Annette Mingels «Der letzte Liebende», Penguin

Eine Frage, mit der sich die Literatur wie keine andere Kunstgattung immer und immer wieder beschäftigt; Was ist wichtig im Leben? Wonach streben wir? Wo liegt der Kern unseres Daseins. Annette Mingels beschäftigt sich in ihrem neuen Roman „Der letzte Liebende“ einmal mehr ganz direkt mit diesen Fragen. Mit Fragen, die wir uns irgendwann fast alle stellen werden.

Annette Mingels Roman erzählt die letzten Monate der Ehe von Helen und Carl Krüger – Helen ist todkrank und wird im Laufe des Romans sterben – und die ersten Monate nach ihrem Tod. «Der letzte Liebende“ erzählt aus der Sicht des eremetierten Professors, der mit seinem Ruhestand alles andere als seine innere Ruhe gefunden hat. Von einem Mann, der mit existenzieller Not konfrontiert wird und mit der Tatsache, dass gewisse Dinge uneinholbar verloren sind, Türen verschlossen bleiben.

Die Ehe zwischen Helen und Carl war schon lange nicht mehr das, was man sich unter einer funktionierenden Ehe vorstellt. Schon früh begann das Fundament zu bröckeln, nicht nur weil vorest der Kinderwunsch verwehrt blieb, sondern vor allem deshalb, weil Carl es nicht lassen konnte, aussereheliche Beziehungen entstehen zu lassen, nicht zuletzt in der Machtposition eines Professors einer Uni. Beziehungen, die sich nicht verheimlichen liessen. Selbst als sich mit dem Adoptivkind Lisa doch noch so etwas wie Familie einstellte. Irgandwann wurde Helens Leidensdruck so gross, dass sie Carl vor ein Ultimatum stellte. Aber selbst Carls Entscheidung gegen seine Geliebte rettete weder Ehe noch Familie. Helen zog sich in die oberen Stockwerke des grossen Hauses zurück. Man traf sich höchstens noch zufällig. Und als Helen krank wurde und ihre Ablehnung ihrem Ehemann gegenüber immer mehr zur Aversion, kippte auch Carls längst ramponierte Beziehung zu seiner Tochter Lisa in blanke Abneigung. Helens Sterben, ihr Tod gab Carl keine Möglichkeit mehr, an etwas Konstruktives anzudocken. Er hatte es verpasst.

«Ob das, was er fühlte, Einsamkeit war oder nur Erschöpfung, wusste er selbst nicht.»

Annette Mingel «Der letzte Liebende», Penguin, 2023, 304 Seiten, CHF ca. 34.90, ISBN 978-3-328-60295-8

Was sich nach dem Tod seiner Frau in Carl ausbreitet, hat schon lange zuvor begonnen. Eine lähmende Einsamkeit. Er weiss um seine Fehler, aber die Adressatin für eine aktive Wiedergutmachung, wenn sie dann überhauptmöglich wäre, ist tot. Carl weiss um seine Versäumnisse. Die Autorin beschreibt subtil, wie sehr sich Carl nur mühsam aus seiner Egozentrik herausschälen kann. Wäre da nicht Lisa, die selbst mit ihrem eingeschlagenen Berufsweg ihre Abneigung Carl gegenüber verdeutlicht; nur ja keine akademische Karriere! Helen stirbt und Carl droht damit noch viel mehr zu verlieren, als „nur“ eine Weggefährtin.

Bis ihm ein ehemaliger Kollege ein Romanmanuskript in die Hand drückt, in dem die Hauptperson ziemlich genau die Züge von Carl trägt. Ein Roman, den Karl mit ebensoviel Ekel wie Entrüstung liest. Bis Carl dem Sohn seiner Tochter, seinem Enkel, eine Reise in Carls Herkunftsland verspricht und sich auf dieser Reise in die Vergangenheit Perspektiven verschieben. Bis allen Teilnehmenden dieser anstrengenden Reise klar wird, dass sich hinter den Geschichten andere Geschichten verbergen und nur diese Geschichten klären können.

«Womöglich hatte er sein ganzes Leben lang etwas Entscheidendes übersehen.»

Annette Mingels erzählt nicht einfach von einem „alten, weissen Mann“, von Rollenbildern, die zaghaft aufbrechen und von Szenen einer kaputten Ehe. Es braucht unsäglich viel, bis Carl seine alte Schale aufbricht. Und von genau diesem langsamen Aufbrechen erzählt dieser Roman. Als Leser schüttelte ich immer wieder einmal den Kopf, tat mich schwer mit den Reaktionen dieses Mannes. Aber genau das will Annette Mingels; Auch wenn sie dem alten, weissen Mann dann doch noch entgegenkommt, will die Autorin keine rührselige Geschichte erzählen. Wann werden Schalen zu Rüstungen? Warum kann man sich nicht mehr aus seiner Rolle befreien, auch wenn man offenen Auges in die Katastrophe schreitet?

Ich mag den Protagonisten, weil Annette Mingels ehrlich und unmittelbar erzählt. Weil sie den Mann in seiner grenzenlosen Einsamkeit nicht schont. Und weil sie selbst diesen Mann mag. Ein absolut lesenswertes Buch!

Das Haus, das die Autorin von 2009 bis 2012 bewohnte, Myrtle Lane, NJ

Interview

Es hätte doch auch eine emeritierte Professorin sein können. Oder bot sich der „alte weisse Mann“ als ideale Projektionsfläche an?
Tatsächlich wurde ich zur Figur des Carl durch eine konkrete Begegnung inspiriert; für ein anderes Projekt interviewte ich einen emeritierten Professor, der auf verblüffende Weise gleichzeitig modern und in alten Privilegien verhaftet war. Es hätte tatsächlich auch eine emeritierte Professorin sein können – nur wäre es dann ein anderes Buch geworden, eines über eine „alte weisse Frau“, die ja tatsächlich auch das Gegenstück zum „alten weissen Mann“ ist und in vielfältiger Weise in Interaktion zu selbigem steht. Sie kommt im Roman nur indirekt vor – in Form von Carls Ehefrau Helen. Ihre Geschichte zu erzählen, könnte tatsächlich spannend sein.

