Fanny Desarzens «Berghütte», Atlantis

Ein schmaler, poetischer Roman über eine Männerfreunschaft: Paul, Jonas und Galel. Das 2022 in der Édition Slatkine unter dem Titel „Galel“ erschienene Debüt der jungen Trägerin des Schweizer Literaturpreises 2023 ist ein zarter Text über drei Männer, die in den kantigen Felsen der Berge überraschende Emotionen zeigen. Ein Roman, der mit ramuz’scher Kraft von der Unaufhaltsamkeit erzählt.

Sie treffen sich immer wieder, dort oben in den Felsen, über den Bäumen, eingerahmt von scharfkantigen Bergen, am Pass zwischen dem Val du Tesor und dem Val Lesiùn. Bei einer ehemaligen Alpwirtschaft mit drei kleinen Hütten, schon lange umgebaut zu einer Berghütte, die den Sommer über von Paul bewirtschaftet wird. Den Winter durch arbeitet Paul unten im Dorf im Lebensmittelgeschäft. Sitzt er nicht an der Kasse, räumt er Regale ein. Und wenn die Bauern im Dorf seine Hilfe brauchen, dann hilft er, auch wenn man ihn dafür schlecht entlöhnt. Im Frühling dann zieht er wieder hinauf zu den drei Hütten über 2000 Meter, zusammen mit seiner Stute Ariel und der letzten Kuh, die ihm am Hof unten im Tal geblieben ist, Petit Étoile. Eigentlich beginnt in jedem Spätfrühling sein Leben oben in seinem „Schloss“, seiner Baïta.

Fanny Desarzens «Berghütte», Atlantis, 2023, aus dem Franzsichen von Claudia Steinitz, 144 Seiten, CHF ca. 30.90, ISBN 978-3-7152-5033-5

Dort oben lernt er die beiden Bergführer Jonas und Galel kennen, wenn sie auf ihren geführten Bergtouren Fremde durch die Berge lotsen und dann und wann in seiner Baïta Halt machen und übernachten. Und wenn dann die müden Wanderer alle in ihren ihren Schlafsäcken wegdämmern, entzünden die drei Männer vor den Hütten unter dem Firmament ein Feuer, berichten und schweigen, einer Verbundenheit gewiss, die sich wie Bruderschaft anfühlt. Sie alle drei finden ihr Glück genau dort. Dafür leben sie, dafür arbeiten sie unten im Tal. Bis Paul und Jonas merken, dass mit Galel etwas geschehen sein muss.

Auf einer seiner Bergtouren mit einem ganzen Tross Touristen, nicht weit von Pauls Baïta, kommt während Galels Wandergruppe eine Flanke traversiert, der Hang ins Rutschen. Galel eilt in den Steinschlag, in die Wellen aus Felsbrocken und Steinstaub, um einen der Wanderer vor dem Mitrutschen zu retten. Galel gelingt es, was ja schliesslich auch die Aufgabe eines Bergführers ist. Aber wegen einer unbedachten Bewegung knackt es im Knie des Retters. Und was sich zu Beginn als hartnäckiger Schmerz in seinem Körper einnistet, wird mehr und mehr zur Bedrohung seiner ganzen Existenz.

„Berghütte“ erzählt von einer achaischen Welt in den Bergen, von der Liebe dreier Männer zu den schroffen Felsen, von der unausgesprochenen Ahnung, dass diese Liebe unerwidert ist und einem ein einziger Fehltritt aus der Umarmung reisst. Fanny Desarzens beschreibt das Leben in den Bergen, als würde sie es immer mit sich herumtragen. Und doch ist diese Liebe weder verklärend noch romantisiert. „Berghütte“ ist erzählt wie die Landschaft selbst; karg, schroff, schlicht und all dem ausgesetzt, vor dem man sich naturgemäss schützen will. Dieser schmale Roman ist wie die grosse Kulisse für die Begegnung zwischen scheinbar unendlicher Bergwelt und endlicher menschlicher Kraft. Was Galel durch den einen Tritt zu verlieren droht, wird existenziell, die Sehnsucht nach jenen Momenten hoch über den Tälern vor dem Feuer zusammen mit seinen Freunden zerrend und zehrend.

Dieses Debüt der jungen Fanny Desarzenz ist erlebte Liebe zu einer Welt, die stets erobert werden will.

Fanny Desarzens, 1993 geboren, hat an der HEAD in Genf den Studiengang Bildende Kunst abgeschlossen. Für ihr Debüt «Berghütte» wurde sie mit einem Schweizer Literaturpreis 2023 und dem Terra Nova Preis der Schweizerischen Schillerstiftung ausgezeichnet. Sie lebt in Lausanne.

Claudia Steinitz, geboren 1961, lebt in Berlin und übersetzt seit vielen Jahren französischsprachige Literatur, u. a. von Yannick Haenel, Véronique Olmi, Claude Lanzman und Virginie Despentes.

Beitragsbild © BAK / Julien Chavaillaz

Chloé Delaume „Das synthetische Herz“, Liebeskind

Adélaïde lebt in der Grossstadt. Sie ist unglücklich. Gepeitscht im Beruf und unerfüllt in der Liebe. Und weil sie sich selbst als Teil eines grossen Fressens sieht, ist alles eine Kampfansage, ob gegen das drohende Alter, den Misserfolg im Beruf oder die bohrenden Einsamkeitsgefühle, wenn sie mit sich selbst bleibt. „Das synthetische Herz“ ist ein literarischer Film noir.

