerade deshalb auf eine eigenartig empfindliche Weise. Mutterschaft und Vaterschaft unterscheiden sich diametral. Ich kann als werdender Vater ein Dutzend Bücher über Schwangerschaft, Geburt und Mutterschaft lesen. Ich kann unsäglich viele Dokus schauen. Ich bleibe aussen vor. Diese Erfahrung der Weltverbundenheit streife ich bloss. Ich bin Begleiter, Mittragender, Verbündeter. Meine Rolle als Vater ist nicht jene des Werdenden. Ich muss meine Rolle erobern, mich darum bemühen. Vielleicht ist die Lektüre von Anna Ospelts Buch deshalb so bewegend, weil mir dieser literarische Zugang zum Mutterwerden und Muttersein einen Blick eröffnet, der mir als Begleiter, Mittragender, Verbündeter sonst in dieser Intensität verborgen bleibt.

Es fehlt mir an Selbstsicherheit. Diese Frau mit dem Kind muss ich erst kennenlernen. Sie wurde ja gerade erst Mutter.

Anna Ospelt «Frühe Pflanzungen», Limmat, 2023, 96 Seiten, CHF 28.00, ISBN 978-3-03926-052-2

Anna Ospelts Miniaturen sind das Hineinhören selbst. Aber kein verklärtes, kein erklärendes oder wertendes und schon gar kein klagendes, auch wenn man sehr wohl spürt, wie viel Kraft und Zeit absorbiert wird, wie schwer es sein und werden kann, wenn frau sich im Alltag die Momente abstehlen muss, in denen sie sich Zeit gibt, das zu dokumentieren, festzuhalten, was als beschreibende, zeichnende, malende Stimme nach Form sucht.

Heuer ist kein Eicheljahr.
Und doch eines in Erzählkapseln.

In „Frühe Pflanzungen“ schreibt Anna Ospelt auch von „Wasserkindern“. Von Fehlgeburten, einem eigentlichen Unwort, denn nichts an solchen Kindern ist Fehler, gefehlt oder verfehlt. Der japanische Ausdruck für Fehlgeburten beschreibt „Kreaturen, die nie den ersten Ozean verlassen“. Anna Ospelt lauscht jenen Ungeborenen, „Nicht-werden-wollenden“, lauscht dem Schmerz der Machtlosen. Verknüpft mit Pflanzen- und Naturbetrachtungen schreibt Anna Ospelt in Bildern, die bei mir als Leser Verbindungen provozieren, die mich mit einer ganz eigenen Art des Sehens, Fühlens, Spürens konfrontieren.

Sehe wunden Wald.
In den Himmel gebäumtes Wurzelwerk.

Vielleicht müsste man sich jeweils zwei dieser Bücher kaufen. Eines, das ich lese und eines, das ich in Schnipsel zerreise, die ich überall dort hinterlasse, wo mich das Bleiben zum Denken zwingt. Anna Ospelts Notate verbergen hinter Banalem Hallräume. Viele dieser Miniaturen sind Auseinandersetzungen, solche mit dem Ich, mit einem wachsenden Du, mit der Zeit, mit Herangetragenem, Aufgeschnapptem, Mitgenommenen. 

Interview

Momentan liest man viel über Mutterschaft, Familie, das Nebeneinander von Elternschaft und künstlerischer Arbeit. Verweise über ihre Lektüre solcher Bücher in ihrem eigenen Buch gibt es manche. Und doch ist ihr Zugang zu diesem Thema ein geanz anderer. Sie fächern nicht auf, zerlegen nicht, breiten nicht aus. Sie konzentrieren, fokussieren. Vordergründig scheint ihre Art des Schreibens auch ein situationsbedingter Zwang zu sein. Gleichzeitig aber auch eine ganz eigene Art des Sehens, Spürens und Fühlens. Wie tauchen solche Miniaturen aus dem Einerlei des Alltags auf?

Sie tauchen leider nicht einfach so auf. Das weiss ich, da sie, die Miniaturen allzuoft untertauchen (und mit ihnen die Sprache). In den letzten rund vier Monaten habe ich zB. nicht geschrieben, mir haben der Schreibanlass, der Rahmen, der aufgeräumte Raum, die fokussierte Zeit gefehlt. Nun hab ich wieder eine Richtung eingeschlagen und versuche, täglich zu schreiben. Seit ein paar Tagen rollt es wieder, aber davor musste ich die Buchstaben regelrecht am Nacken packen und sie haben sich nur gesträubt, sodass ich sie erstmal sein liess. 

Aber zurück zur Frage: Damals, als ich den Stoff des Buchs schrieb, habe ich mehr oder weniger täglich geschrieben. In der Schwangerschaft versuchte ich, ein tägliches Haiku zu verfassen. Danach, im Wochenbett, habe ich schlicht notiert. Mal mehr, mal weniger, aber eigentlich täglich, bereits zwei Tage nach der Geburt. (ja, dort wahrscheinlich etwas zwanghaft, aber ein sehr wohltuender Zwang, es war mein Zugang zu der denkenden Anna, deren Körper im Moment hauptsächlich gefragt war.) 

Und nach dem Wochenbett schrieb ich wieder öfters Elfchen. Die Haiku haben da nicht mehr so gut gepasst, waren zu streng in ihrer Form. Da kleine Babys öfters am Tag ein kurzes Schläfchen machen, war das eigentlich der ideale Rahmen zum Schreiben. (nicht nur, natürlich, aber oft) Du spazierst, das Kind schläft ein, du zückst dein Lesebuch oder Notizbuch, wenn das Kind aufwacht, spazierst du wieder heim (es war in meinem Fall ein sehr milder Frühling, ein schöner Sommer).

Wir katologisieren und schubladisieren dauernd. Vielleicht rührt meine Betroffenheit bei der Lektüre Ihres Buches auch darin, dass ich mich als Mann mitgenommen und für einmal nicht getadelt fühle. Öffnen Sie bewusst? Wollen Sie es?