Es muss im langen Leben von Carl unendlich viele Signale gegeben haben, die seine Egozentrik verdeutlichten. Aber er wollte sie weder sehen, hören oder spüren. Er wollte sein Leben leben, geniessen, seine Möglichkeiten ausschöpfen. Erst die Gewissheit der Endlichkeit, zuerst das Sterben und dann der Tod seiner Frau, dann die Angst vor totaler Einsamkeit bringen Carl dazu, sich millimeterweise aufzutun. Leben wir nicht in einer Zeit, in der die eigene Befindlichkeit alles andere relativiert? Hätten wir wirklich ein gemeinschaftliches Bewusstsein, würde uns die Gegenwart nicht grün und blau schlagen.
Ja, Carl hat die Signale gesehen und bewusst ignoriert, weil sie ihm dabei im Weg standen, das zu tun, was ihn glücklich machte. Er selbst würde sofort zugeben, dass er ein Egozentriker (gewesen) sei, aber dies sofort mit dem jedem Menschen zustehenden individuellen Glücksstreben entschuldigen. Erst als seine Möglichkeiten im hohen Alter immer geringer werden und ihm ausserhalb seiner Familie nicht viele Menschen bleiben, lässt er die Erkenntnis und auch ein Bedauern darüber zu, wie rücksichtslos er gewesen war. Was allerdings nicht bedeutet, dass er es – gäbe es ein nächstes Mal – besser machen würde. Trotzdem mag ich Carl – vor allem, weil er sich nicht einredet, es gut gemacht zu haben. Er ist sich seiner Fehler bewusst und weiss, dass die Zuneigung und Fürsorge seiner Tochter Lisa unverdient ist.

Carl, die Familie, sie machen eine Reise. Auch wenn die Reise nicht das brachte, was sich jeder erwartete, war die Reise, schon die Entscheidung dazu, ein erster Schritt, einer aus der Komfortzone. Eigentlich ist doch Mut der Schlüssel zu so vielem! Ist man als Schriftstellerin mutig? Man kann ja seine ProtagonistInnen agieren lassen.
Ja, das sagen Sie sehr richtig: man lässt seine ProtagonistInnen agieren – und das im ganz wörtlichen Sinne: Wenn ich einmal zu schreiben angefangen habe, entwickeln sich die Figuren oft in einer auch für mich unvorhergesehenen Weise und bekommen so etwas wie ein Eigenleben. Von daher ist mein Schreiben, glaube ich, oft mutiger als ich selbst.
Den Mut, den es dann von mir als Autorin noch braucht, ist der, mich mit einer Veröffentlichung der Kritik auszusetzen. Darüber hinaus bin ich, fürchte ich, nicht besonders mutig. Aber es gibt natürlich überall da, wo eine solche Veröffentlichung tatsächlich Mut erfordert, weil nicht nur Kritik, sondern auch Bestrafung droht – in repressiven Systemen – durchaus sehr mutige Autorinnen und Autoren.

„Schon seit einigen Jahren hatte er das Gefühl, dass er kaum noch gesehen wurde“, steht ziemlich am Anfang ihres Buches. Nicht ungewöhnlich für einen Mann, der sich während seiner Berufszeit stets im Mittelpunkt sah. Aber zugleich ein symptomatischer Satz für unsere Zeit, in der sich eine Influenzerin die Lippen zu Ballons aufblasen lässt und man um jeden Preis den Mount Everest besteigt, in der man dauernd Selfies von sich macht oder es zum Lebensziel werden kann, wenigstens einmal im Fernsehen zu erscheinen. Carl zieht sich nicht zurück, er wird abgedrängt. Brauchen wir um jeden Preis Aufmerksamkeit? Wo bleibt die Bescheidenheit?
Carl hatte durch seinen Beruf und durch seine relative Attraktivität eine Position, in der ihm fast automatisch Aufmerksamkeit zuteil wurde; sie war sogar wesentlicher Bestandteil dessen, was er an seinem Beruf liebte. Die ungeliebte Emeritierung und das Alter nehmen ihm nun das, was ihm viel bedeutete. Für mich ist er nicht jemand, der um jeden Preis auffallen will und seine 15 Minuten Ruhm braucht, aber er ist durchaus angewiesen auf Anerkennung und positive Resonanz, vielleicht auch, weil er diese innerhalb seiner Familie – auch selbstverschuldet – nicht erhält. Bescheiden muss er sich zwangsläufig; Bescheidenheit ist aber nicht seine stärkste Tugend. In diesem Punkt steht er wohl im Einklang mit unserer Gesellschaft.

Mit ihrem Roman setzen Sie die Familie auf ein Podest. Als Familienmensch sollte mir das gefallen. Und doch bröckelt dieses Fundament, dieses Ideal. Nicht zuletzt deshalb, weil dieses Ideal aus dem Fokus geraten ist. Nicht verwunderlich bei all den grassierenden Problemen, die sich nicht mehr ausblenden lassen. Wo Carl am Ende ihres Romans steht, ist in der Schwebe. Wo ich am Ende meines Lebens stehe, weiss ich nicht. Aber das Wissen um die Kraft der Familie werde ich dann brauchen. Ist das Schreiben eine Schärfung des Bewusstseins um die Frage: Was ist wichtig?
Ja, ich glaube, die Frage nach dem, was uns wichtig ist, bildet für die meisten Schriftsteller und Schriftstellerinnen den Resonanzboden ihres Schreibens und tritt in diesem in verschiedenster Weise immer wieder zutage. So liegt eigentlich all meinen Büchern eine grundsätzlich humanistische Betrachtung des Individuums zugrunde –  seiner Möglichkeiten und Grenzen, seiner Liebesbegabung und seiner Fehlbarkeit. Der enge Kosmos der Familie lässt all dies in besonderer Weise zutage treten; wie unter einem Brennglas zeigen sich hier die menschlichen Stärken und Schwächen.

Annette Mingels wurde 1971 in Köln geboren. Sie studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg und schloss mit einer Promotion in Germanistik ab. Von 1997 bis 2009 lebte sie in der Schweiz; neben der deutschen besitzt sie die schweizerische Staatsbürgerschaft. In der Schweiz hatte sie Lehraufträge an den Universitäten Neuenburg und Fribourg, ausserdem am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. Von 2009 bis 2011 lebte sie in Montclair (USA), anschliessend in Hamburg. Von 2018 bis 2021 lebte sie in San Francisco, seitdem bei Berlin. Für ihre Bücher erhielt Annette Mingels zahlreiche Stipendien und Werkbeiträge. Für ihr Buch “Was alles war” (Knaus, 2017) ausserdem den Buchpreis Familienroman der Stiftung Ravensburger Verlag.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders 

Annette Mingels «Nymphe», Plattform Gegenzauber

Sie kam zu spät, die anderen hatten schon mit dem Essen begonnen. Es war nur noch ein Platz frei, zwischen einem Mann und einer Frau. Wenn die Frau lächelte, wirkte es, als würde sie eine Übung durchführen, deren Ablauf sie beherrschte, an deren Sinn sie aber zweifelte. Der Mann war zierlich mit strähnig blondem Kinderhaar und schnurgeradem Scheitel. Auf dem Tisch standen große Schüsseln mit Miesmuscheln, jemand füllte ihren Teller, ein anderer ihr Glas. „Entschuldigung“, sagte sie nochmals, aber außer dem Mann neben ihr schien es niemand zu hören. Er sagte, „angenommen“, und hob sein Weinglas. „Pavel.“ „Mona“, sagte sie. Dann tranken sie.

