Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazz Band», FVA #SchweizerBuchpreis 23/11

Im Nationalsozialismus galt Jazz als entartete Musik, wurde systematisch diffamiert, MusikerInnen verfolgt und drangsaliert. Das gleiche System setzte Jazz aber für propagandistische Zwecke ein. So spielte die Mr. Goebbels Jazz Band bis zum Untergang des NS-Regimes auf dem Propagandasender – eine skurrile, wahre Geschichte!

Nicht dass der Nationalsozialismus die Propaganda erfunden hätte, aber wie niemals zuvor wusste eine politische Bewegung die systematische Manipulation einer ganzen Gesellschaft derart auszunützen wie jene unter dem Hakenkreuz.

Joseph Goebbels, bedingungsloser Wegbegleiter und Wegbereiter Adolf Hitlers, von 1933 bis zum Zusammenbruch des tausendjährigen Reiches im Mai 1945, war Propagandaminister und damit Schlüssel- und Schaltzentrale bis in jede Form der Äusserung, auch in jene der Kultur. Was an Meinungsäusserungen oder Verlautbarungen zu Volk und Elite überspringen sollte, wurde von einem ganzen Apparat geleitet und gelenkt. Und wer nicht in dieses feinmaschige Netzwerk passte oder sich gegen Regeln, Auflagen und Weisungen stemmte, hatte dies leicht mit Lagerhaft, Folter oder dem Tod zu bezahlen. 

Demian Lienhard «Mr. Goebbels Jazzband», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00306-7

Das Ministerium für Volksaufklärung und Propaganda wusste sehr genau, wie und womit die Massen gefüttert werden mussten, um die Ziele einer totalitären Diktatur verwirklichen zu können. Bis in die Literatur, die Musik und den Rundfunk. In seinem Roman „Mr. Goebbels Jazz Band“ erzählt Demian Lienhard von der Big Band, die im reichsdeutschen Rundfunk mit schmissigen Melodien Nachrichten und politische Statements zu untermalen hatte, in englischer Sprache, dem Geschmack des „Feindes“ angepasst, über den Äther bis in die Stuben jener Länder, die noch nicht zum Deutschen Reich gehörten.
Eine „wahre“ Geschichte, die aufzeigt, wie schizophren totalitäre Regime funktionieren, wenn es darum geht, den Interessen einer Ideologie zu dienen.
Während Abertausende von Juden, Homosexuellen und Andersdenkenden schnurstracks in die Vernichtungszentralen transportiert wurden, spielten in der Mr. Goebbels Jazz Band auch Juden und Homosexuelle, Männer, die sonst niemals die Gräuel dieser Zeit überlebt hätten.

Demian Lienhard wählte für die Geschichte den Roman im Roman, denn der bislang noch unbekannte Schweizer Schriftsteller Fritz Mahler soll den Moderator William Joyce und die Musiker der Band „schriftlich“ begleiten und ihre Geschichte mit einem Roman dokumentieren. In einem tausendjährigen Reich würde es genug Publikum geben, um von der Strahlkraft dieser Truppe zu erzählen.
Aber Fritz Mahlers Aufgabe ist schwierig, denn die Musiker, die genau wissen, wie dünn das Eis ist, auf dem sie spielen, misstrauen dem Schreiberling mehr als deutlich. Mahler ist wie sie geordert, dem Ministerium verpflichtet. Ist Mahler ein Spitzel?

Demian Lienhard beschreibt mit Genuss all jene Mechanismen, die das Konstrukt aufrecht halten, ebenso das Misstrauen und den fortwährenden Kampf um Positionen. Aber die eigentliche Kunst dieses Romans ist weder die Geschichte selbst noch die beschriebene Kulisse. Demian Lienhard versteht es meisterlich, seinen Roman im Sound jener Zeit zu erzählen. Demian Lienhard spielt ein Instrument in den Klängen jener Zeit. Er spielt mit einer Figur, die perfekt auszublenden versteht, was das System mit ihm macht, dass er sich an eine Ideologie verkaufte, zum einen im Glauben, auf dem Rücken dieser aus der Bedeutungslosigkeit gehoben zu werden, blind für das, was wirklich passiert. Der Blick über die eigene Nasenspitze hinaus ist mehr als nur vernebelt.

Demian Lienhards Roman ist ein Sprachkunstwerk, bei dem ich aber nicht sicher bin, ob all die LeserInnen, die nur der Unterhaltung wegen zu einem Buch oder Tablet greifen, nicht enttäuscht darüber sind, das der Schriftsteller allen Verlockungen einer actionangereicherten Erzählweise widerstehen konnte. „Mr. Goebbels Jazzband“ ist eine Spiegelung all jener Geschichten, die bis in die Gegenwart durch Opportunismus den Scheuklappen jene Grösse geben, sich getrost den scheinbar aufrechten Gang zu bewahren.

Interview

Dein Roman ist vordergründig die wahre Geschichte einer Jazzband, die im nationalsozialistischen Machtapparat eine klar definierte Rolle zu spielen hatte, ebenso jene des Moderators am Rundfunkmikrophon und jene des begleitenden Schriftstellers. Ganz offensichtlich ging es dir aber um viel mehr. Zum einen um die Auswirkungen eines grossen Versprechens, um grenzenlosen Opportunismus, der aber auch Leben retten kann zum andern um Musik, auch um den Sound einer Sprache.
Ist es die Nähe zur Musik, die Verwandtschaft von Sprache und Musik, die Dich an den Stoff band?
Mich haben zunächst eher die drei Hauptwidersprüche der Geschichte angezogen. Das NS-Propagandaministerium, das selbst hochstehenden Jazz produzieren lässt, obwohl es selbst täglich zur Ächtung dieser Musik beiträgt. Eine Big Band, die aus Musikern verschiedenster Herkunft zusammengestellt wird, darunter auch Juden und Homosexuelle – also genau jene Minderheiten, die laut NS-Ideologie vernichtet gehören. Und dann ein Radiomoderator, der sich selbst als englischen Nationalisten und Faschisten begreift, aber knapp sechs Jahre für die Nazis und gegen England arbeitet. Diese Bruchlinien haben mich zuerst angezogen, hier habe ich Reibung und Spannung gespürt. Mir ging es also zuerst um die Menschen und das System. Die Tatsache, dass Musik in dieser Geschichte aber eine sehr wichtige Rolle spielt, war dann aber für die Ästhetik des Romans sehr wichtig.

Deine Geschichte spiegelt sich auch in der Gegenwart. Alle und alles ist ständig der Manipulation ausgesetzt. In allen totalitären Staaten prostituiert sich Sprache und Musik – die Kunst. Aber selbst in einer „freien Gesellschaft“ ist niemand gefeit vor den Verlockungen. Ich kann mit dem bisher glücklosen Schriftsteller Fritz Mahler sehr gut mitfühlen. Endlich Aussicht auf Erfolg. Wo kippt Anpassung in kalten Opportunismus?
Ich glaube, dass das die entscheidende Frage des Romans ist, und zwar bei Fritz Mahler genauso wie bei den Musikern. Wenn auch die Motive unterschiedlich sind, arbeiten doch beide für das Fortbestehen eines menschenverachtenden Regimes. Mir war es wichtig, diese Fragen zur Disposition zu stellen; die Beantwortung der Fragen möchte ich jedem Leser selbst überlassen.

eine Werbepostkarte der Ciro Bar an der Rankestrasse 31 in Berlin Charlottenburg, in der die ersten beiden Kapitel des 2. Teils des Romans spielen

Jene Jazzmusiker, die ausserhalb dieser künstlich geschaffenen „Glocke“ niemals so hätten spielen können, hätten wegen ihrer „Zugehörigkeit“ wohl auch nur schwerlich die NS-Zeit überlebt. Ganz am Schluss Deines Romans resümierst Du die Schicksale der an der Geschichte beteiligten ganz kurz. Was entschied darüber, wer bei deinem Roman Gewicht erhalten sollte?
Nicht alle Musiker waren gleich lange dabei, manche stiessen später dazu oder verliessen die Band aus unterschiedlichen Gründen. Zunächst war mir deshalb wichtig, Musiker mit der grössten Kontinuität auszuwählen – meistens waren sie es auch, die die bedeutendste Rolle in der Band spielten. Zweitens wollte ich möglichst unterschiedliche Figuren haben; das fängt bei der Herkunft an und hört beim Instrument, das jemand spielte, auf. Drittens war aber auch die Quellenlage ein entscheidendes Kriterium. Hier war das Gefälle enorm, und im Zweifel habe ich mich für die Musiker entschieden, über die ich am meisten herausfinden konnte.

