Anna Serre «Die Gouvernanten», Berenberg

Hier knistert es! In traumhafter Kulisse wird von einem grossen Haus mit ausladendem Park erzählt, von Madame und Monsieur Austeur und ihren Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura, den Hausmädchen, einer Horde Jungen und einem greisen Mann mit Fernrohr. „Die Gouvernanten“ ist ein schillernder Roman mit satten Farben, ein Roman wie ein Film von Peter Greenaway.

Das Buch erschien 1992 in Frankreich und fällt nicht nur thematisch erfrischend aus dem heraus, was aktuell im Buchmarkt unumgänglich erscheint. „Die Gouvernanten“ ist losgelöst, tut, was die Literatur soll und kann, zeichnet Bilder in satten Farben, erzählt frisch und ungehemmt, so als wäre dieser Roman ein kleines Fenster in ein verlorenes Paradies. Anne Serre erzählt, als würde sie einen orgiastischen Bilderteppich entwerfen, ohne Mission, ohne Absicht, ohne Psychologie, und wenn, dann losgelöst von jeder Verkrampfung. Aus ihrer Sprache, die wie die Kulisse selbst, der Zeit enthoben scheint, entstehen Szenen, die an grossformatige Impressionisten erinnern. „Die Gouvernanten“ ist  sprachgewordene Lust!

Anne Serre «Die Gouvernanten», Berenberg, 2023, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 92 Seiten, CHF ca. 31.90, ISBN 978-3-949203-67-1

Im grossen Haus von Madame und Monsieur Austeur betreuen drei junge Gouvernanten eine Schar Knaben. Anne Serre erzählt nicht, warum die Jungen in diesem Haus leben, denn von Vätern und Müttern ist nie die Rede. Die Gouvernanten Éléonore, Inès und Laura sind jung, bezaubernd und hübsch, kleiden sich elegant, tummeln sich mit den Jungs, machen Ausflüge, lernen sie dies und jenes – und manchmal tanzen sie. Die drei Grazien bezaubern das ganze Haus; die Jungs, die sie anhimmeln, das Besitzerpaar, das sich diskret im Hintergrund hält, die Hausmädchen, auf die das bunte Treiben in und ums Haus die Arbeit zum Abenteuer macht – und immer wieder einmal den einen oder anderen männlichen Spaziergänger, den sich die drei jungen Frauen in den Park holen und in ihrer unstillbaren Leidenschaft regelrecht einverleiben. Alles an diesen drei jungen Frauen strotzt von betörender Weiblichkeit und zieht einen langen Schweif knisternder Atmosphäre hinter sich her. Ein Schmelz, dem sich auch der greise Herr im Nachbarhaus nicht entziehen kann, der sein Leben fast ausschliesslich hinter einem Fernrohr verbringt, das in der Sonne aufblitzt und die drei jungen Frauen in ihrer erotischen Inszenierung nur noch anstachelt. Auch die Knaben im Haus erliegen der weiblichen Faszination, erst recht dann, wenn Éléonore, Inès und Laura sich zum Tanz ihrer Kleider entledigen. Nicht einmal die geheimnisvolle Schwangerschaft von Laura bringt das illustre Sein der Gouvernanten aus dem Takt.

Man liest das Buch mit hochgezogenen Brauen, traut dem Gelesenen kaum und ist verwundert darüber, dass hier eine Frau erzählt, die die pure Lust des Schilderns in einen farbigen Rausch verwandeln kann. Ich bin mir alles andere als sicher, ob man einem Mann diese Freiheit geben und die moralische Zensur nicht wie eine Keule zuschlagen würde. Anne Serre nimmt sich alle erdenklichen Freiheiten, ob in ihren Bildern oder in ihrem Erzählen. „Die Gouvernanten“ ist pure Sprachlust, ein Fest der Sinne, ein 100seitiger Rausch ohne Kater. Erfrischend darum, weil nichts die Autorin zu hemmen scheint. „Die Gouvernanten“ ist sprachlicher Hochgenuss, auch wenn da nicht in kleinen Häppchen serviert wird, sondern oppulent und ausladend.

Anne Serre, geboren 1960 in Bordeaux, hat seit ihrem Roman­debüt 1992 sechzehn Romane und Bände mit Kurzgeschichten veröffentlicht. Für «Im Herzen eines goldenen Sommers», ihre erste Veröffentlichung auf Deutsch, erhielt sie 2020 den Prix Goncourt de la Nouvelle.

Patricia Klobusiczky, geboren 1968 in Berlin, übersetzt aus dem Französischen und Englischen, u. a. Werke von Louise de ­Vilmorin, Sophie Divry, Valérie Zenatti, William Boyd und ­Petina Gappah.

Beitragsbild © Francesca Mantovani

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling

Jetzt, da Annie Ernaux den Nobelpreis erhielt, ist die Patina, die autofiktionales Schreiben für die einen angesetzt zu haben schien, mit einem Mal weggewischt. In „Schwindel“ schreibt sich Hélène Gestern aus dem Taumeln heraus, weil das Verlassen worden sein ein ganzes Leben in Schieflage brachte. „Schwindel“ macht schwindlig!