Spontan dachte ich: darüber habe ich mir nicht gross Gedanken gemacht.
Das stimmt allerdings nicht, im Nachhinein wirkt alles so leicht und man vergisst die Arbeit am Text, das Sitzleder, das er erfordert, eingefordert hat. 
Aber tatsächlich: über Männer habe ich gar nicht soooo viel nachgedacht. ☺ Es hätte den Rahmen des Buchs gesprengt, wäre wohl ein Thema für sich. 
Wo ich sehr vorsichtig war, war bei folgendem Thema: Es passiert oft, dass man andere, insbesondere Eltern von gleichaltrigen Kindern, «schubladisiert», sich automatisch mit ihnen vergleicht und vorschnell wertet. Das tue ich genauso wie jeder und jede andere, wenngleich ich versuche zu reflektieren. 
Im Text habe ich das besonders in Bezug auf Mütter versucht aktiv zu vermeiden. Im Text soll sich jede und jeder aufgehoben fühlen, egal, wie man seinen Alltag in Bezug auf Rollenbild, Erwerbsarbeit, Kinderbetreuung etc gestaltet. In unserer Gesellschaft wird da oft zu eindimensional gedacht und man wird als junge Eltern sowieso andauernd in Frage gestellt (nicht zuletzt von sich selbst) – das wollte ich nicht auch noch tun. 

Ich beschäftige mich derzeit, beginnend erst, mit Fragen zum Thema Zeit. Zeit im Gegensatz zur Geschwindigkeit und finde diese Frage sehr politisch, auch im Zusammenhang mit Care-Arbeit, über die Elternschaft hinaus. (Care Arbeit für Mitmenschen, Care Arbeit für die Umwelt usw.)
Ich habe also nicht gegen Männer angeschrieben, sondern gegen das Idealbild der sich aufopfernden Mutter. Das in unserer Gesellschaft konstant reproduziert wird. Und gegen gesellschaftliche Strukturen, die uns alle, ob Eltern oder nicht, viel zu sehr stressen. Wie Zitronen auspressen. 

Ihre Miniaturen erinnern an Aphorismen, eine literarische Gattung, die kaum mehr eine Rolle spielt. Viele ihrer Notate würden selbst isoliert und aus dem Zusammenhang genommen Wirkung erzeugen. Überprüfen Sie die „Wirksamkeit»?

Da viele der Notate ursprünglich Haiku oder Elfchen waren, macht ihr Eindruck viel Sinn. Viele der Notate sind in die Länge gezogene Kürzestgedichte, zu Sätzen zurückgeformte Gedichte, die mal für sich standen und in einem zweiten Schritt erst Teil von etwas Grösserem wurden. 
(Ich hatte nie vor, ein Buch zu machen. Auch wenn es kokett klingt, habe ich erstmal einfach nur geschrieben, dem Schreiben zuliebe. Das Buch als Buch hat sich, als ich meine Notizbücher durchging, regelrecht aufgedrängt.) 

„Frühe Pflanzungen» ist eine sehr sinnliche Auseinandersetzung mit Mutterwerden und Muttersein, diesem langsamen Hineinwachsen in einen „anderen» Zustand. Ist Ihr Buch eine Art Selbstbefragung?

Ich finde es interessant, durch das Schreiben meine Welt für mich lesbar zu machen. Sie zu übersetzen, mich zu übersetzen. 

Muss ich mir Anna Ospelt mit einem Kinderwagen oder Tragetuch vorstellen, wie sie irgendo auf weitem Feld oder mitten im Wald stehenbleibt, ihr Notizheft zückt, eine Weile am Stift «kaut» und dann festhält, was ihr zufliegt?

Ja tatsächlich, allerdings habe ich nicht am Bleistift gekaut ☺ Ich hatte in diesem ersten Jahr mit Kind, in dem ich täglich stundenlang spaziert bin, immer die Schreibsachen dabei und habe Notizen gemacht, sobald die Kleine eingeschlafen ist. Ihre Schläfchen (im ersten Jahr gibt es ja viele davon, kurze) waren meine Schreib- und Lesezeit. 
Übrigens hat meine «Freundin aus Ankara» (die im Text auch vorkommt) beobachtet, als sie im Herbst bei uns war und meine Tochter ihre ersten Wörter sprach, dass sie bei jedem Buch, das sie sieht, «Mama» sagt. Sie ist wohl hunderte Mal aufgewacht und hat als erstes ihre Mutter mit Buch gesehen.
 

Anna Ospelt, geboren 1987 in Vaduz. Studium der Soziologie, Medien- und Erziehungswissenschaften in Basel. Sie publiziert Lyrik und Kurzgeschichten in Literaturmagazinen und Anthologien. Für «Wurzelstudien» erhielt sie u. a. ein Stipendium der Stiftung Kunst + Kultur im Rahmen des Deutschen Preises für Nature Writing und war für den Clemens-Brentano-Preis nominiert. «Frühe Planzung» ist derzeit für den Europäischen Literaturpreis EUPL nominiert. Anna Ospelt lebt in Vaduz.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Helene Bukowski «Die Kriegerin», Blumenbar

Zwei Frauen treffen sich in der Grundausbilung bei der Bundeswehr. Lisbeth steigt kurz vor der Vereidigung aus, während Florentine danach von Einsatz zu Einsatz zieht. So sehr es Lisbeth nicht schafft in einem bürgerlichen Leben Fuss zu fassen, so sehr droht die Gewalt das Leben der Kriegerin zu verschütten. Helene Bukowski schrieb einen Roman, der nicht nur inhaltlich an die Nieren geht.