Besteht nicht die Gefahr, dass bei einer solchen Geschichte die historischen und politischen Hintergründe zur Kulisse werden?
Diese Gefahr besteht auf jeden Fall, und zwar bei jedem historischen Stoff. Mir war es ein grosses Anliegen, nicht einfach einen Marketing-Gag zu schreiben. Da es in dem Roman im engeren Sinn um Kunst und Diktatur geht, wollte ich das auch verhandeln, und zwar nicht nur auf der Handlungsebene, sondern auch auf einer ästhetischen Ebene. Mitunter daher auch die Entscheidung, der Band, die unter Aufsicht eines totalitären Regimes Musik produziert, einen Schriftsteller gegenüberzustellen, der zwar freiwillig, und doch nicht ohne Zwänge und Druck ein Auftragswerk über diese Band schreiben soll.

Dein Roman erzählt zwei Jahrzehnte. Jene beiden Jahrzehnte, die der Beginn von einem Jahrtausend hätten werden sollen, einer Ewigkeit. Wie niemals zuvor in der Geschichte der Zivilisation erfahren wir die Endlichkeit einer Welt, unserer Welt. Inwieweit ist „Mr. Goebbels Jazz Band“ eine Parabel?

„Mr. Goebbels Jazz Band“ zeigt mitunter verschiedene Formen des Opportunismus und seine Folgen. Hier könnte man aus meiner Sicht den Roman auch als Parabel lesen. Der Schriftsteller Fritz Mahler, dem es vor allem um Erfolg geht, legt dabei einen anderen Opportunismus an den Tag als die Musiker, die damit vor allem ihr Leben retten. Und doch steht bei beiden zur Diskussion, inwiefern man sich mit der Arbeit für ein totalitäres Regime mitschuldig macht an dessen Fortbestehen. Es ist unmöglich, diese Fragen abschliessend zu beantworten; mir ging es vor allem darum, sie aufzuwerfen. 

Demian Lienhard, geboren 1987 in Bern. Studium der Klassischen Archäologie, der Latinistik und der Hispanistik in Zürich, Köln und Rom. Sein erster Roman »Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat« (FVA 2019) stand auf der Shortlist des Klaus-Michael-Kühne-Preises für das beste deutschsprachige Debüt und wurde 2020 mit dem Schweizer Literaturpreis ausgezeichnet. Für seine Recherchen an seinem zweiten Roman »Mr. Goebbels Jazz Band« (FVA 2023) lebte er längere Zeit in Galway, London, Berlin und Bern.

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Illustrationen © leafrei.ch

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», edition bücherlese

«Nacherzählen ist auch Nachzählen, sage ich schon lange», schreibt die Protagonistin Anna ihrer besten Freundin (und Schwägerin) Ruth im Roman «Damenprogramm» von Theres Roth Hunkeler. Und etwas zwischen Abrechnung und Bilanz ist der Roman von Theres Roth-Hunkeler tatsächlich. 

Gastrezension
von Franco Supino

Eine Abrechnung mit dem Leben ihren Protagonistinnen, denn wer so unerbittlich ehrlich und stilistisch klar schreibt wie Roth-Hunkeler, macht es nicht wie die Sonnenuhr (und zählt die heiteren Stunden nur).  Und eine Bilanz ist der Roman, weil die beiden Freundinnen an der Schwelle zur Pensionierung auf ihr bisheriges Leben schauen: Das Arbeitsleben, das die beiden tüchtigen Frauen erfüllte, werden sie bald ablegen. Männer, die mal wichtig waren, sind abgehauen, verstorben (Thore, Max und Arno bei Anne) oder erweisen sich als unbrauchbar, so dass man sich von ihnen trennen muss (Jan bei Ruth) – was kann also dieser Lebensabschnitt, vor dem sie stehen, der sie mal ängstigt, mal zuversichtlich werden lässt, noch bringen? Dies auch in Anbetracht von Caro, Annas Tochter und Ruths Patenkind, einer labilen, suchtkranken Frau, die von einem selbstbestimmten Leben wie das der Mutter und der Tante nur träumen kann, und immer nur wieder einen Strich durch die wohlfeilen Rechnungen der Mutter zu machen im Stande ist.

Theres Roth-Hunkeler «Damenprogramm», Edition Bücherlese, 2023, 256 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-906907-79-6

Kann, wer ungeschönt aufs Leben schaut, wer sich nicht belügt, zwischen verpassten Chancen und trüben Aussichten nur Schwarz sehen? Nein, nicht bei Theres Roth-Hunkelers «Damenprogramm». Unerwartet erhält dieser Text einen hellen Klang, denn die beiden Protagonistinnen lassen sich, (einmal mehr) nicht unterkriegen oder vom Selbstmitleid einlullen. Ruth stellt fest, dass sie beide, erlöst von Existenzsorgen, nun in der Situation ihrer Mutter, der Bankiersgattin, seien, die damals im Dorf im sogenannten Damenprogramm, also dem ehrenamtlichen sozialen Engagement im Kreise anderer gut gestellter Frauen, ihre Erfüllung sah (oder sehen musste). 

Ein solches, aber ganz anderes, politisch engagiertes Damenprogramm will Ruth, die auch ansehnlich geerbt hat, mit Anna initiieren. Anna ist erst nicht sehr begeistert, aber schliesslich … mehr sei nicht verraten! Nur der Schluss:  wie bei den Arztserien (die Anna so liebt) und wie beim einspaltigen Fortsetzungsroman, den Anna als Kind täglich in der Tageszeitung las, endet «Damenprogramm» augenzwinkernd mit dem «grossen Versprechen»; F.f. – Fortsetzung folgt. Denn das Leben im Gegensatz zu Geschichten hört nie auf.

Theres Roth-Hunkeler ist eine feste Grösse der Schweizer Literatur, seit sie 1991, eingeladen von Peter von Matt, einen Preis beim renommierten Ingeborg Bachmann Preis zugesprochen bekam. Sie hat seither sechs Romane veröffentlicht, dies neben Essays und Kurzgeschichten, und sie ist als Kulturvermittlerin tätig. Ihre Schaffenskraft beeindruckt mit jedem Text neu. Ob das Leben im Alter lebenswert ist? diese Frage stellt «Damenprogramm» – eine eindeutige Antwort gibt es nicht. Aber wenn man so schreibt wie Theres Roth-Hunkeler, ist es uneingeschränkt lesenswert.

Theres Roth-Hunkeler, geboren 1953 in Hochdorf Luzern, lebt heute in Baar bei Zug und oft in Berlin. Schreiben, Lesen und Literaturvermittlung sind die Schwerpunkte, die auch ihre langjährige Lehrtätigkeit an Kunsthochschulen bestimmt haben. Die Autorin hat neben Erzählungen und journalistischen Texten sechs Romane publiziert, zuletzt das Text-Bild-Werk «Lange Jahre» (2020) mit Bildern der Malerin Annelis Gerber-Halter und den Roman «Geisterfahrten» (2021). In unregelmässigen Abständen meldet sich Theres Roth-Hunkeler mit ihrem Blog zu Wort.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Ayse Yavas

Hansjörg Schertenleib «Schule der Winde», Kampa

Ein Mann um die vierzig beginnt ein neues Leben in der nordwestirischen Abgeschiedenheit, einem ehemaligen Schulhaus, das er mit den Einnahmen eines Romans kaufen konnte. Ein Mann, der nach innen und nach aussen lauscht, was ihm die Winde erzählen und was jenen Stimmen antworten will.

Hansjörg Schertenleib ist ein grosser Erzähler. Ein Erzähler, der weder schlagkräftige Plots braucht noch raumgreifende Erzählgesten. Er schreibt von einem Mann, der die Enge seiner Heimat hinter sich lässt und auf der Suche nach einem Ort ist, der ihm jene Geschichten erzählt, die in der Vergangenheit durch alle (un)möglichen Einflüsse bedroht wurden; eine zerbrochene Beziehung, ein Literaturzirkus, dem er sich in keiner Weise mehr verbunden fühlte, ein Leben, das ihm den Atem nahm. Auch wenn Hansjörg Schertenleib nicht einfach seine ersten Jahre in Donegal nacherzählen will und dem Mann, der noch im ausgehenden Jahrtausend ein freistehendes ehemaliges Schulhaus zu seinem neuen Refugium macht, jene Chance gibt, die ihm damals verwehrt blieb, ist sein Roman „Schule der Winde“ ganz in der Tradition von „Palast der Stille“, ein sehr persönliches Buch über eine Zeit, die den Mann und Schriftsteller bis ins Mark prägte. In „Palast der Stille» waren es die Jahre an der US-amerikanischen Ostküste und nun die zwanzig Lebens- und Schreibjahre in der Region Donegal im Nordwesten Irlands.