Es ging um Politik, den Flüchtlingsstrom, der sich durch Mexiko zog, eine Wanderung von zweitausend Menschen. Viertausend, korrigierte einer. Und da kommen noch mehr, versprach ein anderer.
„Da war diese Mutter“, erzählte die Frau, die Mona schräg gegenüber saß. Ein beeindruckender Afro über einem ebenmäßigen Gesicht, irgendwie kostbar, dachte Mona, wie eine dieser kunstvoll geschnitzten Holzmasken. „An einem Seil kletterte sie von der Brücke auf ein Floß, um den Grenzfluss zu überqueren. Und ihr hinterher ihre Kinder, ganz fassungslos vor Angst.“ „Habe ich auch gesehen“, warf jemand vom anderen Tischende ein. „Und dann das Interview mit ihr!“
„Ja“, sagte die Frau. „Als der Reporter zu ihr sagt: Trump schickt Militär an die Grenzen, und sie nur entgegnet: Gott hat das letzte Wort, nicht Trump.“ „Zu flüchten, ist so unvernünftig. Aber zu bleiben auch“, sagte ein Mann mit grauen, millimeterkurzen Haaren. Er trug eine dickrandige Brille, wie sie vor einigen Jahren modern gewesen war. Ein asketisches Gesicht, schmaler Clark Gable Schnurrbart. Bestimmt Künstler, tippte Mona, vielleicht bekannt. Oder verkannt. Auf jeden Fall der Älteste hier. Sie zählte lautlos die Anwesenden, mit Felix, dem Gastgeber, waren sie dreizehn. Die dreizehnte Fee, dachte sie. Die zu spät kam. Wütend, weil für sie kein goldener Teller mehr da war.
„Das ist es, was Trump nicht kapiert“, fuhr der Künstler fort. „Dass seine Härte gegen die Verzweiflung nichts ausrichten wird.“
„Ist das ein Krieg?“, fragte die Frau neben Mona. „Eine Invasion?“
„Da hat wohl jemand zu viel Fox News gesehen“, sagte Pavel verächtlich. Muscheln durchreichen. Die Weinflasche. Das Klirren der leeren Muschelschalen, als sie zurück in die Schüssel geschoben wurden. Die Teller behalten, das Besteck auch, die Spülmaschine streikt, ihr versteht?, zustimmendes Nicken, dann erhoben sich zwei, nahmen die Schüsseln mit, gingen mit Felix in die Küche, Mona hörte sie lachen.
„Pavel“, sagte sie. „Ist das tschechisch?“
„Korrekt“, sagte Pavel. „Der Kleine. Das passt doch.“
„Mona… Vielleicht von Mönch abgeleitet?“
„Und? Passt das? Lebst du mönchisch?“
„Ach je.“ Mona lachte. „Kommt vor.“
„Selbst schuld.“ Pavel klang plötzlich gelangweilt. „Du lebst nur einmal, kleine Nonne. Denk dran.“
Der nächste Gang. Kalbsfilet durchreichen. Die Schüssel mit Kartoffeln, klein und rund und gelb. Erbsen. Bohnen. Ein Sonntagsessen. Das Gespräch war inzwischen zur Kunst gewechselt. Eine Ausstellung in der Bronx. Die Kunstsammlung von König Charles dem Ersten. Tizian, Holbein, Tintoretto, you name it. An der Wand der Lebenslauf des Königs, mit 49 hingerichtet, und davor neun Kinder, von denen nur eines älter als 35 wurde.
„Wenn du in den ersten Raum kommst, ist es wie in einem Albtraum: all die weißen Männer mit ihren Halskrausen und strengen Blicken, die dich anstarren.“ Die Frau neben Mona verzog angewidert das Gesicht.
„Starrst nicht viel eher du sie an?“, fragte ein Mann, den Mona bisher noch nicht bemerkt hatte. Sie musste sich vorbeugen, um ihn zu sehen: Vollbart, braune, etwas zu eng stehende Augen, nicht viel älter als sie, achtundzwanzig vielleicht, der oberste Knopf des weißen Hemdes geschlossen, was ihm etwas Verklemmtes gab.
„Das eine schließt das andere nicht aus“, sagte die Frau. Mona schätzte sie auf Ende dreißig. Sie hatte etwas Kindliches an sich, stupsnasig im Profil. Sie stocherte in den Erbsen herum, stach dann und wann ein paar auf, ihre Stimme klang fast trotzig.
Kim Jong-Un. Der Islam. Natürlich sei der Koran nicht gewalttätiger als die Bibel. Du sprichst vom Alten Testament? Weil beim Neuen sieht das dann doch etwas anders aus. Okay, aber wer war nicht alles Christ. Truman, Reagan, Bush, Trump. Oha. Jemand erzählte von einem neuen Gesellschaftsspiel, das natürlich nicht neu war, sondern genau wie Wahrheit oder Pflicht. Das hatte Mona schon mit ihren Freundinnen gespielt. Also: Was ist für dich persönlich Erfolg? Spaß am Beruf. Die Liebe. Taxifahren in Manhattan. Wie bescheiden! Eine eigene Wohnung. Die Privatschule für die Kinder. Das war der Mann mit den grauen Haaren gewesen, offenbar der einzige mit Kindern, da niemand darauf reagierte. Das charakterlich Mieseste, was du in letzter Zeit gemacht hast. Meine Mutter ausgeladen. Einen Kollegen gemobbt – aber hey, er hatte es verdient, glaubt mir. Wählt niemand die Pflicht? Was ist die denn? Alles außer Telefonscherze! Küsse eine der anwesenden Personen. Partner ausgenommen. „Ich überleg’s mir noch“, sagte der bärtige Mann.
„Und du, was hast du Schlimmes getrieben?“, fragte Pavel leise.
Mona trank einen Schluck Wein. „Eine Freundin belogen“, sagte sie dann. „Und was ist daran schlimm?“, fragte Pavel ungläubig. „Ich lüge jeden Tag.“ Er wechselte die Tonlage, leutseliger Gesichtsausdruck: „Aber nein, Liebling, natürlich bin ich dir treu, wo denkst du hin? Meinst du etwa, dass ich in deiner Wohnung, deinem Bett…? Wie kannst du nur!“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum muss er auch dauernd verreisen, n’est pas?“
„Bist du Schauspieler?“, fragte Mona. Sie merkte, wie sie innerlich ein Stück von ihm abrückte.
„Nein.“ Er sah sie prüfend an. „Bin ich nicht.“
Apple, Facebook, Tesla. Die Nerds sind Milliardäre geworden, und die großartige Idee vom guten Konsum verpufft. Wäre ja auch zu schön gewesen, so einfach sich und gleich noch der Welt was Gutes zu tun, indem man in einen neuen Laptop investiert oder ein Bild von seinem Lunch hochlädt. Und ist euch aufgefallen, dass wir alle gleich eingerichtet sind? Sogar dann, wenn wir die Sachen vom Flohmarkt holen, damit sie schön abgeschabt aussehen. In einer Ecke steht immer auch ein Eames Chair rum. Vielleicht müsste man aufhören zu konsumieren – hinaus ins Freie, ins abgeschiedene Leben, die Glückseligkeit an frischer Luft. Hat eigentlich jemand dieses Interview mit Sean Penn gesehen? Egal, was er gesagt hat, egal was er tut: alle reden nur über seine Raucherei und dass er auf Ambiant war. Als ob er der Einzige wäre! Als ob wir uns nicht alle aufputschen und runterholen müssten. Wer hat in der letzten Woche alles Drogen konsumiert?
„Okay“, sagte der Bärtige. „Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, jemanden zu küssen.“
Alle lachten, keiner hob die Hand, auch Mona nicht. Und der Bärtige blieb sitzen und küsste niemanden. Alles fake, dachte Mona.
„Und du bist Deutsche?“, fragte Pavel.
„Hört man das?“
„Nein. Oder vielleicht doch: ja. Aber Felix hatte dich angekündigt: seine deutsche Freundin.“ Pavel lächelte spöttisch und lieb.
„Eigentlich bin ich Amerikanerin.“ Das war immer ihr Ass im Ärmel: Eigentlich bin ich Amerikanerin. Auch wenn sie ihre Staatsangehörigkeit nur dem unwahrscheinlichen Umstand zu verdanken hatte, dass ihre Eltern ein Jahr in Houston gelebt hatten, wo ihr Vater als Ingenieur beim amerikanischen Ableger des bayrischen Mutterkonzerns arbeitete und ihre Mutter, von der texanischen Sonne belebt, unerwarteter Weise doch noch einmal schwanger geworden war. Sodass nicht ihre Tochter, die zwecks Abitur in Deutschland geblieben war, sondern sie nach ihrer Rückkehr mit einem Baby dastand. Immerhin gab es Mona jetzt die Gelegenheit, in Amerika zu studieren und sich hier wie alle anderen Studenten bis zum Hals zu verschulden.
Das erzählte sie Pavel. Nicht aber, dass sie sich immer nach Amerika gesehnt habe. Dass sie sich nie ganz heimisch gefühlt hatte in Deutschland. Das war zu albern, fast so sehr wie dieses dämliche Gesellschaftsspiel.
„Und“, sagte Pavel. „Gefällt es dir hier?“
Er hatte jetzt nichts Spöttisches mehr an sich. Schien ganz zugewandt, nur an ihr interessiert.
„Vieles“, sagte sie, „gefällt mir. Die Atmosphäre, die Uni, die anderen Studenten. Anderes verunsichert mich: ich habe den Eindruck, als könnte ich jeden Moment versagen. Manchmal fühlt es sich an, als wäre ich mitten in einem Strudel und ganz allein.“
„Das kenne ich“, sagte Pavel und Mona lächelte ihn dankbar an. Er sah nachdenklich auf seine Hände, dann sagte er: „Drogen. Mir helfen da immer Drogen.“
„Welche?“
„Ecstasy, Speed, Koks, je nachdem.“ Er zuckte mit den Schultern. „Und Sex.“ Er warf ihr einen belustigten Blick zu. „Sei nicht schockiert, kleine Nonne.“
„Keine Sorge“, erwiderte Mona. „Bin ich nicht.“
Sie nahm seinen und ihren Teller, stellte sie aufeinander, dazu die Schüssel mit den restlichen Kartoffeln und trug sie in die Küche. Der bärtige Mann stand vor dem Fenster, drehte sich kurz nach ihr um und winkte sie dann zu sich heran.
„Schau mal“, sagte er leise und nickte mit dem Kinn zum Fenster. Eine Amsel saß direkt davor auf der Fensterbank, im Schnabel einen Wurm, ihr zuckender Kopf mit dem runden schwarzen Auge.
„Ein Männchen“, flüsterte er. „Erkenn ich am gelben Schnabel.“ Die Amsel flog weg, und er sagte: „Wie schön, dass wir uns jetzt endlich kennen lernen.“
Mona wandte ihm ihr Gesicht zu, sodass sich ihre Nasen fast berührten. „Finde ich auch.“
„Wollen wir das Abspülen übernehmen?“
„Wie romantisch.“ Mona lachte leise.
„Oh, unterschätz das nicht. Die Hände im warmen Wasser, das Reiben und Polieren. Und vielleicht kommt die Amsel noch mal zu uns, vom Spülbecken aus könnten wir sie sehen. Übrigens mag ich dein Kleid, dieses schillernde Grün, du siehst darin aus wie eine Nymphe.“
„Ich bin eine“, sagte Mona. „Geboren aus Schaum, einer Muschel entstiegen.“
Er nickte. „Jetzt, wo du’s sagst.“

