Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», die brotsuppe

Ein junger Übersetzer soll in Venedig das sichten, was eine gefeierte, alt gewordene Übersetzerin zurückgelassen hat. Er bricht auf in eine Stadt, die sich nicht nur dem Wasser ergeben muss, in eine Wohnung, die dem Verlassen preisgegeben, in ein Leben, das abgebrochen ist. Bruno Pellegrinos stimmungsvoller Roman ist für einmal keine Liebesode an eine sterbende Stadt, sondern ein Mahnmal der Vergänglichkeit.

Sonst reist man in die Stadt im Wasser, um sich von Kulisse umgeben, um sich von Geschichte und Kunst betören oder dem langen Schweif vieler Erzählungen einlullen zu lassen. Aber der junge Mann reist nicht in die Lagunenstadt, um sich ihrem Charme zu ergeben. Eine Stiftung schickt ihn, weil eine hoch angesehene Übersetzerin mitten aus ihrem Leben gerissen wurde und die Institution sicherstellen will, dass nichts von Bedeutung mit einem Mal verloren sein könnte. Er reist in die Stadt, in die Wohnung einer Frau, die der Wahn aus einem Leben gerissen hatte, das ganz der Sprache, der Übersetzung gewidmet war.

Bruno Pellegrino «Stadt auf Zeit», Verlag die Brotsuppe, 2023, aus dem Französischen von Lydia Dimitrow, 140 Seiten, CHF ca. 29.00, ISBN 78-3-03867-088-9

Stellen sie sich vor, sie öffnen die Tür zu einer Wohnung, die während Jahrzehnten das Refugium einer Frau war, die ganz offensichtlich nur für sich und die Sprache lebte. In den Lebensraum einer Frau, die den Koffer gepackt hatte, um in ihre Heimatstadt zu fahren, in der man sie für ihr Lebenswerk auszeichnen wollte, die die Reise aber nie angetreten hatte. Die stattdessen in ihrem Wahn in einer Klinik vor der Stadt eingewiesen wurde, ganz offensichtlich nicht in der Hoffnung, je in ihr altes Leben zurückkehren zu können.
Ein junger Mann ganz am Anfang seiner Karriere als Übersetzer im Gemäuer einer Frau, die in ihrem Beruf alles erreicht, sich als Mensch aber in der Einsamkeit verloren hatte. Er dringt ein. Er ordnet und katalogisiert, was an Schriftstücken wild durcheinander einen Kosmos ausmacht, den er selbst nicht durchdringen kann. Er spürt einem Leben nach, das noch nicht erloschen ist, aber wegtauchte in einen Wahn, von dem es kein Zurück zu geben scheint.

Man quartiert ihn in einem Studentenheim ein, gibt ihm die Schlüssel zur Wohnung der Übersetzerin mit und alle Zeit der Welt, um festzuhalten, was Zeit und Feuchtigkeit in jenem Zuhause in der Lagunenstadt bedrohen. Aber das Wasser nährt nicht nur das Papier, das sich in der Feuchtigkeit wellt. In den Wintermonaten drohen die Fluten einmal mehr, die Lagunenstadt, die mit stoischer Gelassenheit auf die immer wiederkehrende Bedrohung reagiert, einzunehmen. Eine Situation, die den jungen Mann verunsichert und bedroht, die ihn ängstigt und in stille Panik versetzt. Hier die Frage, wer die Frau war, in deren Wohnung er die Schlüssel für ein Leben sucht, dort die Bedrohung durch das Wasser, das sich in alles hineinzufressen scheint. Ein zurückgelassenes Leben, in dem seine Grossmutter zuhause zu sterben droht, er in einer Stadt, die dem Untergang geweiht ist.