«Irgendwann ersetzen unsere Erzählungen über das, was wir erlebt haben, unsere Erinnerungen daran.»

Hansjörg Schertenleib «Schule der Winde», 2023, 208 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 978-3-311-10051-5

„Schule der Winde“ ist aber nicht nur das verschriftlichte und verdichtete Nachspüren einer Zeit, die selbst jetzt, Jahre später noch immer in ihm nachhallt. Es ist auch nicht die Geschichte eines Entflohenen. „Schule der Winde“ ist ein Stück Leben eines Mannes, der neu beginnen will, der einen Ort gefunden hat, der Resonanz gibt. Von einem Mann, der ankommen will, nicht mit dem Anspruch, einer der I(h)ren zu werden, aber von den Menschen dort als der genommen zu werden, der er sein will. Erkannt zu werden. Wer sich wie er oder wie der Protagonist in seinem Roman Zeit gibt, wer den Menschen dort Respekt zeigt und sich nicht aufdrängen will, wer ihnen Zeit gibt, genauso wie der Landschaft, dem Wetter, den hörbaren und unhörbaren Stimmen, der schafft den langen Weg in die Herzen der Einheimischen; dem erzählt man Geschichten.

Ich begleite ihn auf seinen Spaziergängen am Meer, in die Pubs der Umgebung, lausche mit ihm den Gesprächen, den Stimmen im alten Schulhaus, den Krähen im Garten, der Musik an den Festen und dem Schmerz in den Erzählungen jener, die in den blutigen Jahren des offenen Kriegs der Konfessionen nicht nur Leben verloren, sondern ein tiefwurzelndes Trauma eingepflanzt. In jenes Haus auf dem Hügel, einst ein Schulhaus für Kinder einer ganzen Gegend, ein Haus voller fremder Möbel und Gegenstände, Mauern und Zimmer, die er erobern musste. Ich lese von einem Mann, der sich selbst zurückerobert, seine Ruhe, seine Kraft, seine Stimme, sein Schreiben.

«Nicht die Vergangenheit ist das Bedrohliche, es ist das Vergessen.»

Ich staune über die Poesie seiner Sätze, wie sich der Nachhall seiner Stimmen in mir festsetzt. Wie Hansjörg Schertenleib mit grosser Kunstfertigkeit Bilder erzeugt, die mich mitten ins Beschriebene versetzen, tief in eine Wahrnehmung, die mich zu seinem Verbündeten macht. Da sind aufgeschnappte Dialoge aus den Pubs, nacherzählte Lebensgeschichten von ehemaligen Schülerinnen und Schülern, die die Schulbank der Four Masters National School drückten, dystopische Geschichten eines Schriftstellers, der die Augen nicht verschliesst, Rückblenden in die blutige Geschichte eines Landes, das dem Mann ans Herz gewachsen ist und die Schilderungen eines Lebens in und um den in die Jahre gekommenen Schriftsteller, die bezeugen, wie sehr man eintauchen kann.

Dieses kluge Buch ist Balsam.

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, gelernter Schriftsetzer und Typograph, ist seit 1982 freier Schriftsteller. Seine Novellen, Erzählbände und Romane wie die Bestseller «Das Zimmer der Signora» und «Das Regenorchester» wurden in ein Dutzend Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet, seine Theaterstücke auf der ganzen Welt auf die Bühne gebracht. Schertenleib lebte zwanzig Jahre in Irland, vier Jahre auf Spruce Head Island in Maine und wohnt seit Sommer 2020 im Burgund.

Rezensionen der Bücher von Hansjörg Schertenleib: «Im Schilf«(2023), «Die grüne Fee» (2022), «Offene Fenster, offene Türen» (2021), «Palast der Stille» (2020), «Die Hummerzange» (2019), «Die Fliegengöttin» (2018)

Beitragsbild © David Clough

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen», Limmat #SchweizerBuchpreis 23/09

Sarah Elena Müllers Debütroman „Bild ohne Mädchen“ scheint LeserInnen genauso zu verunsichern wie die Literaturkritik, in der über das Unausgesprochene im Roman eifrigst geschrieben wird, über Pädophilie, Kindsmissbrauch. Nicht dass das Thema nicht wichtig wäre. Aber der Roman der jungen Autorin ist weit mehr als die Auseinandersetzung mit einem Tabuthema, das sonst eigentlich eher sprach- und fassungslos macht.

Sarah Elena Müllers Roman ist schwere Kost. Zum einen, weil er von mir einiges abverlangt, weil die Autorin der Kontur ihrer Figuren, dem Geschehen ganz langsam von einem traumhaft nebulösen Aussen gegen ein traumatisches Innen folgt, zum andern, weil es der Autorin nicht darum geht, dort den Täter als lüsternes Monster und hier das Mädchen als hilfloses Opfer zu zeichnen. Sarah Elena Müller geht es um die Zwischenräume. Zum einen um die fluide Welt eines Mädchens, das sich selbst überlassen ist, zum andern um die kaputte Welt eines Mannes, der die Bodenhaftung gänzlich verloren hat im Gravitationsfeld abgefahrener Gedankenwelten und den Untiefen seiner verlorenen Seele. Die Autorin schafft es, das Unsägliche zu beschreiben, die Verlorenheit einer Gesellschaft, die sich aus wahrhaften Beziehungen verabschiedet hat, in der die Zentrifugalkraft der Individualisierung aus dem Einzelnen einen einsamen Komet macht. Sie beschreibt Bilder aus den Grenzregionen zwischen Realität und Traum, zwischen den Feinheiten von Empfindungen und düsterem Alp.

Sarah Elena Müller «Bild ohne Mädchen»; Limmat, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 30.00, ISBN 978-3-03926-051-5

Ein Bergdorf irgendwo. Der Grossvater des Mädchens ist gestorben, die Grossmutter die einzige, die dem Mädchen ein Gesicht zeigt. Die Mutter, eine verstiegene Bildhauerin, der Vater Biologe und Umweltaktivist, beide auf ihre Art nie da, selbst dann, wenn sie das Wort an das Mädchen richten. Das Mädchen bleibt mit sich allein. Allein mit einem Engel, allein mit ihrem Nachbarn, einem schrulligen Medienmann, einem ehemaligen Professor aus Berlin, mit Bildschirmen, Computern und allem möglichen Filmequiment, bei dem sie tun darf, was ihr zuhause verwehrt bleibt, zum Beispiel Bildschirmkonsum. Ege gibt ihr die Aufmerksamkeit, die ihr zuhause fehlt. Dort spielt sich Welt ab, hat selbst der Engel, den das Kind begleitet, eine Stimme. Das Mädchen hat keinen Namen, ganz im Gegenteil zu Ege und seiner Partnerin Gisela, die eigentlich genau spürt, was in den Kellerzimmern ihres Hauses geschieht, aber die Bilder von sich wegwischt.
Selbst das Bettnässen des Kindes, die schulischen Schwierigkeiten, das Fehlen von Freunden, das Schwänzen – nichts alarmiert die so sehr mit sich selbst beschäftigten Eltern, dass irgendetwas sie zum Handeln zwingen würde. Das Mädchen, mit seinem einzigen ernsthaften Gegenüber, dem Engel, mit dem sie Zwiegespräche führt, ist sich selbst überlassen. Was zu Beginn des Romans wie eine Welt in leicht zunehmender Schieflage erscheint, wird mit der Dauer des Romans immer mehr zu einer dunklen Fahrt in die Untiefen menschlichen Verlorenseins. Die Kapitel, überschrieben mit „das Kind – das Mädchen – die Tochter – die junge Frau“ begleiten ein Leben, in dem ein Trauma zum Koloss wird. Eine Erfahrung, die die Autorin in umfangereichen Recherchen mit dem Schreiben dieses Romans nachempfinden wollte. Es geht der Autorin weder um Schuldzuweisung noch um Verurteilung. Wir leben in einer Welt, in der man die Nähe zueinander verloren hat, in der Wegschauen zur Überlebensstrategie wurde. Alle in Sarah Elena Müllers Roman sind Verlorene – und vielleicht ist das das letztlich Schwere an diesem Roman; dass mich Sarah Elena Müller nicht in eine wiedergefundene Ordnung entlässt – ganz im Gegenteil.