Er hieß Alex. Er kam aus Michigan und studierte Medizin an der Columbia. Mit dem Schwamm rieb er die Teller sauber, dann hielt er jeden unter warmes fließendes Wasser, bevor er ihn ihr gab. Schmale lange Hände, fast wie die einer Frau, sie stellte sich vor, wie er ein Skalpell hielt, wie er Körper öffnete, wie er darin herumbastelte, geschickt und sicher und unbeeindruckt.
„Nein“, sagte er. „Ich will kein Chirurg werden.“
„Sondern?“
„Frauenarzt.“
„Wie schrecklich“, sagte sie. „Diese Entzauberung, meine ich.“
„Eigentlich nicht.“ Er hielt mit dem Spülen inne und sah sie an. „Der Zauber bleibt.“
„Dann ist ja gut.“
Sie nahm den Stapel mit Tellern. „Wohin damit?“
„Kinder, Kinder, Kinder!“, rief Felix, der in die Küche kam. „Ihr seid hier doch nicht zum Arbeiten. Raus mit euch, gleich gibt’s den Nachtisch.“ Er holte eine große Glasschale mit Vanillecreme aus dem Kühlschrank.
„Nein“, sagte er streng, als Mona die Schale mitnehmen wollte. „Da müssen noch Verzierungen drauf. Kirschen, Krümel, der ganze Kram, du weißt schon. Raus jetzt mit dir.“
„Schon gut“, sagte Mona. „Ich geh ja schon.“
Im Bad sah sie sich im Spiegel an. Nur wenn sie lächelte, war sie schön. Ansonsten sah sie mürrisch aus. Auf ihrem Kleid Wassertropfen in gerader Linie, wie eine Markierung. Bevor sie die Tür öffnete, wusste sie, dass Alex davor stehen würde.
„Er will mir nicht seinen Platz überlassen“, sagte er. „Ich habe ihm fünfzig Dollar geboten, aber er weigert sich.“
„Hast du nicht ernsthaft“, sagte Mona. Sie hatte Lust, ihn zu küssen. „Doch.“ Alex nickte. „War das zu wenig?“
„Wahrscheinlich“, sagte sie und ging zu ihrem Platz.