Bruno Pellegrinos Roman „Stadt auf Zeit“ ist ein Buch über Vergänglichkeit. Für einmal kein Buch, das die Schönheit der Lagunenstadt besingt, sie zu einer Kulisse der Leidenschaft macht. Die Stadt stirbt. Das Wasser ist überall. Sie saugt sie in sich auf, wie ein fauliger Schwamm. Was der Mensch macht, ist dem Zerfall preisgegeben, selbst mit dem matten Versuch, dem Sterben Einhalt zu gebieten. „Stadt auf Zeit“ ist weder melodramatisch noch in irgend einer Weise romantisierend. Es ist ein Stück Totengesang. Noch viel mehr, weil die Übersetzerin, die ein Leben lang die Schlüssel zur Sprache suchte, vom Wahn dahingerafft wurde. Ein Roman voller Metaphern und feuchtdunklen Tiefen.

Bruno Pellegrino, geboren 1988, lebt in Lausanne und Berlin. Er studierte Literaturwissenschaften, veröffentlichte zahlreiche Texte in Literaturzeitschriften. Für seine Novelle «L’idiot du village» (2011) wurde er mit dem Prix du jeune écrivain ausgezeichnet. Pellegrino ist Mitbegründer von AJAR, einer Gruppe junger Autorinnen und Autoren in der Romandie. «Atlas Hotel» ist sein erster Roman (auf Deutsch erschienen im Rotpunktverlag). «Là-bas, août est un mois d’automne» erschien bei Zoé und wurde unter anderem mit dem Prix des lecteurs de la Ville de Lausanne und dem Prix Alice Rivaz ausgezeichnet; unter dem Titel «Wo der August ein Herbstmonat ist» wurde es, übersetzt von Lydia Dimitrow, 2021 im verlag die brotsuppe veröffentlicht.

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin, studierte Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in Berlin und Lausanne. Sie ist Autorin von Theatertexten und Prosastücken (u.a. erhält sie 2023 eins der Berliner Arbeitsstipendien für Literatur in deutscher Sprache, vergeben von der Senatsverwaltung für Kultur und Europa) und arbeitet als Übersetzerin aus dem Englischen und dem Französischen (u.a. Isabelle Flükiger, Jamey Bradbury, Pascal Janovjak, Bruno Pellegrino und jetzt Antoinette Rychner). Ausserdem ist sie Gründungsmitglied der Theaterkompanie mikro-kit.

Beitragsbild © Éditions Zoé, Romain Guélat

Pascal Janovjak «Der Zoo in Rom», Lenos

Zoos sind Spiegel ihrer Gesellschaft. In Zoos sind nicht einfach nur Tiere zur Besichtigung eingesperrt. Zoos sind viel mehr. Ein Zoo ist ein künstlicher Kosmos. Und dass man in einem solchen gänzlich abtauchen kann, davon erzählt Pascal Janovjak in seinem preisgekrönten Roman „Der Zoo in Rom“.

Dass es Zoos in der Gegenwart immer schwerer haben, wenn sie sich nicht ganz offensiv das Mäntelchen des aktiven Tierschutzes, des Bewahrers bedrohter Arten überstreifen, ist spätestens dann klar, wenn man als Besucher:in sieht, wie stark Zoos gezwungen sind, in möglichst artgerechte Haltung möglichst viel zu investieren. Je mehr Lebensraum unersetzbar zerstört wird, desto mehr werden Zoos zu Archen. Noch immer sind Zoos Visitenkarten, Prestigeobjekte. Aber was in den vergangenen hundert Jahren in und um Zoos passiert ist, ist eine eigentliche Kulturgeschichte. Die Kulturgeschichte des Objekts „Tier“, dass vom reinen Material, das einzig und allein der Huldigung menschlicher Vermessenheit diente zum geduldigen „Objekt“ selbst wurde. So wie einst das Tier zu dienen hatte, dient heute der Mensch – verspricht es zumindest.