Wir tragen alle Narben mit uns herum, sichtbare und unsichtbare. Dass Lisbeth an Neurodermitis leidet ist das eine, dass sie sich in Wellen manchmal am liebsten die Haut vom Leib kratzen würde, dass es zum aus der Haut fahren ist – aber Lisbeth erträgt auch jenes Gefühl, dass sie von sich selbst abstösst, nur schwer. Bis sie eines Tages Mann und Kind zurücklässt, „Ich habe etwas im Laden vergessen“ murmelt und die Familie, den Blumenladen, die Stadt, ihr Leben hinter sich lässt. Sie fährt an die Ostsee, findet den Bungalow, wo sie als Kind schon mit ihren Eltern ihre Ferien verbrachte, weil es hiess, es würde ihrer Haut gut tun; die Sonne, das Salz, der Wind. Nicht dass sie Malik nicht mehr lieben würde, schon gar nicht den kleinen Sohn Eden. Es ist ihr Leben. Es ist jenes Leben, das sie weggestossen hatte.

Florentine, die man trotz ihrer Zierlichkeit schon während der Grundausbildung „die Kriegerin“ zu nennen begonnen hatte, zu der Lisbeth wie zu keiner anderen während der Ausbildung Vertrauen gefasst hatte, die zu ihrer Beschützerin geworden war, taucht von Einsatz zu Einsatz. Dorthin, wo es weh tut. Und obwohl die beiden Frauen während Monaten kaum Signale der anderen erreichen, bleiben die beiden verbunden. Nicht bloss durch das gemeinsam Erlebte während der Ausbildung. Auch weil die Freundschaft etwas gab, was es sonst nirgends und bei niemandem zu geben schien.

„Habe ich verlernt, meine Narben zu verstecken?“

Helenę Bukowski «Die Kriegerin», Blumenbar, 2022, 256 Seiten, CHF ca. 33.90, ISBN 978-3-351-05107-5

Lisbeth heuert auf Kreuzfahrtschiffen an, arbeitet dort während langen Monaten in ihrem Beruf als Floristin, zehn Stunden und mehr, sieben Tage in der Woche. Eingesperrt, einer Aufgabe verschrieben, ein bisschen wie damals in der Grundausbildung, als alles Tun fokussiert war, die Aufgaben klar eingegrenzt, jeder Tag ein gleichgrosser Schritt in eine geschiente Zukunft. Den Kontakt zu Florentine verliert sie nie ganz. Zum einen treffen sie sich immer wieder, wenn auch durch stille Monate voneinander getrennt im kleinen Bungalow an der Ostsee oder die Kriegerin schreibt lange Briefe, die so ganz anderes erzählen, als das, was Lisbeth sonst von ihr weiss.

Lisbeth, eine Frau, die ohne Ankündigung Kind und Mann verlässt und nicht mehr zurückkehrt, erst nach Monaten anruft, erst nach Jahren wieder Nähe zulässt. Florentine, von der man den Namen erst im zweiten Teil des Romans erfährt, die sich mit jeder Faser ihres Körpers in der Männerdomäne Militär durchsetzen will, zur Kriegerin wird, einer Soldatin, die in ihrem Heimatland sogar bespuckt wird. Beide stossen ihr Trauma wie einen Sisiphosstein vor sich her, kämpfen an vielen Fronten. Lisbeth gegen Schuldgefühle, ihr Gefühl des Eingesperrtseins, nicht zuletzt in ihrer Haut. Florentine in den Bildern, die sie aus ihren Einsätzen nicht loslassen, die mit jedem Einsatz unerträglicher werden. Bis die grossen Steine mit ihrem Gewicht auf die Frauen zurückzurollen, bis alte, nie vernarbte Wunden aufzuplatzen drohen.

„Findest du es nicht absurd, wie friedlich hier alles aussieht?“

Helene Bukowski beschreibt das klaustrophobische Lebensgefühl der beiden Frauen auf eindrückliche Art und Weise. So wie die Kriegerin Steine sammelt, Einschliessungen der Zeit, so sammelt Lisbeth die Zeichen Florentines Freundschaft; jene Momente der Innigkeit, die Tage im Bungalow an der Ostsee, das Gefühl, mit ihr etwas zu „besitzen“, was ihr nicht zu nehmen ist.

„Die Kriegerin“ spitzt sich mit der Lektüre immer mehr zu. Es ist, als würde ich als Leser immer mehr in ein Geflecht verstrickt, das zeigt, wie sehr unsere Gegenwart in Wirklichkeit von all den mit Idealen zementierten Vorstellungen zugestellt wurde. Ein starker Roman von zwei Frauen, die in ihrer Stärke all ihre Verletzlichkeit einsperren.

Helene Bukowski, geboren 1993 in Berlin, lebt heute wieder in ihrer Geburtsstadt. Sie studierte am Literaturinstitut Hildesheim und leitet neben dem Schreiben auch Kurse und Workshops für Kreatives Schreiben. 2019 erschien ihr Debütroman «Milchzähne», für den sie u. a. für den Mara-Cassens-Preis, den Rauriser Literaturpreis und den Kranichsteiner Literaturförderpreis nominiert war. Der Roman wurde ins Französische und Englische übersetzt und eine Verfilmung ist in Vorbereitung.

Beitragsbild © Rabea Edel

Berni Mayer «Das vorläufige Ende der Zeit», DuMont

Frankfurt an der Oder liegt an der Grenze zu Polen. Horatio Beeltz hatte vorgehabt, von Berlin bis ans Kaspische Meer zu wandern. Aber hängen geblieben ist er auf einem Friedhof direkt an der Grenze zu Polen. Jenes Frankfurt oder besser der Friedhof in Słubice wird zu einem rätselhaften Tor in eine fremde Dimension. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist das gewagte literarische Aufbrechen eines Gravitationsfeldes.

Horatio Beeltz, Verleger und Mitglied einer geheimwissenschaftlichen Gruppe, einer kosmologischen Vereinigung, in die Jahre gekommen und ruhelos. In seinen Studien um das Wesen der Zeit, weiss Horatio Beeltz, dass Zeit kein fliessendes Kontinuum ist von Vergangenheiten, Gegenwart in die Zukunft. Und als er unweit von Frankfurt an der Oder an einem alten, vergessenen Friedhof vorbeikommt, in dem ein Grossteil mit jüdischen Grabsteinen verwildert und verwachsen vor sich hinkrautet, steigt er hinein, weil er einem Geruch folgt, ein bisschen nach Zitrone und ein wenig nach kandierten Walnüssen, ein Geruch, der ihn ahnen lässt. Zwischen schrägen Steinen findet Beeltz einen Riss, einen Riss in der Zeit, ein Ort, an dem die Zeit verletzt worden ist.