Also, sagte Pavel, jetzt da sie sich in der Küche amüsiert und ihn hier allein gelassen habe, müsse er ihr offenbaren, dass sie etwas versäumt habe, einen Streit nämlich, und wofür, wenn nicht dafür, gehe man schließlich zu einem Abendessen. Der Streit sei entbrannt zwischen zwei Frauen. Er deutete unauffällig auf die Frau mit dem Afro und auf eine zierliche Blonde, die am anderen Ende des Tisches saß und von einem bulligen Glatzkopf fast verdeckt wurde. Sie war die Einzige, die wie eine Geschäftsfrau aussah: Bluse, Blazer, Goldkette, der akkurat geschnittene Pagenkopf. Sie sah klug aus, fand Mona, und so, als wisse sie das auch.
„Es ging um Emanzipation“, sagte Pavel. „Um sexuelle Belästigung, gleiche Bezahlung, Frauenquote – nichts Neues unter der Sonne. Das Witzige war, dass sie eigentlich einer Meinung waren und sich dann doch anfeindeten. Oh je“, unterbrach er sich. „Da kommt dein Verehrer.“
Alex hatte eine Schale in der Hand und einen Löffel. Er sagte, „ich setz mich dazu, falls das okay ist“, und Pavel sagte: „Nur zu, wackerer Kämpe, du lässt dich ja eh nicht abhalten.“
Alex holte einen Stuhl und setzte sich so neben Mona und Pavel, dass sie einen Halbkreis bildeten.
„Es ging gerade um den Streit, den ihr verpasst habt“, sagte Pavel. „Zwei Frauen, die sich wegen MeToo und all dem Scheiß anfeindeten, ganz wunderbar.“
„Warum Scheiß?“, fragte Mona.
Pavel sah sie abschätzig an. „Weil’s Scheiß ist, darum. Wir steuern auf prüde Zeiten zu, das kann ich dir verraten, meine Liebe.“
„Das sagt dir deine lange Lebenserfahrung, nicht wahr?“
Mona war auf einmal wütend, es überraschte sie beinahe selbst. Bis eben hatte sie Pavels Blasiertheit noch unterhaltsam gefunden. Wie alt war er überhaupt? Fünfunddreißig, vierzig?
„Da hast du wohl recht.“ Pavel ignorierte ihre Wut. „Und ich für meinen Teil muss sagen: wenn mich Kevin Spacey betatscht hätte, hätte ich mich nicht wirklich aufgeregt.“
„Aber darum geht’s doch gar nicht“, sagte Mona. „Ob es dir persönlich gefallen hätte oder nicht. Sondern ob du dich hättest wehren können, wenn du in einer abhängigen Position gewesen wärst.“
„Hör mal, Süße. Das ist doch ein Nehmen und Geben. Ich meine, schau dir doch die Frauen mal an, Titten und Ärsche, wohin man sieht, und das alles nur, weil sie sich Vorteile damit verschaffen wollen. Aber dann dieses ‚nur gucken, nicht anfassen‘, eiteitei, die Unschuld vom Lande plötzlich! Dabei ist das doch ein Tauschgeschäft, von alters her und so bekannt wie der Katechismus.“
„Und damit ist jede Belästigung, sogar wenn es dann eine Vergewaltigung wird, in Ordnung?“ Mona sah fassungslos von Pavel zu Alex. Alex aß seine Vanillecreme, ohne den Blick zu heben.
„Ach, Vergewaltigung.“ Pavel schnaubte spöttisch. „Wer da nicht alles vergewaltigt worden sein will.“ Mit hoher Stimme sagte er: „Also ich bin da nur so mit ins Hotelzimmer und hab mir nix dabei gedacht und plötzlich liegt der auf mir. – Merkst du nicht, was das für ein Mist ist?“
„Dann gibt’s für dich also gar keine Vergewaltigung?“
Mona sah hilfesuchend zu Alex, der ihren Blick erwiderte und kurz eine Grimasse komischer Ratlosigkeit schnitt.
„Doch“, sagte Pavel. „Klar, im Park, von irgend einem Triebtäter. Aber der Begriff wird einfach inflationär gebraucht.“
„Nein“, sagte Mona. „Nein, nein, nein.“ Sie merkte selbst, dass ihre Stimme mit jedem Nein lauter geworden war. Für einen Moment schien ihr, als verstummten die Gespräche um sie herum. Aber vielleicht kam es ihr nur so vor, weil sie ganz auf Pavel konzentriert war, und auf das, was sie sagen wollte. Pavel sah sie abwartend an, sie amüsierte ihn offensichtlich.
„Eine Vergewaltigung ist eine Vergewaltigung.“ Sie bemühte sich geduldig zu klingen – geduldig und herablassend. „Sie liegt dann vor, wenn Sex an jemandem vollzogen wird, ohne dass der- oder diejenige das will.“
„Und woher weiß man immer so genau, was der andere will?“, fragte Pavel. „Jetzt stell dich nicht dumm.“
„Wenn also beide den Sex wollen, ist er okay?“ Pavel legte die Stirn in Falten und stützte sein Kinn in die Hand. Er schien sich überwinden zu müssen, um die nächste Frage zu stellen, aber etwas in seiner Stimme – diese Naivität vielleicht: zugewandt und unschuldig -, verriet Mona, dass das ganz und gar nicht so war. „Wenn es also so ist, wie es in meinem Fall war: dass jemand mit acht Jahren das erste Mal Sex hat, mit einem Vierzigjährigen, und das ganz einfach, weil beide es gerne wollen, dann ist das okay, nicht wahr?“
„Nein“, sagte Mona.
Sie fühlte eine Kälte, die sich plötzlich in ihr ausbreitete, eine dumpfe Trostlosigkeit.
„Nein“, wiederholte sie. „Das ist nicht okay.“
„Und warum nicht?“
„Weil das Kind“, sie sprach jetzt leise, „also du, ausgenutzt wurde: weil dein Bedürfnis nach Liebe oder Zuneigung oder was auch immer sexuell ausgenutzt wurde.“
Pavel schob sein Gesicht nah an ihres und sah sie forschend an. Sie hielt seinem Blick stand, aber sie erwiderte sein Lächeln nicht. „Mehr hast du nicht zu bieten?“, fragte Pavel. „Mehr nicht als diese Küchen-Psychologie? Und was, wenn ich dir verriete, dass ich derjenige war, der ihn bedrängte? Ganz einfach, weil ich geil auf ihn war?“
Jetzt nicht weinen, dachte Mona, und dann dachte sie, dass das lächerlich war: dass sie hier saß und um diesen Pavel – um das Kind, das er gewesen war, und vielleicht auch um ihn, wie er heute war, so freundlich und grausam und falsch – trauerte. Aber sie konnte nichts dagegen tun, dass ihr Herz sich zusammenzog bei dem Gedanken daran, wie dieses Kind sich anbiederte und benutzt wurde.
„Ist ja gut“, sagte sie leise. Sie stand auf. „Du hast gewonnen.“