Der eigentliche Protagonist dieses Buches ist der Sound, die Sprache. „Bild ohne Mädchen“ ist ein tiefer schwarzer Brunnenschacht, an dessen Rand man in die Tiefe lauscht und weiss, dass da unten seltsam dunkle Gesänge tönen.

Als einzige Frau unter den Nominierten des Schweizer Buchpreises ist «Bild ohne Mädchen» alles andere als ein Aussenseiter. Vielleicht repräsentiert Sarah Elena Müller unter den fünf Nominierten «das Experimentelle», zusammen mit «Der graue Peter» von Matthias Zschokke die Phalanx der Mutigen!

Sarah Elena Müller, geboren 1990, arbeitet multimedial in Literatur, Musik, Virtual Reality, Hörspiel und Theater. Sie tritt im Mundart Pop Duo «Cruise Ship Misery» als Ghostwriterin und Musikerin auf und leitet das Virtual Reality Projekt «Meine Sprache und ich» – eine Annäherung an Ilse Aichingers Sprachkritik. 2019 erschien ihr Szenenband «Culturestress – Endziit isch immer scho inbegriffe» beim Verlag Der gesunde Menschenversand. 2015 erschien die Erzählung «Fucking God» beim Verlag Büro für Problem. Als Mitbegründerin des Kollektivs RAUF ­engagiert sie sich für die Anliegen feministischer Autor*innen in der Schweiz. Sarah Elena Müller war 2023 Stipendiatin und Gast im Literaturhaus Thurgau.

Webseite der Autorin

Illustrationen © leale.ch

 

Laura Vogt «Die liegende Frau», Frankfurter Verlagsanstalt

Laura Vogt liest im Literaturhaus Thurgau und an den Weinfelder Buchtagen

Wir alle suchen nach dem Glück. Noch vor hundert Jahren schien das Glück festgeschrieben zu sein. Es war eines, das ganz aus männlicher Perspektive geschrieben war. Wie Familie, Liebe, Karriere und Erfolg auszusehen hatten, war noch bis vor wenigen Jahrzehnten männergeprägt. Laura Vogts neuer Roman ist einer, der aufbrechen will, die Geschichte von Frauen, die nach neuen Lebensentwürfen suchen.

Mit dreissig stehen Romi, Szibilla und Nora mitten im Leben – und doch nicht dort, wo sie ihre Träume hätte hinbringen müssen. Sie sind eingespannt in ein Leben, das von Zwängen, Sackgassen und Vorgegebenem dominiert wird, in atemlosem Takt, turbulent und mit der dauernden Angst, von Konventionen stillschweigend eingefangen zu werden. Drei Freundinnen, zerrieben in längst angezählter Vergangenheit und dem Traum einer Zukunft, in der sie sich endlich der Enge ihrer eingeschriebenen Rollen befreien können.

«Der Mann, die Frau mit Schwangerschaftsbauch und das Kind sitzen auf einem Sofa in einem frisch gestrichenen Wohnzimmer und lächeln, glücklich und gelassen. Aber diese Frau bin ich im Grunde nie gewesen. Welche Frau bin ich dann?»

Eigentlich hätten die drei Frauen gemeinsam ein paar Tage Urlaub machen wollen. Noch bevor Romi ihr zweites Kind zur Welt bringen würde. Aber ihre Pläne werden durchkreuzt, weil es Nora nicht mehr schafft, weil Nora liegen geblieben ist, im Zimmer ihrer Kindheit, einem Ort, den sie eigentlich schon längst hätte hinter sich lassen wollen. Weil sie aus einem Leben fliehen musste, das mit fehlender Perspektive zu ersticken drohte. Aber dort ist Meret, Noras  Tochter, nicht allein, behütet von Noras Mutter Anni. Romi und Szibilla mieten sich in einem schmuddeligen Wellnesshotel ganz in der Nähe ein, warten, dass Nora aus ihrem Dämmerzustand aufwacht und sehen sich im eigenen Dämmerzustand verloren, einem Leben im Dazwischen.

«Warum muss es immer dieses Entweder-oder sein. Warum unbedingt die Monogamie.»

Laura Vogt «Die liegende Frau», FVA, 2023, 320 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-627-00314-2

Romi reflektiert. Zum einen weil mit einem weiteren Kind die Pflichten einer Mutter nicht kleiner werden, weil sich Fragen aufdrängen, die seit Jahrzehnten nach Antworten schreien, Ereignisse in ihrer Familie, die sie nicht loslassen, weil Phil, dem Vater von Leon und dem werdenden Kind in ihrem Bauch zuhause die Ungewissheit den Atem nimmt und weil Dennis, ihre neue Liebe ihr genau das zu bieten scheint, wonach sich Romi sehnt. Nora, entflohen aus einer toxischen Beziehung, Szibilla, gepeinigt von Regelschmerzen und dem Unverständnis darüber, in diese Welt Kinder zu setzen und Romi, im Ungewissen, wie sie ihr Leben führen, wieder zurück auf eine Spur kommen will, wie sie all das auf die Reihe bekommen will, das ihr für ihr Leben unausweichlich erscheint – drei Frauen im Sturm dessen, was Aufbruch, Selbstbestimmung und tatsächliche Emanzipation aufwirbelt.

«Früher konnte man sich noch auf die Dinge verlassen.»

Romi liebt Phil. Romi liebt ihren kleinen Jungen Leon. Romi liebt das Kind, das sich im Bauch mit sich trägt. Aber Romi liebt auch Dennis, seine Art, sie ernst zu nehmen, seine Zärtlichkeiten. Und Romi liebt das, was sie als Möglichkeiten in sich trägt, was nach Klärung ringt in einer Welt, die noch immer fest verklebt mit Konventionen ist.

„Die liegende Frau“ ist ein leidenschaftlicher Roman über Weiblichkeit und Rollenverständnis, über kompromisslose Ehrlichkeit und den Wunsch, ein eigenständiges Leben führen zu können, ein Leben ohne Verstümmelungen. Laura Vogt schreibt vielstimmig, ernsthaft darum bemüht, allen Betroffenen Eigenleben zuzustehen. „Die liegende Frau“ ist ebenso fordernd wie herausfordernd, nicht zuletzt für Leser wie mich, die in einem ganz traditionellen Rollenverständnis gross wurden. Laura Vogt stellt Fragen, deren Antworten Konsequenzen fordern.

«Ich will mich häuten, Schicht um Schicht, wenn ich spreche, wenn ich schreibe.»

Laura Vogt, geboren 1989 in Teufen (Schweiz), studierte Kulturwissenschaften in Luzern und Literarisches Schreiben in Biel. 2016 erschien ihr Debüt «So einfach war es also zu gehen», mit dem sie u. a. zu den Solothurner Literaturtagen und zu PROSANOVA – Festival für junge Literatur eingeladen wurde. 2020 folgte der Roman «Was uns betrifft», der ins Englische übersetzt wurde. Sie schreibt neben Prosa auch lyrische, dramatische und journalistische Texte und ist als Schriftdolmetscherin und Mentorin tätig. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Ostschweiz.

Rezension von «Was uns betrifft» von Laura Vogt

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Maja Haderlap «Nachtfrauen», Suhrkamp

Nach dem Grossereignis „Engel des Vergessens“ musste man sich ein Jahrzehnt gedulden, bis Maja Haderlap erneut mit einem Roman auf der literarischen Bühne erscheint. Dass sich das neue Buch thematisch noch sehr vom Vorgänger unterscheidet, erstaunt nicht sehr, dafür umso mehr der Wille, sich sprachlich versöhnen zu wollen.

Maja Haderlaps Roman „Nachtfrauen“ ist vordergründig eine Auseinandersetzung mit einer alt gewordenen Mutter, dem Umstand, dass diese in absehbarer Zukunft in ein Altenheim umziehen muss, ein Schritt, den weder Mutter noch Tochter von sich aus initiieren würden. Maja Haderlap beschreibt eine Frau, die aus Wien für ein paar Wochen in ihre alte Heimat zurückkehren soll, um das zu beschleunigen, was ihr Bruder Stanko und Verwandte bereits ins Rollen brachten. Eine Frau, die widerwillig zurückkehrt, schon gar nicht auf unbestimmte Zeit, weil es ihr damals nur unter Aufbietung aller vorhandenen Kräfte gelang, sich aus der Umklammerung einer Gegend zu lösen, die schon mehr als ein Jahrhundert unter dem inneren und äusseren Kampf zweier „Volksgruppen“, dem slowenisch und deutsch sprechenden Südkärnten gefangen ist. Aus dem Gefühl, sich permanent für eine „Seite“ entscheiden zu müssen. Aus der Urschuld einer Familie, die mit dem frühen Tod des Ernährers den Boden unter den Füssen verlor.