Pascal Janovjak «Der Zoo in Rom», Lenos, 2021, 232 Seiten, CHF 32.00, ISBN 978-3-03925-003-5

Pascal Janovjak will viel mehr als die Geschichte eines Zoos erzählen, die hundert Jahre des Zoos in Rom, von seiner Gründung 1911 bis in die Gegenwart. Pascal Janovjak erzählt die Geschichte eines Biotops, jener Menschen und Tiere darin, die sich hinter Gitter oder Glas, von Gräben getrennt gegenüberstehen. Und die Geschichte einer jungen Frau und eines jungen Mannes, die sich in diesem Geviert zaghaft zu lieben beginnen und sich wieder verlieren, alle beide auf die ihr ganz eigene Art und Weise. Hundert Jahre nach seiner Gründung soll die neue Kommunikationschefin Giovanna für den Zoo eine PR-Strategie entwerfen, um den sinkenden Einnahmen durch sinkende Besucher:innenzahlen entgegenzuwirken. Gleichzeitig streift im Zoo der junge algerische Architekt Chahine herum, der eigentlich einen baulichen Auftrag hätte, sich aber vielfach fasziniert in den Wegen des Zoos verliert. Schlussendlich ist es der letzte einer Ameisenbärenart, der die beiden bindet, aber nicht nur die beiden, sondern mit einem Mal überrennen Besuchermassen den Zoo, weil man Zeuge sein will eines letzten Überlebenden, des Dramas des Aussterbens.

In seinem Erzählen stösst Pascal Janovjak tief in den feuchtheissen Kosmos jenes Zoos ein, der vor hundert Jahren nicht nur Tiere vorführte, koste es was es wolle, sondern auch Menschen, ganze Dörfer, die in Kulisse vor kultivierten Besucher:innen zeigen sollten, wie weit man von den Primitiven entfernt ist. Eskimos neben Damwild, Nubier neben Antilopen und Tigern, perfekt inszeniert, auch wenn mit Verlusten gerechnet werden musste. Eine Landschaft wie auf einer lebendigen Postkarte. Tiere wurden von überall her eingefangen, hergekarrt, verschifft und transportiert, auch wenn nur eines von fünf Tieren die Strapazen überlebte. An den Ufern des Tibers muss es mordsmässig gestunken haben, nach Kot, Urin und Verwesung, als man in Empfang nahm, was jämmerlich überlebte.
Pascal Janovjak schildert, als ob er dabei gewesen wäre. Ein Zoo, der hundert Jahre zwischen Konkurs und Euphorie schwankt, immer wieder, je nachdem woher wirtschaftlich und politisch der Wind wehte.
Die Düfte scheinen aus den Seiten aufzusteigen und sich um die eigenwillige Liebesgeschichte zwischen Giovanna und Chahine zu ranken, so sehr, dass sich Chahine in den Dünsten verliert, nicht nur seinen ursprünglichen Auftrag, nicht nur seine Liebe, sondern auch sich selbst.

„Der Zoo in Rom“ ist unschweizerisch opulent erzählt, als hätte der Autor ein südamerikanisches Erzähl-Gen. Und dazwischen der Ameisenbär, ein Tier aus tiefster Vergangenheit, ein Wesen, das sich aufmacht zu verschwinden.

© Laura Salvinelli

Pascal Janovjak, geboren 1975 in Basel als Sohn einer französischen Mutter und eines slowakischen Vaters, studierte Komparatistik und Kunstgeschichte in Strassburg. Er lehrte Französisch an der Universität Tripoli (Libanon), leitete 2002–2005 das Büro der Alliance française in Dhaka (Bang­ladesch) und unterrichtete anschliessend Literatur in Ramallah (Palästina). 2011 Schreibaufenthalt am Istituto Svizzero di Roma. Seither lebt er in Rom. «Le Zoo de Rome» ist sein dritter Roman. Er wurde mit dem Schweizer Literaturpreis, dem Publikumspreis von Radio Télévision Suisse und dem Prix Michel-Dentan ausgezeichnet.

Lydia Dimitrow, geboren 1989 in Berlin. Studium der Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft, der französischen Philologie und Neueren Deutschen Literatur an der Freien Universität Berlin und an der Université de Lausanne. Übersetzt aus dem Französischen und dem Englischen, schreibt Prosa und Szenisches. Moderiert Veranstaltungen und ist Mitglied der Theaterkompanie mikro-kit.

Beitragsbild © Guy Buchheit