Sie hatte ihre Jacke vergessen, darum fror sie nun in ihrem dünnen grünen Kleid. Dem Meerjungfrauenkleid. Egal, sie würde morgen bei Felix anrufen und sich entschuldigen, dass sie einfach so gegangen war. Und irgendwann in den nächsten Wochen würde sie ihre Jacke holen gehen. Dann fiel ihr ein, dass es Duncans Jacke war, und dass sich in der Innentasche die silberne Pillendose befand, die er ihr vorsorglich überlassen hatte, bis die Prüfungen vorbei waren. „Mist“, fluchte sie, „Mist, Mist, Mist.“ Wenn sie jetzt wieder zurückging und ihre Jacke holte, würde das mehr Aufsehen erregen als ihr eiliger Aufbruch von vorhin. Und Pavel würde sie lächelnd beobachten, voll mitleidiger Verwunderung. Einen Block vor Felix’ Haus kam ihr Alex entgegen, ihre Jacke über seinem Arm.
„So bekam ich wenigstens deine Adresse raus.“ Er hielt ihr die Jacke hin und sie zog sie an und tastete nach der Pillendose.
„Okay“, sagte sie. Sie war immer noch wütend auf Alex, weil er sie nicht unterstützt hatte. Aber sie war auch froh, dass sie nicht zurück in Felix’ Wohnung musste. „Danke.“

Am Morgen strich Alex mit seinen langen, schmalen Fingern über ihre Hüfte und ihr Bein, und es nervte sie nicht: sie ließ sich weiter streicheln und küssen und drehte sich irgendwann zu ihm um. Ihr Schlafzimmer war ein Chaos, nicht nur seine und ihre Kleider lagen auf dem Boden, auch zwei Weinflaschen standen da, die sie mit Duncan geleert hatte, und eine Baseballkappe lag auf dem Stuhl, von der sie nicht mehr wusste, wem sie gehörte.
Es war alles etwas viel im Moment, aber es war auch schön: wenn, wie jetzt, die Sonne durch das Fenster fiel und Streifen von Staub in die Luft zauberte, die so breit und massiv aussahen, als könnte man sich auf sie setzen und geradewegs in den Himmel über New York reiten. Natürlich würde man fallen. Aber für einige Momente wäre es wunderbar. Man brauchte nur Mut.

2019

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Dieses entsetzliche Glück» auf literaturblatt.ch

Rezension von «Was alles war» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Anneke Novak

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin

Annette Mingels schrieb mit „Dieses entsetzliche Glück“ einen Episodenroman. Fünfzehn Geschichten, fünfzehn Leben. Leben, die oftmals ganz nah aneinander vorbeischrammen, sich für kurze Zeit mehr oder weniger begegnen. Leben, denen man aus verschiedenen Perspektiven begegnet, als würde man von Person zu Person springen und sich durch den Kosmos einer Kleinstadt tragen lassen. Grossartig gezeichnet!

Hollyhock liegt irgendwo in Virginia. Aber Hollyhock liegt überall, genauso in Schlesien oder im Thurgau, irgendwo, etwas abseits, ziemlich weit weg von der nächsten grossen Stadt und in der letzten Zeit ganz ordentlich gewachsen. Eine Kleinstadt, in der alle alle kennen, in der nur wenig verborgen bleibt, und wenn es aufbricht, dann weil es ein Leben lang moderte. 

«Ich bin zurück», flüsterte er, und als ihre Augenlider flatterten, lehnte er sich dicht neben sie, einen Arm um sie geschlungen, als könnte er sie beide auf diese Weise retten.»

Man lebt während Jahrzehnten in einer Beziehung, um dann irgendwann festzustellen, dass es das falsche Leben war, dass man austreten will. Nicht weil Hass, Enttäuschung oder Verzweiflung alles verändert, sondern weil mit dem Auszug der Kinder die alles bestimmende Aufgabe genommen wurde, die Aufgabe, die alles zusammenhielt.
Man lebt sein Leben lang ein Leben, dem man eigentlich eine andere Richtung geben will.
Man lebt ein Leben, in das man hineinrutschte, dass irgendwann wie ein fremder Mantel zu seinem eigenen wurde, der aber doch nie passte, zu gross, zu klein, oder einfach falsch.
Eine Ehe zerbricht, weil die eine Seite sich von der andern Seite abwendet, weil man im Bruch von Konventionen Auffrischung erhofft, die dann aber mehr zerstört als zulässt.

«Und nachdem sie einige Minuten auf dem Sofa gesessen und geweint hatte, verliess sie das Haus, das ganz so aussah, als wäre nichts geschehen.»

Annette Mingels «Dieses entsetzliche Glück», Penguin, 2020, 352 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-328-60100-5

Annette Mingels beschreibt die amerikanische Mittelschicht. Man lebt in guten Berufen, verdient gutes Geld, lebt in grossen, manchmal auch viel zu grossen Häusern. Die Strassen sind sauber und in den Gärten wehen die Wimpel zu den Präsidentschaftswahlen vor vier Jahren. Trotzdem fehlt den Menschen die Zufriedenheit, das Glück. Es sind bloss ganz kurze Momente, die das Glück ausmachen und sie stehen in keinem Zusammenhang mit Status, Erfolg, nicht einmal mit der Liebe zu anderen Menschen. Annette Mingels beschreibt Menschen, die nicht angekommen sind, die sich in Umlaufbahnen verlieren.

«Sie stellte ihn sich vor: einsam und nass. Den Kopf vorgereckt, irgendetwas witternd, bereit zur Flucht.»

Wer eine in sich geschlossene Geschichte erhofft, wird enttäuscht sein. Aber genau dieses scheinbar Zufällige macht den Reiz dieses Romans aus. Er zeigt genau das; wie jeder von uns in seinem Leben eingespannt ist. Man begegnet Menschen und ihren Geschichten. Die einen haben mit den anderen zu tun, die Getroffenen selbst sehen sich nur aus der Distanz. Ich mache mir mein Bild, mache mir Geschichten, mache mir meinen Reim. Keine einzige Geschichte, nicht einmal die eigene, erzählt sich chronologisch. Die Chronologie zwingt sich durch unseren Ordnungswillen auf.

