Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand

Drei Frauen und ein Mann, alle im Herbst ihres Lebens, alle von der Geschichte und ihrer Geschichte an einen Ort gedrängt, der nicht jener sein soll, an dem es enden darf. Kerstin Hensels neue Novelle „Regenscheins Farben“ erzählt von der Kunst; der Kunst der Malerei, der Kunst der Selbstbefreiung, der Kunst, das Glück nicht bloss zu suchen, sondern es notfalls beidhändig zu greifen.

„Regenbein Hühnerklein! Regenbein, was soll das sein!“, ruft man der kleinen Karline schon im Mädchenalter in der Schule hinterher, weil sie anders ist, als alle andern. Vielleicht, weil sie schon anders riecht, weil Hanne Regenbein, Karolines Mutter in der Post arbeitet und dort Mehlkleister, Büroleim und Knochenleim herumsteht. Weil Vater Karl Walzenfahrer im Strassenbau ist und Karline neben Mutters Ingredienzien auch jene des Vaters dem Mädchen zum Malen und Zeichnen zur Verfügung stehen: Teer, Bitumen und Flüssigbeton. Karline beginnt bei der Post zu arbeiten, liebt aber nur die Malerei, malt im Verborgenen, erliegt ihrer unbändigen Lust, den Pinsel zu führen, auch wenn man ihr zu verstehen gibt, dass ihre Art des Malens nicht den Sehgewohnheiten der Gegenwart entspricht. 

Sie haust in einer Mansarde, weit oben, auf das Mindeste reduziert. Bis fünf Jahre nach der Wende der Fotograf Rüdiger Habich zur ihr hinaufsteigt mit Fotoapparat und Stativ und in einem letzten, überschäumenden Energieanfall von der unbekannten Künstlerin eine Porträtreihe schiesst, die in der angesagten Galerie Wettengel gefeiert wird. Seine letzte Arbeit, denn abgehängt und frustriert von der digitalen Revolution in der Fotografie packt Habich seine Apparate in den Keller, um sich künftig ganz im Schatten Karlines auszuruhen.

Karline malt weiter, auch wenn ihr Mann Rüdiger immer mehr nur noch ein Schatten seiner selbst, zum Klotz wird, zum eifersüchtigen Hüter ihres kleinen Lebens. Und weil Rüdiger sich selbst noch einmal ins Lebenszentrum seiner malenden Frau rücken will, soll vor seinem absehbaren Ableben noch einmal eine Porträtreihe entstehen, diesmal aber mit seinem Konterfei. Rüdiger stirbt. Karline trägt die Bilder in den Keller, den Mann auf den Friedhof. Es hat fast fünfzig Jahre gedauert, bis Karline ihre ersten Schritte in echte Freiheit unternimmt, wenn auch zaghaft und nicht ohne Hilfe und der stillen Drohung, selbst aus dem Grab: „Ich weiss, wo du bist.“

Aber Karlines Leben ist mit dem Tod ihres tyrannischen Gatten alles andere als vorbei. Auf dem Friedhof, dessen Grabesruhe immer wieder vom lauten Dröhnen startender Flugzeuge zerrissen wird, lernt sie Lore Müller-Killian, eine gestelzte Industriellenwitwe mit Hang zum Theatralischen, kennen und die 80jährige Kunstprofessorin Zita Schlott. Sie alle hegen und pflegen die Gräber ihrer verstorbenen Ehemänner, jede auf ihre Art, die einen mit Hacke und Erde, die andere mit Kühltasche, Kristallkelch und Piccolo.
Und alle drei schauen sie auf den grossen alten Mann mit Hakennase und tadellosem Auftritt. Auf den Galeristen Wettengel, selbst Witwer geworden, seit Jahrzehnten verzahnt mit den Biographien der drei Frauen.

Kerstin Hensel «Regenbeins Farben», Luchterhand, 2020, 256 Seiten, CHF 27.90, ISBN 978-3-630-87601-6

Kerstin Hensel erzählt die Geschichten des illustren Quartetts, wie die drei Frauen um die Gunst von Eduard Wettengel buhlen: Karline in der Hoffnung, endlich jenen Förderer ihrer Kunst zu finden, der sie an der Hand nimmt, raus aus ihrer Isolation, Zita in der Hoffnung, ihren einstigen Musterstudenten zurückzugewinnen und Lore jenen feurigen Verehrer, den sie sich in der leer und öde gewordenen Villa am See wünscht. Kerstin Hensel tut dies, ohne je in Oberflächlichkeiten abzurutschen, stets mit dem Auge der exzellenten Beobachterin und witzigen Erzählerin. Kerstin Hensel beschreibt Beziehungen, enttarnt das feine Geflecht, das sich je nach Wetterlage zu drehen vermag oder gar kippen kann.
Grossartig und gekonnt, ohne je mit einem Satz dem Palaver zu verfallen, überraschend konstruiert und mit einer Leichtigkeit erzählt, die ihresgleichen sucht. Viel mehr als bloss Unterhaltung!

Interview mit Kerstin Hensel:

Wenn Sie beschreiben, wie Karline, die Malerin, den Pinsel führt, dann ist es, als nähmen Sie mich bei der Hand, und liessen mich malen. Ich rieche die Farbe, spüre den Zug. Malen Sie selbst oder ist es tatsächlich möglich, sich durch Imagination so sehr in ein „fremdes Tun“ hineinzuversetzen?
Ich male selbst nicht, habe auch nicht die geringste Begabung dafür. Ich denke, ein Schriftsteller muss in der Lage sein, sich in eine andere (auch ihm fremde) Welt hineinzuversetzen, so dass diese für den Leser sinnlich nachvollziehbar ist. Dazu gehört: Neugierde, Lust, Begeisterung, Erfahrung und natürlich die Beherrschung des Schreib-Handwerkes. Der Rest ist Geheimnis. 

Karline Regenbein ist eine ganz eigenwillige Malerin, die sich nicht um den Mainstream kümmert. Gab es eine Künstlerin, einen Künstler, die oder der ihnen als Inspiration diente?
Das ganze Leben dient mir als «Inspiration». Alle meine Figuren sind gleichermassen erfunden, wie auch der Realität verhaftet. D.h. keine Figur ist «authentisch» oder gar entschlüsselbar, dennoch – hoffe ich – sind sie dem Leser bekannt.

Eigentlich ist ihre Novelle auch ein Wendenovelle, in der zwar Deutschlands Wende nur an den veränderten Lebensumständen der Protagonisten abzulesen ist, die aber grosse Wenden schildert, Wendungen, die überraschen und nie ins Klischierte abrutschen. Das gibt der Novelle seine erstaunliche Leichtigkeit. War da nie die Versuchung, ins Epische abzutauchen?
Auch eine Novelle gehört zur Epik, d.h. es wird erzählt, nur nicht so allumfassend bzw. kleinteilig wie es Romanen vorbehalten ist. Jeder Satz ist bei mir harte Arbeit. Der Leser darf dem Text diese harte Arbeit nur nicht anmerken. (Sie sagen es: Leichtigkeit!) 😉

In einem Gespräch zwischen dem Galeristen Wettengel und der Malerin Karline Regenbein verabschiedet sich dieser mit dem Satz „Bleiben Sie bei sich.“. Ein Satz, den die Malerin nicht verstehen kann. Ein Satz, der doch eigentlich genau das Gegenteil von dem ist, was der Malerin fast die ganze Novelle lang nicht gelingt; der Ausbruch. Ist das eigene Selbst nicht das grösste Gefängnis?
Gute Frage. Das eigene ICH kann sehr wohl ein Gefängnis sein, wenn es sich nur aus sich selbst nährt. Das gilt nicht nur für Künstler. Wenn das ICH an Erfahrungen, Gefühlen, Wissen u.s.w. reich ist, kann es strahlen und viel von sich hermachen. Ist das jedoch nicht der Fall, gerät es zur billigen/tragischen/narzistischen Ego-Show, aus der man schwer herausfindet. Andererseits: wer nicht «bei sich bleiben» kann, Angst vor dem ICH, den eigenen Abgründen und Fähigkeiten hat; wer sich nur dem Zeitgeist und dem Erfolg andient, endet ebenfalls im Leeren (in der Eitelkeit). Die Figur Regenbein reflektiert allerdings nicht auf dieser Ebene, sondern stellt ihre Lebensfragen in ihrer Kunst.

Jede der Geschichten der vier Protagonistinnen wäre Stoff für einen Roman gewesen. Vieles deuten Sie nur an, zeichnen durchscheinend und trotzdem scheint sich das Bild in Cinemascope vor mir zu entfalten. Gibt es Maximen, Regeln, Eigenheiten Ihres Schreibens, denen sie sich strickt unterwerfen?
Der «dichte» Text, d.h. die durch blosse Andeutung entstehenden Bilder (wie im guten Kino, ja!) muss Raum lassen für Fantasie und Assoziation, die jeder Leser mit eigener Erfahrung füllen kann. Allerdings ist auch dieses Mittel eine Frage des Masses, also der Fähigkeit, die Spannung genau auszutarieren.

Kerstin Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren. Sie studierte am Institut für Literatur in Leipzig und unterrichtet heute an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Bei Luchterhand sind zuletzt erschienen: die Liebesnovellen «Federspiel» der Band «Das verspielte Papier – über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte» sowie der Lyrikband «Schleuderfigur». Kerstin Hensel lebt in Berlin.

Beitragsbild © Susanne Schleyer / autorenarchiv.de

Christian Uetz «Nur dieses Leben», Plattform Gegenzauber

… und das Jenseits in der Sprache

Die Pandemie zeigt um eine Dimension deutlicher, dass Glauben im gesellschaftlichen Diskurs und im politischen Handeln keine Relevanz hat. Das verneint hier nicht, dass Gott die Sprache der Seele sein kann, die es nicht gibt. Es sagt, dass der Tod allein das Leben bestimmt, aber nicht im erregenden Sinn, sondern so, dass aus ganz sachlichen Gründen die zwischenmenschliche Distanz und der Tod der Natürlichkeit dem Tod vorgezogen wird. Das mag und wird in einer säkularen Gesellschaft das Beste sein, aber es geht hier radikal um die Feststellung, dass das Nichtglaubenkönnen der Grund ist, dass es so ist. Wohl heisst es, für Christen sei jedes Leben heilig. Aber ebenso auch das Sterben. Denn wer von der ein jenseits-von-allem innewohnenden Sprache lebt, hält sich an die Gegenwart einer in Gedanken anderen Welt, die das Denken selber ist. Dieses relativiert das reale Leben und erfährt es als verlierbar ohne Verlust. Oder sogar mit Gewinn: Christus ist mein Leben, sterben mein Gewinn (Paulus). Da dieser Horizont politisch ausgeschlossen ist, muss das Überleben mehr zählen als die sinnliche Nähe und das gemeinsam atmende Gespräch. Das lässt sich daran sehen, dass sehr viele Menschen in Alters- und Pflegeheimen jahraus- und jahrein so bitterseelenalleingelassen werden und so freudlos die Tage verbringen müssen, dass sie am liebsten sterben wollen. Durch Corona aber wurden auch die Hundertjährigen zwangsisoliert, damit auf keinen Fall jemand stirbt oder auch noch andere ansteckt. Dass das Überleben ganz sachlich auch mehr zählen muss als die Würde, zeigt sich in der Art und Weise, wie mit Covid-19 Menschen auf der Intensivstation sterben, ohne Kontakt zu den Liebsten, zu Tode isoliert schon vor dem Tode, so dass die unantastbare Würde nur noch darin bestehen kann, unantastbar zu sein. Aber das Monströseste ist die wachsende Depression und die in ihr wiederum brütende Destruktion. Auch Depression kann als ein das Leben lähmender, todähnlicher Zustand bezeichnet werden. Dieser psychische Todeszustand muss so unweigerlich in Kauf genommen werden, dass die grosse Depression die noch viel grössere Destruktion an Gewalt schürt. Umgekehrt kann Glauben als Vertrauen die Angst nehmen und bei manchen die Abwehr- und Heilkräfte stärken, wenn es nicht die Angst nur verdrängende Realitätsflucht ist. Angst auf jeden Fall macht auch krank. Die Umkehr des Johannesprologs zu  Das Wort ist Gott aber heisst für die darin sich erhellende Inexistenz, das Leben von der Begeisterung ob der Unsterblichkeit der Sprache her zu verstehen, von der Verzückung ob der jede Sekunde Unglaublichkeit des Lebens her, von der Ekstase der Liebe her, vom Lachen, vom Übermut her, von dem durch die herzzerreissende Traurigkeit des Todes hindurch zu noch herzzerreissenderer Freude Erwachen her, Pathos hin oder her. Die nur als peinlich aussprechbare Haltung der Glaubenden bleibt, sich auch auf das Sterben zu freuen, darin nichts ihnen die elende Heiterkeit und die übermütige Schwermut nehmen kann, komme da an Angst und Bedrohung, an Pandemie und Panik, was da wolle. Das mag ein Glaubensheldentum sein, hat aber nichts mit faschistischem, volksgesundheitlichem, vaterländischem Heroismus zu tun, denn es schliesst alle Fremden und Minderheiten und Schwachen nicht aus, sondern herzlich ins Jenseitsverlies der Sprache mit ein. Ist umgekehrt Sterben nicht nur das Allerletzte, sondern auch das Allerletzte, und ist es in der Sprache nicht auch ein anderes Leben, zählt nur das eigene Leben und das der Anderen vielleicht schnell nichts mehr. Aber auch ohne das Sterben zu verklären ist auch nur eine Sekunde gelebt zu haben ein Wunder, und wenn von der völligen Unwahrscheinlichkeit ausgegangen wird, überhaupt zu leben, hängt ein erfülltes Leben weniger von der Länge des Lebens als von der Art der Gegenwart ab, so dass auch mit sechzig oder vierzig oder zwanzig zu sterben die Unglaublichkeit, gelebt zu haben, nicht widerlegt. Die durch die Säkularisierung unvermeidliche Verabsolutierung des Lebens bestätigt sich auch darin, dass das immer längere Leben der klarste Sinn und das erklärteste Ziel ist, so dass hundert Jahre alt zu werden schon fast als ein allen zustehendes und zu ermöglichendes Grundrecht angesehen werden kann. Zumindest macht die Coronakrise die so unfassbar hoch gestiegene Lebenserwartung in ebenso unfassbar grosser Selbstverständlichkeit deutlich, dass vielleicht auch ein Hundertjähriger bald nicht mehr sterben kann, ohne elend vor der Zeit gestorben zu sein. Jünger sterben, überhaupt sterben ist ein Skandal. Es ist nicht nur seit Camus der Skandal schlechthin, daran wiederum nur Gott schuldig sein könnte, wenn er wäre. Und dass gestorben und gelitten wird, genügt auch zum Gegenbeweis. Und spräche auch das Nichtsein nicht gegen den zusehends weiblichen Engel, und wäre das nichtseiende Licht auch eine Sie, die Herrin Sprache, und wäre diese Herrin auch alle Sprechenden selber, so wäre sie doch der Kapitalgrund, die Gottillusion als völlig jenseits zu erledigen. Aber achtzig Jahre alt zu werden ist nicht nur historisch, sondern in Hinsicht auf manche Weltregionen auch heute noch ein grosses Glück. Es als selbstverständlich zu erwarten, bleibt unserer Vergänglichkeit gegenüber auch in noch so hochmedizinischer Wohlstandswelt verblendet. Und doch können auch viele betagte Patienten von Covid-19 geheilt werden, bei der die Sterberate immer noch um ein Vielfaches geringer ist als die an Herzversagen oder Krebs. Hoffentlich wird hier erwidert: Wenn das Sterben an Krebs durch einen Lockdown verhindert werden könnte, würde man es auch tun. Und tatsächlich zeigt sich ja nun, dass durch die viel geringeren Feinstaubwerte in den grossen Städten weniger Menschen sterben. Warum also nicht ab sofort weltweit überhaupt das Fliegen und Autofahren für immer einstellen, weil die dadurch bessere Luft viele Todesfälle verhindert und zugleich die von Klimaschäden bedrohte Erde schützt? Aber es geht hier und erst recht beim aus Lebensliebe auch Sterbenwollen darum, dass eine solche Haltung im öffentlich ernstzunehmenden Diskurs nicht haltbar ist. Auch wenn das alltägliche Leben vielleicht über Jahre ausgehebelt bleibt, kann lebensschutzvernünftig nicht berücksichtigt werden, was Corona an psychischer Not bringt: den massenhaften Spontanitätstod, Umarmungstod, Nähetod, was sich für vom leibhaft Begegnen Lebende nicht digital ersetzen lässt, auch wenn es die Lösung der Zukunft ist. Es ist denkbar, dass die vorwiegend digitale Begegnung und das Physical Distancing für die biologische Sicherheit nicht nur vorübergehend, sondern in alle Zukunft zur vorgeschriebenen Lebensweise wird. Dass sich aber auch die Kinder nicht mehr unbekümmert nahekommen und nicht mehr übermütig miteinander spielen dürfen, ist als Gedanke fast nicht zu ertragen, nicht nur, weil Kinder das kaum einhalten können, sondern weil sie es auch nicht einhalten sollen um ihrer spontansten Nähe Willen. Habermass beunruhigt, dass auch Juristen den Lebensschutz zugunsten der Selbstbestimmung relativieren. Das Leben als Lebendigkeit ist anderseits nicht nur für die vom Wort Inbrünstigen auch ekstatische Leidenschaft, dazu auch Selbstverausgabung, sich Verschwenden, sich-aufs-Spiel-Setzen, lieber-Gefahr-als-Sicherheit und Lust des Wahnsinns gehören, welchen im Diskurs der Vernunft der vernünftige Grund fehlt. Allerdings hat auch das vernünftige Sterbenkönnenpathos nur das Jenseits in der Sprache, um verstehbar zu machen, dass es nicht sozialdarwinistisch und nicht volksheroisch und nicht lebensleichtsinnig gemeint ist, sondern ganz persönlich transzendent.

Christian Uetz, geboren 1963 in Egnach in der Schweiz, ist ein philosophischer Poet und lebt in Zürich. Nach einer Ausbildung zum Lehrer studierte er Philosophie, Komparatistik und Altgriechisch an der Universität Zürich. 2010 erhielt er den Bodensee-Literaturpreis für sein bisheriges literarisches Gesamtwerk. Seine Performanceauftritte sind legendär! Nach «Nur Du, und nur Ich» (2011) und «Sunderwarumbe – Ein Schweizer Requiem» (2012) erschien 2018 mit «Es passierte» sein dritter Roman.

Beitragsbild © Mathias Bothor

Lisa Elsässer «schnee relief», Wolfbach

Warum einen Gedichtband lesen, der den Schnee besingt. Jetzt, wo die Sonne brennt, die Hitze flirrt und Schnee und Eis zur Erinnerung werden. Weil Lisa Elsässer in ihrem neusten Gedichtband den Schnee als Zustand beschreibt, Schnee in seinen Aggregatzuständen. Kein Zustand zwischen Wasser und Eis, so wie die Lyrik kein Zwischending ist zwischen Erzählen und Gesang.

Lisa Elsässer ummantelt sich mit Schnee, steht in ihn hinein, fühlt sich aus Räumen hinaus in den Schnee und vom Schnee hinein in Innenräume. Sie geht durch den Schnee, durch die Landschaft, schreitet durch Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, die sie einnehmen, begleiten, durchdringen. Schnee ist das Weisse, das das Denken zudeckt, vergessen macht, was darunter liegt, was für eine Weile in Starre verborgen bleibt. 

Im Gedicht „schnee von gestern“ beschreibt die Dichterin genau das, eine Vergangenheit, die in einem Gespräch mit einem Gegenüber von der Redewendung zur schmerzhaften Geste, einem wegwischenden Kommentar wird.

3 Gedichte in Fragen eingebettet:

schnee von gestern

es regnete bindfäden
weiss waren nur die häuser
die möwen der rand einer
zeitung und der pappbecher

unsere schuhe schlürften wasser
und durstig waren auch wir
doch es schneite nicht
schnee von gestern sagtest du

meintest den winter vor jahren
jenen regen den windzerfetzten
schirm die weissgetränkte gischt
das gestern voller schnee doch

es schneite nicht

In ihrem Gedicht „schnee von gestern“ offenbart sich mir ein gemeinsamer Spaziergang. Nicht einfach ein Spaziergang, um sich Bewegung zu verschaffen. Da wird nicht viel gesprochen, auch nicht mehr viel verstanden, dafür umso mehr dem nachgehangen, was einzelne Satzfetzen auslösen, so wie das wegwischende „schnee von gestern“, das Vergangenheit zunichte macht. In vielen ihrer Gedichte transformieren sie Zustände, Momente in Bilder, die sich in den Farben des Schnees beschreiben lassen. War der „Schnee“ von Beginn weg das Programm?

Ja, das war Absicht: ich wollte für einmal einen thematisch „engen“ Raum, und darauf warten, was das Wort Schnee mir alles (ausser nur Schnee) hinschneien würde, was sich sprachlich ergeben könnte! Und da war halt plötzlich, wie fast immer beim Gedicht, der „Schwellenzustand“ (Inger Christensen) da, also der Ort, wo sich Äusseres und Inneres sprachlich zu verbinden suchen!

Lisa Elsässer «Schnee Relief», Lyrik, Wolfbach, 2020, 79 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-906929-38-5

In einem Gedicht von Inger Christensen steht „Stehe ich / alleine im schnee / wird klar / dass ich eine uhr bin». Im Schnee wächst scheinbar das Bewusstsein der Vergänglichkeit, zerrinnender Zeit, weniger wie eine tickende Uhr, als das Vergehen und Erwachen in der Natur, diese kosmische, viel umfassendere Uhr. Sind dann diese Schneegedichte, ist dieser Schneezyklus die Hoffnung im Vergänglichen? Ein Versuch, die vom Menschen eingerichtete Zeit aufzureissen?

Die Vergänglichkeit wird schon in einigen Gedichten thematisiert, aber meines Erachtens nicht als Hoffnung, sondern als klare oder schmerzliche Wahrnehmung dessen, was uns allen passiert! Die Zeit ist ja bloss die unschuldige Zuschauerin dieses Welkens … die lass ich gerne „unzerrissen“!

mitläufer

nur kurz die schönheit
rostgefärbte bäume
mein schatten läuft
vor mir stummer
Begleiter überm boden
hartes weiss

hände fallen mir ein
von gleichem kalt
beschattet unerlöst
auf starrem grund
erfroren das berührte
einst im schnee erstickt

Der Schatten als Mitläufer. Ihre Gedichte sind Bilder mit intensiven Farben und starker Textur. Wovon lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen?

Das Schreiben bedingt, zumindest bei mir, grosse Konzentration und Fokussierung auf das, was ich als Wesentliches erachte: Sprache, Sprache und nochmals Sprache! Ablenkungen sind unerwünscht! Ich lasse mich nur von dem beeinflussen, was der Dringlichkeit dient: bei sich und dem Wort bleiben. Das ist übrigens auch bei der Prosa das gleiche Prinzip: ich gewichte das Literarische wesentlich stärker als den Marktschrei, was natürlich auch seinen Preis hat!

gras

wächst
darüber
bald wächst
schnee
darüber
wächst
vergessen
darüber
erblindet
im schnee
ertrinkt
im vergessen
bald wächst

zeit darüber

Wieder ist es die Zeit, die Einsicht, dass unter den Schichten des Schnees nichts verborgen wird und schon gar nicht verborgen bleibt. Es legt sich bloss Schicht um Schicht, Ring an Ring, Haut auf Haut. Sie suchen in ihren Gedichten nicht nach Antworten, sondern reflektieren, was mit ihnen und in ihnen geschieht. Für mich als Leser präsentiert sich ihre Offenheit in sprachlicher Harmonie. Ist aber das Schreiben, das Feilen, das Warten, das Verändern nicht oft ein schmerzlicher Prozess?

Das, was als fertiges Gedicht sichtbar ist, trägt oft, gerade auch durch die grosse Zurückhaltung die Spuren dessen, wonach man ringt! Das ist ja nicht nur die Form, es ist der Inhalt, die Sprache, der Rhythmus! Ich würde diesen Prozess nicht als schmerzlich, aber als sehr anspruchsvoll, durchdacht benennen!

Naturbeobachtungen überlagern sich mit Weltbetrachtung, Erkenntnissen. Das eine spiegelt sich im andern. Können Sie etwas erzählen über die Entstehungsgeschichte eines Gedichts? Gibt es Zustände, in die Sie sich hineinversetzen oder fangen Sie die Bilder ein?

Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Handke hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet! 

(Die drei Gedichte aus «schnee relief» wurden mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags auf literaturblatt.ch wiedergegeben.)

Lisa Elsässer-Arnold ist 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren und lebt sei 1986 in Walenstadt. Diverse Ausbildungen, unter anderem Bibliothekarin und Buchhändlerin. Von 2003-2005 absolvierte sie den Literaturlehrgang an der EB in Zürich (Peter Morf), von 2005-2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Lisa Elsässer ist für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden. Neben Gedichtbänden beim Wolfbach Verlag erschienen im Rotpunktverlag Lyrik, Erzählungen und der Roman „Fremdgehen“ (2016), zuletzt die Erzählungen „Erstaugust“ (2019).

Fotos © Niklaus Strauss, Zürich

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag

Was bedeutet es, sich als Paar ewige Treue zu versprechen. Silas und Romy versprachen sich schon früh mehr als nur ein gemeinsames Leben zu teilen. Sollte dereinst jemand der beiden durch Krankheit zuerst sterben, würde man es gemeinsam tun. Nicht nur „bis dass der Tod euch scheidet“, sondern darüber hinaus. Und als man bei Romy die Diagnose Alzheimer stellt, wird aus dem Versprechen Absicht. 

Silas und Romy sind seit Jahrzehnten ein Paar, ein alt gewordenes Paar. Zwei, die ihr Glück in einem kleinen, einsamen Haus in den Dünen gefunden haben, mit Sicht aufs Meer, das stetige Rauschen unterlegt. Wie jeden Morgen beginnen sie den Tag gemeinsam, Spiegeleier, Brötchen und schwarzen Kaffee. Danach ein Spaziergang bis zum nahen Hof, im Gehen nicht immer nebeneinander im Gleichschritt, aber immer miteinander. Schon als junge Leute gehörten sie nicht zur lauten Sorte. Das einzige, was laut werden konnte, war ihre Leidenschaft, sei es in der Liebe oder in Gesprächen. Sie lernten sich als junge Studenten auf dem Campus kennen, an einem flirrend heissen Tag, als sich Silas für einmal mutig und entschlossen an die Seite der lesenden Romy setzte. „Romeo und Julia“. Aus dem Gespräch über das Drama einer grossen Liebe wurde ihre grosse Liebe, die alles überdauern sollte. 

Lu Bonauer «Die Liebenden bei den Dünen», Kommode Verlag, 2020, 160 Seiten, CHF 17.00, ISBN 978-3-9525014-3-6

Dann sollte es ein Dienstag im Mai sein, ein Abend. Silas hatte als ehemaliger Arzt alles organisiert. Das Natrium-Pentobarbital-Pulver, zwei Schaukelstühle mit Sicht aufs Meer, dazwischen ein kleiner runder Tisch, ein Tablett mit zwei Gläsern. „Ich habe nie aufgehört, dich zu lieben“, sagt sie, er dasselbe. Sie trinken gemeinsam aus den Gläsern, stellen die Gläser hin, lehnen sich zurück und halten sich an den Händen. Es sollte kommen, im Schlaf und sie beide hinüber begleiten. 

„Ich möchte gehen, Silas, das Leben ist nur ein Geschenk, wenn es als ganzer Mensch erlebt werden kann. Aber ohne Gedächtnis bist du kein Mensch mehr.“

Aber wenig später wacht Silas wieder auf. Romys Hand ist ihm entglitten, Romys Leben ist ihm entglitten. Sie sitzt tot im Stuhl neben ihm und Silas durchfährt der Schmerz des Verlassenseins vielfach. Da war doch ein Versprechen. Immer und immer wieder. „Denk an unser Versprechen.“ Und dann die Vorbereitungen, der genau besprochene Plan. Die Akribie, der vorbestimmte Tag, die genaue Uhrzeit, nichts dem Zufall überlassen. Sie lassen sich im Stich, verlassen einander ausgerechnet im schwersten Moment, diesem einen, unwiederbringlichen.

Es ist nicht nur die über ihn einbrechende Einsamkeit, das Gefühl, verlassen zu sein. War hinter dem Umstand, dass sein Trank nicht tödlich war, Absicht? Wollte Romy trotz des Versprechens gar nicht den gemeinsamen Schritt, sondern nur den letzten Liebesbeweis? Warum liess sie ihn alleine mit ihrer Entscheidung, dieses eine, alles entscheidende Mal? Einzuholen war sie nicht mehr.
Silas taumelt durch eine Nacht, die er nicht mehr wollte, eine Welt, von der er sich verabschiedet hatte, weil alle Welt in seiner Liebe zu seiner Frau war. Wie durch einen Blitzschlag ernüchtert.

Die Novelle von Lu Bonauer ist eine Liebesgeschichte, die berührt und Fragen stellt. Vor nicht allzu lange Zeit ging ich mit meiner Frau spazieren. Wir sind seit über 35 Jahren verheiratet. Die Wahrscheinlichkeit, dass uns der Zufall gleichzeitig sterben lässt, ist verschwindend klein. Jemand von uns beiden wird alleine bleiben, zurück bleiben Und doch tut man so, als blieben die Stränge auf ewig parallel. Romy und Silas wählten den gemeinsamen Prellbock, den gemeinsamen Ausstieg, das gemeinsame Ende. Aber Silas muss feststellen, dass die akribische Planung Fassade war, er ausgerechnet in der schwersten Stunde einer „Lüge“ aufgesessen ist. Wohin mit Gefühlen, die sich nicht kontrollieren lassen.

Lu Bonauers Novelle „Die Liebenden bei den Dünen“ ist ein zartes Stück Literatur, dem man nach dem Lesen gerne einen besonderen Platz in seiner Bibliothek geben möchte!

© Lu Bonauer

Interview mit Lu Bonauer

Shakespeares „Romeo und Julia“ endet, Ihre Novelle beginnt mit dem maximalen Drama; mit der Gewissheit, nach Jahrzehnten Harmonie und Zweisamkeit unwiderruflich  und entgegen des gemeinsamen Versprechens der unsterblichen Liebe, verlassen worden zu sein. Was war die Initialzündung zu Ihrer Novelle?
Ich sehe mich grundsätzlich als Schriftsteller, dessen Stoffe existenziellen Fragen nachspüren. In diesem Text stehen zwei Menschen vor einer Grenze, dem Tod, den sie zu ihrem gemeinsamen Tod machen wollten, um zusammen weitergehen zu können. Aber dann bleibt Silas alleine zurück mit all seinen Gefühlen, seiner Trauer, seinem Schmerz. Bei „Die Liebenden bei den Dünen“ hat mich diese grosse Liebe zweier Menschen beschäftigt, die ein Leben lang zusammengehalten haben, und die sich dieser letzten grossen Herausforderung stellen müssen.

Sie schreiben oft über „altersbedingte Themen“. Ist das nicht eher ungewöhnlich für Ihr Alter?
Diese Frage habe ich mir auch schon oft gestellt. Vielleicht schreibe ich, wenn ich alt werden darf, über Kindheit und Jugend (schmunzelt). Die momentane Antwort ist: Ich weiss es nicht, nicht wirklich. Es ist vielmehr das Interesse für und die Achtung vor alten Menschen und ihren Lebensgeschichten. Einmal hoffentlich selber zurückblicken zu können. Sich jetzt schon mit einem Ich und auch Du in einer noch etwas fernen Zukunft zu befassen, das hat auch etwas Befreiendes und Unverkrampftes, insbesondere, wenn der tägliche Irrsinn uns den Atem zu nehmen droht.

Sie beschreiben eindringlich die Zerrissenheit zwischen Enttäuschung, Verzweiflung, Einsamkeit und Schmerz. Müsste man als kluger Mensch nicht gelernt haben, dass die wirklich wichtigen Dinge nicht planbar sind, erst recht dann nicht, wenn sich deren Verwirklichung auf die Zuverlässigkeit anderer stützt?
Ja, da gebe ich Ihnen recht. Erfüllung und Glück sind nicht planbar. Hinzukommt, dass das eigene und gemeinsame Glück kaum in jeder Lebenslage übereinstimmen. Was brauchen wir, um glücklich zu sein? Im besten Fall existieren in einer Partnerschaft gleiche Vorstellungen dazu, um zu zweit einen Plan vom Glück umzusetzen. Ohne beidseitige Zuversicht ist die Unzuverlässigkeit nicht weit. Und das Gefühl, auch in der Liebe frei zu sein, kann sich niemals entwickeln. Romy und Silas sind fest verwurzelt in der Liebe zueinander. Umso schwieriger ist es für Silas, sich dem Bewusstsein zu stellen, dass der Mensch letztlich in seinen Entscheidungen frei ist, ein freies Wesen ist, frei auf der Welt, frei im Kosmos.

Aus der Sicht Romys verstehe ich ihr Handeln, ihre AbsichtenIch verstehe die Verzweiflung Silas ebenso. Und das macht den Reiz der Novelle aus. Die Lektüre Ihres Buches provoziert die eigene Auseinandersetzung mit der Frage, woran Liebe scheitern könnte. Scheitert man nicht viel mehr an sich selbst?
Natürlich. Ob unerfüllte Liebe, zerrüttete oder zerbrochene Liebe, das Eigene verpflichtet dazu, das einst oder vermeintlich Gemeinsame zu hinter- oder zu erfragen. Das Scheitern gehört zum Glück dazu. Nicht zu scheitern bedeutet allenfalls, im Unglück zu verharren. Sich das Scheitern einzugestehen, ist bekanntlich oft schwierig. Das Eingeständnis, gescheitert zu sein, ist ein Akt der Sorgsamkeit gegenüber sich und dem eigenen Leben. Im Buch stellt sich Silas diesem Akt. Aber ist es wirklich ein Scheitern? Romy und er haben das gemeinsame Glück bis zuletzt bewahren können. Und nun fordert Romy ihn nochmals heraus und sie tut es für eben diese Liebe, die ihr genauso das Wichtigste ist.

Romy emanzipiert sich in ihrem letzten Schritt. Silas dachte, Sie hätten ihre Ehe stets in vollkommener Übereinstimmung gelebt. Ist diese Liebesgeschichte also auch ein Abgesang auf die Ideale einer traditionellen Ehe?
Den Stoff, den ich im Buch bearbeite, stellt die Liebe als etwas Universales und zugleich Persönliches dar . Und somit wirkt die Liebe fern eines institutionellen Kraftfeldes. Das war mir beim Schreiben wichtig. Jede Liebe ist aussergewöhnlich auf ihre Weise. Bei Romy und Silas wurzelt das Aussergewöhnliche in ihrer Verbundenheit zum Buch „Romeo und Julia“, einer Geschichte, die ein gegenseitiges Versprechen auslöst und somit in ihre eigene Geschichte bis zuletzt hineinatmet.

Versprechen scheinen gemacht zu sein, um sie zu brechen. Nirgends so sehr wie in der Liebe. „Unsterbliche Liebe“ – das Maximum eines Versprechens. Muss man daran glauben, damit man es wagen kann?
Oh ja, der Glaube versetzt bekanntlich Berge. Und hinter den Bergen liegt irgendwo das Meer. Und das Meer spielt eine wichtige Rolle im Buch. Wenn man gewillt ist, das Weite, das Unbekannte immer wieder von Neuem zu erforschen. Weshalb sollte so etwas „Kühnes“ (lacht) wie die unsterbliche Liebe nicht möglich sein?

Lu Bonauer, geboren 1973 in Basel, schreibt Prosa und Lyrik. Seine Texte sind in mehreren Anthologien erschienen und wurden bei diversen Wettbewerben ausgezeichnet, unter anderem war er Gewinner des Schreibwettbewerbs OpenNet der Solothurner Literaturtage und des Monatstextes März 2002 des Literaturhaus Zürich. 2008 und 2016 erhielt er jeweils für die Romanprojekte „Herzschlag hinter Stein und «OLIs God“ einen Förderpreis des Fachausschuss Literatur BS/BL. Lu Bonauer erhielt im Frühjahr 2019 einen Werkbeitrag von der Kulturstiftung Pro Helvetia.

Beitragsbild © Lu Bonauer

Willi Achten «Die wir liebten», Piper, Gastbeitrag von Frank Keil

Willi Achten gibt den einstigen Heimkindern der Bundesrepublik Deutschland mit seinem wuchtigen Roman „Die wir liebten“ eine literarische Stimme. 

Frank Keil

Im Gnadenhof
Gastbeitrag von Frank Keil

Vorab zur Einleitung und zum besseren Verständnis: Was für die Schweiz die „Verding-Kinder“ sind, das sind für die Bundesrepublik die „Heimkinder“. Kinder und Jugendliche, die im Nachkriegsdeutschland ihrer Freiheit beraubt wurden; die in meist kirchlichen Heimen beider Konfessionen, aber auch in kommunalen Heimen untergebracht wurden. Die dort arbeiten mussten, deren Schulpflicht zuweilen ausgesetzt war und denen Kontaktmöglichkeiten zu Eltern, Verwandten oder Freunden untersagt wurden – ohne das staatliche Stellen ihrer Pflicht der Kontrolle nachgingen; ohne dass es irgendeine unabhängige Instanz gab, an die sich die Kinder und Jugendlichen hätten wenden können. Bis weit in die 1970er-Jahre ging das, als sich zugleich die bundesdeutsche Gesellschaft unter dem Einfluss der so genannten Studentenrevolte immer mehr liberalisierte. Salopp gesagt: Während in der Öffentlichkeit über antiautoritäre Erziehung debattiert wurde, wurde in den Heimen noch handfest und unhinterfragt geprügelt.
Erst als ab etwa Anfang bis Mitte der 1970er-Jahre eine neue Generation von Erziehern und Erzieherinnen in der staatlichen wie privaten Jugendhilfe auftauchte, änderten sich die Heime; viele wurden nach und nach geschlossen; neue Lebens- und Wohnformen für Kinder und Jugendliche aus schwierigen Familiensituationen entwickelten sich.

Und dennoch dauerte es weitere 30 Jahre, bis die Geschichte der repressiven, jahrzehntelang gültigen Heimerziehung einer breiteren Öffentlichkeit bekannt wurde und besonders die längst erwachsenen und zugleich tief traumatisierten einstigen Heimkinder gehört und dann befragt wurden. Es war interessanterweise ein Buch, das diesen Prozess einleitete: „Schläge im Namen des Herrn“ des SPIEGEL-Journalisten Peter Wensierski, 2006 (!) erschien es.

Seitdem wurde nach anfänglich erheblichen Widerständen der beiden Kirchen verschiedene Entschädigungsfonds für die einstigen Heimzöglinge aufgelegt. Seitdem gibt es auch eine tiefgehende historische Forschung – aktuell wird etwa untersucht, in wieweit an den Heimkindern nicht zugelassene Medikamente erprobt wurden und in wie weit sie wichtigen Unternehmen zuarbeiten mussten, ohne je dafür entlohnt worden zu sein. Es gibt zudem – wie bei den Verding-Kindern auch – eine Reihe von Erfahrungsberichten ehemaliger Heimkinder; Lebens- und Überlebensberichte, autobiografisch grundiert, oft in kleinen Verlagen erschienen oder in Selbstverlagen veröffentlicht.
Was aber bisher weitgehend fehlt, ist eine literarische Aufarbeitung – vergleichbar mit dem so genannten Internatsroman. Nun hat Willi Achten mit seinem Roman „Die wir liebten“ erste, wichtige Pflöcke eingeschlagen.

Und der schickt Edgar und Roman, die zwei Brüder, die Söhne des Bäckers, in die apokalyptische Heim-Welt. Die beiden Jungen kennen das Haus, vor dem sie nun stehen, zwangsweise hierher gebracht. Das Haus, das ein Heim beherbergt. Sie standen schon öfter davor; letzten Weihnachten erst, als sie den übriggebliebenen Kuchen ablieferten, eine Spende; an der Pforte hatten sie ihn abgegeben, weiter waren sie wie auch die Jahre zuvor nicht gekommen, und es war ihnen recht. Hatten dafür die Zigarre entgegengenommen, vom Heimleiter, auch wenn ihr Vater, der Bäcker, der den Kuchen spendete, der sich nicht mehr verkaufen liess, gar nicht rauchte. Aber das erzählten sie nicht, so wie sie auch nicht fragten, was das für ein Heim sei und wie es einem dort ergehe und wie man in dieses Heim komme, das „Gnadenhof“ heisst; besser nicht fragen, weil Fragen Wissen nach sich ziehen kann. Und dann – womöglich – Handeln.

Da sind wir sind Seite 253 angekommen. Alles, was wir zuvor gelesen haben, war notwendiges Vorspiel, war unverzichtbares Intro, einerseits. Ist die Vorgeschichte einer nun offen ausbrechenden Katastrophe, die notwendig zu erzählen ist, um zu verstehen, was auf den nun folgenden, etwas mehr als 100 Seiten geschieht. 

Willi Achten «Die wir lieben», Piper, 2020, 384 Seiten, CHF 32.90, ISBN 978-3-492-05994-7

Denn sie sind anfangs eine ganz normale Familie. Im Grossen und Ganzen jedenfalls, in einem kleinen Ort, im Rheinland. Vater, Mutter, zwei Kinder. Eine Grossmutter noch dazu, ein Vetter der Grossmutter, der in der väterlichen Backstube arbeitet und hilft, dann noch die Grosstante Mia; die etwas anders ist, sehr eigen sozusagen, die für ihr Leben gern strickt, alles einstrickt, wirklich alles, sitzend unter einer Marienfigur. Die Mutter hat eine Art Kiosk, einen Lottoladen, auch sie arbeitet viel, und sie arbeitet gern. Es ist das Jahr 1971, als wir dazu kommen.

Ob es zwischen den Eltern die grosse Liebe ist, wohl eher nicht. Vielleicht war sie es mal. Vielleicht haben sich die beiden durchaus mehr erhofft, voneinander. Nun sind sie eine ganz normale, eine klassische Familie, in einer Zeit – ich erinnere das, es ist eine prägende Erinnerung –, als in den Nachrichten die Zahl der unehelichen Kinder vermeldet wurde, die stieg und stieg. Und entsprechend kommt alles ins Rutschen, als der Vater auf dem Dorffest mit der Tierärztin tanzt, zu Procul Harum, zu A Whiter Shade of Pale. Und sich dann mit ihr trifft. Und dann das erste Mal nachts nicht nach Hause kommt. Sondern woanders ist, wo er bleibt. Nicht gleich, aber bald.

Die beiden Jungs ahnen, was nun passieren wird. Auch wenn sie das Gegenteil hoffen. Und der Vater ist ja morgens da, steht in der Backstube; wann immer es möglich ist, helfen ihm die Söhne, springen ein, vielleicht kann das das Schlimmste verhindern. Und noch ist der Vater ja da, noch hören sie mit ihm gemeinsam Radio, wenn Fussball ist, bis die Ergebnisse feststehen. Über das, was geschieht, mit ihnen, im Einzelnen wie mit allen zusammen, wird nicht gesprochen. Es wird gehofft. Und das ist nicht genug; es ist bei weitem nicht genug.

Denn sie alle sind nicht allein auf der Welt. Es gibt den Dorfpolizisten, der schon vorher Dorfpolizist war und dem entsprechend eine gnadenlose Brutalität zu eigen ist. Und es gibt die Fürsorgerin, die die zerbrechende Familie nicht aus ihrem Blick lässt und die nur darauf wartet, dass sie einschreiten kann; aus eigenem Antrieb heraus wie von Amts wegen. Aber erst mal nimmt sie sich Mia vor, die zurückgebliebene Großtante, das schwächste Glied in einer sich auflösenden Kette, um die sich der Staat doch zu kümmern hat. Und dann ist es soweit und Edgar und Roman können nicht mehr entkommen.

Willi Achten erzählt das so kraftvoll wie schonungslos. Er verfügt über einen realitätssicheren und wahrhaft packenden Erzählstil, dass man zuweilen kaum weiterlesen mag, weil man das fürchtet, was auf den nächsten Seiten passieren wird und das passiert dann auch. Er holt uns in eine Welt zurück, die historisch gesehen, so lange her nicht ist und auf die oft genug nur verklärend geschaut wird, weil es damals besonders schaurige Popmusik gab und die regierenden Männer unförmige, schwarze und schwere Schuhe trugen und sich das dünne Haar mit Birkenwasser tränkten, ach, ist das lange her, so gefühlt, und was war das seltsam.
Was Willi Achten uns mit seiner eigentlich ganz klassischen Familiengeschichte dagegen nahe bringt, ist ein zuweilen fast körperlich zu fassendes Erschrecken über die eingangs kurz skizzierte Erziehungswelt der 1970er-Jahre; von prügelnden Lehrern bis nahezu allmächtigen Fürsorgerinnen, flankiert von oft hilflosen Erwachsenen, die gerade anfingen an der sich vorsichtig ausbreitenden Liberalität bei der Gestaltung von Lebensentwürfen zu erproben.

Und so ist der zweite Teil des Romans nichts geringeres als eine geradezu apokalyptische Reise in die Abgründe der westdeutschen Heimerziehung, die fast lückenlos und nahezu ungebremst, weil auch personell gestützt auf die Ideale und Abläufe der Nazizeit aufbaute und die sich jahrzehntelang ungeprüft und unhinterfragt austoben konnte, auch weil sie Gesetz war und niemand in die Speichen des sich drehenden Rades griff. Und die so spät in Frage gestellt wurde und die noch später endetet, nach der so genannten Heimkampagne kritischer Pädagogikstudenten, bei der nicht zuletzt eine gewisse Ulrike Meinhof eine nicht unwichtige Rolle spielte.
Dieser Zeit und besonders ihren Opfern hat Willi Achten mit seinem Roman ein überaus lesenswertes Dokument überlassen.

Willi Achten wuchs in einem Dorf am Nieder­rhein auf. Er studierte in Bonn und Köln. Seit den frühen 1990er-Jahren ist er als Schriftsteller tätig. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne. Willi Achten lebt im niederländischen Vaals bei Aachen.

Webseite des Autors

Beitragsfoto © Heike Lachmann / Piper Verlag

20 Jahre Bodmanhaus Gottlieben: Literaturhaus Thurgau

Das Bodmanhaus in Gottlieben, die Stiftung, das Literaturhaus Thurgau feiern «20 Jahre Literaturhaus»! Nach Zürich und Basel war Gottlieben das dritte Literaturhaus in der Schweiz. Was damals mit Sicherheit Mut brauchte, ist heute Institution und ein Ort mit besonderer Strahlkraft!

„Härzlichi Gratulazio dum Bodmaahüs va Gottliäbu, dum künftigu Literaturhüs vam Kantoo Thurgau. Ja, hei wär du Biächär witärhi Sorg, will was weeri iischi Läbu ooni Biächär: Woll wiän äs zärtrikkts Gornischo ooni Ragglett. Heit sus güät! Tschau zämu!“
Rolf Hermann, Schriftsteller

Zu einem Jubiläum gehören neben einem Fest GratulantInnen. So versammelt sich in diesem Bericht ein ganzer Chor von unterschiedlichsten Stimmen, die genau wissen, wie wichtig ein Literaturhaus als Kultur- und Identivikationsort ist:

«Ich habe auf meinen Lesereisen viele Literaturhäuser kennengelernt, mondäne wie in München oder Frankfurt, moderne wie in Basel oder Innsbruck, kleine, gemütliche wie in Kiel oder Oldenburg, Häuser, die Treffpunkte für die Literaturszene waren wie in Stockholm oder Istanbul, aber das Bodmanhaus hat für mich eine ganz besondere Bedeutung. Nicht nur als ein Haus des Lesens, sondern auch als eines des Schreibens. Immer wieder habe ich mich hier eingemietet und an meinen Texten gearbeitet, an diesem stillen und doch nicht abgelegenen Ort, der Literatur nicht nur ausstellt, sondern auch ihre Entstehung ermöglicht. Und was Schöneres kann ein Literaturhaus tun.»
Peter Stamm, Schriftsteller 

„Es gibt Schreib-Orte und es gibt Orte des Lesens und beide sind Wort-Orte. Und Orte von Ankunft und vorläufiger Heimat: das ist das Bodmanhaus in Gottlieben geworden und gewesen in den letzten zwei Dekaden: für Schreibende, für Lesende, auch für mich. Ein Gruss. Ein Dank. Eine Gratulation. Für engagiertes Wirken im Zeichen von Buch und Schrift, von Schreiben.
Die Schreib-Orte sind jene, wo der Text Ort, Gestalt und Sprache findet, eine vorläufige Ankunft: das Schreiben, das gelingt.
Und der Lese-Ort ist jener, wo der Text zum Lesenden findet, zum Dialog, zum Gespräch und damit erst Buch wird: in der Begegnung. 
Gottlieben war immer beides.
Ein Ort hat immer etwas Unverwechselbares, ein besonderes Licht in der Dämmerung, ein Duft von See und Grenze, eine Verfärbung der Erde, ein Ufer mit Schattenspiel, Wasser, wo Schiffe treiben, ein Haus mit knarrenden Treppen und Atmosphäre von alten Schriften und sirrenden Balken, die Atmosphäre des Besonderen – Magie, die zum Bleiben einlädt.
Erwartungsvoll gespannte Gesichter von Lesenden.
Das alles hat das Bodman-Haus in Gottlieben, diesen Hauch von Grenze und grossen Dingen, von Verheissung und Magie. Und es ist alles: Ist Schreib-Ort, wo einer Sprache finden kann, Lese-Ort, wo Lesende Lauschende werden, Sehnsuchtsziel und ein wenig Wallfahrt: zu Schreibenden und Büchern, zu Begegnungen und Gesprächen, ein Ort zum Finden des Eigenen im Fremden.
Das wurde im Bodmanhaus gelebt – 20 Jahre, mit Engagement von vielen Einzelnen (ihre Namen mögen bleiben und genannt werden), mit jener Leidenschaft, die das Besondere schafft, mit jener Menschlichkeit der Begegnung, die bewegt und in Erinnerung bleibt.
All das möge aufgehoben sein im neuen Literaturhaus Thurgau, ein Ort von Geheimnis und Ankunft, von Begegnung und Gespräch, von erfüllten Augenblicken in denen die Zeit stillsteht: gestundet in der Ahnung von Zuhause-sein, das wir nach Novalis immer suchen, von Heimat vielleicht.“
Urs Faes, Schriftsteller

In der Schweiz existieren heute sechs Literaturhäuser, wenn auch nicht alle in der gleichen «Qualität», mit der gleichen Veranstaltungsdichte oder ähnlicher Tradition: 
das Literaturhaus Zürich, seit 1999, von einer grossen Bank ebenso grosszügig unterstützt, mit über 100 Veranstaltungen pro Jahr mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein,
seit 2000 das Literaturhaus Basel mit ähnlich hoher Veranstaltungsdichte, mitgetragen von einer grossen Stiftung, die auch das Literaturfestival BuchBasel und die Vergabe des Schweizer Buchpreises mitfinanziert,
das Aargauer Literaturhaus in Lenzburg, das seit 2004 mit einem äusserst kompetenten Team neben Veranstaltungen grossen AutorInnen einen dreimonatigen Schreibplatz im Haus bietet
und das Literaturhaus Zentralschweiz in Stans, 2014 eröffnet, gut vernetzt und mit einem überraschungsreichen Programm überzeugend.
Seit letztem Jahr wächst auch in St. Gallen das Literaturhaus und Bibliothek Wyborada, auch wenn das Pflänzchen noch jung ist.

„In einer Zeit, in der das Lesen sich dramatisch wandelt, braucht die Literatur mehr denn je ihre Lagerfeuer. Zu diesen gehören die Literaturhäuser. In ihrem Widerschein beginnen Texte erst richtig zu glimmen. Ein ganz besonderes Feuer, weil nicht in der urbanen Mitte angefacht, trägt neuerdings den Namen «Literaturhaus Thurgau». An der Kreuzung der zwei Übergänge Seerhein und deutsch-schweizerische Grenze befindet es sich in einer ganz anderen Mitte, die unsere Aufmerksamkeit genauso verdient wie der Trubel der Metropolen. Ich gratuliere dem Bodmanhaus und allen, die zu seinem Erhalt beigetragen haben, für die letzten 20 Jahre und wünsche dem Literaturhaus Thurgau eine erquickliche Zukunft.“
Jens Steiner, Schweizer Buchpreisträger 2013 und Stipendiat 2020 im Literaturhaus Thurgau

Und das Literaturhaus Thurgau?
Es hiess 20 Jahre lang «Bodmanhaus Literaturhaus Gottlieben» und darf stolz sein, in diesen 20 Jahren vielen, die im deutschen Sprachraum literarisch Rang und Name haben, eine Bühne für ihr Schaffen geboten zu haben. Wenn ich die Namen auf der langen Listen lese, schmerzen mich noch jetzt all jene, die ich aus was für Gründen auch immer versäumt und verpasst habe. Aber es sind auch «kleine Namen», Namen, die es wert sind, entdeckt zu werden, die allzu leicht von den grossen verdrängt werden. Namen, denen sich das Literaturhaus Thurgau ebenso verpflichtet fühlte und fühlt.

„Es ist ein grosser Tag, wenn man zwanzig wird. Man ist kein Teenie mehr, aber man muss auch noch nicht erwachsen sein. Man ist noch übermütig, aber man weiss doch schon zu schätzen, was vorhergehende Generationen geleistet haben. Die Welt steht einem offen, ist aber grosszügig genug, noch keine allzu hohen Anforderungen an einem zu stellen. 
In diesem Sinn wünsche ich dem Literaturhaus Thurgau, dass es auf immer zwanzig bleiben kann! Möge die Neugierde auf Literatur nie abflachen, weder auf Seiten des Publikums noch auf Seiten der Macherinnen und Macher, und mögen die Förderstellen grosszügig bleiben, ohne einengende Forderungen zu stellen. Die Literatinnen und Literaten werden es zu schätzen wissen – die jungen Übermütigen genauso wie die reifen Erfahrenen. 
Auf die nächsten zwanzig Jugendjahre in diesem gediegenen, ehrwürdigen Haus.“
Tabea Steiner, Schriftstellerin

„Das Literaturhaus Thurgau ist ein magisches Haus an einem magischen Ort. Müsste ich es einer literarischen Strömung zuordnen, zählte ich es zum magischen Realismus. Zum Geburtstag wünsche ich dem Literaturhaus ein langes, frohes Leben!“
Pedro Lenz, Schriftsteller

Aber warum mit einem Mal «Literaturhaus Thurgau»?
Nicht nur weil ein Haus zuweilen einen neuen Anstrich braucht. Auch nicht, weil das kleine feine Literaturhaus am Seerhein mit einer Tradition brechen, sich schon gar nicht von der Stiftung Bodman distanzieren will, die seit 20 Jahren alles daran setzt, dass dieses Haus gedeiht und sich weiter entwickelt.

«Ganz herzliche Grüsse von ganz im Osten nach ganz im Norden. Die Grenzregionen sind ja gern die Orte, an denen es brodelt, wo es kratzt und sich reibt und sich Feuer an der Kollision von scheinbar Unverträglichem entzündet, aus dessen Asche dann die schönste Kunst in ihrer ganzen Jungfräulichkeit und Ungeschütztheit entsteht. Ihr seid ein Ort, an den man immer mit Freuden wiederkehrt, belebt und betreut von herzlichen Menschen, und ich zweifle nicht daran, dass es euch noch weitere zwanzig und vierzig und zweihundert Jahre geben wird. Einen herzlichen Toast auf Bodmans Literaturhaus.»
Tim Krohn, Schriftsteller

Das Literaturhaus Thurgau hat allen Grund, sich mit Selbstbewusstsein in die Reihe der grossen Häuser zu hieven, auch wenn die dörflich, schmucke Kulisse eine ganz andere ist als in Zürich, Basel oder St. Gallen. Dafür aber werden die Gäste nachweislich um ein Vielfaches mehr verzückt, ihre Auftritte für sie unvergesslich.