Der jüdische Friedhof in Słubice war bis zum zweiten Weltkrieg einer der grössten. Nach dem Massaker wurde er weitgehend vergessen, verwilderte mehr und mehr und wurde gar als Bauplatz für ein Hotel und späteres Bordell genutzt. Aber mittlerweile interessiert sich nicht nur die jüdische Gemeinschaft wieder für den Friedhof, sondern auch die Wissenschaft. So wird die noch junge Archäologin Mi-Ra nach Słubice geschickt, um diesen zu erforschen und begegnet dort nicht nur dem verschrobenen Horation Beeltz, sondern auch dem Friedhofswärter Artur, der sich als ehemaliger Leistungsschwimmer mehr auf diesem Friedhof versteckt, als dass diese Arbeit sein Ziel gewesen wäre. Mi-Ra und Artur sind Versehrte. Mi-Ra Kim, mit koreanischer Migrationsgeschichte, ist aus einer Familie, die ohne ihr Kind flüchtete, aus einer Ehe, die mehr und mehr in Schieflage geraten war und einer Kindheit, die alles zu verlieren drohte – und Artur Arkadiusz in seiner Trauer um seine kleine Tochter, die eine tödliche Krankheit dahingerafft hatte, von seinen Schuldgefühlen, etwas versäumt, nicht getan zu haben.

Berni Mayer «Das vorläufige Ende der Zeit», DuMont, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-8321-8184-0

So treffen sich drei Verlorene in einem verwaldeten Friedhof und Horatio Beeltz verspricht den beiden, mittels psychodelischer Substanzen eine gewisse Zeit den Zwängen der Zeit ein Schnippchen schlagen zu können, eine Chance zu erhalten, in der Vergangenheit etwas anzustossen, mit dem zurück in der Gegenwart in der Zukunft etwas anders werden könnte. Doch man kann nur eine begrenzte Zeit unter Wasser bleiben, bis einem die Luft ausgeht. Bis man wieder nach oben in den lauten Teil der Existenz gezogen wird. Mi-Ra und Artur lassen sich überreden und landen tatsächlich in einer Art Trancezustand in Vergangenheiten, die sich wie reales Leben anfühlen. Sie machen mit, weil sie beide nichts zu verlieren haben, weil sie beide jenen Teil ihres Lebens verloren haben, für den sie lange Zeit alles gegeben hätten. Beiden sitzt ein Trauma im Nacken.

Zeitreisen à la Hollywood interessieren Berni Mayer nicht. Aber der Autor weiss, dass das, was wir als naturgegebene Einbettung erfahren, menschliche Wahrnehmung ist. Eine, die trainiert und als solche längst zur unumstösslichen Wahrheit geworden ist. Obwohl wir seit Einstein und anderen WissenschaflerInnen wissen, dass Zeit kein gleichmässig fliessender Strom ist, dass wir mittels Erinnerungen und Trancezuständen sehr wohl in der Lage sind, die Gesetzmässigkeiten der Zeit auszuhebeln, trauen sich nur wenige an ein Gedanken- und Handlungsexperiment wie Berni Mayer. Es entwickelt sich zwischen den dreien ein angespanntes Hinundher zwischen Hoffnung und Ernüchterung, zwischen Angst und Erwartung.

„Das vorläufige Ende der Zeit“ geht als Roman weit über die Frage hinaus, was man hätte anders entscheiden können. Im Roman wird gezeigt, was Schuld anrichten, wie sehr Schuld sich zu einem Berg auftürmen kann, der sich mit grösster Willenskraft nicht entfernen lässt. Einzig vielleicht durch ein Anschupsen in der Zeitachse. „Das vorläufige Ende der Zeit“ ist mutig!

Interview

In Filmen sind Zeitreisen kein seltenes Motiv, auch in Kinder- und Jugendromanen. Aber in der Belletristik, für ein „anspruchsvolleres“ Publikum, scheint man sich vor dieser Thematik förmlich zu hüten, obwohl sich die Wissenschaft schon genüsslich mit unseren allzu fixen Vorstellungen auseinandersetzte. Warum diese Zurückhaltung?
Ich vermute, Verlage, Vertriebe, Buchhandlungen und vor allem das Publikum denkt in literarischen Kategorien und möchte bitte nicht verwirrt werden. Es möchte seine Autofiktion oder seine Fantasy. Bitte nicht beides vermischen. Ich erinnere mich, dass mein alter Lektor (whom I truly love) mir aus „Rosalie“ mal eine längere Passage mit der Anmerkung gestrichen hat, die Leser würden von magischem Realismus an dieser Stelle aus dem Gleis geworfen. Das hab ich mir gemerkt und mich jetzt gerächt. Nein, Spass. Ich wollte beweisen, dass das eben schon zusammengeht. In TV-Serien (v.a. englischsprachigen) finden sich ja auch ständig wilde Genremixes und doch haben die Charaktere Tiefe und Geschichte und berühren einen ganz arg. Und dann kommt trotzdem ein UFO. So ist halt Geschichtenerzählen, so ist Literatur: es ist ein Erfinden und gleichzeitiges Verankern in der Realität. Das ist ja auch die Kunst und die möchte ich neben so vielen anderen Spielarten des Schreibens gut beherrschen.