«Hinein ins Helle und Warme. Wenigstens für kurze Zeit.»

Was bei Annette Mingels Erzählen beeindruckt, ist ihre Nähe zu den Personen und ihr Geschick, sich nicht durch Deutung und Psychologie aufzudrängen. Jede Episode hat das Zeug zu einem ganz eigenen Drama; Dramen, die ausbrechen, Dramen, die sich anbahnen, Dramen, die sich abwenden oder ersticken. Jede dieser Episoden hätte das Potential zu einem eigenen Roman.

Manchmal, wenn nachts der Zug in einer Vorstadt stehen bleibt und man mit einem Mal die Gelegenheit hat, in die hell erleuchteten Wohnungen hineinzublicken, sucht der Blick nach den kleinen und grossen Theatern, die sich im Scheinwerferlicht der Normalität abspielen. Annette Mingels tut genau dies. Sie blickt hinein. Sie tut es ohne Voyeurismus, tut es mit aller Behutsamkeit. Der Titel des Romans „Dieses entsetzliche Glück“ beschreibt genau jenen Kippzustand, jenen Moment, der je nach Perspektive in ganz anderm Licht steht, dann ist der Titel zu diesem äusserst gelungenen Kunstwerk perfekt.

«Dieses entsetzliche Glück, hier zu stehen und Kenji wieder nah zu sein.»

Und dann sind da die letzten Sätze zu den Geschichten, von denen einige hier in die Rezension eingefügt sind. Wie die leuchten!

Interview

Sie lebten in Deutschland und in der Schweiz und seit ein paar Jahren in San Francisco. Warum ist Ihr Roman ausgerechnet in Virginia angesiedelt?

Vor einiger Zeit wohnte ich für zwei Jahre in der Nähe von New York – es war eine Gegend, die ich von meiner Kindheit her kannte; meine Verwandten lebten dort und ich hatte sie mehrere Male besucht. Mir waren von damals viele Erinnerungen geblieben und eine Vorliebe für die kleinen Städte im Osten des Landes. Virginia habe ich während einer Reise kennen gelernt, und als ich nach einem Ort in Amerika suchte, an dem mein Roman spielen könnte, kam mir eine Kleinstadt dort in den Sinn. Hollyhock ist eine Mischung aus Realem, Erinnertem und Imaginiertem geworden.

Ihr Roman ist aufgebaut wie ein „Episodenfilm“. Als ich vor bald zwanzig Jahren den Film „L.A. Crash“ sah, war der Film eine Offenbarung. Auch wenn die Dramen in ihrem Episodenroman viel subtiler und stiller sind – was reizte Sie an dieser Erzählform?

Ich habe zwei literarische Vorlieben, die Eingang in das Buch fanden: in stilistischer Hinsicht liebe ich sowohl den weiten Bogen des Romans als auch die Pointiertheit der Kurzgeschichte; ein Episodenroman kann beides wunderbar verbinden. Und in inhaltlicher Hinsicht liebe ich die Darstellung konkreter Personen, konkreter Lebensumstände, die den Fokus eher auf den Einzelnen als auf das grosse Ganze richtet. Ich mag es sehr, Personen in kurzen Episoden nahe zu kommen – es sind Einblicke in verschiedene Leben, nichts ist auserzählt. Den Film „L.A.Crash»  kenne ich nicht, aber den Film „Shortcuts“ habe ich damals sehr gemocht.  

Ihr Roman spiegelt das Leben einer gehobenen Mittelschicht in den USA. Ist er jene Gesellschaft, weil Sie ein Teil dieser sind oder weil es eine wegbrechende Spezies ist?

Es ist nicht nur die gehobene Mittelschicht, die vorkommt, sondern auch eher einfache Leute, wie eine Drogeriemitarbeiterin oder ein Schreiner. Aber es stimmt schon: Ich habe nicht über Leute am Rand der Gesellschaft geschrieben, und auch die meisten Probleme, die ich darstelle, sind nicht extrem – auch wenn sie sich für den Einzelnen bisweilen so anfühlen können. Ich gehe beim Schreiben nicht so rational vor, dass ich mir vorher überlege, über welche Gesellschaftsschicht ich schreiben möchte. Es ist mehr so, dass mir ein Bild, eine Situation, eine Figur in den Kopf kommt, und sich daraus eine Geschichte entwickelt, die mich bisweilen selbst überrascht. Und das sind dann vielleicht tatsächlich eher Themen und Personen, die mir irgendwie vertraut sind. Zudem habe ich gewisse Hemmungen, über Dinge zu schreiben, die ich nur von aussen beobachtet oder mir angelesen habe.

Obwohl Sie ganz nah gehen, verlieren Sie sich nie in Details. Trotz der Nähe bleibe ich als Leser auf Distanz, weil sie weder deuten noch erklären, schon gar nicht psychologisieren. Wie sehr mussten Sie sich während des Schreibens vor allzu grosser Nähe zu Ihrem ProtagonistInnen „schützen“?

Irgendwo habe ich mal gelesen, dass man über eine Figur, über die man schreibt, viel mehr wissen muss, als man dann in der Geschichte selbst beschreibt. So ist das bei mir auch: viele meiner Figuren, eigentlich alle, sind mir sehr vertraut, aber nicht alles an ihnen breite ich für den Leser oder die Leserin aus, es schwingt eher mit. Die Konkretion, mit der ich die Figuren in ihrem Handeln vor mir sehe, verhindert vielleicht, dass ich als Erzählerin zu sehr erkläre und erläutere: es ist mehr so, dass ich das, was ich vor meinem geistigen Auge sehe, hinschreibe. Am ehesten kann man das vielleicht mit einem Film vergleichen, in dem ja auch mehr gezeigt als erklärt wird. 

Und doch spürt man wenig von dem, was man als Europäer nach den vergangenen Präsidentschaftswahlen beinah befürchtete; diesen Riss durch die Gesellschaft, der ein Land zu spalten droht. Ist das nur die Sicht aus der Ferne oder Realität?

Ich glaube durchaus, dass es diesen Riss gibt – und nicht erst seit Trump. Es gibt zahlreiche politische und soziale Gründe dafür – angefangen beim Zweiparteiensystem über ein insuffizientes Gesundheitssystem bis hin zu den Bildungseinrichtungen, die je nach finanzieller Situation der Eltern ganz unterschiedliche Möglichkeiten bieten. In meinem Buch gib es schon ein paar Hinweise auf ethnische, ökonomische und soziale Gefälle, aber diese sind meist auf den Kosmos der Kleinstadt beschränkt. Eine Analyse der amerikanischen Gesellschaft zu geben, war nicht mein Anspruch – ich traue es mir als Europäerin auch nicht zu. Ich beschränke mich in meinem Schreiben auf die privaten Konflikte und Nöte der Figuren, wobei diese ja durchaus von gesellschaftlichen Faktoren beeinflusst sind. Hätte ich dieses Buch in den letzten Monaten und nicht schon im vergangenen Jahr geschrieben, würden politische Themen jedoch wohl mehr Eingang gefunden haben, ganz einfach, weil die Politik und ökonomischen Nöte in 2020 ein dominanteres Thema für jeden Einzelnen hier in den USA waren. 

