Michael Köhlmeier «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle», dtv

Am 5. Mai 2018 hielt der Schriftsteller Michael Köhlmeier in der Wiener Hofburg eine Rede zum Holocaust-Gedenken. Eine Rede, die nur sechs Minuten dauerte und ebenso viel Applaus und Zustimmung erntete wie Kritik und Unterstellung. Genau das, was eine Rede soll, wenn sie nicht bloss mit freundlicher Zustimmung liebäugelt. Michael Köhlmeier traut sich, auch dann, wenn die Kritisierten vor ihm stehen.

Österreich wird von einer schwarz-blauen Regierung geführt, einem jugendlich scheinenden Kanzler, der sich mit dem FPÖ Vizekanzler Strache verbrüdert, der sich in keiner Weise schämt, antisemitisch und fremdenfeindlich aufzutreten. Strache sass mit anderen seiner «freiheitlichen» Partei im Publikum, als Michael Köhlmeier in sechs Minuten ruhig und gelassen einer Regierung die Leviten las, die Verantwortung und historisches Bewusstsein mit Füssen tritt, die mit Argumenten hantiert, mit denen vor 70 Jahren schon einmal die Massen in Wallung gebracht wurden.

Michael Köhlmeier tat es nicht als Intellektueller, sondern als schreibender, denkender und mitfühlender Bürger. Was er sagte, war keine Beschuldigung, keine Mutmassung, keine Interpretation, sondern Spiegel einer Ungeheuerlichkeit. Kein Wunder keifte die FPÖ, schimpfte die ÖVP und applaudierten Linke und Grüne. In Presse und sozialen Medien zeigten die sechs Minuten erstaunliche Resonanz, etwas, was Reden in heeren Hallen sonst nicht zu erreichen vermögen. Michael Köhlmeier tat es nicht als Polterer, sondern als einer, der in einem ganzen Leben und Wirken Empathie zur Lebensspur macht.

Ich lernte Michael Köhlmeier an einer Lesung zusammen mit seiner Frau Monika Helfer kennen, als sie aus ihrem gemeinsamen Buch «Der Mensch ist verschieden» lasen und erzählten. Das Schriftstellerpaar ist Sinnbild für Respekt und Menschenliebe. Ihre beiden Stimmen sind fein ziseliert, klar und bestimmt, spüren auf, was man unter Wahrhaftigkeit versteht. Sie tun, wie sie schreiben. Sie schrieben, wie sie leben.

In den in diesem Band gesammelten Reden schweift Michael Köhlmeier nicht ab. Er bleibt beim Erzählen; von dem Ort, an dem erlebt, den Menschen, die ihn begleiten, seiner Mutter, seiner Grossmutter. Er sieht im Kleinen das Grosse, schildert behutsam und ohne eine Spur von Arroganz. Er liebt seine Figuren, seine Welt, erst recht dann, wenn sie von Hetze, Ignoranz und Menschenfeindlichkeit bedroht sind. Michael Köhlmeiers Reden trösten, wie sie Zeugnis sind, dass der Mut nicht stirbt.

Reden gegen das Vergessen, mit einem Nachwort von Hanno Loewy
«Zum großen Bösen kamen die Menschen nie mit einem großen Schritt, sondern mit vielen kleinen, von denen jeder zu klein schien für eine große Empörung.»
Michael Köhlmeier

© Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier wurde 1949 in Hard am Bodensee geboren und lebt heute in Hohenems/Vorarlberg. Er studierte Germanistik und Politologie in Marburg sowie Mathematik und Philosophie in Gießen und Frankfurt. Michael Köhlmeier schreibt Romane, Erzählungen, Hörspiele und Lieder und trat sehr erfolgreich als Erzähler antiker und heimischer Sagenstoffe und biblischer Geschichten auf. Er erhielt für seine Bücher zahlreiche Auszeichnungen, u.a. mit dem Rauriser Literaturpreis, dem Johann-Peter-Hebel-Preis, dem Manès-Sperber-Preis, dem Anton-Wildgans-Preis und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur.

Fotos © Heike Bogenberger

Michael Köhlmeier mit «Das Mädchen mit dem Fingerhut» auf dem 30. Literaturblatt: