Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition.fotoTAPETA

Ein monumentales Werk, das einmal gelesen im Bücherregal nicht nur wegen seiner Ausmasse eine Sonderstellung einnehmen wird! Bernt Spiegel hält der Welt einen Spiegel vor, den Spiegel der Geschichte. In seinem 900seitigen literarischen Schwergewicht erzählt er mit Leichtigkeit und beeindruckender Detailkenntnis das durch die Geschichte gepeitschte Leben zweier Kinderfreunde von den späten Zwanzigerjahren bis nach dem zweiten Weltkrieg. Ein unvergleichliches Epos, dessen Nachhall lange mitschwingt!

Noch ein Roman über den aufkommenden Faschismus im Deutschland der Dreissigerjahre bis zum zerstörerischen Ende des Tausendjährigen Reiches? Ja! Noch ein 900seitiger Schmöker, der sich ohne Krampfgefühle in der Handmuskulatur in Rückenlage nicht lesen lässt? Wenn er gut geschrieben ist, warum nicht! Noch einer, der sich mit einem Romandebüt an einen grossen, schwergewichtigen Stoff wagt? Unbedingt, vor allem, wenn der Autor mit 93 zum Newcomer wird!

Als ich das Buch aus dem Paket schälte, glaubte ich nicht, dass ich es lesen würde. Dann juckte mich die Tatsache, dass ein ehemaliger Professor der Psychologie ein derart gewichtiges Debüt veröffentlicht, in einem Verlag, der sich mir bisher entzog. Ich gab ihm 50 Seiten, später noch 50 dazu. Und nun habe ich den blauen Ziegel gelesen, bin beeindruckt und begeistert, nicht nur weil mich Thema und Geschichte fesselte, der Autor fast biblisches Alter hat, sondern weil der Mann einen Roman geschrieben hat, der den Strahl seines Lichts genau dorthin richtet, wo das kollektive Gedächtnis immer mehr mit Absicht vergessen will.

Viktor Zaberer und Ludwig Herkommer kommen fast zur gleichen Zeit unter dem gleichen Dach zur Welt. Kurz nach dem ersten Weltkrieg. Viktor, Sohn eines einflussreichen Industriellen, kurz nach seiner Geburt von der Mutter verlassen, Ludwig, Sohn von Herkommer, dem Chauffeur des Industriellen Zaberer. Sie sind Milchbrüder, beide, weil sie wie Brüder aufwachsen, wie Zwillingsbrüder, auch wenn Ludwig von Beginn weg der Mutigere der beiden ist, unerschrocken und ungerührt, sobald es darauf ankommt und Viktor dafür nachdenklicher und langsamer. Eine Konstellation, die sie in der Schule „unbesiegbar“ werden lässt, erst recht, als sich zu den beiden Bienchen, Sabine Strauss, gesellt, ein bisschen älter, aber mit keiner Zelle eine von den Zicken in der Schule. Die drei werden zur Bande, schwören sich „Bruderschaft“.

Bernt Spiegel «Milchbrüder, beide», edition Fototapeta, 2020, 850 Seiten, CHF 40.90, ISBN 978-3-940524-85-0

Doch mit der grassierenden Wirtschaftskrise, dem aufkommenden Nationalsozialismus und dem immer lauter werdenden Antisemitismus findet die gemeinsame Freundschaft ein jähes Ende, weil Viktor zuerst ins Internat wechselt, später zu studieren beginnt und wegzieht, Ludwig sich den Verlockungen einer Festanstellung bei der SA ergibt und die Jüdin Bienchen die Karriere einer Geigerin beginnt. Die Biographien driften auseinander, obwohl sie immer wieder aneinander erinnert werden und sich ihre Wege, zufällig oder auch nicht, kreuzen.

Noch später, die Nationalsozialisten haben die Macht übernommen, wird Viktor ein gefragter Testpilot, zuerst bei den Segelfliegern, später auch in kriegswichtigen Fliegern, bleibt aber Zivilist, obwohl es für ihn, je deutlicher der Krieg und dann auch Tatsache wird, immer schwieriger wird, sich hinter seinen pazifistischen Absichten zu verstecken. Er liebt das Fliegen, die Fliegerei, die Flugzeuge, nicht die Kriegsmaschine.
Ludwig, der sich wie kaum ein anderer durch seine Kaltblütigkeit auszeichnet, wird von der SS angeworben und entwickelt sich in der Nazimaschinerie zum Fachmann für besondere Verhörmethoden.
Bienchen allerdings gerät immer mehr in Bedrängnis, kann durch Glück einmal den Fängen der Nazischergen entwischen, landet aber schlussendlich in einem Nebenlager des KZs Mauthausen.

Bernt Spiegel spannt den Bogen von den späten Zwanzigern bis in die Monate nach dem Zusammenbruch und der Kapitulation Nazideutschlands. Er erzählt die Geschichten der drei Familien. Aber vor allem erzählt Bernd Spiegel von der sich langsam einschleichenden Macht einer Ideologie, die auf Misstrauen, Hass und Schuldzuweisung gründet. Einer Ideologie, die sich auch in der Gegenwart wieder auszubreiten droht und vergessen lassen will, dass jene Kräfte den Tod von vielen Millionen zu verantworten haben. Kein Fliegenschiss der Geschichte!

Bernd Spiegel erzählt erlebte Geschichte, ist Zeitzeuge. Und auch wenn der Schluss des Romans allzu moralisch sauber daherkommt, Dialoge zuweilen überladen wirken und nicht jede der 900 Seiten romantragend ist, wickelt mich der Autor in einen erstaunlichen Sog. Er fasziniert mich durch sein Wissen, seine Innenansicht, sein Fasziniertsein von Technik, Musik und menschlichen Schwächen, seine Lust, in die Tiefe einzutauchen und seinen langen Atem.

„Milchbrüder, beide“ ist ein Roman über das kollektive und individuelle Erblinden. Viktor folgt blind seiner Faszination für die Fliegerei, Ludwig blind jener von Macht und Ordnung, Bienchen der Musik. Sie alle bezahlen einen hohen Preis. Die einen mit Einsicht und Ernüchterung, die anderen erblinden bis tief in die Seele.
Bernt Spiegel bleibt ganz nah bei den Protagonisten. Die Geschichte, der Faschismus, die Macht der Geschehnisse, der Krieg, alles spiegelt sich in den Protagonisten des Romans. „Milchbrüder, beide“ belohnt mutige LeserInnen, nicht zuletzt mit der ewigen Frage, wo Naivität endet und Schuld beginnt.

Interview mit Bernt Spiegel:

In einer Mail an mich schrieben sie: Der Roman selbst stellt zwar keine historische Wirklichkeit dar, aber er ist gewissermassen nah „an der Wirklichkeit entlang“ geschrieben. Auch wenn ich ihren Roman nicht einfach in die Schublade der historischen Romane ablegen möchte, bezweifle ich den ersten Teil, denn der Roman strotzt vor Wirklichkeiten und der zweite Teil des Satzes ist in ihrem Fall, zu ihrem Roman überhaupt nicht notwendig, denn jede Seite lebt von der Unmittelbarkeit, von der Erfahrung. Was in anderen Romanen manchmal allzu sehr nach Recherche und Wissensbeweis riecht, ist in ihrem Roman Abbild unzähliger Erinnerungen. Ich nehme an, der Roman hätte gleich noch viel umfangreicher werden können.
Das war von mir etwas schlampig formuliert, dieses „keine historische Wirklichkeit“. Wenn ich so darüber nachdenke: Wohl kein einziges Ereignis, das ich geschildert habe, und kein einziges der zahllosen kleinen Geschichtchen und Vorfälle, die ich erzähle, hat sich wirklich ereignet. Und wenn da und dort vielleicht doch, dann hat es sich mindestens nicht so abgespielt, wie es von mir geschildert wird. Das Entscheidende nämlich ist: Diese ganzen Einzelereignisse dienen nur dazu, die einzelnen Charaktere, auch in ihrer Entwicklung, allmählich immer deutlicher werden zu lassen, und sie hatten (oder haben) im Ganzen nur die Aufgabe, die bedrückende Atmosphäre der schlimmen Jahre – auch in ihrer fortwährenden Veränderung – nicht einfach zu schildern (gewissermassen bloss zu behaupten), sondern sie für den Lesenden ganz unmittelbar spürbar und miterlebbar werden zu lassen. Das ist die „eigentliche historische Wirklichkeit“, die dieser Roman bietet. Aber das geht nur, wenn nicht nur aus der Sicht der Opfer bzw. der Betroffenen erzählt wird, sondern auch aus der Sicht der Täter! Und das wiederum setzt voraus, dass die Dialoge in ganz verschiedenen Stilen geschrieben werden müssen, damit diese schwierige Position, auch aus der Sicht der Täter zu berichten, wirksam wird. Es ist ein Unterschied, ob ein SA-Rüpel oder ein ranghoher SS-Führer mit Hochschulbildung spricht, ob ein hochrangiger Industrieller oder sein Fahrer spricht oder ob der Leser bei den Offizieren einer Widerstandsgruppe mit zuhören kann – da gibt es Dutzende von verschiedenen Sprachstilen. Manchmal wurde mir selber Angst, wenn ich eine dekuvierende Ansprache, die ein ranghoher SS-Offizier in engstem Kreis hält, meiner Frau vorgelesen habe. Aber das ist eben die eigentliche Wirklichkeit dieses Romans, aber es sind nicht die einzelnen Personen, die es so nicht gibt, und nicht die einzelnen Alltagsereignisse, die so nicht stattgefunden haben.

Sie sind Jahrgang 1926, ein aussergewöhnliches Alter für einen literarischen Erstling. Nichts an diesem Roman riecht nach Erstling. Verraten Sie etwas über die Entstehungsgeschichte ihres Romans, der mehr literarisches Vermächtnis zu sein scheint?
Ich habe mir sehr viel Zeit gelassen. Die Grundidee – die politische Verführung eines Einzelnen und eines ganzen Volkes – hatte ich Mitte der sechziger Jahre. Von da an habe ich systematisch Gedanken in einer Zettelkartei gesammelt (da finden sich sogar schon ausformulierte Szenen darin). Allmählich erreichten die kleinen schweizerischen „Biella-Ordner“, in denen meine Zettel untergebracht waren, nebeneinander gestellt schliesslich einen reichlichen Regal-Meter. Einige 1000 Zettel und viel unnützes Zeug natürlich mit darunter. Erst Ende der Neunzigerjahre – ich hatte allmählich mehr Zeit – begann ich zu sichten und zu ordnen und zugleich die Zeitgeschichte zu studieren. Erst so ca. 2007/2008 fing ich an zu schreiben, aber das war anfangs eher die „Konstruktion“ des Romans, nämlich das Zusammenspiel der verschiedenen Erzählstränge (die zum grossen Teil ja im Roman unsichtbar verlaufen und von denen dann nur da und dort mal ein Stück davon erzählt wird). Das ist ein nicht ungefährliches Vorgehen, weil es leicht zu Unmöglichkeiten kommen kann, und es funktionierte erst dann richtig, als ich die einzelnen Stränge in Form langer Papierbahnen nebeneinander an der Wand hängen hatte. Dieser übersichtliche „Fahrplan“ erwies sich als sehr nützlich – ich war in allen Zeitabschnitten des Romans „zuhause“ und konnte es mir leisten, gleichzeitig an verschiedenen Stellen des Romans zu schreiben („gleichzeitig“ nicht im strengen Wortsinne gemeint).

Gemeinsame Feinde schweissen zusammen. Ein erfolgreiches Programm des Nationalsozialismus. Damals die Ungerechtigkeit des Versailler Friedensvertrags nach dem ersten Weltkrieg, später das Weltjudentum, heute das Fremde, die Flüchtlinge, seit je die Vermischung des reinen Deutschtums. Ihr Roman erzählt eigentlich von einer grossen Freundschaft. Einer Freundschaft, die in der Kinderstube beginnt und selbst durch die Wirren der Zeit nie ganz gelöscht wird. Liegt nicht in der Freundschaft ein völkerverbindendes, friedensstiftendes Prinzip?
Nun ja, es war eine grosse Freundschaft, auch eine lange währende, aber auch eine Freundschaft, die von Anfang an grossen Belastungen ausgesetzt war, die immer grösser wurden, je mehr sich die beiden auseinander entwickelten. Es war eine Freundschaft, die nicht auf einer mehr oder weniger innigen Zuneigung beruhte, sondern mindestens primär den beiden durch den Zwang der Milchbrüderschaft (und das Wissen darum) „von aussen“ aufgedrängt war.

Dass Freundschaften über die Grenzen hinweg einen hervorragenden Beitrag zur Völkerverständigung leisten können, steht für mich ausser Frage. Meine Mutter war Französin, sodass es stets vielfältige persönliche Verbindungen „nach drüben“ gab, was in der Nazizeit natürlich wieder zu Problemen anderer Art führte. Das Dorf, in dem ich heute wohne, unterhält schon seit den sechziger Jahren mit grossem Erfolg eine Partnerschaft zu Plougerneau, einem ebenso kleinen Nest in der Bretagne.

Ihre drei Hauptfiguren sind drei Archetypen; Viktor, der Zurückhaltende, Nachdenkende. Ludwig, der Intuitive, Drängende. Sabine, die sich Abgrenzende, Fokussierte, die Künstlerin. Anderes Personal ist zwar da, aber wirkt nur durch seinen Mangel, wie die fehlende Mutter von Viktor. Waren die Figuren ihres Romans von Beginn weg so deutlich? Drängten sich welche auf oder verabschiedeten sich ungewollt?
Ich hatte eigentlich nie Probleme, Ärger oder gar Streit mit meinen Figuren. Das verlief alles eher anstrengungslos. Auch in den schlimmsten Übeltäter konnte ich mich gut hineindenken, und wenn ich ihn sprechen liess, sprach ich in seiner Sprache. Fragte mich meine Frau, wie geht es weiter mit dem Soundso, dann antwortete ich nur: „Was weiss denn ich? Keine Ahnung, ich muss genau aufpassen und gut mitschreiben.“ Das ist freilich stark übertrieben, aber so ähnlich war es schon.

Ein ganzes Volk verfällt einem Wahn. Aber mit dem Ende des Krieges im Mai 1945 ist dieser Wahn nicht mit einem Mal ausgelöscht. Sie machen das in den letzten Kapiteln ihres Buches sehr deutlich. Wann wird aus purer Begeisterung alles schluckender Wahn?
Ich glaube, die Grenze zwischen Begeisterung und Wahn ist nicht zu ziehen. Schon eine eben erst aufkommende Begeisterung vermindert die Kritikbereitschaft (was in diesem frühen Phasen einer Entwicklung temporär durchaus von Vorteil sein kann).

Was Ludwig fehlt, ist Empathie. Wahrscheinlich ein Schlüsselwort, wenn es um Demokratie, Friedenssicherung, Stabilität und Freiheit geht. Was wünschen Sie nachfolgenden Generationen?
Eine sanfte Skepsis gegenüber allen Aufrufen gleich welcher Art. Sie fördert die Kritikfähigkeit und die Kritikbereitschaft und schützt vor einer der gefährlichsten Eigenschaften der Menschen, nämlich aufwiegelbar zu sein. Mit den sog. sozialen Medien erleben wir gegenwärtig genau das Gegenteil.

Bernt Spiegel, Jahrgang 1926, Psychologe und Verhaltensforscher. Professor an den Universitäten Mannheim, Saarbrücken und Göttingen. Gründete in den 50er Jahren das „Institut für Marktpsychologie“ in Mannheim. Auch Autor eines Bestsellers über das Motorradfahren. Bernt Spiegel lebt und arbeitet bei Heidelberg.

Beitragsfoto © Stefan Warter, Berlin

Julia Malik «Brauch Blau», FVA

Das Leben ein einziger Alptraum? Vom ersten bis fast zum letzten Satz ist „Brauch Blau“ eine Achterbahnfahrt ohne absehbares Ende. Eine Lektüre, die mich einnimmt und fesselt, die ungeschönt zeigt, wie feindlich das Leben sein kann, wie sehr man sich im Überlebenskampf an Dingen zu halten versucht, die einem mit sich in die Tiefe zu reissen drohen.

Sie wacht in einem Hotelzimmer auf, das sie im Moment des Aufwachens nicht zu kennen glaubt. Alles ist fremd, sogar ihr Körper, der nicht zu ihrem Denken passt. Nach und nach schaltet sich Erinnerung dazu, auch die an ihre Kinder, die bei ihr hätten sein müssen. Sie rafft die Kleider zusammen, taumelt aus dem Zimmer in eine Welt, die wie Kulisse wirkt, sucht ihre Kinder, ihre Wohnung, ihre Stimme, ihre Arbeit, ihre Geschichte, ihr Leben.

Alles im Leben der jungen Frau ist aus den Fugen geraten. Herbert, der Vater der beiden Kinder, hat sie sitzen gelassen, weil er ein besseres Leben gefunden hat, auf das er nicht verzichten will. Ihr fehlt Geld, denn das bisschen, das sie zuweilen mit ihrem Singen verdient, reicht längst nicht mehr, sie und die Kinder über die Runden zu bringen. Rechnungen bleiben liegen, sie klaut Lebensmittel im Supermarkt. Sie rennt von Vorsingen zu Vorsingen, von Absage zu Absage, als ob sich ihr alles verschliessen würde. Und wenn sie sich traut, ihrer Mutter anzurufen, schlägt ihr die Kälte ihrer Mutter noch einmal ins Gesicht.

Julia Malik «Brauch Blau», Frankfurter Verlagsanstalt, 2020, 224 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-627-00271-8

„Eingebettet in die Familie“ klingt idyllisch, suggeriert den Traum, den Wunsch, den man in jede Zelle eingebrannt mitbekam. Julia Malik erzählt, wie ein Traum zum Alptraum wird, wie man sich trotz allen Bemühens nicht aus den Fängen und Klauen von Familie lösen kann, nicht einmal für einen kurzen Moment des Blaumachend. Jedes noch so gut gemeinte Tun zieht einem nur noch tiefer in den dröhnenden Sog von Kindergeschrei, Forderungen, endlosen Diskussionen, Missverständnissen, immer weiter weg von sich selbst, dem was die junge Frau eigentlich tun will; eine gute Mutter sein, eine gute Sängerin sein, eine gute Liebende sein, ein guter Mensch sein.

Das rauschhafte Sein auf den Opernbühnen der Welt steht in krassem Kontrast zur unkontrollierbaren Welt, der Realität. Was sich nach den Proben und Aufführungen durch einen Joint, eine Tablette, ein bisschen Gras zudecken lässt, rächt sich als Mutter und Organisatorin eines Lebens, das ausser Kontrolle geraten ist. Der jungen Frau gelingt es nicht mehr, in ihrem Leben zu agieren, alles ist auf Reaktion reduziert. Selbst wenn sich auf ihrer verzweifelten Jobsuche eine Tür zu öffnen scheint, ein bisschen Perspektive möglich wird, wird ihr das Heft aus der Hand genommen, reduziert sich das Leben auf den Moment.

Manche mögen sich fragen, warum man sich einen solchen Tripp antun sollte. Julia Malik setzt mich in einen Tunnel, in eine geschlossene Rutsche, in der ich ohne mein Dazutun in die Tiefe sause. Sie zwingt mich, mich mit den Existenzen jener auseinandersetzen, die verzweifelt versuchen, das Leben in den Griff zu bekommen; Alleinerziehende, KünstlerInnen ohne fixes Einkommen, Sitzengelassene und Verlassene, nicht nur verlassen von Liebe und Sicherheit, sondern verlassen von all den Vorstellungen und Träumen, die man einst zu Maximen machte.
Weil Julia Malik ein Sperrfeuer der Sprache zündet! Sie protokolliert nicht, schildert nicht von Aussen, sondern von Innen, gemischt mit all den Bildern, die von objektiven Wahrnehmungen abgekoppelt scheinen. So nah, dass mir manches beinah unerträglich, das Gelesene beinah zum eigenen Schmerz wird.
„Brauch Blau“ ist die Metamorphose einer jungen Mutter und Künstlerin, der es erst im letzten Satz gelingt, das Alte abzustreifen.

Beeindruckend!

© Lottermann and Fuentes

Interview mit Julia Malik

Das Irgendwie-Leben einer alleinerziehenden, zweifachen Mutter zwischen drohender Armut, Rausch und Kater, permanentem Überlebenskampf, totaler Isolierung und ekstatischer Sehnsucht hat nichts gemein mit plakativem Familienidyll, trautem Heim und wohliger Sicherheit. Und doch ist das Schicksal der jungen Frau das jener Frauen, die in ihrer Not fast ersticken, niemals die Kraft hätten, ihre Stimme zu erheben. Ist ihr Roman Manifest?
Haha, ich hoffe doch, dass mein Roman so ein Manifest ist der Menschen, die durch eine Familie nicht in eine Idylle versinken, sondern sich dem stellen, was die Widersprüche zwischen der eigenen Hingabe, emotional und künstlerisch, körperlich natürlich auch, und dem Funktionieren als Elternteil herausfordern. Ich habe das oft erlebt, selbst, und beobachtet, bei anderen, ausserdem ist man ja dadurch, dass man nach einer Geburt auf einmal die nächste Generation ist, nicht plötzlich erwachsen, man will doch trotzdem wild sein können, ist doch immer noch getrieben, auch von irrationalen Sehnsüchten und natürlich dem normalen Chaos aus Familie, Zuhören, Einkaufen, Steuererklärungen, Geldverdienen, Kindergeburtstagen, Geburtstagen der Freundinnen, länger arbeiten und wenn die Kinder dann auf einmal eine neue Regenhose brauchen, gerät alles ins Kippen. Das geht nämlich ganz schnell, dass ein Chaos hereinbricht, wenn die Summe aller einzelnen Aufgaben für einen alleine viel zu viel ist. Und was passiert da in einem drin? Das hat mich interessiert. 

Ihr Roman ist eine sprachliche und dramatische Achterbahn, einmal realistisch klar, dann traumhaft verzerrt. Er reisst mich als Leser auf der ersten Seite schon in die Urangst aller Mütter, die Kinder zu verlieren und endet mit einer Art Häutung, als wärs der Beginn einer Metamorphose. Fürchteten Sie sich vor dem totalen Absturz? Wäre der nicht zumutbar gewesen?
Ja, natürlich fürchte ich mich vor dem totalen Absturz, alles andere wäre ja eine Verharmlosung, ein totaler Absturz ist genau das. Ich fürchte mich davor, aber es hat mich mehr interessiert, den Kampf und ihre Versuche und auch ihre Möglichkeiten kennenzulernen, als das Elend zu erforschen. Meine Hauptfigur lässt sich, obwohl sie dort schon ist, nicht hineinfallen, sie will einfach nicht aufgeben und sie beansprucht auch ihr Glück. Sie lernt, sich etwas zu nehmen, ein Verhalten, das ich oft an Männern beobachtet habe und sehr interessant fand. Das ist wohl auch mein innerer Tarantino gewesen, der sagte, jetzt macht sie das aber einfach, jetzt marschiert sie einfach rein und endet das Sozialdrama. Sie bleibt ja trotzdem einer psychologischen Logik verpflichtet, sie zwingt nur all ihre Willensstärke zusammen und ändert ihre Gedankenmuster, ihre Handlungen und ihren Weg und das ist ja durchaus möglich.

Die Protagonistin ist Sängerin ohne festes Engagement, hofft auf eine Rolle auf einer grossen Bühne und ist zu fast allem bereit, eine Rolle zu ergattern. Die Welt draussen in der Realität und die Welt der Illusionen auf der Bühne? Die Welten scheinen diametral auseinander zu liegen. Das ganze Spektrum zwischen Sein und Schein?
Ja, die Welten liegen diametral auseinander und sind beide wahr, genau wie ihr Leben diametral verschieden ist, das, was sie als Frau ausmacht, was sie zum Leben braucht, wie eine Pflanze und das, was ihr Alltag von ihr verlangt.

Sie will eine Rolle in „Norma“ einer tragischen Oper von Vincnzo Bellini. Eine Priesterin, die zwei heimliche Kinder versteckt hält, hin- und hergerissen zwischen Mutterliebe und Status. Sie selbst sind erfolgreiche Schauspielerin, Mutter, Musikerin und Schriftstellerin. Priesterin und Dienerin?
Ja, ich glaube, ich fürchte, ich hoffe, ich bin auch Priesterin und Dienerin. Ich diene demütig meinem Schreiben und meinen Kindern und natürlich meinen Leidenschaften; der Musik und dem Spielen – und die eine oder andere Messe passiert dabei wohl auch. Manchmal vergesse ich mich und nehme ich mich ungeheuer ernst. Dann wird mir etwas heilig, wahrscheinlich eher aus Versehen … und dann gibt es Entscheidungen, die radikal und schmerzhaft sind, von der auch die Norma erzählt, die man aushalten muss, was eigentlich auch nach der Musik von Bellini verlangt. 

„Brauch Blau“, sagt der kleine Sohn, als er eine rote Serviette vorgesetzt bekommt. „Brauch Blau“, sagt die Mutter, weil sie nicht das gewünschte Leben vorgesetzt bekommt. Eine Frau, die die Enge nicht mehr erträgt. Ist Muttersein nicht die einzige Rolle, die man nie ablegen kann?
Ich weiss es nicht. Wahrscheinlich kann man sogar das Muttersein ablegen, wenn man das will. Es gibt ja Menschen, mehr Männer, aber sicher auch Frauen, die ihre Kinder verlassen, sie verlassen können. Für mich ist das definitiv nicht möglich, ich will das auf keinen Fall, ich möchte meine Kinder erleben. Aber in Gedanken passiert das natürlich schon, momentweise, das ist ja das Spannende in der Kunst, dass man sich etwas Anderem komplett hingibt und sein Leben vergisst. Wie schön ist es dann für mich, wieder aufzutauchen und Waffeln zu backen und mit meinen Kindern Lego zu spielen.

© Julia Malik

Julia Malik, 1976 in Berlin geboren, ging für das Schauspielstudium an die Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Anschliessend folgten Engagements an verschiedenen Theatern, unter anderem am Deutschen Schauspielhaus Hamburg, am Schauspielhaus Hannover und am Théâtre National du Luxembourg. Sie dreht Film- und Fernsehproduktionen, arbeitet an dem Kinofilm «LASVEGAS» und spielt Geige in der Berliner Band «Hands Up – Excitement!». «Brauch Blau» ist ihr erster Roman.

Hands Up – Experiment! You’re next successful experience – Tour Teaser 2018

Julia Malik: Selbstbehauptung einer Frau / Interview bei Geistesblüten

Simone Lappert «schlaflos», Plattform Gegenzauber

schlaflos

als ob da im dunkeln was umkippt
hinter dem brustbein und beim atmen verschüttet.
jetzt, wo die luft so kühl und die blicke der andern
so zugefenstert, als ob da was scheuert und knotet,
als ob die ellbogen einwärts knicken und durch die rippen
nach innen wachsen, als ob auch die hände einwärts ästeln.
als ob da ein wald unter der zunge, ein blättriger
störton im hals; und dann das krachen der äste
hinter den augen, die zunehmende vermoosung
der gedanken – bis da aussen ein wald ums bett
und innen die fäuste, im rippentresor.

 

aufgewachsen

es ist nur noch ein leises da:
zwischen den zweigen ein schnittpunkt
den es damals schon gab, die hierarchie
der pflastersteine, leicht verschoben nur
die gerüche im hausflur zerzaust erhalten und
was kümmert den hasel sein wachsender schatten
was die hagenbutte der fortgang der zeit;
zwischen den halmen, im flickwerk der felder,
fläzen kinderjahre, auf der abgespielten haut.

 

1992

hattest beschlossen, dich bis zum gefrierbrand zu monden,
bis zur verbleichung durch den schnee zu stapfen
und stehst jetzt stattdessen so knie gegen heizstab, beschlägst
die scheiben mit tauendem gedankenfrost. hinterm kondensat:
der durchstapfte rasen, aneinander geflockte weggehversuche;
heimlich und klein und tief gefroren. – stehst ganz handwarm jetzt,
in deiner radiatorenstille, und enteist die wut in deinen fäusten.

 

langschlaf

dein händegeweih. und dann zwischen den lippen
ein wortwild ganz scheu, seine hufe dampfen vom laufen
im moos, so sprichst du, den rücken noch feucht
vom moos deiner träume und alles im zimmer
bleibt unterholz nach solchen nächten, bleibt
wurzelwerk und die ohren nach innen.

 

im feriehaus

abends, wenn im seetal die laternen angehen,
mir beweisen, dass wieder ein tag überstanden ist,
mach ich mir gierig eine erinnerung ans uns auf,
schlinge sie roh und im stehen; lehne dann
klumpbäuchig am kühlschrank und hasse den mond,
der wahllos jeden scheiss versilbert.

 

strawberryfields forever

und selbst wenn wir liegen, mit den ohren im gras,
den mündern in der sonne, den händen im salbei,
mit erdbeerzungen einander süsses sagen:
sorgsam gepflücktes beschwichtigungsobst;
selbst wenn wir uns auf instagram ins abseits liken,
gartenzaun an gartenzaun, labiles gewissen umhegen:
# strawberrymoments; selbst dann kandieren wir heimlich
ein paar idyllen für später, für tage, die mager sind,
den outgesourcten frost, der wieder heimfinden wird,
irgendwann, und die früchte verbittern.

 

ans eingemachte

dein schweigen ein einweckglas, hygienisch
ausgekocht deine herzkammerwände, lückenlos
das vakuum deines rückzugs. weck sie nur ein,
unsere essigliebe, luftleer konserviert
hält sich angebrochenes länger.

 

Simone Lappert (1985) studierte Literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, sie lebt und arbeitet als freie Autorin in Zürich und Basel. 2014 erschien ihr Romandebüt «Wurfschatten» (Metrolit, Berlin, 2014). Ihr zweiter Roman «Der Sprung» erschien Ende August 2019 bei Diogenes und ist für den Schweizer Buchpreis nominiert. Simone Lappert ist literarisch und performativ an diversen Kunstprojekten beteiligt, führt literarisch durch Ausstellungen, zuletzt in der Fondation Beyeler (Alexander Calder und Fischli/Weiss) und in der Kunsthalle Basel (Lynette Yadom-Boakye). Sie ist Präsidentin des Internationalen Lyrikfestivals Basel, Jurymitglied des Basler Lyrikpreises, Mitbegründerin der transdisziplinären Gesprächsreihe Raum für Unsicherheit, war Schweizer Kuratorin für das Lyrikprojekt Babelsprech.International und ist Mitglied des AdS (Verband Autor*innen der Schweiz).

Rezension von «Der Sprung» auf literaturblatt.ch

Webseite der Autorin

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matthes & Seitz

Heute vor 495 Jahren starb Thomas Müntzer vor den Toren der Stadt Mühlhausen, nachdem man ihn gefoltert und ganz offensichtlich gezwungen hatte, einen Abschiedsbrief zu verfassen, in dem er die Aufständischen zum Verzicht weiteren Blutvergiessens aufrief. Thomas Müntzer, ein zorniger Theologe, der nicht einsehen wollte, dass Armut hier, Reichtum dort gottgegebenes Programm sein sollte.

Wer kennt nicht Martin Luther – oder hat zumindest von ihm gehört oder gelesen. Wer kennt Thomas Müntzer? Wahrscheinlich kennt ihn nicht einmal Éric Vuillard. Denn abgesehen von seinen niedergeschriebenen Texten, den Briefen und Predigten des zornigen Theologen und Reformators weiss man im Gegensatz zu seinem eher sanftmütigen Glaubensbruders Luther nicht viel. Sicher ist, dass er durch seine Schriften und Predigten im 16. Jahrhundert den Zorn, die Wut der Armen und Rechtlosen zu entfachen wusste, dass das Feuer Aufstand und Krieg bedeutete, dass die Obrigkeit, Klerus und Patrizier, Adel und Würdenträger die Macht der Mächtigen gegen die Ohnmacht der Armen ausspielten und Thomas Müntzer am 27. Mai 1525, also vor genau 495 Jahren, Jahrhunderte vor Revolution und Aufklärung, im thüringischen Mühlhausen gefoltert, öffentlich enthauptet und sein Haupt aufgespiesst wurde.

Éric Vuillard «Der Krieg der Armen», Matther & Seitz, 2020, 64 Seiten, CHF 21.50, ISBN 978-3-95757-837-2

Zwischen 1452 und 1454 wurden in der Druckerwerkstatt von Johannes Gutenberg in Mainz die ersten Bibeln gedruckt. Innerhalb von drei Jahren 180 Bibeln, während in Klöstern Mönche in der gleichen Zeit jeweils eine einzige in für das Volk unverständlichem Latein abschrieben. „Bücher vermehrten sich wie Würmer in einem Körper.“ Einem modrigen Körper, der sich mit allerlei Rechtfertigungen und Behauptungen stramm am Leben hielt. Aber Thomas Müntzer genügt die deutsche Bibel nicht. Er predigt auch in deutscher Sprache und seine Kirchen füllen sich. „Warum war der Gott der Armen so merkwürdig auf Seiten der Reichen, immer mit den Reichen? Warum forderte er mit dem Mund derer, die alles genommen hatten, alles zu lassen?“ In jenen unruhigen Zeiten waren solche Gedanken Häresie, Grund genug, wie Jan Hus in Konstanz auf dem Scheiterhaufen zu landen (1415). Und nachdem Thomas Müntzer vor Erbprinzen, Vögten und Bürgermeistern den Satz „Man soll die gottlosen Regenten töten“ ausspricht, ist das Ende des Fürsprechers der Armen besiegelt.

Éric Vuillars Buch ist kein Roman, kein durch Fiktion aufgeblasenes Konstrukt. „Der Krieg der Armen“ hat nie aufgehört, setzt sich in Venezuela, bei den Obdachlosen in Kalifornien, den Flüchtenden an der Grenze zwischen der Türkei und Griechenland fort. Die Kraft dieses Buches liegt in seinem Konzentrat!

Man kann das Buch lesen wie ein historisches Sachbuch. Aber man kann dieses schmale Buch auch lesen wie eine Warnung an die Zukunft. Damals waren es Adel und Klerus, die sich in ihren „gottgewollten“ Privilegien sonnten, die Menschen durch Steuern, Frondienst, Leibeigenschaft und Sklaverei ausnützten. Heute sind es die Oligarchen, Wirtschaftsbosse und Finanzhaie, die sich hinter Argumentationen wie „Der Markt steht allen offen, man muss nur wollen (und können)“ verstecken, die sich vor jenen fürchten, die die scheinbar in Stein gemeisselten Privilegien in Frage stellen. Thomas Müntzer machte die Bibel zum Programm, jenes Buch, das nichts von seiner revolutionären Brisanz eingebüsst hat.

Éric Vuillard, 1968 in Lyon geboren, ist Schriftsteller und Regisseur. Für seine Bücher, in denen er große Momente der Geschichte neu erzählt und damit ein eigenes Genre begründete, wurde er u. a. mit dem Prix de l’Inaperçu, dem Franz-Hessel-Preis und dem Prix Goncourt ausgezeichnet.

Nicola Denis, 1972 in Celle geboren, arbeitet als freie Übersetzerin im Westen Frankreichs. Sie wurde mit einer Arbeit zur Übersetzungsgeschichte promoviert. Für Matthes & Seitz Berlin übersetzte sie u. a. Werke von Alexandre Dumas, Honoré de Balzac, Éric Vuillard, Pierre Mac Orlan und Philippe Muray.

Rezension von «14. Juli» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Melania Avanzato

Das 50. Literaturblatt ist da!

Liebe Freundinnen und Freunde der «analogen» Literaturblätter,

es ist im da. Das Fünfzigste! Und noch immer bereitet mir das Gestalten, Zeichnen, Ausprobieren, Tüfteln und Schreiben Freude.
Wer im Büchergestell jene 50 mal 4 Bücher stehen hat, die ich bisher auf meinen «analogen» Literaturblättern zur Lektüre anpries, kann versichert sein, in jedem Fall eine ausgesuchte Bibliothek zu besitzen. Immerhin 200 Bücher.

Literaturblatt 1

Vor 10 Jahren habe ich mit den «analogen» Literaturblättern begonnen. Wer nachsehen will, wie sich diese im vergangenen Jahrzehnt entwickelten, kann dies hier nachsehen.

Ich erlaube mir, mit dem Versand des Jubiläumblatts einen Einzahlungsschein beizulegen mit der Versicherung, dass jeder Euro, jeder Franken im Dienste der Literatur eingesetzt wird. In diesen Zeiten erst recht!

Wer meine Literaturvermittlung, sei es das «analoge» Literaturblatt, sei es literaturblatt.ch oder gegenzauber.literaturblatt.ch, meine Arbeit als Vermittler und Veranstalter unterstützen will, kann dies mit einem Beitrag auf folgendem Konto gerne tun. Schon jetzt bedanke ich mich sehr:

Literaturblatt 5

Literaturport Amriswil, Gallus Frei-Tomic, Maihaldenstrasse 11, 8580 Amriswil
Raiffeisenbank, Kirchstrasse 13, 8580 Amriswil
CH16 8137 3000 0038 6475 8
SWIFT-BIC: RAIFCH22

«Dein Kunstwerk hat den Weg zu mir gefunden. Es ist immer wieder erstaunlich, wie das alles zusammenpasst – inhaltlich und grafisch. Danke für dieses Geschenk.» Andreas Neeser

«Es ist höchste Zeit, Ihnen zu sagen, wie sehr ich mich jedes Mal über das Literaturblatt freue. Mit herzlichem Dank! F. K.»

Literaturblatt 11

«Cher Monsieur Frei, mon allemand n’est pas très bon, mais assez pour que je sache que vous venez de me faire un très beau cadeau de Noël. Merci beaucoup pour cette magnifique critique. Et je serais ravie bien sûr de recevoir la version papier.» Pascale Kramer 

«Toll! Gratuliere! Ich muss gestehen, dass ich das Literaturblatt nicht kannte und jetzt erst erfahren habe, dass du das handschriftlich gestaltest. Ich bin begeistert und sehr beeindruckt!» Kai Weyand

«Sehr herzlichen Dank für deine hübsche Post» Tim Krohn

Literaturblatt 29

«Mein Briefkasten ist meist leer, nur alle paar Wochen kommt eine Rechnung, Werbung, Behördenbrief, hässliche Post von der Hausverwaltung. Vor einigen Tagen: das Literaturblatt. Vier kleine Texte, einer davon über „Hundesohn“. Handgeschrieben. In einer leicht zur Seite fließenden Schreibschrift, die sich aus dem letzten Jahrtausend auf magische Weise in die digitale Zeit gerettet hat. Das kleeblattförmige H, die filigranen Schlenker an den Buchstaben, ich staune und erinnere mich an meine Schulzeit, ich hatte immer eine Vier in Schrift. Danke, lieber Gallus, für Deine flammende Literaturliebe, den Schwung und die Schnörkel in Deiner Sprache und Deinem Handgelenk.» Sonja M. Schultz

Literaturblatt 39

«Es ist schön, von der Frankfurter Buchmesse zurückzukehren und nach viel Getümmel, Gespräch und Gewese eine in feiner Handschrift verfasste Besprechung eines Lieblingsbuches vorzufinden. Verbindlichsten, besten Dank in die mir liebe Schweiz, Ihre Tanja Warter» C. H. Beck Verlag

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt

Hans Joachim Schädlich beweist mit seiner Art des Schreibens, dass sich Literatur durchaus der Schlichtheit, dem (scheinbar) Einfachen verschreiben kann, um Grossartiges zu erzählen. Der Autor erzählt die Geschichte eines Hauses und ihrer Bewohner. Wer im Laufe seines Lebens einmal ein Haus gebaut hat, weiss, wie sehr man dem Irrtum verfallen kann, man baue ein Stück Beständigkeit, vielleicht sogar Ewigkeit.

Ein zweiflügliges, schmiedeeisernes Tor, eine leicht geschwungene Auffahrt an einem Springbrunnen vorbei, im Erdgeschoss grosse Räume, Parkett und Stuck, ein Wintergarten, über dem Treppenpodest ins Obergeschoss ein grosses, hohes Bleiglasfenster, ein Turmzimmer. Die Gründerzeitvilla, von einer zu Reichtum gekommenen Familie 1890 gebaut, wird 1940, mitten im grossen Krieg das Zuhause der Familie Kramer. Hans und Elisabeth Kramer und ihre vier Kinder.

Als sie in die Villa einziehen, Vater Kramer längst eingeschriebenes Mitglied der NSDAP, prosperiert das Tausendjährige Reich. Man richtet sich ein für eine glorreiche Zeit. Elisabeth Kramer, die jung gar nicht heiraten wollte und von einer sozialen Aufgabe irgendwo auf der Welt träumte, schob man in eine kaufmännische Lehre und in den sicheren Hafen der Ehe. Auch Hans hätte gerne studiert. Aber da der Vater Drogerien besass und Nachfolgesorgen, war schnell klar, in welche Richtung das Leben verlaufen würde, erst recht mit der Marschrichtung der Partei.

Hans Joachim Schädlich «Die Villa», Rowohlt, 2020, 192 Seiten, CHF 30.90, ISBN 978-3-498-06555-3

Hans ist kein strammer Nazi, seine Frau Elisabeth noch viel weniger. Aber man richtet sich mit und in den Umständen ein. Der Nationalsozialismus ist Naturgesetz, so wie das generelle Misstrauen, die Judenfeindlichkeit und der logisch scheinende Weg in einen Krieg. Den Kramers geht es schliesslich gut und man ist überzeugt, einer Herrenrasse anzugehören. Man ist erfolgreich, hält sich Gärtner, Kindermädchen, feiert Feste und pflegt Beziehungen zu Parteispitzen. Bis nach der Katastrophe von Stalingrad der Wind zu drehen beginnt, man vorsichtiger wird und vor allem Elisabeth den herannahenden Zusammenbruch erahnt.

Irgendwann reicht das Geld nicht mehr. Man verkauft die Villa, zieht sich ins Obergeschoss zurück. Die Amerikaner fahren mit ihren Jeeps im Ort ein. Es gibt Kaugummis und Zigaretten. Später fällt der Ort in die sowjetische Zone. Der Russe kommt, man muss in eine kleine Mietwohnung umziehen, kann nur das Nötigste mitnehmen.

Hans Joachim Schädlich erzählt wahrscheinlich die Geschichte seiner Familie. Was am Roman des Schriftstellers begeistert, ist aber nicht einmal so sehr die Geschichte der Familie, die durch die Wirren der Zeit gespült wird. Es ist die Geschichte dieses Hauses, mit Selbstbewusstsein gebaut, für Grosses bestimmt. 2008 wird die Villa abgerissen, muss dem Fortschritt weichen. Kurz vor ihrem Abbruch, aus der Villa ist ein Pflegeheim geworden, besucht Elisabet zusammen mit ihrem Sohn noch einmal jenes Haus, das für wenige Jahre, in den Glanzzeiten des Tausendjährigen Reiches, zum Stammhaus einer aufstrebenden Familie hätte werden sollen.

Aber was am Roman Hans Joachim Schädlichs wirklich fasziniert, ist die Lakonie seiner Sprache, seines Erzählens. Er zeichnet mit einem spitzen Stift, malt nicht aus, verliert sich mit keinem Satz. Wo andere mit der grossen Kelle ans Werk gehen, bleibt Hans Joachim Schädlich beim Wesentlichen, hangelt sich am Gerüst durch die Zeit. Umso mehr steigen bei mir selbst die Bilder auf, füllen sich mit Farben, Stimmungen, sogar mit Gerüchen. Hans Joachim Schädlich ist eine Ikone!

Interview mit Hans Joachim Schädlich:

In „Die Villa“ ist die Protagonisten nicht aus Fleisch und Blut, sondern eine Villa in Reichenbach, erbaut in der Gründerzeit, Ende des 19. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel besucht die greise gewordene Frau Kramer noch einmal die Villa, kurz bevor das Gemäuer weichen muss und abgerissen wird. Es ist die Geschichte eines Hauses über mehr als ein Jahrhundert bis in die Neuzeit. Häuser erzählen Geschichten, alte Häuser viele Geschichten. Sie sind die Bühne, die Kulisse, flüstern von Zeiten, die längst vorbei sind. Mauern suggerieren Beständigkeit, beinahe Ewigkeit, zumindest aus menschlicher Sicht. Rückt Geschichte mit fortschreitendem Alter in ein anderes Licht?
Geschichte offenbart sich mit fortschreitendem Alter immer klarer, zumindest aus meiner Sicht.

Kramers, die mitten im letzten Weltkrieg die letzten „grossbürgerlichen“ Bewohner dieser Villa waren, waren das, was die meisten im Tausendjährigen Reich waren; wenn nicht stramme Nazis, dann doch mindestens überzeugt davon, dass Parteizugehörigkeit unverzichtbar ist, erst recht als Unternehmer und Arbeitgeber. Damals die Partei, heute der Glaube an stetes Wirtschaftswachstum und Konformismus?
Es bedarf wohl der Kompetenz vom Soziologen, Wirtschaftsfachleuten und Historikern, um Ihre Frage zu erörtern.
Ich bemerke zumindest, dass man es damals und heute mit grundsätzlich verschiedenen Bedingungen zu tun hat. Damals herrschte die Nazidiktatur in Deutschland und seit den vierziger Jahren in fast ganz Europa. Heute gibt es in einem freien Europa gemeinsame, regulierende Behörden (EU).

Ihre Sprache ist glasklar, ihre Sprache Programm. Sie hat nichts Verschwenderisches, ihre Sätze mäandern nicht um ihrer selbst willen. Sie bauen mit ihren Sätzen keine dicken Mauern, keine tiefen Keller. Aber ein filigranes, fast durchscheinendes Gefüge, das in die Höhe strebt. Kurze Kapitel, jedes wie ein Bild. Sie erklären nicht, deuten und ergründen nie. Alles liegt bei mir, dem Leser. Was ist bei ihrem Schreiben oberste Maxime?
Ein poetisches Prinzip meiner Schreibarbeit besteht darin, Denkräume für die Phantasie des Lesers zu schaffen. Manche nennen das lakonischen Stil. Das Mittel des lakonischen Stils ist – informationstheoretisch gesprochen – die Reduktion redundanter Ausdruckselemente.
Ein anderes Prinzip ist bei historischen Stoffen die geschichtliche Präzision. Die umfangreichsten Recherchen habe ich wohl für meinen Roman „Tallhover“ betrieben. Wenn ich mir vorstelle, ich hätte z.B. für das Kapitel über Lenins Reise im April 1917 aus der Schweiz über Deutschland, Schweden, Finnland nach Petrograd keine präzisen Daten ermittelt, dann hätten Leser, die das nachprüfen können, vielleicht gemeint, das Ganze stimme gar nicht. Diese Reise gewann aber welthistorische Bedeutung. Aus der historischen Präzision folgt die Glaubwürdigkeit des Textes.

So wie die Denkmalschutzbehörde am Schluss, kurz vor Abbruch der Villa „für die Nachwelt“ eine photogrammetrische Erfassung der Liegenschaft vornimmt, hält man bei der Beerdigung einen Nachruf am Sarg des Verstorbenen. Ein paar Eckdaten, ein paar Geschichten. Sie setzen dem Haus, den Menschen, die darin wohnten ein Denkmal, aber ohne mahnenden Finger: „Denk mal!“ Wo lag der Anfang ihres Buches auf dem man die Bezeichnung „Roman“ vergeblich sucht?
Der Anfang des Buches lag in dem Wunsch begründet, die Villa und ihre Bewohner – eine deutsche bürgerliche Familie in den dreissiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts – in einer Kombination aus Fakten und Fiktion gleichnishaft zu verknüpfen, exemplarisch für Aufstieg und Niedergang.

Erzählen Sie kurz von einem literarischen Geheimtipp, den es zu entdecken lohnt und den Sie vor noch nicht allzu langer Zeit gelesen haben?
Ich habe in letzter Zeit Daniil Charms, der mit bürgerlichem Namen Daniil Juvacev hiess, für mich entdeckt. Er ist 1942, im Alter von 37 Jahren, in einem sowjetischen Gefängnis in Leningrad  verhungert. Seine Arbeiten wurden in der Sowjetunion erst in den Zeiten der Perestroika gedruckt. Peter Urban, der große Cechov-Übersetzer, hat als erster „Charms“ ins Deutsche übersetzt. Im Galiani Verlag ist von 2010 – 2011 eine vierbändige „Charms“-Ausgabe erschienen. 

© Jürgen Bauer

Hans Joachim Schädlich, 1935 in Reichenbach im Vogtland geboren, arbeitete an der Akademie der Wissenschaften in Ost-Berlin, bevor er 1977 in die Bundesrepublik übersiedelte. Für sein Werk bekam er viele Auszeichnungen, u. a. den Heinrich-Böll-Preis, Hans-Sahl-Preis, Kleist-Preis, Schiller-Gedächtnispreis, Lessing-Preis, Bremer Literaturpreis, Berliner Literaturpreis und Joseph-Breitbach-Preis. 2014 erhielt er für seine schriftstellerische Leistung und sein politisches Engagement das Bundesverdienstkreuz. Hans Joachim Schädlich lebt in Berlin.

Rezension von «Felix und Felka» von Hans Joachim Schädlich auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Jürgen Bauer

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp

Valerie Fritschs neuer Roman «Herzklappen von Johnson & Johnson» ist eine sprachliche Offenbarung, kein Unterhaltungs-Kurzfutter, keine Strandlektüre für den Halbschlafmodus. Die junge Österreicherin, die neben der Schriftstellerei auch fotografiert, vereint in ihrem Roman optische und sprachliche Tiefenschärfe, dringt sowohl psychologisch, geschichtlich und formal tief in die Segmente des Lebens ein. Ein Meisterwerk.

Alma ist schon als Kind eines mit Ecken und Kanten, wächst auf in einem unterkühlten Elternhaus, fühlt sich vielmehr zu ihrer Grossmutter hingezogen, einer stolzen, lange Zigaretten rauchenden Frau, die, je älter sie wird, desto seltener ihren Kosmos zuhause verlässt. Alma saugt alles in sich auf, auch den Schmerz der Geschichte, personifiziert in der Verschwiegenheit ihres Grossvaters, der im Krieg an Gräueltaten teilnahm, lange in russischer Kriegsgefangenschaft war und nach Jahren als Versehrter in ein Leben zurückkehrte, mit dem er nichts mehr anzufangen wusste. 

Alma ist eingeklemmt in die Erwartungen ihrer Umwelt, ihrer Familie und die permanente Verunsicherung, die all das ausstrahlt, was sie zu verstehen versucht; das Leben ihrer Eltern, in das sie als Mitspielerin gezwungen ist, das Schweigen ihres Grossvaters, das immer mehr zu einem tiefen Abgrund wird, dass das, was wirklich entscheidend ist und war, ausserhalb ihres Wirkungsradius passiert. «Über ihre eigene Rolle rätselte sie oft.»

Valerie Fritsch «Herzklappen von Johnson & Johnson», Suhrkamp, 2020, CHF 32.90, ISBN 978-3-518-42917-4

So sehr die mondäne Grossmutter zu einem Ankerpunkt, so sehr wird der Grossvater zu einem schwarzen Loch, der Verkörperung von unterdrücktem Schmerz, nicht nur körperlich, sondern ebenso psychisch und gesellschaftlich. Alma fühlt diesen Schmerz, der sie zu bremsen scheint, den sie, je älter sie wird, desto körperlicher wahrnimmt. Eine immerwährende Verunsicherung, die sich auch nicht verflüchtigt, als sie den Fotografen Friedrich kennen und lieben lernt. «Die Zeit wirkte wie ein Brennglas für den Schmerz.» Das Haus der Grosseltern wurde zu einem Behälter eines alten, durch Schweigen haltbar gemachten Schmerzes. Ein Schmerz, der nicht zu ignorieren war. Ein Schmerz, aus dem sie es nicht schaffte herauszuwachsen.

Und dann, als Emil zur Welt kommt, «eine grundlegende Erschütterung kroch ihr durch den Laib», stellt sich auch zu ihrem Kind nicht jene Nähe ein, die Mutterglück spiegelt. Emil wird zur Störung, einer Störung, die ihre Umwelt mit Unverständnis quittiert. Friedrich sieht das Leiden, möchte Alma am liebsten schütteln, damit etwas herausfiele aus ihr. Aber statt sich mit Emils Geburt Normalität einstellt, muss Alma feststellen, dass ihr kleiner Sohn unter einem genetischen Defekt leidet. Emil empfindet keinen Schmerz. Er spürt keinen Kratzer, keinen tiefen Schnitt, kein Bauchweh, keine Verbrennung. Und so schleicht sich der Schmerz als überdimensionale Leerstelle in Almas Leben, ein Leben, das auch vor Emils Geburt dem Schmerz gehörte.

Und weil Alma spürt, dass die grossen Antworten und Einsichten nur dort zu klären sind, wo der Schmerz seinen Ursprung nahm, macht sich Alma nach dem Tod ihrer Grossmutter zusammen mit ihrer Familie auf eine grosse Reise. Eine Reise weit weg, tief hinein.

«Herzklappen von Johnson & Johnson» ist derart sprachmächtig geschrieben, dass ich unweigerlich mein Lesetempo der sprachlichen Intensität anpassen musste. So gab es Abschnitte, die ich nicht einfach ein zweites Mal las, weil ich sie inhaltlich nicht verstanden hätte, sondern weil der Genuss des Lesens, die Entfaltung des Sounds nur durch die Lesewiederholung in seiner Totale genossen werden konnte.

Interview mit Valerie Fritsch

Als ich Sie das letzte Mal an einer Lesung traf, waren sie in den Vorbereitungen für eine lange Reise gen Osten, eine Reise, die man dann in den Sozialen Medien auch immer wieder einmal mit Fotos mitverfolgen konnte. Eine Recherchereise. Wie viel von diesem Roman ging damals schon mit auf die Reise?
Die Idee einer Familiengeschichte, die in Schmerzkapseln, in Abwesenheiten und Entfernungen erzählt wird, stand damals schon, und diese Reise, die die Protagonisten gegen Ende machen, um der Kriegsvergangenheit des Grossvaters sprichwörtlich hinterherzureisen, wollte ich erleben, mir jeden Kilometer selbst zumuten, um die Distanzen ermessen zu können: 16 000 sind es geworden. 

Ein zentrales Thema in Ihrem neuen Roman ist der Schmerz, ein Zustand, ein Gefühl, mit dem sich viele Menschen nur ungern oder am liebsten gar nicht aussetzen. Erst wenn man dazu gezwungen wird, konfrontiert einem der Schmerz unweigerlich. Aber selbst dann geht es um Vermeidung, Überwindung und Kampf. Ihre sprachliche Auseinandersetzung aber klingt durchaus lustvoll. Ein Widerspruch?
Ich denke, es ist eine präzise, organische Sprache, die der Plastizität, der heimlichen und unheimlichen Wirkmächtigkeit des Schmerzes versucht gerecht zu werden, der körperlichen und der abstrakten Zerbrechlichkeit, der niemand ganz entkommt. In der Macht von Schmerz kann auch Lust stecken, zumindest aber ist es ein Begriffspaar, das jedes Leben bestimmt, in seiner Gegenüberstellung, oder in seiner Gleichzeitigkeit. 

Sie fotografieren und schreiben. Alma, die Protagonistin, zeichnet, ihr Mann Friedrich fotografiert. Alle setzen sich durch ein vertieftes Sehen mit Welt auseinander. Wie weit verändert der fotografische Blick Ihr Sehen?
Wenn man wild entschlossen und genau schaut, sieht man viel. Die Augen wachsen förmlich mit dem Sehen. Man entdeckt im Allerkleinsten Schlüssel, die in grossen Geschichten sperren. Und man kann, wenn man genug gesehen hat, hernach die Bruchteile, Einzelheiten, Texturen der Welt zu einem grossen, fühlbaren Ganzen wieder sprachlich zusammzimmern mit Buchstaben, so dass der Leser alles in Bildern wiederfindet. 

Ihr Roman ist auch ein Familienroman. Wie jede und jeder wird Alma ungefragt in eine Familie hineingeboren. Sie erzählen, als ob der Schmerz selbst die Genstruktur einer Familie Schaden nehmen würde, so sehr, dass sich an Almas Sohn Schmerzunempfindlichkeit manifestiert, ein Gendefekt. Mag sein, dass ein Zusammenhang abenteuerlich erscheint. Oder doch nicht?
Inwieweit sich Erfahrungen in den Genen zeigen, ist eine neue Wissenschaft, die noch am Anfang steht, aber oft auf Überraschendes stösst. Es gibt beispielsweise ein Experiment mit Mäusen, in denen man den Tieren beibringt, sich vor dem Geruch von Kirschblüten zu fürchten, und auch wenn man die Eltern sofort nach der Geburt von den Jungen trennt, haben diese die gleiche – erfahrungsbasierte – Angst vor dem schönen Blumenduft. Für die Herzklappen von Johnson & Johnson ist das Genphänomen ein Kunstgriff, das Kind eine Gegenfigur des Schmerzes, auch wenn es dieser Defekt, der die Schmerzrezeptoren vollständig ausschaltet und einen unempfänglich macht für jedes physische Leid, tatsächlich medizinisch beschrieben existiert. 

Alma macht sich auf eine Reise, zusammen mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn. Wer Antworten, Erklärungen, Deutungen sucht, macht sich immer auf die Reise, wenn auch nicht zwingend räumlich. Almas Reise ist keine Reise zur Überwindung, weder Schmerz- noch Angstüberwindung. Und doch eine Reise der Klärungen. Wie weit war das Schreiben dieses Buches eine Reise? Eine Reise in die Ungewissheit?
Jedes Buch ist eine Reise, ein rollender Zug, in dem man sich setzt, aus dem man nicht aussteigen kann, und von dem man nicht weiss, wo genau er ankommen wird. Wie herrlich!

© Jasmin Schuller

Valerie Fritsch, 1989 in Graz geboren, wuchs in Graz und Kärnten auf. Nach ihrer Reifeprüfung 2007 absolvierte sie ein Studium an der Akademie für angewandte Photographie und arbeitet seither als Photokünstlerin. Sie ist Mitglied des Grazer Autorenkollektivs plattform. Publikationen in Literaturmagazinen und Anthologien sowie im Rundfunk. 2015 erschien «Winters Garten» im Suhrkamp Verlag. Sie lebt in Graz und Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Martin Schwarz

Marianne Künzle «Living Planet», Plattform Gegenzauber

Noch ist Gate A84 unbesetzt. An den Säulen bei den Durchgangsschranken zum Fingerdock rot leuchtende Querbalken: kein Zutritt. Da ist niemand an den Bildschirmen hinter dem Desk. Die Anzeigetafeln schwarz.

Im Wartebereich olivgrüne Kunststoffsitze, mit Stangen verbunden, dazwischen grosszügige Ablagefläche für Handgepäck. Ein Mann liegt auf der Seite mit angewinkelten Beinen, die Arme verschränkt. Sein Gesicht verdeckt eine weisse Kapuze. Eine Frau mit Kopfhörern. Ihr Gesicht ist ausdruckslos. An der braunen Wand eine Werbefläche, eingeblendet ein Gemälde. Junge im Harlekinkostüm. Mann mit schmalen Lippen, zurückversetztem Kinn, Augen bloss angedeutet. «Picassos blaue und rosa Periode in der Fondation Beyeler. Das Kulturhighlight 2019.» Auf den Bodenplatten fahles Morgenlicht. Weit hinten im Terminal wird an einer Bar mit Geschirr hantiert. Tassen, die ausgeräumt, Unterteller, die bereit gestellt, Kaffeelöffel, die verteilt werden.   

Eine Flughafenangestellte schiebt einen Putzwagen vor sich her. Sie trägt ein graues Poloshirt, «Zürich Flughafen». Am Putzwagen hängt Toilettenpapier. In der Nähe des Desks passiert sie eine transparente Erdkugel auf einem schlanken, hüfthohen Sockel. Sie schlurft zu ihr zurück. Mit einem Lappen wischt sie über das Plexiglas, über den Einwurfschlitz und die sich gelb abhebenden Kontinente. Im Innern des Planeten befindet sich Geld. Es bedeckt den Südpol. Viele bronzefarbene Münzen, wenige speckige Banknoten. Allerlei Währungen. Restgeld, das nicht gewechselt werden kann. Die Erdkugel schmückt ein Banner aus Kunststoff: «For a Living Planet». Ein Pandabär flankiert die Werbung für eine Umweltorganisation.

Fünf junge Männer. Farbige Turnschuhe, schwarze Jeans und Kapuzenpullis. Ihre Rollkoffer glänzen. Sie lachen laut und heiser. Zum Überbrücken der Wartezeit besuchen sie den Duty-Free-Kiosk in der Nähe des Gates. Ein Paar setzt sich in den Wartebereich. Sie blättert schon bald in einer Zeitschrift, er scrollt auf dem Smartphone. Weitere Passagiere tauchen auf. Ein älterer Herr. Ein Rentnerpaar. Zwei Frauen mit prallvollen Rucksäcken, sie halten sich an der Hand. Zwillingsschwestern im gleichen Sommermantel, einmal olivgrün, einmal hellblau. Es gibt noch keine Angaben zum Flug, sie setzen sich dennoch. Andere warten ja auch und Gate A84 ist auf der Boarding Card vermerkt. Sie richten sich ein. Verschränken Arme, schlagen Beine übereinander. Lächeln sich kurz zu. Schauen sich um. Gleichgültig. Verstohlen.

Ein kleines Mädchen rennt zur Fensterfront. Es legt seine blassen Hände an die getönte Scheibe und drückt die Schnauze seines Stofftigers ans Glas. Die Mutter geht neben ihm in die Knie und zeigt auf den angedockten Jet. Das Flugzeug leuchtet vom Cockpit bis hinter die Kabinentür in knalligem Rot. Im Rot eine überdimensionierte, sternförmige Blüte. Ein Edelweiss, dessen ungleich lange Blätter sich nach allen Himmelsrichtungen recken. Das Fingerdock, verhakt im Flughafengebäude, die hohle Öffnung wie ein Mund über die Kabinentür gestülpt. Raupenartig, faltig.

Die Mutter nimmt das Mädchen an der Hand. Am Desk stellt es sich auf die Zehenspitzen. Bei den Durchgangsschranken berührt es die rot leuchtenden Querbalken. Es will zur Erdkugel. Die Mutter lässt es gehen.

Es nähert sich ihr langsam, umrundete sie und betrachtet die schlangenförmigen Linien, Einbuchtungen, die Zacken, die Konturen der gelben Kontinente, das Geld in der Kugel, ein Schatz. Ein Berg von einem Schatz, der weiterwächst, wenn man durch den Einwurfschlitz ein Geldstück schiebt und es fallen lässt. Der Vater, nun bei ihm, kramt in der Hosentasche. Zählt Fünfrappenstücke in seine offene Hand. «Mit dir», sagt das Mädchen und blickt ihn aus dunklen Augen an. Er hält es hoch. Es langt zum Einwurfschlitz. Die erste Münze fällt. Ein metallenes Klimpern. Vorsichtig schiebt es die anderen hinterher.

Sie gehen zum Wartebereich. Das Mädchen betrachtet die Menschen. «Wo fliegst du hin?», fragt es die Frau mit den Kopfhörern. Es wiederholt die Frage. «Auf die gleiche Insel wie du», sagt diese. Das Mädchen sucht die Eltern.

Über dem Desk von Gate A84 wird die Anzeigetafeln eingeschaltet. Auf der einen steht: «Fuerteventura WK212/Edelweiss Airline, 10:50, Gate A84, 21 Grad». Auf der anderen: «Einsteigezeit 10:05» und «Self Boarding/Automatisches Einsteigen, bitte Barcode auflegen». Nun werden Boarding Cards in Handtaschen gesucht, Blicke auf Uhren geworfen, Haarsträhnen in Form gebracht, auf die Anzeige hingewiesen, auf die Temperatur am Reiseziel. Es wird abgewogen, ob der Gang zur Toilette noch drin liegt. Das Warten wird konkret. Es verbindet alle für einen kurzen Moment. Niemand will nach Philadelphia oder Warschau. Niemand am Abend zurück nach Hause. Alle haben das gleiche Ziel. Es gibt so lange keine Diskretion, bis sie sich in der Flugzeugkabine installiert, sich wieder ihren Gedanken und ihren push-Nachrichten zugewandt haben und ihre Privatsphäre sie wieder stumm umgibt.

Aus dem Fingerdock taucht Bodenpersonal auf. Über der Uniform tragen sie gelbe Leuchtwesten. Sie lösen die Kordel, die zwischen Terminal und Fingerdock eine Schranke markiert. Am Desk überprüfen sie die Funktionsfähigkeit der Bildschirme, eine Passagierliste. Die wenigen Handgriffe bewirken, dass sich die Menschen erheben, ihr Handgepäck fassen und sich zum Desk begeben. Es bildet sich eine Schlange. Es wird geredet, die Stimmung ist spürbar aufgeräumter. «Die lassen uns allein», wird gefrotzelt, als das Personal die Kordel wieder einhängt und im Fingerdock verschwindet, das Check-in erneut leer bleibt. Ein Gong ertönt. Eine weiche Männerstimme. Der Flug nach Riga wird ausgerufen.

Das Mädchen lässt den Stofftiger teilhaben am kurzen Gespräch der Eltern mit dem älteren Herrn, der zur Anzeigetafel zeigt. Er macht darauf aufmerksam, dass die Inseltemperatur nun 22 Grad beträgt, prächtige Urlaubsaussichten. Die Eltern pflichten ihm bei und das tut auch der Tiger, er wackelt mit dem Kopf. Die Mutter streicht dem Mädchen über das Haar. Es dreht sich brüsk ab. Rennt zur Erdkugel. Drückt des Tigers Nase ans Plexiglas und seine Pfoten an die Arabische Halbinsel. Verlässt ihn die Kraft und baumelt er vor dem Planeten in der Luft, weil das Mädchen Blickkontakt zu den Eltern sucht, verleiht es ihm umgehend neue Tigerkräfte, presst die Nase nun aber wirklich fest an die Erde. Der Stofftiger kann nicht anders, als sie zu riechen, die Welt, und seine Knopfaugen schauen durch das Glas ins Erdinnere, das hohl ist, abgesehen vom geldbedeckten Boden. Seine Augen blicken durch die Erde hindurch, der Tigerblick durchbohrt ein gelb schimmerndes Nordamerika und verliert sich in den verschwommenen Menschensilhouetten, die hinter der Erdkugel vor dem Desk am Gate Schlange stehen. Das Mädchen küsst den Tiger auf den Kopf.

Zwei Angestellte in Uniform steuern auf Gate A84 zu. Die Absätze ihrer Schuhe klacken und übertönen Gesprächsfetzen und das Geratter von Gepäckwagen, die ineinandergeschoben werden. Hinter dem Check-in-Schalter richten sie sich ein. Sie unterhalten sich. Gehen Papiere durch. Fahren die Computer hoch. Eine löst die Kordel beim Fingerdock. Die Querbalken an den Säulen wechseln auf Grün, ein Punkt, der hin und her springt. Der Durchgang zum Fingerdock und zum Jet ist freigegeben. Die andere greift nach einem Mikrofon, ihr Blick streift die Wartenden. Sie liest: «Flug WK212/Edelweiss nach Fuerteventura um 10:50, Gate A84. Das Boarding ist eröffnet.»

Mit einer Begrüssung und einem Lächeln wird die Boarding Card des ersten Fluggastes geprüft. Ein Mittdreissiger, Jeans, Sakko, frische Rasur, mit abgenutztem Rollköfferchen. Er nickt wortlos und verschwindet im Fingerdock, als gehörte er nicht zu denen, die auf den gleichen Flug wollen. Eine Frau zieht den Barcode über den Scanner an der Durchgangsschranke und trägt ihre Ledertasche und eine Prise Selbstverliebtheit auf hohen Absätzen zum Flugzeug. Die jungen Männer sind an der Reihe. Eine Mütze ist im Duty-Free liegen geblieben, sie diskutieren, warten oder einsteigen. Absolut desolat, grinsen sie, der Herr Kollege ohne Mütze. Sie scheren aus der Schlange aus, machen den Eltern des Mädchens Platz. Diese wiederum lassen die Zwillingsschwestern vor, der Vater ruft seine kleine Tochter vergeblich.

Das Mädchen, das Stofftier und die Erdkugel. Es steht vor der Erde. Es und der Tiger spiegeln sich im Plexiglas. Sein verzogenes Gesicht, Mund, Nase, die braunen Augen, krauses Haar. Es weiss, dass die Eltern nahe sind und doch auf Distanz und die Erde ist zu schön, um sie zurück zu lassen. Es umklammert den Tiger, sieht, wie die Mutter den Rucksack schultert und auf es zukommt. Sie redet auf das Kind ein, es lehnt seine Stirn an die Kugel, an Queensland. Sein Schopf reicht bis zum Äquator. Die Mutter hebt das Mädchen hoch, was es geschehen lässt, es hat damit gerechnet, es gibt kein Entrinnen. Dann lacht es und in dem Moment fällt ihm der Tiger hinunter. Er landet rücklings auf dem Kunststoffsockel der Erdkugel, die Knopfaugen starr. Dem Mädchen entfährt ein spitzer Schrei. Die Mutter versucht, nach dem Stofftier zu langen, geht in die Hocke, ergreift ein ausgeleiertes Bein und will sich unverzüglich wiederaufrichten, als es geschieht.

Niemand mag Augenblicke dieser Art, wo sich während einem Bruchteil einer Sekunde abzeichnet, was passieren wird, als sie beim Aufstehen realisiert, dass sie an die Erdkugel stösst, als sie deren beachtliches Volumen spürt und sie weiss, dass die Kugel nicht wirklich verankert ist, unter dem Sockel ein Antirutschfilz zwar, aber nicht konzipiert für einen heftigen Stoss, dass sie nachgibt. Die Erdkugel fällt. Am Äquator kann sie aufgeklappt werden. Ein vorstehendes Kunststoffteilchen ist mit einem Schloss versehen. Auf dieses Teilchen knallt sie mit ihrem ganzen Gewicht. Das Banner rutscht aus der Halterung, das Material bricht, die Plexiglaskugel springt auf und die Erde entleert sich. Münzen schlittern klickernd über die Bodenplatten, als wollten sie nichts wie weg. Sie verteilen sich über die ganze Fläche, einzelne kullern zwischen Beinen hindurch, hochkant hinüber zum Wartebereich unter die Sitze. Fast alle bleiben jedoch bei der Erdkugel liegen, ein Lawinenkegel aus Geld. Die Erde liegt da, mit geöffnetem Schlund. Einen kurzen Moment lang ist es sehr still.

«Mist», ruft die Mutter. Ihr Mann eilt zu ihr hin. Alle schauen. Starren. Die Erdkugel. Das Geld. Das Mädchen mit aufgerissenen Augen, Entsetzen. Seine Augen, die sich mit Tränen füllen. Nicht mit Tränen der Wut, des Schmerzes oder des Trotzes. Es sind Tränen aufrichtiger Trauer, Tränen des Verlustes über etwas Intaktes, das es auf Anhieb gemocht hat und ihm jetzt abhandengekommen ist.

Alle sehen, wie betroffen das Kind auf den Unfall reagiert und seine Betroffenheit überträgt sich. Die Dame am Desk, in professionellem Tonfall, beschwichtigt, nur keine Aufregung, sie ordere den Flughafendienst. Der Vater versucht die Erdkugel aufzurichten, die Frau im olivgrünen Sommermantel packt mit an. Die Erde steht wieder auf dem Sockel, das heisst, die Südhalbkugel. Die Nordhalbkugel, nur durch das Scharnier mit dem unteren Teil verbunden, hängt nach hinten ins Leere. Die Mutter hebt sie vorsichtig an und senkt sie auf die Südhalbkugel. Das Scharnier muss sich verbogen haben. Die Hälften sind nicht mehr passgenau, der Norden ist um zwei, drei Millimeter verrückt. Vergeblich versucht sie es zu richten. Das Mädchen, in der einen Hand hält es den Tiger, mit der anderen umklammert es den Bändel von Mutters Rucksack, weint haltlos. Diese bespricht sich mit ihrem Mann. Sie würden aufräumen, natürlich würden sie aufräumen. Es bleibe genügend Zeit und es sei ihr Missgeschick gewesen, sie habe das Ganze hier verursacht. Das Mädchen beruhigt sich. Schnieft. Sein Blick, noch verschwommen, wandert langsam über die Erdoberfläche, als suchte es ein bestimmtes Land, einen Gebirgszug, der sich abhebt. Am Himalaya bleibt sein Blick an der Stelle hängen, wo die Erdkugel aufgeschlagen ist. Die sonst gelb schimmernden Gipfel sind eingestossen und grösstenteils abgesplittert. Doch dann entdeckt es den Riss im Plexiglas, gleich östlich des Indischen Subkontinents. Der Riss ist hart, weiss, vom Nördlichen Eismeer über Sibirien zieht er sich hinab, entzweit die Wüste Gobi und das Chinesische Tiefland, schrammt an Taiwan vorbei, stösst schwungvoll Richtung Südosten, spaltet den Nordwesten Papua-Neuguineas, büsst an Spaltkraft ein und verliert sich im Golf von Port Moresby.

«Sie ist kaputt», sagt das Mädchen. Es schluchzt.

Es werde sofort jemand hier sein, versichert die Angestellte vom Check-in, jetzt bei ihnen, sie müssten sich keine Sorge machen. Das Mädchen sieht mit verweintem Gesicht zu ihr auf. «Sie ist kaputt», wiederholt es. «Wir kriegen das hin», antwortet die Frau und verschwindet hinter dem Desk. Sie lächelt dem Zwilling im hellblauen Mantel zu, die sich bei ihrer Kollegin nach einem besseren Sitzplatz erkundigt. Sie spricht ins Mikrofon. Es knistert. «Edelweiss Airline WK212 nach Fuerteventura vom Ausgang A84, der Einsteigevorgang ist eröffnet.»

Das Mädchen kniet sich hin und vergräbt seine Hände im Geld. Die Mutter stellt den Rucksack ab. Ihr Mann meint, vielleicht sollten sie das besser sein lassen, es komme ja jemand. «Geht schon», meint sie und füllt ihre Hände mit Münzen. Er presst die Lippen zusammen. Eine Träne kullert dem Mädchen über die Wange. «Siehst du», sagt sie vorwurfsvoll. Er versucht seine kleine Tochter zu trösten. Unschlüssig steht die Mutter vor der Erdkugel. Jedes Geldstück einzeln einzuwerfen dauert zu lange. Sie legt die Münzen zurück auf den Haufen. Mit Hilfe der Frau im olivgrünen Mantel klappt sie die obere, lädierte Hälfte wieder nach hinten. Die Frau hält die Hälfte fest, zur Sicherung, sie könnte abbrechen. So lässt sich die Erde besser füllen. Das Mädchen schnupft. Es fängt an, im Geldhaufen zu wühlen, hebt eine erste Handvoll über die Kante ins Innere, darum bemüht, dass keine Münze hinunterfällt. Die Ladungen werden grösser. Münzen prasseln zu Boden.

Die Angestellten flüstern. Der Flughafendienst ist noch nicht eingetroffen. Sie telefonieren. Auch in der Schlange wird leiser gesprochen, der Zwischenfall hat den Lärmpegel gedämpft. Gerade eben noch war die Erdkugel nur Teil der Infrastruktur des Terminals. Nun ist sie plötzlich Mittelpunkt des Geschehens. Noch scheint in vielen Köpfen der verstörende Anblick, die Erde im Fall, wie ein Film abzulaufen. Vereinzelt schauen die Wartenden zum Desk, um herauszufinden ob es vorwärtsgeht oder das Boarding verzögert wird. Die Angestellten versuchen, das Malheur zu beheben. Die Menschen schauen aber vor allem der Familie zu, wie sie mit dem Missgeschick klarzukommen versucht, wie sich die anfänglich stressige Situation in ein stilles Einverständnis verwandelt, zusammen aufzuräumen. Mit leiser Neugier wird zudem die Frau im olivgrünen Mantel beobachtet, die ihre Hilfe anbietet. Wird sie daran festhalten, wenn ihre Schwester am Desk grünes Licht zum Einsteigen bekommt?

Die Frau blickt um sich. Erfasst das ganze Ausmass des Malheurs. Sie muss gespürt haben, wie die Kinderaugen sie durchbohren, wie das Mädchen abwartet, was sie nun tun wird. Sie wendet sich ihm zu und lächelt. Das Mädchen lächelt zurück. Die Frau zuckt die Schultern und beginnt Geldstücke aufzuklauben. Das Mädchen verfolgt jede ihrer Bewegungen. Dann dreht es sich zu den Wartenden. Schaut sie an. Sein Blick ist dunkel und alt, ein Funken Menschheitsgeschichte liegt in ihm, vom Kind, vom Menschen, dem nichts wichtiger ist, als dass er verstanden wird und sich auf andere verlassen kann.

Das Rentnerpaar reagiert zuerst. Löst sich aus der Schlange und geht zum Mädchen hin. Die beiden helfen ihm die Erdkugel füllen. Die Verliebten, auch sie helfen mit. Weitere schliessen sich an. Sie finden bei den Säulen Münzen, unter der Durchgangsschranke, gleich vor dem Check-in. Selbst an der Fensterfront glänzt Geld im hellen Licht. Die Menschen wirken wie Spatzen, die Brosamen picken. Wie Erntehelfer auf einem Kartoffelacker. Wie Kinder an einer Hochzeitsfeier, beim Auflesen der Bonbons auf dem Weg ins Glück. Der ältere Herr wendet einen Dinar, vergleicht ihn mit einer Münze, die er keiner Währung zuordnen kann. Touristen entdecken einen Rubel und eine Öre unter ihren Rucksäcken, überreichen sie dem Mädchen. Es sammelt die Münzen ein. Rennt, marschiert, hüpft von Mensch zu Mensch. Das Einfüllen erledigt das Rentnerpaar. Noch zieren sich die jungen Männer, Geld einzusammeln wie die Bedürftigen, wer wird zuerst? Bis der Schlaksige zum Wartebereich schreitet, im Rücken das Gelächter der Kollegen. Er sucht unter den Sitzen und wird fündig. Das Mädchen strahlt. Eine Atmosphäre von Heiterkeit und auch ein gewisser Eifer macht sich breit.

Die eine Dame am Desk versucht die Fluggäste davon zu überzeugen, dass der Flughafendienst ganz bestimmt bald eintreffen wird. Ob sie nicht doch einsteigen möchten – aber nein, niemand scheint in Eile zu sein. Viel eher sind alle davon angetan, Ordnung zu schaffen. «Alles eine Frage der Priorisierung», meint der ältere Herr.

Bald einmal, es sind etliche Minuten vergangen, ist das Geld dort, wo es hingehört, in der Erde. Die Mutter streckt dem Mädchen die Hand hin. «Wir müssen. Es ist aufgeräumt», sagt sie. Der ältere Herr zwinkert ihm zu. Das Mädchen zögert. Denkt nach. Und dann geht alles sehr schnell.

Das Mädchen stellt sich auf die Zehenspitzen, taucht kurzentschlossen seine dünnen Arme ins Geld und wühlt darin, dass es klimpert, und das Mädchen schöpft so viel es fassen kann, hebt es über den Rand und schleudert es in Richtung der Zuschauenden. Aus einer Dringlichkeit wird ein Spiel. Das Lachen des Mädchens ist gelöst. Es braucht freie Hände, die mithelfen, es braucht alle Hände. Es wird geklatscht, einer der jungen Männer krempelt demonstrativ die Ärmel hoch und alle machen mit. Nochmals Geld einsammeln. Die Erde füttern.

Passagiere, die eben erst eintreffen, sind irritiert, denn trotz der Menschenansammlung wird nicht angestanden. Die Angestellten kümmern sich aufmerksam um die Neuankömmlinge, was aber nicht ausreicht, um das Einsteigen zügig voranzubringen. Sie könnten umgehend boarden, aber das eifrige Treiben lenkt sie ab, die merkwürdig aufgekratzte Stimmung wirkt ansteckend. Einzelne reihen sich gar ein in den Schwarm von Sammlern.

Vielleicht ist es eine Art kollektive Gewissheit, dass Flug WK212 ohne Passagiere nie startklar sein wird. Es sind schliesslich Menschen, die Crew im Tower, die über den Zeitpunkt des Starts wird entscheiden müssen. Vielleicht ist es die Heiterkeit, das Spiel. Der ältere Herr beginnt einen Schlager zu summen, vom Meer, der Sonne und einem glühenden Herzen, das Rentnerpaar stimmt mit ein, der Vater des Mädchens lacht, sagt dann zu seiner Tochter, die Münzen in die Luft wirf, einen Geldregen herunter prasseln lässt, es reiche.

Eine der Damen macht eine weitere Durchsage. «Edelweiss Airline WK212 nach Fuerteventura vom Ausgang A84: wir bitten Sie dringendst, sich zum Einsteigen bereit zu machen». Die andere redet auf die Eltern ein, eine weitere Verzögerung läge nicht drin. Der Vater beschwichtigt, ihre Tochter sei am Durchstarten, gewissen Prozessen müsse man Raum geben. Seine Frau stimmt in sein Lachen ein, sämtliche Anspannung fällt von ihr ab, bald lacht sie unter Tränen, bis sie plötzlich wieder ernst wird, sehr ernst, sie lasse sich nicht vorschreiben, wann sie wo zu sein habe. Mit Nachdruck bittet sie die Dame um Verständnis. Sie wendet sich an ihre Tochter, fährt ihr über den Haarschopf, der sich ihr aber entzieht, schon ist das Mädchen weg.

Die Verliebten schichten auf einem Sitz Münzen aufeinander. Fasziniert schaut das Mädchen zu. Dann rennt es zur Erdkugel, zu seiner Aufgabe, verteilt von neuem Geld, macht selber kleine Haufen, es ist sich der Hilfe dutzender Hände gewiss, die aufklauben, anhäufen, etwa die jungen Männer, die ihm zurufen, sobald eine Handvoll Geld transportbereit ist. Sofort ist es zur Stelle. Es tauscht den Tiger gegen Geld. Er passe gut auf ihn auf, versichert ihm der eine und nimmt ihm das Stofftier ab. Zusammen gehen sie zur Erdkugel. Das Mädchen langt über den Äquator und wirf das Geld in die Erde.

«Achtung: alle Passagiere abfliegend nach Fuerteventura sind gebeten, sich zum Ausgang A84 zu begeben. Ich wiederhole: alle Passagiere abfliegend nach Fuerteventura sind gebeten, sich zum Ausgang A84 zu begeben», ertönt nun die Stimme vom Desk.

Letzte Passagiere treffen ein. Die Damen winken sie energisch zu sich, bemüht zu verhindern, dass auch sie stehen blieben, schlimmer noch, dass auch sie mitmachen bei diesem ganzen Zirkus. Zwar abgelenkt von den sich ungewohnt verhaltenden Menschen zücken diese ihre Boarding Cards und lassen sich durch die Absperrung schleusen. Dahinter aber ein Blick zurück, sich vergewissernd, dass wahr ist, was sich am Gate A84 abspielt. Sie verschwinden im Fingerdock.

Die Stimme aus dem Lautsprecher insistiert: «Passagiere am Gate A84 sind gebeten, sich sofort zum Einsteigen zu begeben. Ich wiederhole, Passagiere am Gate A84 sind gebeten, sich sofort zum Einsteigen zu begeben».

Die Durchsage verfehlt ihre Wirkung. Die allermeisten Passagiere haben Flug WK212 vergessen. Ihre ganze Aufmerksamkeit gilt weiterhin dem Geld, der Erde. Sie sind sehr vertieft. Die Damen erklären einem Steward von Edelweiss, was geschehen ist. Er gibt Anweisungen. Noch eine Durchsage. «Achtung, dies ist der letzte Aufruf für Passagiere fliegend nach Fuerteventura. Ausgang A84 schliesst in wenigen Minuten».

Der ältere Mann nickt den Damen freundlich zu, als er am Desk vorbeigeht. Er hat bei der Fensterfront das Banner geholt. Er bringt es dem Mädchen, das bei der Frau im olivgrünen Mantel steht, die noch immer die nach hinten geklappte Nordhalbkugel stützt. Sie liegt auf ihren Händen wie eine kostbare Gabe, ein Täufling, eine Krone auf weinrotem Samtkissen. Die jungen Männer schütten ihr Sammelgut in die Erde. Schnell getan. Nun Betätscheln des Stofftieres im Arm des Kollegen, ein denkwürdiger Anblick. Schon ist ein Handy in Position. Mit einem Stofftier mag dieser nicht fotografiert werden. Er dreht sich zur Seite. Will dem Mädchen den Tiger zurückgeben, als sie ihn schubsen. Eine boshafte, kleine Provokation. Der junge Mann holt aus, zur Revanche, die anderen sind schneller. Er bekommt einen Stoss in die Brust, stolpert rückwärts, kracht in die Südhalbkugel, die Frau kreischt, lässt die Nordhalbkugel los, das Scharnier reisst ab, die Erdhälften schnellen durch die Luft, ohrenbetäubendes Klirren beim Aufprall. Während die Südhalbkugel liegen bleibt, ein Spinnennetz feinster Risse das Plexiglas überzieht, schlittert der Norden mehrere Meter weit. Überall glänzt Geld. Ein Aufschrei. Bestürzung. Nun ist die Erdkugel definitiv kaputt.

Dann aber setzt ein Raunen ein. Etwas Befremdliches erregt die Aufmerksamkeit der Menschen. Die Kontinente, vor allem die Landmasse der Nordhalbkugel, fangen an zu leuchten, zaghaft zuerst, dann unübersehbar. Das fahle Gelb wird voller, kräftiger, wird zu einem pochenden Gelb. Spätestens jetzt bemerken es alle. Eine optische Täuschung? Sogleich verliert das Gelb wieder an Intensität, erbleicht, scheint sich abzuschwächen, um, sobald am Tiefpunkt angelangt, wieder zu erstarken. All dies erinnert an das Hinterteil eines Glühwürmchens in dunkler Nacht. Harmlos. Lockend. Der Fingerzeig einer höheren Macht? Ein Vorzeichen ganz bestimmt. Für das, was folgt, für das Unvorstellbare, das an diesem Morgen geschieht. Was passiert, ist vergleichbar mit einem unsichtbaren Dirigenten, der sein Zeichen zum Einsatz gibt. Das Zeichen zum finalen Paukenschlag.

Es kommt aus dem Nichts, das Erstarren. An Gate A84 erstarren alle Menschen in ihren Bewegungen. Der ältere Herr beginnt zu lächeln. Den Arm noch ausgestreckt, das Banner dem Mädchen überreichend, in der Luft bleibt sein Arm hängen. Die Mutter des Mädchens will etwas sagen. Den Mund leicht geöffnet, ihr Mund bleibt seltsam verzerrt. Eine der Frauen senkt den Kopf. Als verneigte sie sich. Der Scheitel auf ihrem Kopf ein weisser Strich. Jemand kratzt sich am Hals, jemand bückt sich, jemand reibt sich im Auge. Die kleinsten Bewegungen, sämtliche Regungen werden festgezurrt im Augenblick, auch die Laute, alle Geräusche. Sie sind weg. Verschluckt. Nur draussen hört man die Triebwerke eines Flugzeugs aufheulen.

Der Blick des Mädchens – soeben noch Stolz darin, Freude, das Banner halten zu dürfen – der Blick des Mädchens ist dunkel und matt. Erloschen.

Marianne Künzle, 1973 in Bern geboren, ist gelernte Buchhändlerin, war Kampagnenleiterin im Bereich «Ökologische Landwirtschaft» bei Greenpeace. Seit Ende 2015 arbeitet sie in einer Teilzeitanstellung bei der Schweizerischen Flüchtlingshilfe. „Uns Menschen in den Weg gestreut“, ihr erster Roman, ist bei Zytglogge erschienen und absolut lesenswert, auch wenn man mit Heilkunde nichts am Hut hat. Für «Living Planet» erhielt Marianne Künzle den Oberwalliser Literaturpreis 2019.

Website der Autorin

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa Gatsby

Hansjörg Schertenleib veröffentlichte seinen ersten Erzählband «Grip» 1982, mit 25 Jahren. Seither ist die «Bibliothek Schertenleib» auf eine stattliche Länge gewachsen, der Autor ein Eckpfeiler der CH-Literatur. Aber keines seiner Bücher ist ihm selbst so nah wie sein jüngstes, «Palast der Stille», eine Perle aus der Gatsby-Reihe des Kampa Verlags.

Mag sein, dass die Lektüre dieses Buches für all jene ein ganz anderer Genuss ist, die seine Bücher und den Autor kennen. Mag sein, dass es für die NeueinsteigerInnen in den schertenleibschen Kosmos ein Erinnerungsbuch eines in die Jahre gekommenen Schriftstellers ist, ein Begleitbuch durch einen eiskalten Wintertag in Maine USA, wo der Autor seit ein paar Jahren zusammen mit seiner Frau ein kleines Cottage direkt am Meer mit Sicht auf einen kleinen Hafen mit Lobsterbooten von Hummerfischern bewohnt. Ein Tag von vielen, ganz allein mit sich selbst, um sich der Stille hinzugeben, aus der das Schreiben erwachen soll. Dann ist dieses Buch ein Spaziergang durch das Leben des Autors, als wäre ich Zeuge davon, wie Bilder im Kopf des Autors aufploppen; Erinnerungen, Ideenfetzen, Gedanken, Erklärungen, manchmal ganz nach innen gerichtet, manchmal mit cineastischem Geschick an die grosse Leinwand gemalt.

Wer Hansjörg Schertenleib kennt, dem begegnet in diesem Buch der Autor unmittelbar, als würde er mich an der Hand nehmen. Als wolle er mir zeigen, wie es sich schreibt, irgendwo zwischen Realität und Ideal. In diesem kleinen Haus am Meer auf Spruce Head Island, das er in der gleichen Sehnsucht kaufte, wie er vor Jahren einst den Ort besuchte, wo Henry David Thoreau seine Blockhütte baute und sein heute berühmtestes Werk «Walden. Oder das Leben in den Wäldern» zu schreiben begann. Schertenleib ist ein Suchender. Und das kleine Haus in Maine mit Blick aufs Meer ein real gewordener Sehnsuchtsort. Vorläufiger Endpunkt einer langen Reise, die immer auch Flucht war, vom ersten Moment seines Schreibens weg. Keine Flucht vor sich selbst, aber stets eine aus der Enge heraus in die Sehnsucht noch Offenheit, Weite und Unabhängigkeit.

Hansjörg Schertenleib «Palast der Stille», Kampa, 2020, 176 Seiten, CHF 24.50, ISBN 978-3-311-21013-9

Es schneit fast ununterbrochen und das Thermometer ist tief in den Minusgraden. In dem kleinen Haus mit Wohnküche, Schlafzimmer und Arbeitszimmer knacken Birkenscheiter im Ofen. Die Katze schleicht um seine Füsse, er liest, sinniert, packt sich ein, um sich einen Weg zur Garage freizuschaufeln. Ich gehe mit, wenn ihn seine Gedanken in seine Kindheit am Fusse des Uetliberg in Zürich tragen, in die Enge seiner Familie, aus der er nur in seinen Streifzügen mit seinen Freunden ausbrechen konnte. Wie aus dem geselligen Jungen plötzlich ein Einzelgänger wird, der erst spät zu lesen beginnt, dann aber unheilbar von diesem Virus befallen wird. Wie er nach einer Schriftsetzerlehre im Rausch zu schreiben beginnt und von seinem Idol Urs Widmer ermuntert wird, wie ihn die Zürcher Unruhen 1980 aus Zürich vertreiben, später für vierzehn Jahre in ein altes Schulhaus in Irland, bis in seinen Palast der Stille, den Ort, der ihm alles gibt, was sein Schreiben und Leben braucht, in maximaler Distanz.

Er verrät mir die Geschichte seines kleinen Schreibtischs, jene seiner ersten Liebe, die Geschichten seines österreichischen Onkels, der den Weltkrieg nicht abzuschütteln vermochte. Er nimmt mich mit in sein Schreiben, das permanente Reflektieren eines Künstlers, den Kampf gegen die Rechtfertigung von Müssiggang und Distanzierung in einer Welt, die nach Effizienz und Aufmerksamkeit geifert. Er nimmt mich mit und ich bin stiller Gast in seinem Haus in Maine.

Dabei hat sein Buch nichts Exhibitionistisches, strömt Stille aus, fast Beschaulichkeit. Und wenn sich die Dramaturgie des Buches am Schluss dann doch noch aufbäumt und der 4. September 1980 im Leben des Schriftstellers mehr als einen Bruch zugefügt wird, schliesst sich der Kreis und die müssige Frage, warum es Maine sein müsse.

Ich mag seine Leidenschaft, in der eine Prise Zorn mitmischt. Seine Ehrlichkeit, die kombiniert mit seiner Leidenschaft Stürme entfachen kann. Das Quantum Eitelkeit, das ihn nicht zum Übermenschen macht. Die noch immer jugendliche Kraft, die seinen Blick beseelt und ihn zu einem stolzen Ritter der Literatur macht.

© David Clough, Kampa Verlag

Hansjörg Schertenleib, geboren 1957 in Zürich, ist gelernter Schriftsetzer und Typograph. Seine Romane wie der Bestseller «Das Regenorchester» wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet. Zwanzig Jahre lang lebte Schertenleib, der auch aus dem Englischen übersetzt, in Irland. Heute pendelt er zwischen der Schweiz und Spruce Head Island in Maine, USA. Der Transport seiner Bibliothek und Plattensammlung über den Atlantik dauerte per Containerschiff mehrere Monate. Aber literarisch sass Schertenleib in seiner neuen Heimat dennoch nicht auf dem Trockenen: The Lobster Lane Book Shop mit schätzungsweise 100 000 Büchern liegt nur eine Meile von seinem Haus entfernt.¨

Webseite des Autors

Beitragsbild © Lea Frei

Ivana Sajko «Familienroman», Voland & Quist

Zwar gibt es die EU, eine Staatengemeinschaft, «einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ohne Binnengrenzen und einen Binnenmarkt mit freiem und unverfälschtem Wettbewerb». Und doch sind die einen nicht dabei und andere springen ab, weil nationale Souveränität wichtiger scheint als das Geben und Nehmen über Nationen hinaus. Ivana Sajko schrieb mit «Familienroman» ein ganz besonderes Buch. Ein Buch, das bewusst macht, wie nah die Grenzen im eigenen Kopf gezogen sind.

Als Jugoslawien im Sommer 1991 zerfiel, war es das Ende eines durch Ideologie, Macht und Gewalt zusammengeschraubten Vielvölkergebildes und der Beginn eines zehnjährigen Krieges. Aber schon 1980 mit dem Tod des Langzeitherrschers und Staatspräsidenten Josip Brot Tito brach der Kopf eines Konstrukts weg, das sich als Bollwerk zwischen dem Westen und kommunistischen Block verstand. Tito war die Heldenfigur aus dem Partisanenkrieg gegen die faschistischen Besatzer, eine Leitfigur, die sich in ihrem Personenkult sonnte, dem man seine repressiven Methoden zum Wohle des Volkes nachzusehen schien.

Ivana Sajko «Familienroman, Die Ereignisse von 1941 bis 1991 und darüber hinaus» Voland & Quist, 2020, 172 Seiten, CHF 28.90, ISBN 978-3-86391-249-9

Ivana Sajko schrieb über genau diese Jahre, von 1941 bis 1991, ihren «Familienroman». Aber, was ich lese, ist längst nicht einfach ein Roman über drei Generationen einer Familie, solche gibt es zuhauf. Ivana Sajkos Roman ist eine Art Familienaufstellung. Nicht die Personen selbst sind im Zentrum ihres Erzählens, sondern die Beziehungen zueinander, der Raum, den sie einnehmen in einem Land, einem politischen Gefüge zwischen staatlich organisierter Tyrannei, Lagern für Staatsfeinde und tiefer Ergebenheit einer Lichtgestalt gegenüber. Die Protagonistin ihres Romans ist dieses untergegangene Land. Ein Land, zusammengehalten durch Angst, Abschottung und Repression.

Der Roman erzählt anhand politischer Ereignisse, spiegelt Leben, dass allzu leicht aus dem Bewusstsein von EuropäerInnen fallen kann. Unser Fokus in diese Zeit hängt allzu sehr an Deutschland, Frankreich und der Sowjetunion. Die Balkankriege, die mit einem Mal bewusst machten, dass Kriege bis vor unsere Haustüren rücken können (Damals gruben sich Panzer an der österreichisch-slowenischen Grenze in den Boden!), die Gräueltaten der Kriegsverbrecher und die Flüchtlinge rüttelten für eine begrenze Weile am Selbstverständnis europäischer Sicherheit, bis man die Wirren wieder zu vergessen versuchte.

«Familienroman» dreht den Blick, weg von einer sich langsam trübenden Sicht in die Vergangenheit, zurück zu jenen, die unter diesem Schleier für Generationen zu leiden hatten, die nie eine Alternative besassen, denen die Macht der Grossen das Leben wegfrass. «Familienroman» ist nicht leicht zu lesen. Zum einen weil dieses halbe Jahrhundert vom Schmerz der Menschen trieft, zum andern, weil Ivana Sajko ihren Roman nicht personifiziert. Aber wer sich dem Wagnis einer Lektüre hingibt, wird belohnt, nicht zuletzt durch die Sprache und die Liebe der Autorin für Generationen, die trotz aller Widrigkeiten jener Jahrzehnte dem Leben jenen Funken Hoffnung abtrotzen, den es zum Überleben braucht.

Ich bin tief beeindruckt.

© Hassan Abdelghni

Ivana Sajko (geboren 1975 in Zagreb, Kroatien) ist Autorin, Regisseurin, Performerin, Mitgründerin der Theatergruppe «BAD co.» und Redaktionsmitglied des Kunstmagazins «Frakcija». Zu ihren zahlreichen Auszeichnungen gehört die Chevalier de l‘ordre des Arts et Lettres. Auf Deutsch erschienen bisher «Rio Bar», «Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa», «Trilogie des Ungehorsams» und «Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution)». 2018 wurde sie für «Liebesroman» mit dem Internationalen Literaturpreis des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Die Übersetzerin Alida Bremer wurde 1959 in Split/Kroatien geboren. Sie studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Romanistik, Slawistik und Germanistik und promovierte im Fach Vergleichende Literaturwissenschaft. Sie übersetzte zahlreiche Romane, Theaterstücke, Essays, Gedicht- und Erzählbände aus dem Kroatischen ins Deutsche; sie schreibt in deutscher und kroatischer Sprache und lebt als freie Übersetzerin und Autorin in Münster.  Für «Liebesroman» von Ivana Sajko wurde sie als Übersetzerin mit dem Internationalen Literaturpreis 2018 des Hauses der Kulturen der Welt ausgezeichnet.

Beitragsbild © Sandra Kottonau