Adélaïde ist frisch geschieden, endlich, befreit. Ausgezogen aus der gemeinsamen Wohnung in ein kleines Appartement mit 35 Quadratmetern; ein paar BILLY-Bücherregale, ein 120cm breites Bett, ein Tisch, vier Stühle, nicht einmal ein Sofa. Nach den zehn Jahren mit Élias eine Befreiung. Adélaïde ist bald fünfzig, noch vier Jahre, erfolgreich als Pressefrau in einem mittelgrossen Verlag und müde von einer Beziehung, aus der sie sich nur noch herausreissen konnte. Mit Élias war sie am längsten zusammen.

Aber statt dass ihr die Befreiung wieder alle Optionen öffnet, schleicht sich schnell Zweifel ein. Nicht zuletzt, weil die Befreiung nach drohender Einsamkeit riecht. Adélaïdes Familie ist inexistent, ihre Eltern kamen, als sie acht war, bei einem schrecklichen Ereignis ums Leben. Adélaïde ist noch immer Waise, bleibt Waise, wartet, dass jemand unerwartet an der Türe klingelt. Ihre Freundinnen sind fest eingespannt und die Beziehungen bei der Arbeit sind zweckgebunden, wenn mehr, dann leicht einem Wettbewerb ausgesetzt, der tatsächliche Nähe verunmöglicht. Der sich anbahnenden Panik zu entgehen stürzt sich Adélaïde in ihre Arbeit, der Betreuung „ihrer“ Autoren, die nach Preisen lechzen, gefüttert und gehätschelt werden wollen. Aber irgendwann reicht es nicht mehr, wächst die Sehnsucht nach einem Gegenüber, einem echten Zuhause, einer Liebe, nach Leidenschaft. Aber was tun, wenn die Klingel ruhig bleibt, wenn man an seiner Attraktivität zu zweifeln beginnt, das Alter im Spiegel nicht mehr abzustreiten ist und man nicht mehr ins Beuteschema all jener zu passen scheint, die sich in langen Nächten auf die Jagd machen.

„Adélaïde wird richtig wütend, würde so gerne auf eine Partnerschaft verzichten können. Sie wäre gern autonom, sich selbst genug. Statt dessen quält sie die Sehnsucht.“

Bis sie eines Abends mit ihren Freundinnen zusammen ist und man aus Jux die Zukunft zu beschwören versucht, nur vordergründig aus Spass, ganz tief aus purer Verzweiflung. Und tatsächlich, nur drei Tage später lernt Adélaïde auf einer Party Martin kennen, Dokumentarfilmer, einer ohne Turnschuhe. Einer, mit dem man sich unterhalten kann, der geistreich ist, Blumen bringt. Mit einem Mal spürt Adélaïde jenen Frühling im Herzen, Euphorie. Plötzlich ist nicht mehr nur der Monat Wonne. Wenn da nur die Adélaïdes Katze nicht wäre. Wenn nur Martin Katzen nicht hassen würde. Wenn nur das „Heiratsjucken“ nicht wäre. Wenn nur seine Gier beim Essen und Trinken nicht wäre und die Ladehemmung.

Chloé Delaume «Das synthetische Herz», Liebeskind, aus dem Französischen von
Claudia Steinitz, 2022, 160 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-95438-143-2

Adélaïde befreit sich aus der einen Enge, um sich in eine neue zu stürzen. Obwohl sie Vladimir begleitet, ein Omen, ein Geist, ein Traumbild. Vladimir ist ihre Sehnsucht. Er taucht immer dann auf, wenn sich das herbeigesehnte Idealbild in der Realität als Zerrbild entpuppt. Adélaïde, bald fünfzig, sehnt sich nach einem Zustand, der unerreichbar bleibt. Sehnt sich nach einem Ideal, das durch die verlorenen Familie dauernd nach Erfüllung schreit. Kämpft sich durch ein Leben, dass sich bei der Arbeit an Zahlen orientiert, an Aufmerksamkeit, Publicity – im Privaten am Schmerz, nie das zu finden, wonach sie sich im Tiefsten sehnt.

Chloé Delaume schildert Ausweglosigkeit gnadenlos. Da ist zum einen die Situation einer Einsamen, einer Frau, die sich auf Schlachtfeldern behaupten muss, sei es im Beruf oder im Privaten. Alles ist atemloser Kampf. Eine Frau, nicht mehr jung, aber doch noch lange nicht alt im einsamen Labyrinth eines Lebens, in der man die Richtung schon lange nicht mehr aussuchen kann. Zum andern sind es Sätze, die mir bei der Lektüre in die Kniekehlen schlagen, messerscharfe Analysen in einem Satz. Chloé Delaume fühlt einer entleerten Gesellschaft auf den immer schwächer werdenden Puls. „Das synthetische Herz“ schmerzt zuweilen bei der Lektüre, ist realistischer Gegenentwurf zu all den schmalzigen Geschichten auf Papier oder Zelluloid, die nur betäuben.

Chloé Delaume, 1973 in Versailles geboren, verliert als Kind bei einem Familiendrama ihre Eltern und wächst anschließend bei Verwandten auf. Sie studiert Literaturwissenschaften, verlässt die Universität aber, um sich dem Schreiben zu widmen. Für ihr umfangreiches Werk wurde sie mehrfach ausgezeichnet. Mit dem Roman «Das synthetische Herz», der in Frankreich ein großer Publikumserfolg war, gewann sie 2020 den renommierten Prix Medicis. Chloé Delaume lebt in Paris.

Claudia Steinitz, 1961 in Berlin geboren. Sie übersetzte u. a. Nancy Huston, Claude Lanzmann, Yannick Haenel, Virginie Despentes und Emma Becker aus dem Französischen. Ausgezeichnet mit dem Johann-Friedrich-von-Cotta-Übersetzerpreis der Landeshauptstadt Stuttgart und dem Jane-Scatcherd-Preis.

Beitragsbild © Hermance Triay