«Das Dorf liess nicht von ihr ab. Es klammerte sich regelrecht an sie.»

Maja Haderlap «Nachtfrauen», Suhrkamp, 2023, 294 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-518-43133-7

Sie kommt widerwillig zurück ins Haus ihrer Mutter, das dem Fortschritt weichen soll. In ein Haus, das mit jedem Winkel Geschichten erzählt, in eine Gegend, einen Ort, eine Landschaft, von der sie glaubte, sich endgültig abnabeln zu müssen, um frei atmen zu können. Aber kaum zurück, schluckt sie die Vergangenheit. Nicht zuletzt das nie überwundene Gefühl, am Tod ihres Vaters Schuld zu sein. Damals, sie war noch ein Kind, brachte sie ihm das Essen in den Wald, rief seinen Namen, und genau in diesem Moment wurde dieser von einem fallenden Baum erschlagen. Nicht das tödliche Ereignis im Wald, sondern die Reaktionen im Ort, die Hilflosigkeit der Mutter, die Einsamkeit des Kindes vervielfachten die Katastrophe, das lange Leiden, das Unausgesprochene zwischen Mutter und Tochter.

«Der slowenische Dialekt war das Tor, durch das sie eine abgeschlossene, scheinbar zurückgelassene Welt betrat, die von Menschen bevölkert wurde, von Lebenden und Toten, die etwas von ihr wollten.»

Sie begegnet Jurij, ihrer Jugendliebe und erliegt den Gefühlen, die damals gar keinen Platz hatten. Sie schreibt nichtssagende Nachrichten an Martin, ihren Mann in Wien. Nur wenn sie auf langen Spaziergängen um den Ort ihrer Kindheit und Jugend die Enge vergisst, scheint etwas von der Zuversicht aufzuflammen, jener Zuversicht, die es braucht, um sich aus dem Unausweichlichen zu schälen.

Maja Haderlaps „Nachtfrauen“ ist erstaunlich versöhnlich angesichts der noch immer gährenden Unversöhnlichkeit in der Gegend aus der sie kommt. Der Sprachenzwist, das gegenseitige Misstrauen zwischen den beiden Sprachgruppen, die Ängste und Traumata sind genauso unauslöschlich wie das Trauma der Tochter ihrem Vater gegenüber. Maja Haderlap gibt sich nicht in den Szenen versöhnlich, sondern in der Art des Erzählens. Im zweiten Teil des Romans wechselt Maja Haderlap die Perspektive, schildert aus der Sicht der Mutter. Auch wenn es nie zu einer wirklichen Aussöhnung, einer Versöhnung kommt; Ich als Leser beginne zu verstehen. Sie beide, Mutter und Tochter, sind gefangen. Emanzipation ist ein Prozess, kein Zustand. Leben ist ein permanenter Versuch des Ordnens und Einordnens.

«Es war ihr, als müsse sie tief unter dem Schutt und der Asche des Zweiten Weltkriegs nach etwas graben, was damals zerstört werden sollte und doch am Leben geblieben war.»

„Nachtfrauen“ ist der tiefe Blick in die verklebten Seelen zweier Frauen, die sich durch die Zwänge ihres Lebens winden. „Nachtfrauen“ besticht aber vor allem sprachlich. Selten erfrischten mich Natur- und Stimmungsbeschreibungen so sehr wie in diesem Roman, der sich durch eine hohe Musikalität auszeichnet. Man spürt dieses ganz besondere Verhältnis der Autorin zur Sprache, zweier Sprachen, die viel mehr sind als Instrument, als Mittel zum Zweck. Maja Haderlap spürt in Schichten, die dem oberflächlichen Betrachter verborgen bleiben.

«Sie sehnte sich danach, begnadigt zu werden.»

Was für ein Buch!

Maja Haderlap wurde in Bad Eisenkappel / Železna Kapla (Kärnten) geboren. Nach einem Studium der Theaterwissenschaft und Germanistik war sie Lehrbeauftragte an der Universität Klagenfurt und lange Jahre Chefdramaturgin am Stadttheater Klagenfurt. Sie veröffentlichte Lyrik in slowenischer Sprache, ehe sie für einen Auszug aus ihrem Romandebüt «Engel des Vergessens» 2011 mit dem Ingeborg-Bachmann-Preis ausgezeichnet wurde. Weitere renommierte Preise folgten, wie der Max Frisch-Preis 2018 oder der Christine Lavant Preis 2021.

Beitragsbild © Heike Steinweg

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen

Buchtaufe im Literaturhaus Thurgau

Ich habe mir zuhause einen Vorrat an Zsuzsanna Gahse Büchern angelegt. Warum? Weil ich ihre Bücher, erschienen in der Edition Korrespondenzen, über alles liebe. Ihre Prosaminiaturen, die für mich reine Poesie sind, nennt sie Störe;„Störe bewegen sich zwischen langen Erzählweisen und Gedichten, zwischen Essays und Novellen, szenischen Texten und Performance-Vorlagen“.

Gastbeitrag von Thomas Kunst
Schriftsteller, Dichter, Kleist-Preiträger

„Zeilenweise Frauenfeld“ ist ein Bühnengewässer, in welchem die Dinge durcheinandergeraten können, wenn man das entlarvende Lesen gegen ein nachdenkliches Lesen eintauscht. Die Frauen an den Treppen. Die Frauen auf den Demos. Die kleine Kellnerin. Die Tochter der Wienerin. Damen und Frauen. Manu. Die Welsche. Nandu. Nora. Die Unbrennbare. Eine schwarz gekleidete Frau. Die Frau in Indigo. Frauen von vor etwa hundertfünfzig Jahren. Frauen beim Stolpern, Stürzen und Sterben. In einer Frauenfelder Inszenierung. Popkonzerte. Illusionen. Bahnhofsvorplätze. Festivals.

Das Bühnenwasser der Murg. Die Brücken und Stege von Frauenfeld. „Viele setzen sich bei der diesjährigen Trockenheit einfach ins Gras, aber wir haben uns vor Kurzem kleine, leichte Klappstühle besorgt, mit denen wir sogar durch die Stadt ziehen und beliebig Pausen einlegen, die zu unserer Langsamkeit passen.“ Die Chance, dass Texte zu großer Literatur werden, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit. Zsuzsanna Gahse schafft es, uns auf ihre Prosafelder zu entführen, ohne uns daran zu erinnern, dass das Denken auch eine konzentrierte Fortbewegungsart des Sehens sein kann.

Ich musste beim Lesen von Zsuzsannas Buch an ein Gedicht von einem meiner amerikanischen Lieblingsdichter denken, das ich Mitte der neunziger Jahre zufällig beim Durchblättern einiger Ausgaben der Grazer Literaturzeitschrift „Manuskripte“ gefunden hatte: „Kriminalroman“ von Robert Kelly, ein Titel, der in seiner deutlichen Bezeichnung hoffentlich nur liebevolle Genreirritationen ausgelöst hat. Dieses Gedicht hatte von Anfang an kein Entkommen für mich parat, zog mich, von seinem Tempo, von seiner Gelassenheit her, sofort in seinen ambivalenten Kreis, beeindruckte mich vor allem durch die verhaltene Ökonomie im Gebrauch seiner Mittel, ein Gedicht, das klar und stringent war, elliptisch und karg, fast nur aus Hauptwörtern bestehend, wie es vielleicht seinerzeit Gottfried Benn in seiner Rede „ Probleme der Lyrik“ vorgeschwebt sein mag, ein Gedicht, geräumig entschlackt von verbalem Geraune und adjektivistischer Ausgelassenheit, einer der unverbindlichen Arten überzeichneter Wahrnehmungsplusterung.

„…Bei der Klinke. In der Schublade.
Mit einem Taschentuch in der
Hand. In der Hand. Im Zimmer
die Hand. Im Zimmer. Auf dem Vorleger
neben dem Bett. Neben dem Bett. Im
Bett. Chenille. Auf dem Bett. Im Bett.
Im Zimmer im Bett. In dem Zimmer
In dem Bett…“

Zsuzsanna Gahse «Zeilenweise Frauenfeld», Edition Korrespondenzen, 2023, 150 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-902951-78-6

Genauso fühle ich mich beim Lesen der grandiosen Bücher von Zsuzsanna Gahse, das Glücksgefühl der Anstrengung bei der Lektüre auf sich zu nehmen, nicht nachzulassen in einer Art von musikalischer Konzentriertheit, den Einzelsätzen zu vertrauen, den sprachlichen Herzstücken der Gedanken niemals die Kondition bei der Durchblutung der poetisch-intuitiven Verästelungen zu versagen, wie es der kubanische Dichter José Lezama Lima einmal formuliert hat. „Nur die Anstrengung kann uns anregen, nur der Widerstand, der uns herausfordert, kann unser Erkenntnisvermögen geschmeidig krümmen, es wecken und in Gang halten.“ 

Verzeih mir, liebe Zsuzsanna, dass ich versucht habe, mich mit fremden Federn deinem neuen Buch zu nähern. Es ist deine Freiheit. Es ist meine Demut und auch ein Scheitern in Liebe.