Das Buch ist klein und schmal, passt in eine Jackentasche. Ich lese es am See bei Wind und es ist, als ob die Frau auf dem Cover, die schräg im Wind zu stehen scheint, die Haare wie eine Fahne hinter sich trägt, die inmitten entwurzelten Grünzeugs steht, vor einer hohen grauen Mauer, jenen Wind, der bei mir allerhöchstens säuselt, um ein Vielfaches potenziert ertragen muss. Es ist, als ob das, was ich in meinem Leben immer wieder als Verlust von Liebe hinnehmen muss, in und an diesem Buch als Tragödie der Zerstörung wütet. 

Die allergrösste Tragödie des Buches ist nicht die Zerstörung der Liebe, sondern die Tatsache, dass sie unauslöschlich geblieben ist, dass die Erzählerin sie noch immer spürt, trotz aller erlebter Grausamkeiten und Erniedrigungen. Alles, wovon Hélène Gestern erzählt, hat eine riesige Wunde aufgerissen, die nicht heilen will, die die Erzählerin wie ein verstecktes Mahnmal mit sich herumtragen muss, das die Gegenwart abdunkelt, den Schmerz permanent spüren lässt.

Hélène Gestern «Schwindel», Schöffling, 2022, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, 96 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-89561-344-9

„Schwindel“ ist kein Buch für LeserInnen mit ähnlich offenen Wunden. Nichts für all jene, die sitzengelassen und hingehalten wurden, denen mit falschen Versprechungen ein Teil ihres Lebens verhindert wurde, die Gefühle mit sich tragen, die sich kaum kontrollieren lassen. „Schwindel“ ist das Protokoll eines Verlusts. Wie man sehenden Auges über den Abgrund hinaus in die Tiefe stürzt. Wie alles mitgerissen wird. So wie die Liebe, die Leidenschaft alles über die Massen in Sphären der Glückseligkeit entrücken kann, so kann das Verlassenwerden, der Verlust von Hoffnung und Vertrauen alles in die Gegenrichtung reissen, bis, wie auf dem Cover des Buches, alles niedergerissen ist bis auf Erinnerungen zwischen Schmerz und Wehmut.

„Man kann sich erst von der emotionalen Erinnerung lösen, sie tilgen, den Hunden zum Frass vorwerfen, wenn man sich bis zum bitteren Ende mit ihr auseinandergesetzt hat.“

Hélène Gestern erzählt von einer Frau, die einen Mann kennen und lieben lernt. Was sich zu Beginn wie Reisen ins Glück anfühlt, wird zu einem jahrelangen Ringen, einem nicht enden wollenden Schmerz, einer Geschichte, in der alle Logik ausgehebelt zu sein scheint. Der Mann ist verheiratet, Vater und als Geschäftsmann viel unterwegs, weit über die Grenzen Frankreichs hinaus. So wie die Frau lange Wege auf sich nimmt, kreuz und quer durch ganz Europa fährt um einige Stunden mit jenem Mann zu verbringen, so schleift der Mann die Frau in einer Spur aus Zweifeln, Verletzungen, Missachtung und Narzissmus hinter sich her. Selbst nach einer ersten Trennung, die nur oberflächlich ist, kommt es fast ein Jahrzehnt später, die Gefühle der Frau für den Mann waren nie erloschen, zu einem umso leidenschaftlicheren Aufflammen der Hoffnung, der Liebe, der Leidenschaft, nur um kurze Zeit später alles endgültig in Trümmern zu sehen.

„Schwindel“ ist ein Buch des Schmerzes. Nie aber ein Buch des Selbstmitleids. Die Erzählerin scheint ein Buch lang eine Erklärung zu versuchen, eine Erklärung, um die sie kämpft und ringt. „Schwindel“ ist ein Versuch der Einordnung, weil das, was mit ihr geschah und geschieht, letztlich unerklärbar bleibt. Es ist, als ob diese Stimme mir gegenüber sitzt, ihre Hände auf die meinigen legt, um mir zu bedeuten, bitte nur zuzuhören – und erzählt.
Liebe ist ein Gefühl, ein Zustand, der sich uns entziehen kann. Die Erzählerin ist nicht geheilt, die Wunde noch immer da, selbst die Liebe noch. Und alles korrespondiert, geht mit einer solch intensiven Sprache einher, dass mich die Lektüre schwindlig macht.

Ich schiebe das Buch ins Regal mit dem Gefühl, an etwas ganz Besonderem teilgenommen zu haben.

Hélène Gestern wurde 1971 geboren, ist Schriftstellerin und lehrt an der Universität von Lorraine Literatur. Sie befasst sich intensiv mit der Geschichte der Fotografie und den Möglichkeiten des autobiografischen Schreibens. Ihre Bücher erscheinen in vielen verschiedenen Sprachen, ihr Roman «Der Duft des Waldes» wurde von Patricia Klobusiczky und Brigitte Grosse ins Deutsche übersetzt und war ein grosser Erfolg. Gestern lebt in Paris und Nancy.

Patricia Klobusiczky, 1968 in Berlin geboren, hat in Düsseldorf Literarisches Übersetzen studiert und ist seit mehr als 25 Jahren in der Branche tätig. Sie übersetzt aus dem Englischen und Französischen, Autoren der klassischen Moderne wie Jean Prévost oder Henri-Pierre Roché oder Zeitgenössisches, beispielsweise Romane von Marie Darrieussecq, William Boyd oder Petina Gappah

Beitragsbild © Philippe Matsas