Ihre drei ProtagonistInnen sind Versehrte. Alle tragen Verletzungen und Vernarbungen mit sich herum, wir auch. Literatur ohne dieses Forschen nach Wunden und ihren Ursachen ist undenkbar. Etwas Urmenschliches. Und trotzdem ist da die Vorstellung, in der Zeit zu beeinflussen, der Wunsch, etwas ungeschehen machen zu können. Die Flucht in Drogen und Süchte könnte bestimmt auch als eine Form der Erleichterung gesehen werden. Stehen wir seit den Errungenschaften der Psychologie unter dem Zwang einer permanten Selbstauseinandersetzung?
Auf keinen Fall. Vieles ist nur Verschlagwortung und Lifestyle und erreicht nur eine gewisse intellektuelle Bubble. Wenn wir unter einem Zwang der permanenten Selbstauseinandersetzung stünden, sähe die Welt nicht so aus, wie sie aussieht. Ich finde, die Leute könnnen sich ruhig noch viel mehr mit sich auseinandersetzen … mit einem gewaltigen Addendum: Am Ende der Auseinandersetzung und Optimierung, am Ende der Selbstheilung, oder am besten schon im Prozess, muss die Empathie stehen und im Idealfall der Altruismus. Sonst haste am Ende einen reflektierten Rassisten oder einen noch viel konsequenteren Demagogen … und da hat ja auch keiner was davon. Ich persönlich gebe mir alle Mühe, bei aller Rotation um mich und meine Psyche, nicht aus den Augen zu verlieren, wie es den anderen geht. Ob das gelingt, müssen natürlich die beurteilen. Ich bin aber immer wieder verwundert, wie selbst Leute vom Selbstauseinandersetzungsfach – Buddhist:innen, Psycholog:innen, Coach:innen, Priester:innen etc – spektakulär daran scheitern, eine kritische Distanz zu sich zu finden. Insofern gerne noch mehr Selbstauseinandersetzung.

Friedhöfe sind Grenzorte. Es gäbe keinen besseren Platz für einen Riss, einen Riss in der Zeit. Es gibt an vielen Orten ganz besondere Friedhöfe. Ich erinnere mich an einen in der Bretagne mit Sicht aufs Meer. Und trotzdem sind viele westeuropäische Friedhöfe weit weg von einem Nekropolis, viel mehr Orte überbordender Reglemente. Entfernen wir uns vom Tod, dem Sterben genauso wie von den Vorstellungen durchbrochener Zeit?
Nein, ich denke nicht. Ästhetisch integrieren wir das immer mehr, es gibt zig Bücher über Trauer und Tod, alternative Beerdigungsfirmen schiessen aus dem Boden (pun intended) und auch die Populär-Psychologie greift aktiver in diese Diskussion mit ein. Ich vermute aber, dass auch das letztlich ein Versuch ist, sich den Tod vom Leib zu halten, indem man ihn stilisiert. Das macht die Menschheit via Glaube, Literatur und Kunst ja eh seit Jahrtausenden. Wenn er dann aber passiert, bleibt er welterschütternd. Insgesamt würde ich aber mutmassen, wir integrieren den Tod gerade ein bisschen mehr in unseren Alltag, in unserer Ästhetik und das ist ja nichts Schlechtes. Wie es andere Länder aber auch schon viel länger viel besser machen. Siehe z.B. den mexikanischen Feiertag Día de los Muertos. Doch selbst in Mexiko tut’s genauso weh, wenn ein geliebter Mensch stirbt, nehme ich an. Über die deutsche Friedhofskultur an sich kann ich wenig sagen, ich vermute jedoch, da hat sich wenig geändert in den letzten Jahren. Meine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, seitdem verbringe ich viel Zeit auf einem wunderschönen alten Friedhof in Berlin Mitte. Für mich ist das ein Rastplatz, ein Garten und ein Erinnerungsort, ich bin da sehr gerne und fühle mich wohl in Gesellschaft der vielen toten Menschen. Dieser Friedhof hat aber auch was Wildes und Altes. Wenn ich dagegen an das Grab meiner Grosseltern auf dem katholischen Friedhof meines Heimatorts denke, überkommt mich ein eher klaustrophobisches Gefühl. Läge ich dort begraben, käme ich mir vor wie in einer Kleingartenkolonie. Und ich habe grosse Angst vor Kleingartenkolonien.

An der Figur Horatio Beeltz ist alles antiquiert, nicht nur der Name. Er ist eine Figur, die aus der Zeit gefallen ist, eine Figur, der wir mit Befremden begegnen würden, würde sie sich im Zug neben uns setzen. Ihnen gegenüber sind Mi-Ra und Artur ganz in der Gegenwart verankert, Archätypen der Neuzeit. Lieben Sie Gegensätze?
Klar lieb ich die Gegensätze. Welche(r) Autor:in tut das nicht? Mit Horatio Beeltz wollte ich den ultimativen alten weissen Mann besetzen, aber weil mir das als Kategorie natürlich viel zu flach ist, hab ich aus ihm eine Art unsterblichen Vincent Price gemacht, mit einem obsessiven Hang zu Romantik, Rhetorik und dem Besiegen der Zeit. Verliebt bin ich natürlich trotzdem unsterblich in Mi-Ra.

Die Einsichten der Quantenphysik sind auch ein esotherisches Tummelfeld. Unglaublich, wer und was sich alles darauf bezieht. Ich bin neugierig, ob Ihnen bei einer Lesung dereinst einmal eine Besucherin oder ein Besucher erklären wird, dass man bei diesem Thema doch noch viel mehr hätte lernen und folgern müssen. Wie weit erfahren Sie Quantenphysik als Büchse der Pandora?
Wäre mein Buch ein heftiger Bestseller, bekäme ich vermutlich öfter eins auf den Deckel von Quantenphsyik-Fanclubs und Wissenschaftler:innen, die meinen eklektischen und anarchischen Umgang damit kritisieren. Aber sorglos war ich mit dem Thema nicht, ich habe mir eine Menge angelesen und Ansätze weitergedacht. Bin sogar selbst mit Fragen zu Raum und Zeit auf einen intensiven Pilztrip gegangen und schlauer wieder herausgekommen. Wobei das natürlich viele Leute denken, die auf Pilztrips waren. Am Ende gilt für alle meine Unternehmungen aber auch so ein bisschen: ich hab in dem Buch das gemacht, worauf ich Lust hatte. Wie gesagt, meine kleine Tochter ist vor ein paar Jahren gestorben, ich dachte einfach: I don’t give a fuck, was jemand von mir erwartet oder über Zeitreisen denkt … ich schreib jetzt genau das Buch, das ich schreiben will, das ich auch selbst gerne lesen würde. Fuck you, Erwartungshaltung und Erfolgsdruck. Und jetzt ist es eh zu spät, das zu bereuen. 

