Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa

Hansjörg Schertenleib wagt einiges: Ein Lehrer, der sich zu Sex mit einer Schülerin hinreissen lässt. Ein Video, der den heftigen Akt dorthin trägt, wo der Mob nur lüstern darauf wartet und eine junge Frau, die sich ihrer Macht mit jeder Faser ihres Körpers bewusst ist. Ein Roman, der nicht in die Gegenwart zu passen scheint – und deshalb genau richtig ist!

Was muss passieren, bis man das Leben führt, das man eigentlich in sich trägt? Ist man dann erst reif und erwachsen genug? Caspar Arbenz ist Schlagzeuger, fünfundfünfzig und Lehrer an einer Musikschule, verheiratet, leidlich glücklich und Vater eines Sohnes, der als Arzt all das erreichte, was der Vater bislang nicht schaffte; Konstanz und Souveränität. Juliette ist neunzehn, studiert Gesang und ist für wenige Lektionen Rhythmik sogar die Schülerin von Arbenz. Nicht dass sie verliebt gewesen wären, weder Juliette noch Arbenz. Aber an jenem Abend an der Jazzschule, nach einem Konzert, zuerst an der Bar, dann in den Gängen, am Schluss in einem vollgestellten Proberaum, in dem sie sich alleine glaubten, setzte sich fort, was wie ein Spiel begonnen hatte; ein Spiel von Macht, Rausch und Fatalismus.

Aber als am nächsten Tag in den Sozialen Medien ein zweiunddreissig Sekunden lange Film auftaucht, der unmissverständlich zeigt, was im Halbdunkel geschah, mehr als deutliche Bilder der jungen Frau und ihres Lehrers zeigen, kippen zwei Welten. Beide heisst man vorerst von der Schule fernzubleiben, Arbenz Frau verlässt Wohnung und Ehe, es droht Suspendierung und Kündigung. Juliette spürt das Beben zuerst in ihrer WG und dann mit voller Kraft dort, wo sich bislang ein ganzes grosses Stück ihres Lebens abspielte; im Netz. Der sensationsgeile Mob stürzt sich auf die beiden, macht sie gleichermassen zu Opfern und Tätern. Man urteilt und richtet, als hätte der reisserische Mob nur darauf gewartet, sich aus der Coronaerstarrung auf jene zwei Leiber zu stürzen, die taten, was in einer heuchlerischen Gesellschaft gut getarnt schon längstens plattgemachte Tatsache ist.

Hansjörg Schertenleib «Offene Fenster, offene Türen», Kampa, 2021, 256 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-311-10064-5

Man mag sie beide nicht. Aber muss man Protagonist:innen mögen? Die junge Frau, die selbstverliebt genau weiss, wie sie mit ihrer Macht spielen kann, wie sie jedes Spiel zu gewinnen glaubt? Den alternden Lehrer mit Lederjacke und ausgetragenen Jeans, der ebenso an seine Unwiderstehlichkeit glaubt, sowohl musikalisch wie als Mann? Beide weigern sich, sich der Konsequenzen ihres Tuns bewusst zu sein. Juliette ist bas erstaunt, dass man sie zur Schlampe erklärt, Arbenz, dass die eine Affäre mehr genügt, dem Arrangement seiner Ehe die Luft abzudrehen. Und doch mag ich sie, weil Hansjörg Schertenleib die Menschen in seinem Roman zeigt, wie Menschen wirklich sind. Wie naiv zu glauben, man müsse ausgerechnet in der Literatur, in der Kunst, den Lesern schmeicheln. Manchmal sehne ich mich nach Autoren wie Thomas Bernhard, die sich am Höhepunkt ihrer Popularität nicht scheuten, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten, schamlos zu zeigen, was wirklich ist. Arbenz muss das Leben mit allem ins Gesicht schlagen, um ihm sein verkorkstes Leben vorzuführen. Und Juliette gerät gnadenlos in einen Cyberstrudel, der sie zu Gedanken zwingt, die sie sich nie gemacht hätte, hätten jene zweiunddreissig Sekunden nicht zurückgeschlagen. Beide flüchten, Arbenz in die alte Werkstatt seines Vaters am Rande eines Dorfes und Juliette ins Burgund, wo ihr Vater ein kleines Hotel trotz Corona am Laufen zu halten versucht.

Dienstag, 26. Oktober, 20 Uhr, im Kultbau St. Gallen, Konkordiastrasse 27: Hansjörg Schertenleib liest aus seinem Roman «Offene Türen, offene Fenster». Kollekte, Anmeldung unter kultbau.org
© Milena Schlösser

Aber was den Roman zu einer Perle macht, ist seine Sprache, die ungeheure Intensität seiner Beschreibungen, die Nähe zu seinen Protagonist:innen. Alle die filigranen Kleinigkeiten, die nicht zufällig in den Roman eingestreut sind, so wie immer wieder einmal ein toter Vogel oder eine alte Obdachlose mit sybillischem Dialog. Und all die Fragen, die der Text ganz leise stellt, die mich als Leser nicht loslassen. Ob man jene kennt, die einem am nächsten sind. Ob wir den richtigen Fährten folgen. Hansjörg Schertenleibs Roman ist ein starkes Stück Literatur, eingetaucht in den Sound der Gegenwart. Ehrlich und direkt!   

Und so ganz nebenbei: Ist doch gut, dass es bei Kampa neben den vielen Krimis auch noch Platz für Feinkost hat!

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt gezeigt. Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 bei Autun im Burgund. Im Kampa Verlag sind auch «Die Fliegengöttin«, «Palast der Stille» und die Maine-Krimis «Die Hummerzange» und «Im Schatten der Flügel» erschienen.

«Der Stich» Kurzgeschichte von Hansjörg Schertenleib auf der Plattform Gegenzauber

Beitragsbild © DavidClough