Die Chance von Texten, große Literatur zu sein, ist ihre Nicht-Nacherzählbarkeit.

Es gibt Störe in der Murg. Wenn man sich Klappstühle ans Wasser stellt, kann man sie zählen, bestaunen und bei austauschbaren Temperaturen auswendig lernen, denn Die alten Jahreszeiten gehören zum Weltkulturerbe. Für diese Sätze liebe ich dich und deine Bücher. 

„Ein Buch soll eine innige Mischung meiner wahren und falschen Erinnerungen sein, meiner Ideen, Hypothesen und imaginären Erfahrungen – all meiner verschiedenen Stimmen, ein Buch, das sich als Ausdruckswille dessen zu erkennen gibt, der da spricht, mit der freiesten Phantasie und mit äußerster Genauigkeit, in Prosa und Vers, beim Erwachen des Denkens zu sich selbst.“ (Paul Valery, Faust III)

Zsuzsanna Gahse, geb. 1946 in Budapest, aufgewachsen in Wien und Kassel, lebte längere Zeit als Schriftstellerin in Stuttgart und Luzern, zurzeit wohnt sie in Müllheim, Schweiz. Zahlreiche Preise und Auszeichnungen, u. a. aspekte-Literaturpreis (1983), Adelbert-von-Chamisso-Preis (2006), Italo-Svevo-­Preis (2017), Werner-Bergengruen-Preis (2017), Schweizer Grand Prix Literatur (2019).

Webseite der Autorin

Illustration © leale.ch / Literaturhaus Thurgau

Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser

Wie fragil die Welt eines Vierzehnjährigen ist, wie leicht sie kippen kann und wie sehr Bindungen in dieser Zeit lebensentscheidend sind, davon erzählt Michael Köhlmeier in seinem Buch, das vielfach überrascht.

Frank lebt mit seiner Mutter ein gut eingerichetes Leben in Wien. Seine Mutter ist Schneiderin an der Wiener Volksoper, seit Frank grösser ist, auch einmal abends zur Arbeit weg, manchmal auch noch länger, weil sie das Danach mit der Truppe so mag und weil sie nicht fürchten muss, Frank würde darunter leiden. Sie sind gut eingespielt. Jeden Mittwoch kocht Frank. Nicht weil er muss, sondern weil er das Kochen mag. Und weil Mutter ihn dafür lobt. Sie loben sich gegenseitig. Keine der problematischen Beziehungen. Mehr Probleme hat Frank in der Schule.

Aber ein tatsächliches Problem taucht ganz am Ende der langen Ferien auf. Man informiert Frank und seine Mutter, dass Franks Grossvater nach 18 Jahren aus dem Gefängnis entlassen wird. Und bis für diesen ein eigenes Zuhause gefunden werden kann, quartiert man ihn bei seiner Tochter, seinem Enkel ein. Frank weiss von seinem Grossvater. Als er noch klein war, hatte man ihn noch zu Besuchen im Gefängnis mitgenommen. Aber der Grossvater war immer im Gefängnis, bis zu dem Tag, als er sich in der Küche bei ihm und seiner Mutter einnistet und wieder nur sitzt, wartet, raucht und Nachrichten aus seinem kleinen Radio hört.

Michael Köhlmeier «Frankie», Hanser, 2023, 208 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-446-27618-5

Eine kleine Welt bricht aus den Fugen. Da hilft auch das „Frankie“ nicht, mit dem der plötzlich anwesende Grossvater den Schlüssel zu seinem Enkel sucht. So sehr der Grossvater zuvor nur eine stille Ahnung war, wird er mit einem Mal zu einem tatsächlich anwesenden Geist, der alles durchsetzt. Frank ist gleichermassen fasziniert wie verunsichert. Verunsichert darum, weil sich dieser Mann in seinem Leben festkrallt, die Mutter verängstigt und ihre Leben auf den Kopf stellt. Fasziniert, weil da einer so ganz anders zu ticken scheint, als der Rest der Welt.

Das Erstaunliche an dem Roman ist, dass er sich nicht um die Gründe schert, warum der alte Mann, der nicht Opa genannt werden will, von dem Frank erst jetzt seinen Vornamen erfährt, insgesamt mehr als ein Viertel Jahrhundert in Gefängnissen sass, was die Gründe waren für seine letzten 18 Jahre Haft. Michael Köhlmeier interessiert sich für das, was zwischen dem Alten und dem Jungen passiert. Man sucht sich seine Eltern und Grosseltern nicht aus. Familien sind Schicksalsgemeinschaften, denen man in Wahrheit nicht entfliehen kann. Es sind zwei Gestirne, die umeinander kreisen. 

Michael Köhlmeier erzählt aus der Perspektive des Vierzehnjährigen, von einem, der glaubt, das Leben doch schon recht gut im Griff zu haben, auch wenn sich sein kleines Glück in Tat und Wahrheit bloss in der kleinen Wohnung zusammen mit seiner Mutter abspielt. Da taucht einer auf, der sich nicht um Regeln kümmert, einer, der nichts mehr zu verlieren hat, aber vielleicht jemanden, der ein Stück von ihm weiterträgt. So wie Frank ganz am Anfang seiner Selbstständigkeit steht, so ahne ich als Leser, dass dieser alte Mann an seinem Ende steht, keine Lust mehr verspürt, sich durch irgendetwas oder irgendjemanden einsperren, eingrenzen, fesseln zu lassen. 

Michael Köhlmeier konstruiert eine Geschichte, in der ich mit angehaltenem Atem zusehen muss, wie Frank im Strudel der Geschehnisse aus seiner empfänglichen Jugend in einen Sturm hineingerissen wird, in dem er sich selbst zu verlieren droht. „Frankie“ ist ein Roman, der viel mehr Fragen hinterlässt, als erzählte Antworten gibt. Das ist als Leser oder Leserin auszuhalten und führt vor, dass dieser Roman trotz seines jugendlichen Sounds alles andere als ein Jugendroman ist. Überhaupt gelingt es Michael Köhlmeier erstaunlich gut, den Ton eines etwas altklugen Jungen zu treffen, der sich in der Schwerelosigkeit der Adoleszenz zu orientieren versucht.

Fesselnd und vielfach überraschend!

Michael Köhlmeier, in Hard am Bodensee geboren, lebt in Hohenems/Vorarlberg und Wien. Er hat Romane, Gedichte und Kinderbücher veröffentlicht. Er wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. 2017 mit dem Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Marie Luise Kaschnitz-Preis für sein Gesamtwerk und 2019 mit dem Ferdinand-Berger-Preis. Seit 1981 ist Michael Köhlmeier verheiratet mit der Schriftstellerin Monika Helfer.

Weitere Rezensionen zu Michael Köhlmeiers Bücher auf literaturblatt.ch: «Die Nacht der Diplomaten»,  «Umblättern und andere Obsessionen», «Erwarten Sie nicht, dass ich mich dumm stelle»

Beitragsbild © Peter-Andreas Hassiepen

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge #SchweizerBuchpreis 23/06

Ein monströses Kreuzfahrtschiff irgendwo in arktischen Gewässern. In einer Zukunft, in der Eisberge zu blosser Erinnerung werden und man im T-shirt an der Reeling stehen kann, verliert ein Mann seine Frau. Sie verschwindet in den Tiefen des stählernen Ungetüms. Adam Schwarz schrieb einen schillernden Roman zwischen Dystopie, Gametripp und Psychose.

„Glitsch“ ist ein Fehler in einem Computergame, wenn Figuren verzerrt sind, falsch zusammengesetzt, wenn Risse in der Spielwirklichkeit auftauchen. Adam Schwarz zweiter Roman spielt in einem begrenzten Schiffskosmos, in dem alles immer mehr verzerrt scheint. Was einst die Welt ausmachte, spielt in diesem Kosmos keine Rolle mehr. Es ist nicht nur die Kulisse eines in die Jahre gekommenen, aus der Zeit gefallenen Kreuzfahrtschiffes, genauso die Menschen, die in einer seltsam unergründlichen Ordnung ein Leben auf dem schwimmenden Koloss aufrecht erhalten, dass sich den sonst geltenden Regeln entzieht – eben so, wie sich in Computerspielen eine Welt auftut, die nach eigenen Gesetzen und Regeln funktioniert.