Berni Mayer, geboren 1974 Mallersdorf, Bayern, war Chefredakteur bei MTV und VIVA online. 2012 – 2014 erschien bei Heyne die «Mandel-Trilogie» über die musikjournalistischen Privatdetektive Sigi Singer und Max Mandel, 2016 «Rosalie» beim Dumont, ein düster-romantischer Coming-of-Age-Roman in den 1980ern und 2019 dann mit «Ein gemachter Mann», ein Campusroman über einen wehleidigen jungen Mann und die weniger wehleidigen Frauen in seinem Leben. Mayer arbeitet als freiberuflicher Autor, Journalist, Moderator, Übersetzer & Podcast-Produzent in Berlin.

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Beitragsbild © Birte Filmer

Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl

Dass ein dünnes Buch kein Gewicht vermitteln muss und dass Geschichten, dessen „Sammlung“ der Autor selbst lakonisch „Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ untertitelt, alles andere als bloss heiter sind, beweist der Sprachkünstler Thomas Stangl auf beeindruckende Art und Weise. Sein Band „Diverse Wunder“ ist wahrhaft wunderlich, sprachlich schillernd, voller Geheimnisse.

Thomas Stangl muss nichts beweisen. Und darum ist selbst der Titel seiner Geschichtensammlung, alles andere als eine Sammlung unwillkürlich zusammengestellter Kurztexte, Understatement und wie das ganze Buch eine literarische Schnitzeljagd in den Gedankenkosmos eines Künstlers, der sich nicht durch Grenzen der realen Wahrnehmung einschüchtern lässt. „Eine paar Handvoll sehr kurzer Geschichten“ macht glauben, die Texte wären einfach so dahingestreut, ohne Absicht, schon gar nicht komponiert. Aber in den Geschichten tauchen immer wieder Namen und Motive auf, sei es nun Wittgenstein, der Hunde malende Kunstmaler Wu Daozi, die schöne Nichte Tamara, Fortsetzungsgeschichten wie Venedig ein, zwei und drei, eine Akrobatin, vom Neffen Tamaras geliebt, eine mehrteilige Vorschichte oder ein dreiteiliges Ende.

„Ziel der Literatur ist es, der Gurke den Weg aus dem Gurkenglas zu zeigen.“

Thomas Stangl «Diverse Wunder. Ein paar Handvoll sehr kurzer Geschichten», Droschl, 2023, 112 Seiten, CHF ca. 29.90, ISBN 978-3-99059-125-3

Thomas Stangls Geschichten kippen an der Realität, nähren sich aus Traumbildern, Geschichten von der anderen Seite. Weit weg von Erbauungsgeschichten, keine Nachttischchenlektüre, denn die Geschichten könnten sich, vermischt mit den eigenen Traumgeschichten, zu Kopfgewittern auswachsen, die kleben bleiben.

Wäre Thomas Stangl ein Maler, müsste man sich beim Betrachten seiner Bilder Zeit lassen, denn was sie auf die Schnelle zeigen, ist nicht das, worum es dem Bildermaler geht. Er spielt mit den Bildern, gibt ihnen Vieldeutigkeit. Seine Sprachbilder spielen mit Perspektiven, leuchten mal von vorne, mal von hinten, aus den Tiefen des Surrealen. Manchmal reisst Thomas Stangl auch das Bedeutungs- und Deutungsschwere herunter, so wie in der Geschichte vom Fisch, einem Symbol, einer Zeichnung, die viel zu oft mit Ideologie aufgeblasen wurde. Ein Fisch interessiert sich für nichts. Ein Fisch frisst seine Kinder, wenn das, was ihm entgegenschwimmt, zufällig seine Kinder sind. 

Skurriles gepaart mit genauer Betrachtung, seine Fantasie mit Geträumtem, die Lust am Formulieren und Fabulieren mit jener, die Bilder zu entfremden, der scheinbaren Wirklichkeit entgegenzustellen. Thomas Stangl schert sich nicht um Verständlichkeit, seine Geschichten sind Bilder, die sich überlappen, sich gegenseitig kommentieren. Sie besitzen einen ganz eigenen Witz, den Witz eines Sprachspielers. So wie Kinder, wenn sie zeichnen oder malen, sich nicht darum kümmern, eine Welt abzubilden, viel mehr Lust am Zeichnen selbst verspüren. Er folgt der Magie des Formulierens und Schreibens, seiner Lust, mit Sprache etwas entstehen zu lassen, was die reine Wiedergabe niemals schaffen kann.

Ausgerechnet in der Literatur verlangt man Verständnis, Klarheit und Lesbarkeit. In vielen anderen Kunstgattungen, sei es Musik, Malerei oder selbst dem Tanz, wird Widerspruch und Geheimnis akzeptiert. Aber weil Literatur auch noch unterhalten muss, für viele in erster Linie unterhalten muss, wird alles „Unverständliche“, Uneindeutige nur schwer akzeptiert.

Thomas Stangls Buch ist ein wundersames Bilderbuch der Geheimnisse!

Thomas Stangl, 1966 in Wien geboren, studierte Philosophie sowie Hispanistik und lebt in Wien. Bereits sein erster Roman «Der einzige Ort» brachte ihm den aspekte-Preis (2004) für das beste deutschsprachige Debüt ein. In den Folgejahren erhielt er u. a. den Telekom-Austria-Preis beim Bachmann-Preis (2007), den Erich-Fried-Preis (2011) oder den Österreichischen Kunstpreis für Literatur (2022) sowie den Bremer Literaturpreis (2023).