Welches Buch aus Ihrem Bücherregal lässt sie momentan nicht los?

Ich lese gerade das neue Buch von Ali Smith, „Winter», und die neue Erzählsammlung von Richard Ford „Irische Passagiere“. Beide liebe ich sehr – Ford für seine Eleganz, die er in Kurzgeschichten viel eher hat als in seinen viel zu langen Romanen. Und Smith’ Bücher liebe ich dafür, dass sie so seltsam sind; sie haben stets etwas leicht Skurriles an sich, das man nicht so recht zu fassen bekommt.  

Annette Mingels, geboren 1971 in Köln, studierte Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Nach Stationen in der Schweiz, in Montclair (USA) und Hamburg lebt sie seit Mitte 2018 mit ihrem Mann Guido Mingels und den drei Kindern in San Francisco.

Rezension von «Was alles war» von Annette Mingels auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Hendrik Lüders

Annette Mingels «Was alles war», Knaus

Susa weiss seit ihrer Kindheit, dass sie adoptiert wurde. Ein Problem wurde daraus nie, höchstens eine abenteuerliche Vorstellung darüber, was dies alles bedeuten könnte. Bis ein Brief von ihrer leiblichen Mutter eintrifft, sie werde da sein, ob es ihr passe. Mit einem Mal öffnet sich für Susa eine Tür, von der sie nicht weiss, was sich dahinter verbirgt.

Susa ist Wissenschafterin, beobachtet das Leben unter der Erde, Würmer. Sie lernt Henryk kennen mit seinen zwei Töchtern Rena und Paula. Rena und Paula haben ihre Mutter durch Krebs verloren. Während sich Susa langsam in Henryks Familie begibt und nicht nur von ihm Liebe geschenkt bekommt, trifft sie zum ersten Mal ihre leibliche Mutter Viola. Susa erfährt, dass sie eine Halbschwester und zwei Halbbrüder hat, sogar einen leiblichen Vater, der noch leben dürfte, seinen Namen und von einem Brief, ein altes Stück Papier, damals ein Versuch jenes Mannes, Violas Liebe zurückzugewinnen. Aber Susa hat ihre Familie; einen Vater, eine Mutter und eine Schwester. Eine Familie, in der sie sich ein Leben lang geborgen und aufgehoben, verstanden und geliebt wusste. Nichts müsste dazukommen, schon gar nicht ersetzt werden.

Was alles war von Annette Mingels

Susa spürt den Sog dieser einen offenen Tür, die Lust nachzusehen, was diese Tür verbirgt, was Susa gewinnen könnte. Zum einen Antworten auf viele Fragen, die sich jedes adopierte Kind auch als Erwachsener stellt. Zum andern, weil es Familie ist. Familie, dieses komplexe Etwas, das einem genauso auffangen wie an den Abgrund drängen kann. Annette Mingels lotet aus, was Familie ist, was sie ausmacht. Die Autorin zeigt, was Familie auslösen und anrichten kann. Wie viel Sehnsucht in diesem Gefüge steckt, selbst dann, wenn man sich in seinem «Zuhause» aufgehoben fühlt. Die Situation spitzt sich zu, als Susa, nun mit Henryk (und seinen beiden Töchtern) verheiratet, ein Kind bekommt. Als zur angeheirateten und einer Familie «hinter der Tür» eine eigene Familie dazukommt. All diese Familien, miteinander verzahnt, beginnen untereinander zu wirken. Susa kämpft sich durch diesen verwirrenden Alltag, der durch ihre egozentrische, leibliche Mutter, nicht leichter wird. Schon gar nicht, als ihr Stiefvater, jener Mann, der für sie immer ganz Vater war, zu sterben beginnt.

In einem Interview erzählte Annette Mingels, dass vieles von «Was alles war» aus ihrem eigenen Leben stammt. So der Umstand, dass auch sie ganz jung adoptiert wurde und dass sie mit diesem Buch ihre Familienerfahrungen und den Tod des Stiefvaters mit hineinnimmt. Das spüre ich in dem Roman, der an der Nähe zu den Protagonisten fast zu zerschellen droht. Der Roman nimmt ungeheuer viel mit. Einzelne Handlungsstränge, die im Roman nur «Nebenschauplätze» sind, hätten genügt, um Stoff für einen Roman selbst zu sein. So ist es auch die Geschichte von Susa und Henryk. Beide berufstätig, jeder darum bemüht, sich nicht aufzugeben. «Was alles war» ist auch ein «Entdeckerroman». Susa macht sich auf in ein unbekanntes Land, z. B. zu ihrem Bruder Samuel, den sie trifft und zu dem sie sich, obwohl sie ihn nicht kennt, geschwisterlich hingezogen fühlt. Eine Reise, die sie letztlich bis nach Amerika führt.

Ein Buch über Annäherung und Konfrontation. Annäherung an neue Konstellationen, an fremdes Leben, mit dem man sich trotzdem unerklärlich verbunden fühlt. Annäherung an sich selbst und diesen unstillbaren Hunger nach Familie. Konfrontation mit einer unbekannten Mutter, einem bunten Vogel, einer unbekannten Familie, ihrer Vergangenheit und möglichen Zukunft. Konfrontation mit neuem Leben und mit dem Tod – und letztlich mit sich selbst. Ob man (be)stehen bleibt oder ob all der Realitäten einbricht.

Annette Mingels macht es mir nicht leicht. Ihr Schreiben ist weit weg vom chronologischen Protokollieren einer Fahrt ins Unbekannte, auch wenn ein Teil des Buches wie ein Tagebuch geschrieben ist. Annette Mingels belohnt mich mit Tiefe, Witz und Humor.

Annette Mingels liest aus ihrem Roman «Was alles war» am 22. September im Bodman-Haus, dem kleinen, feinen Literaturhaus in Gottlieben am Seerhein, unweit von Konstanz. Ich bin gespannt, ob sich auch männliche Leser trauen. Familie ist keine Frauensache!

Geboren 1971 in Köln. Studium der Germanistik, Linguistik und Soziologie in Frankfurt, Köln, Bern und Fribourg. Promotion in Germanistik. Von 1997 bis 2009 lebte Annette Mingels in der Schweiz, danach für zwei Jahre in Montclair (USA). Seit 2011 lebt sie mit ihrem Mann und den drei Kindern in Hamburg.

Webseite der Autorin

Titelfoto: Sandra Kottonau