„Glitsch“ spielt in naher Zukunft. Der Menschheit ist es nicht gelungen, sich vom Abgrund der Selbstzerstörung abzuwenden. Im Gegenteil. Man taucht in Fatalismus, emigriert in einen sektiererischen Bewusstseinszustand, der die Rettung verspricht. Eine Kreuzfahrt durch eine Arktis, die nur noch in Erinnerung jene ist, die in der Gegenwart langsam dahinschmilzt.

Adam Schwarz «Glitsch», Zytglogge, 2023, 296 Seiten, CHF ca. 32.00, ISBN 978-3-7296-5119-7

Léon und Kathrin besteigen die Jane Grey, eine Reise mit 2500 anderen Passagieren, um wie auf Prospekten gepriesen, ein paar Wochen „die Seele baumeln zu lassen“. Obwohl Léon schon vor dem Besteigen des Kreuzfahrtschiffes spürt, dass Kathrin eigentlich lieber alleine auf dem Dampfer gewesen wäre und ihm Ferien auf einem solchen Ungetüm falsch und aus der Zeit gefallen erscheinen, checken die beiden ein und beziehen ihr Zimmer in der Kategorie Superior. Aber kaum losgefahren, verschwindet Kathrin spurlos und für Léon beginnt eine Odysee im Bauch dieses Ungetüms.

„Ich brauche etwas Zeit für mich. Such mich nicht.“

Nicht nur Kathrin verschwindet. Er selbst scheint aus dem schiffseigenen System verschwunden zu sein. Sein Zimmer bleibt ihm verwehrt, an der Rezeption muss er feststellen, dass sein Name getilgt ist, man stellt ihm nach, von Kathrin keine Spur. Léon taumelt durch die endlos scheinenden Gänge des Schiffes, jene, die nur dem Personal gelten, durch Räume, die in kaltes Licht getaucht sind, so ganz anders wie die Plastik- und Kunststoffwelten in den Erlebniswelten der zahlenden Passagiere.

Bis er Kathrin für einen kurzen Moment sieht, gekleidet in einen neopremartigen Anzug, umringt von anderen, in einem seltsamen Ritual. Léon wird klar, dass sich Kathrin ganz offensichtlich in die Fänge einer Art Sekte fallen liess. C. C. Salarius, Autor suspekter Bücher, Begründer einer Bewegung, die „an den Ursprung, ins Meer zurückkehren und die Sprache hinter sich lassen will“, scheint das Schiff wie ein Pilzmycel durchsetzt zu haben. Gibt es überhaupt eine Chance für Léon, Kathrin zurückzugewinnen, dieses Schiff, das sich immer mehr in einem dichten Nebel verschobener Wahrnehmungen verliert, zu verlassen?

„Glitsch“ ist schwer fassbar – und genau das macht den Reiz dieses Romans aus. Ein fellini’sches Ungetüm dampft durch eine Welt, die dem Untergang geweiht ist. Eine Figur, die sich wie im Computergame immer weiter im Bauch eines sich ständig verändernden Ungetüms verliert. Szenarien, die sich im Rausch aufzulösen scheinen, sich allen Regeln entziehen. Es sind starke Bilder, alptraumartige Szenerien und eine Handlung, die zwischen Realem und Fantastischem mäandert. Da ist eine Gesellschaft, die sich den Tatsachen verweigert, Menschen, die sich in Verklärung flüchten, ein Paar, das sich in der Masse verliert und ein Protagonist, der nach einem Ausweg sucht.

Ein Buch wie ein Alptraum, wie ein Tripp in die Welt dahinter. 

… und schön, dass der kleine Traditionsverlag «Zytglogge» als Rennstall mit von der Partie ist!

Interview

„Glitsch“ ist ein Begriff aus der Welt der Computergames. Ganz offensichtlich sind Sie vertraut mit dieser Form des Spiels, einer Welt, die einem entweder vertraut oder fremd ist. Ihr ganzer Roman erinnert an ein Game. Das Spiel, das Schiff – tonnenschwere Metaphern?
An Kreuzfahrtschiffen interessiert mich, dass sie Nicht-Orte sind. Von privaten Konzernen geführte, abgeschlossene, quasi ausserhalb der Staatlichkeit operierende Welten, die eine Schein-Öffentlichkeit vorgaukeln. Zugleich haben diese Schiffe als Handlungsort etwas Abgeschlossenes: Man kann sie nicht leicht verlassen, und die Handlungsoptionen auf dem Schiff sind begrenzt, geht es doch vor allem um den Konsum.
Bei Videospielen ist das ähnlich: Sie sind ebenfalls abgeschlossen und die Handlungen vorgegeben, alles untersteht einem Programmiercode. Doch in Form der Glitches, von nicht vorgesehenen Störungen im Code, lässt sich die Möglichkeit einer Befreiung erahnen. Diese Glitches unterbrechen den Spielfluss und weisen dadurch auf die Gemachtheit des Spiels hin. Sie zeigen, dass jede Welt auch eine andere sein könnte. Deshalb sind sie für mich etwas Positives.

Die Pandemie hat uns deutlich gemacht, wie sehr sich Menschen in eigene Welten, eigene Anschauungen zurückziehen, flüchten, einigeln und verschanzen können. Besitzt der Mensch das offensichtlich unstillbare Bedürfnis, sein Leben mit Mystik, Geheimnis und dem Glauben an Erlösung aufzublasen?
Mir scheint, ein gewisses Bedürfnis nach Transzendenz teilen die meisten Menschen, auch wenn sie, wie ich, nicht religiös sind. Diese Transzendenz zeigt sich für mich als Atheisten am ehesten in einer Begegnung mit Dingen, die das eigene Zeitmass überschreiten – zum Beispiel Berge, Bäume und Sterne. Das kann, glaube ich, bestenfalls zu einer Erweiterung und Öffnung führen, die Demut lehrt und den Egoismus schwächt.
Der Rückzug in eigene, abgeschlossene Welten, den Sie ansprechend, zeugt für mich dagegen eher von Angst und Ressentiment, die aus einer zu starken Ich-Bezogenheit resultieren. Es ist der unbedingte Wille, recht haben zu wollen, eine klar abgegrenzte Welt, in der es (scheinbar) nichts Unbestimmtes gibt, die Unfähigkeit, Ambiguitäten auszuhalten. Das kann zu einer Art von Selbstvergiftung führen, für die bis jetzt leider kein Heilmittel gefunden wurde.

aus dem Zettelkasten des Autors © Adam Schwarz

Dass Sie für einen Roman, der in der Zukunft spielt, in einer Zeit, in der sich ein Grossteil der Menschen mit den globalen Veränderungen des Klimas abgefunden haben und höchstens noch fatalistisch darauf reagieren, auf einem Kreuzfahrtschiff spielen lassen, macht ihren Roman erfrischend schräg. Ob Raumschiffe, Kreuzfahrtschiffe oder die eigene Jacht, das kleine Boot – sind das Fluchtvehikel?
Ja, wobei es für den Menschen so betrachtet kein Entkommen gibt. Selbst in einem Raumschiff am anderen Ende Milchstrasse würde er seine menschlichen Denkkategorien und die damit verbundene Sprache noch mitnehmen; er kann niemals aus sich heraus – dass Salarius, der ominöse Autor in «Glitsch», ebendiese Befreiung aus der Sprache anstrebt, zeugt von der zunehmenden Zerrüttung angesichts des weltweit immer sichtbar werdenden Resultats ebendieser Denkkategorien. Anstatt vor der Verantwortung zu fliehen, scheint es mir jedoch angebrachter, diese zu übernehmen.

Léon verliert sich auf diesem «Totenschiff». Ob im Bauch eines solchen Schiffes, in den Sphären von Computergames, in den Schluchten einer Grossstadt, in einem Buch – irgendwie schwingen Verzweiflung und Faszination ineinander. Kann man sich im Schreiben verlieren?
Oh ja! An «Glitsch» habe ich fünf Jahre gearbeitet, wobei ich die Geschichte immer wieder komplett umschrieb. Ich glaube, ich könnte theoretisch bis ans Ende meines Lebens an einem Text schreiben. Immer wieder gibt es Sätze, die mir nicht gefallen, oder es tauchen neue Ideen auf. Zum Glück gibt es immer wieder Impulse von aussen – in dem Fall war es eine Trennung, durch die mir klar wurde, dass «Glitsch» im Kern vor allem das ist: ein Trennungsroman. Das hat mich davon abgebracht, die halbe Welt in den Text hineinpacken zu wollen. Will heissen: Zum Glück gibt es nicht nur das Schreiben, sondern auch die Welt.