Webseite des Autors

Beitragsbild © Jessica Schaefer

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden

Muttersein zwingend mit Mutterglück zu verbinden, ist ebenso naiv wie weltfremd, zumindest jetzt, in Zeiten, in denen die Stereotypen von Familie aufbrechen. Nathalie Schmid hat sich an einen Stoff gewagt, den alle mit sich herumtragen, an Fragen, die niemanden kalt lassen, auch die Väter nicht. Und Nathalie Schmid traut sich, sich mit jedem Satz gegen den Titel ihren Romans zu stemmen; „Lass es gut sein“.

Larissa erzählt. Eine Frau, fest eingebunden in ihre Familie. Als Mutter, Schwester, Tochter und Enkelin. Dieses Eingebundensein ist wie ein Netz. Ein Netz, das sie ebenso hält wie zurückhält, ein Netz, das ebenso trägt wie fesselt. „Lass es gut sein“ ist der erzählte Versuch, der Lebenssituation eine Ordung zu geben, sich Gewissheiten zu verschaffen, zu überprüfen, wie sehr die Gegenwart an der Vergangenheit klebt oder endlich jenes Fenster aufgeht, von dem man sich freie Sicht in die Zukunft verspricht.

In christlicher Tradition sind wir einem demütigen Mutterbild verbunden; jener sanften Frau, die ergeben dem Kind alles gibt, was es braucht, ganz selbstverständlich alle Liebe und Hingabe – bis zur Selbstaufgabe. Frauen, die sich dieser scheinbar selbstverständlichen Rolle verweigern, werden noch immer mit Argwohn kommentiert, ausser die Karriere gibt ihnen die Rechtfertigung, sich „ihrer Bestimmung zu verweigern“. Larissa ist Restauratorin, hat sich ihr eigenes Atelier im kleinen Ort eingerichtet, wartet aber vergebens auf Auträge, dümpelt in Beschäftigungen und dem permanenten Hadern mit der Situation.

Nathalie Schmid «Lass es gut sein», Geparden, 2023, 316 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-907406-01-4

Larissa ist sich nicht sicher. Nichts scheint sicher. Bin ich die Mutter, die ich sein müsste? Bin ich die Tochter, die ich sein müsste? Muss ich damit rechnen, dass ich dereinst mit eben jenen Vorwürfen konfrontiert werde, die ich meiner Mutter mache? Larissas Mutter ist so sehr in ihr eigenes Leben eingebunden, dass es selbst Larissa schwer fällt, diese Distanz zu akzeptieren. Vielleicht bin ich Restauratorin geworden, weil ich lieber einen Weg zurückverfolge, als mir einen neuen auszudenken. Larissas Kinder werden erwachsen. So wie sie sich distanzieren, versucht sie sich aus der Umklammerung ihrer Familie zu distanzieren.

„Wir konnten einander nicht retten, die Tage nicht stemmen, das Licht nicht finden.“

„Lass es gut sein“ ist nicht in erster Linie ein Roman, der eine Geschichte erzählen will. Der Roman beschreibt den Befreiungsversuch einer Frau, die in einem Dazwischen gefangen ist. In Rückblenden hinein in ihre Kindheit, in die vielen Streitereien mit ihrer eigenen Mutter, den unsäglich vielen kleinen Lügen, um sich herauszuwinden. Von den Versuchen als junge Frau, den Konventionen zu trotzen, um dann doch in sie hineinzurutschen, sich den ungeschriebenen Vorschriften entgegenzustellen. Vom Kampf gegen Überforderung, Zweifel und Unsicherheit. Ich will die Augen schliessen und mich davontreiben lassen, weg von hier, von diesem Haus, aus dieser Ehe, aus der gesamten Verantwortung, die so schwer wiegt und der ich mich zu stellen habe. „Lass es gut sein“ ist eben dieser Versuch, eine ehriche Auseindersetzung, der die Ausweglosigkeit droht. Keine heldenhafte Geschichte einer Frau, die allem trotzt, sondern das verletzliche Spiegeln in die Mechanismen einer gesellschaftlichen Festlegung.

„Leben wir nicht alle mit angezogener Handbremse?“, fragt sich Larissa. Dass es nicht einfach ein schneller Akt sein kann und hopp die Handbremse ist gelöst, erzählt Nathalie Schmid mit grösster Sensibilität. Ist das Leben, das ich führe, das Leben, das mir bestimmt ist? Nathalie Schmid nimmt mich mit in eine Auseinandersetzung. Keine entblössende Nabelschau, keine exibitionistische Selbstzerfleischung, aber der mäandernde Weg einer Selbstbestimmung. Dass sich die Autorin in ihrer Perspektive zwischen die Fronten schiebt, macht den Roman flirrend, auch wenn ich mir mehr Reibung gewünscht hätte. Ihr Buch ist mutig!

Nathalie Schmid, geboren 1974 in Aarau (CH). Sie studierte am Deutschen Literaturinstitut Leipzig und arbeitet als Schriftstellerin und Erwachsenenbildnerin. Bisher sind von ihr drei Gedichtbände erschienen. «Lass es gut sein» ist ihr Debütroman. Für ihre Texte hat sie u.a. den Publikumspreis des MDR-Literaturwettbewerbs und ein Aufenthaltsstipendium der Stiftung Landis & Gyr in London erhalten.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Miklós Klaus Rózsa

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind

Die japanische Schriftstellerin Yōko Ogawa erschafft Welten von schimmernder Zeitlosigkeit. Ihr 2000 in Japan erschienener Roman „Das Museum der Stille“ erzählt in leicht entrückten Bildern von einem Museum der Erinnerungen, von einem vergessenen Ort, einer Frau, die sich im Sterben gegen die Auslöschung stemmt.

Was wir in einem Leben an Dingen mit uns herumtragen, was an Material unsere Wohnungen füllt und als Zierrat das Regal dort, die Ablage hier, ist eigentlich nur immer ein Musuem unseres eigenen Lebens, die Spur, die sich hinter dem Sein durchs Leben zieht. All die Dinge, ob wertlos oder Rarität, erzählen Geschichte und Geschichten. Meistens nur zu Lebzeiten ihrer BesitzerInnen. Das merken wir schmerzhaft dann, wenn wir die Wohnungen Verstorbener zu räumen haben und Dinge mit einem Mal ihre Geschichte verlieren – und nicht zuletzt ihren Wert.

In „Das Museum der Stille“ wird ein junger Mann in einen kleinen Ort weitab berufen, um unter Anleitung einer alten, eigenwilligen und launenhaften Dame ein Museum der besonderen Art einzurichten. Eine Sammlung aus lauter Dingen Verstorbener jenes Ortes. Dinge, zu denen die alte Frau Geschichten zu erzählen weiss, sehr oft banale oder vergängliche Überbleibsel von ganz unterschiedlichen Biographien, die sie über die Jahrzehnte sammelte, wenn auch der Akt der Beschaffung mehr an Diebstahl erinnert. Die Frau spürt sehr wohl, dass ihre Zeit langsam einem Ende zugeht und das, was sie über ein ganzes Leben als Idee mit sich herumtrug, Gestalt annehmen muss, wenn all das Gesammelte seine Geschichten, die gespeicherte Erinnerung nicht verlieren soll.

Yōko Ogawa «Das Museum der Stille», Liebeskind, 2023, aus dem Japanischen von Ursula Gräfe und Kimiko Nakayama-Ziegler, 352 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-95438-160-9

Der junge Mann soll mit Hilfe der Tochter der alten Frau sämliche Objekte, die wild durcheinander in der grossen Villa der alten Frau lagern, katalogisieren, fotographieren, restaurieren und mit den Erinnerungen der alten Frau zu einem Museum gegen die Vergänglichkeit aufbereiten. Ein Ansinnen, das den jungen Mann zuerst befremdet, zumal er sich an seiner neuen Arbeitsstelle, wo er auch wohnt und zusammen mit dem Gärtnerehepaar und der Tochter stille und wenig abwechslungsreiche Tage erlebt, irgendwie unwohl fühlt, seltsam getrennt von der Welt, aus der er kam. Einzige Verbindung zur Aussenwelt sind die Briefe an seinen Bruder. Einzige Erinnerungen, die er selbst mit sich herumträgt; ein Mikroskop seines Bruders und das Tagebuch der Anne Frank, aus dem ihm seine Mutter vorlas, als sie noch lebte. Materialisierte Erinnerungen.

Doch eines Tages erschüttert ein Bombenanschlag den kleinen Ort in den Bergen und bald darauf eine Reihe seltsamer Verbrechen, in die sich der junge Mann unfreiwillig verstrickt fühlt, da er es ist, der immer wieder im Auftrag der alten Frau, einem Auftrag, der immer mehr zur eigenen Selbstverständlichkeit wird, in die Wohnung von Verstorbenen steigt, um etwas von dem zu „retten“, was die Verstorbenen ausmachte; das Skalpell eines Arztes, eine Schreibmaschinenseite einer Wahrsagerin, das Glasauge eines Organisten. So realistisch die baldige Eröffung des Museums der Stille näherrückt, so absehbarer wird das drohened Ende der alten Frau und das Ende seiner Zeit in jenem Dorf, in dem er all die Monate ein Fremdling geblieben war.

Der Roman erinnert an die seltsam eigenartigen Filme von Wes Anderson, die Szenerie an einen in sich geschlossenen Kosmos von kafkaesken Zügen. So wie sich der junge Mann mit jedem Objekt, dass er durch die Zusammenführung von Materie und Geschichte zu etwas Eigenem macht, so geht es mir als Leser. Da ist nicht nur diese selsame Geschichte, die bis zur letzten Seite geheimnisvoll bleibt, da ist auch ein Personal, das durch Seltsamkeiten Schatten wirft. Schweigende Mönche aus einem Kloster auf der anderen Seite eines Sees. Ein Gärtner, der Messer um Messer fertigt. Eine alte, schrullige Frau in einer riesigen, labyrinthischen Villa. „Das Museum der Stille“ ist ein Roman von mitreissender Spannung, wie ein zenbuddhistischer Garten, der das menschliche Grauen miteinschliesst.

Yōko Ogawa, geboren 1962, gilt als eine der wichtigsten japanischen Autorinnen ihrer Generation. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mit vielen Literaturpreisen ausgezeichnet, u.a. mit dem Akutagawa-Preis und dem Tanizaki-Jun’ichiro-Preis. Für ihren Roman «Das Geheimnis der Eulerschen Formel» erhielt sie den begehrten Yomiuri-Preis. Mit der englischsprachigen Ausgabe des Romans «Insel der verlorenen Erinnerung» wurde Yōko Ogawa für den National Book Award und den International Booker Prize nominiert. Sie lebt mit ihrer Familie in der Provinz Hyogo.

Ursula Gräfe hat Japanologie, Anglistik und Amerikanistik in Frankfurt am Main studiert. Seit 1989 arbeitet sie als Literaturübersetzerin aus dem Japanischen und Englischen und hat neben zahlreichen Werken Haruki Murakamis auch Sayaka Murata und Yukiko Motoya ins Deutsche übertragen.

Kimiko Nakayama-Ziegler ist eine literarische Übersetzerin und Universitätsdozentin. Anfang der 2000er bis Mitte der 2010er Jahre übersetzte sie, zusammen mit Ursula Gräfe zahlreiche Texte der zeitgenössischen japanischen Literatur, meist von Yōko Ogawa und Hiromi Kawakami ins Deutsche. 

Yōko Ogawa «Augenblicke in Bernstein», Rezension auf literaturblatt.ch

Yōko Ogawa «Zärtliche Klagen», Rezension auf literaturblatt.ch

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