Kathrin, Léons Lebensgefährtin, scheint sich in die Fängen eines „Sektenführers“, eines „Gurus“, eines „Lehrers“ verheddert zu haben. Zurück in die Ursuppe allen Lebens, weg von der Sprache, mit der sich der Mensch aus dem Paradies argumentiert hat. In Zeiten, in denen Vereinsamung zu einer sozialen Grossbaustelle wird, sich der Wortschatz vieler Menschen immer mehr reduziert, scheint die Entfernung zur Sprache eine schleichende Tatsache zu sein. Muss das einen Schriftsteller nicht ängstigen?
Von einer Sprachverarmung zu sprechen, erscheint mir zu kulturpessimistisch. Im Gegenteil finde ich die Sprache ungeheuer lebendig und freue mich, welche Wortneuschöpfungen etwa die Jugend- und Internetsprache immer wieder mit sich bringt. Die Sprache ist etwas Fliessendes. Auch wenn viele Philosoph:innen es versucht haben, sie lässt sich nicht in einen Käfig stecken, sondern schwappt zwischen den Gitterstäben davon und nimmt immer neue Formen an.
Gleichzeitig fühle ich mich manchmal gefangen in der Sprache. Gibt es mich, uns, die Menschheit überhaupt ausserhalb der Sprache? Was wären wir ohne unsere Wörter und Begriffe? Was liegt jenseits davon? Lässt sich dieses «jenseits» überhaupt fassen, da uns dafür doch nur die Sprache zur Verfügung zu sein scheint? Können andere, nicht-sprachliche Formen der Kunst einem vielleicht zumindest eine Ahnung dessen verschaffen? Diese Fragen treiben mich um, wohl gerade, weil die Sprache sowohl in meinem literarischen Schreiben wie in meinem Brotberuf eine so tragende Rolle spielt.

Adam Schwarz, geboren 1990, studierte Philosophie und Germanistik in Basel und Leipzig. Seit 2011 veröffentlicht der Schriftsteller regelmässig Prosa in diversen Zeitschriften, darunter «entwürfe», «Das Narr», «Delirium», «Kolt» oder «poetin». Von 2016 bis 2020 war er Redaktor der Literaturzeitschrift «Das Narr». Zudem war er redaktioneller Mitarbeiter des «Literarischen Monats». 2017 erschien Adam Schwarz’ Debütroman «Das Fleisch der Welt», eine kritische literarische Auseinandersetzung mit dem Eremiten Niklaus von Flüe.

Webseite des Autors

Illustrationen © leale.ch

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge

Tanja Maljartschuk gewann 2018 den Ingeborg-Bachmannpreis, in einer anderen Zeit, einer anderen Welt, als hätten sich Gewalt und Kampf danach mit infernalem Grinsen gegen sie, ihr Volk, ihr Land, den Glauben an Menschlichkeit und die Kraft der Kunst gerichtet.

Dass die ukrainische Schriftstellerin die Einladung annahm, im Sommer 2023 das Wettlesen in Klagenfurt mit einer Rede zu eröffnen, ist ebenso mutig wie bewundernswert. Eine Veranstaltung zu eröffnen, die das eben Gesagte, das, was Tanja Maljartschuk nach Klagenfurt mitbrachte, postwendend wieder zu einer Nebensache macht, in der Texte und ihre ErschafferInnen ebenso im Rampenlicht stehen wie KritikerInnen, die sich zwischen Selbstinszenierung und Profilierung bewegen. Dass die Autorin angesichts der Ungeheuerlichkeiten, die sich in ihrem Land, in ihrem Freundeskreis, ihrer Familie abspielen, überhaupt noch Worte findet, treibt zumindest mir, der ich in meiner Bibliothek diesen Text schreibe und meine kleine Welt wohl geordnet sehe, Schamesröte in den Kopf.

«Ich betrachte mich selbst als eine gebrochene Autorin, eine Autorin, die ihr Vertrauen in die Literatur und – noch viel schlimmer – in die Sprache verloren hat.» Wenn das eine Schriftstellerin vor Publikum offenbart, eine Frau, die der Sprache ihr Glück, ihr Sein zu verdanken hat, ist ermesslich, was dieser Krieg mit all jenen anrichtet, die sehenden Auges miterleben müssen, dass ein Krieg nicht einfach ein Schauplatz irgendwo ist, dass Detonationen der Bomben, das Zischen der Kugeln, das Rasseln der Panzer mitten im eigenen Herz stattfindet mit dem Wissen, dass das eigene Leben niemals ausreichen wird, um die offenen Wunden vernarben zu lassen.

Tanja Maljartschuk «Hier ist immer Gewalt. Hier ist immer Kampf.» Klagenfurter Rede zur Literatur 2023, Edition Meerauge, mit Linolschnitten von Valentyna Pelykh, 2023, 32 Seiten, CHF ca. 18.90, ISBN 978-3-7084-0686-2

Tanja Maljartschuk erzählt, wie sie zu Beginn des russischen Vernichtungskriegs an einem Roman schrieb, einem Roman, der für immer unvollendet bleiben werde, so die Autorin. Ihre literarische Auseinandersetzung mit dem Thema Holocaust in der Ukraine. Verständlich! Wie soll man sich mit etwas final auseinandersetzen, das noch immer geschieht; eine Vernichtung. In jenem Dorf, in dem sie aufwuchs, geschah gegen Ende des Weltkriegs ein schauerliches Massaker an der jüdischen Bevölkerung. Nichts und niemand schien sich mehr daran zu erinnern, auch ihre eigene Familie nicht. Und nun dieser Krieg gegen Zivilisten, gegen Mütter und ihre Kinder, alte Leute. Ein Krieg, der sich für viele Europäer nur in der Brieftasche und auf Bildschirmen abspielt. Ein Krieg, mit dem sich Betroffene nicht einfach auseinandersetzen können, als wäre es ein Objekt, das man schriebend umkreisen könnte.

Die Sprache ist alles, was Tanja Maljartschuk hat. Und der Krieg macht sie mehr und mehr sprachlos, hat ihr das Vertrauen in das Gute der Sprache vernichtet, nicht bloss genommen. Sie schreibt. Die Sprache ist ihre Stimme. Die genau gleiche Sprache, mit der andere Soldaten in den Krieg peitschen, mit der Politiker und Generäle lügen, mit der man Millionen Russinnen und Russen blendet und im verbalen Dauerfeuer zur gefügigen Masse macht. Die selbe Sprache, mit der man Gedichte schreibt.

Das schmale Büchlein mit den Linolschnitten von Valentyna Pelykh endet mit einem hoffnungsvollen Zitat von Ingeborg Bachmann, dass einst ein Tag komme, an dem die Hände der Menschen begabt sein werden für die Liebe und […] für die Güte – ein Tag der den Menschen verheisst sie werden vom Schmutz befreit sein und von jeder Last, sie werden sich in die Lüfte heben, sie werden unter Wasser gehen, […] sie werden frei sein, es werden alle Menschen frei sein, auch von der Freiheit, die sie gemeint haben.

Grafiken: Valentyna Pelykh, Gesichter von Ukrainern, die durch russische Raketen und Geschosse verletzt wurden, Linolschnitte, 2023. Die Schnitte basieren auf Fotos von Danil Pavlov aus dem Reporters-Projekt Patched Up Souls. https://reporters.media/en/patched-up-souls/

Tanja Maljartschuk, 1983 in Iwano-Frankiwsk, Ukraine geboren, studierte Philologie an der Universität Iwano-Frankiwsk und arbeitete nach dem Studium als Journalistin in Kiew. 2009 erschien auf Deutsch ihr Erzählband »Neunprozentiger Haushaltsessig«, 2013 ihr Roman »Biografie eines zufälligen Wunders«, 2014 »Von Hasen und anderen Europäern«, 2019 ihr Roman »Blauwal der Erinnerung«. 2018 erhielt Tanja Maljartschuk den Ingeborg-Bachmann-Preis. Die Autorin schreibt regelmässig Kolumnen und lebt in Wien.

Rezension von „Überflutet“ auf literaturblatt.ch

Beitragsfoto © Tarima Darim