„So wie das schöne Bodmanhaus ist auch die wertvolle Literatur: Nicht an der grossen Strasse gelegen, sondern eher fern des Rummels, letzten Endes aber doch erreichbar. Sie ist immer da, wo sich Grenzen aufheben und wir, mit der nötigen Musse, dem Näherkommen, was die Welt zusammenhält. 
Ich möchte mich feierlich in die Reihe der Gratulantinnen und Gratulanten stellen und diesem wunderbaren Literaturhaus, seinen Unterstützerinnen und Unterstützern sowie allen seinen treuen Besucherinnen und Besuchern meinen herzlichen Glückwunsch ausdrücken. Möge das Literaturhaus noch viele schöne Jahre seine Stellung als literarisches Leuchtfeuer am Bodensee bewahren!“
 
Dana Grigorcea, Schriftstellerin

Es müsste eine ganze Gegend, der Kanton selbst dieses Selbstbewusstsein entwickeln, diesen Stolz darüber, eine Perle zu besitzen, einen schlicht glänzenden Schatz, einen Ort, an dem Kunst lebendig wird, Literatur seinen Atem holt. Und für dieses Selbstbewusstsein braucht es den Namen «Literaturhaus Thurgau», gekoppelt mit der Hoffnung, dass dieses Haus an Ausstrahlung zunimmt und es nicht mehr passiert, dass durchaus Literaturbegeisterte den Namen dieses Hauses nicht einzuordnen wissen.

«Falls Literatur tatsächlich mit Poesie zu tun hat – Gottlieben i s t ein poetischer Ort. Nicht in erste Linie der Literatur wegen. Sondern von Natur aus. Des Rheins wegen, dieses kleinen Stücks sogenannten Seerheins wegen, das glücklicherweise, neben der Thur, auch noch zum Thurgau gehört. Max Frisch hat zwar nicht dieses Stück Seerhein im Sinn, sondern den Rhein bei Basel, vom Münster aus gesehen, wenn er in seinem kurz nach Kriegsende entstandenen Tagebuch, im März 1946 schreibt: 
„… der Rhein, wie er in silbernem Bogen hinauszieht, die Brücken, die Schlote im Dunst, die beglückende Ahnung von flandrischem Himmel –

Wie klein unser Land ist.
Unsere Sehnsucht nach Welt, unser Verlangen nach grossen und flachen Horizonten, nach Masten und Molen, nach Gras auf den Dünen, nach spiegelnden Grachten, nach Wolken über dem offenen Meer; unser Verlangen nach Wasser, das uns verbindet mit allen Küsten dieser Erde; unser Heimweh nach der Fremde…»
Ein nicht gleiches, aber vergleichbares Heimweh kann man verspüren, wenn man an einem schönen Sommerabend auf der Terrasse des Waaghauses sitzt und über das spiegelnde Stück Seerhein, den glänzenden Untersee hinweg die Erhebungen des Hegaus, das hügelige Land von Baden-Württemberg sieht, von dem man weiss, dass es nicht sehr weit entfernt, aber doch jedenfalls nicht mehr in der Schweiz liegt. In einem Jenseits, das im Sonnenuntergangslicht sich verbündet mit einem Verlangen in uns, das vielleicht Frischs „Heimweh nach der Fremde“ entspricht. Wobei wir nicht an fremde Länder dabei denken, sondern ein ganz und gar unpolitisches – eben poetisches Verlangen in uns erwacht nach jener schönen Fremde, jener Anderswelt, Gegenwelt, die auch die Literatur verkörpert. Ohne die wir – auch in Zeiten von Corona – nicht leben wollen, sollen und können. 
Aus diesem Grund ist das nun seit zwanzig Jahren bestehende Literaturhaus in Gottlieben vielleicht das poetischste der Schweiz. Ich danke dem alten Bodmanhaus für manche schöne Einladung und dem neuen Literaturhaus Thurgau wünsche ich viel – poetisches – Glück!»

Elisabeth Binder, Schriftstellerin und Verlegerin

Nebst vielen Zentren für bildende Kunst, Museen, Theatern, Kinos und einem Mekka für den modernen Tanz, spielen im Kanton Thurgau zwei Zentren der Literatur; die Kantonsbibliothek in Frauenfeld und das Literaturhaus Thurgau. Schon allein die Tatsache, dass das eine in der Hauptstadt wirkt und das andere, auf dem Land, an der Peripherie, dort wo sich der Kanton seinem Nachbarland hin öffnet, ist perfekte Synchronisation; Kantonsbibliothek Thurgau und Literaturhaus Thurgau. Wenn daraus eine noch intensivere Partnerschaft erwächst, ist das nur wünschenswert.

„Im ersten Moment erinnere ich mich an das Bett, auf dem ich etwas von Blanchot lese, draussen eiskalter Winter 2015, ich schreibe bei Goethe ab: «Es wird immer kälter, man mag gar nicht von dem Ofen weg», laufe durch das Dorf am frühen Abend. Dann fallen mir die Hunde im Erdgeschoss ein, riesige, zuverlässige Wächter, das Fahrrad, das ich einem Lehrling abkaufe, um damit nach Konstanz zu fahren, zu meiner Linken der stille, glänzende See. Schliesslich Emanuel von Bodmans unheimliche Kammer, überhaupt die Räume und Flure, nächtliche Lichter, wie von Geisterhand angezündet. Viel Glück zum Geburtstag, liebes Bodmanhaus!“
Dorothee Elmiger, Schriftstellerin

So feiert die Bodman-Stiftung am 20. Juni, ganz bescheiden aber mit berechtigtem Stolz. Was im Haus am Dorfplatz in Gottlieben alles passierte, wer dort in diesen zwei Jahrzehnten auftrat, das darf sich mehr als sehen lassen. Das Bodman-Haus, das nach dem Dichter Freiherr Emanuel von Bodman (1874–1946) benannt ist, lebt mehr den je. Der Dichter lebte von 1920 bis zu seinem Tod in diesem Haus. Auf Initiative der 1996 gegründeten thurgauischen Bodman-Stiftung wurde es fachgerecht restauriert und als Haus des Buches und der Literatur wieder mit Leben gefüllt.

„…In Zürich wie auch in Gottlieben durfte ich immer wieder mit Veranstaltungen – zweimal sogar mit Theaterstücken! –  zu Gast sein, und gegenüber den zwei anderen Häusern, die auf lange Zeit hinaus von den gleichen Personen geleitet wurden, fand ich es in Gottlieben schon deshalb spannend, weil immer wieder andere Persönlichkeiten die Leitung übernehmen und dem Programm wieder eine neue Richtung geben. So erinnere ich mich mit Dankbarkeit an das Wirken von Hans Rudolf Frey, aber auch an jenes von Stephan Keller, und auch bei Marianne Sax, die dank ihrem Background als Buchhändlerin und ihrer Tätigkeit als Jurorin in Deutschland eine ganze Reihe Korophäen an den Bodensee locken konnte, durfte ich ab und zu mitmachen. Nun freue ich mich sehr auf das Wirken des Amriswiler Literaturvermittlers Gallus Frei Tomic, von dem ich u.a. in «Saiten» immer wieder Spannendes gelesen habe. Es ist wunderbar, dass der Kanton Thurgau an diesem schönen Ort am Bodensee ein Literaturhaus besitzt, um das ihn viele grössere Orte in der Schweiz beneiden und dem eine erfolgreiche Zukunft mit immer wieder neuen inspirierten Leitungspersönlichkeiten und einem begeisterungsfähigen Publikum zu wünschen ist.“
Charles Linsmayer, Autor und Literaturvermittler

Heute ist das Bodman-Haus wieder eine Stätte der Kultur, der Begegnung und des Austauschs, was es bereits zu Lebzeiten Bodmans war, als es in Gottlieben eine Künstlerkolonie gab. Das Bodman-Haus beherbergt Stipendiaten, bemüht sich um ein hochkarätiges literarisches Programm und bereichert im Erdgeschoss mit einer Handbuchbinderei, in der sich Sandra Merten weit über Buchdeckel hinaus um das Kulturgut bemüht.

„Das Bodmanhaus fällt mir immer wieder durch sein abwechslungsreiches und interessantes Programm auf. Ohne gutes Knowhow und viel Herzblut wäre das nicht möglich. Immer wieder staue ich darüber, wen die engagierten LeiterInnen und Programmverantwortlichen alles ins kleine Gottlieben locken. Dass diese Begegnungen schon seit 20 Jahren gelingen, ist in der Tat ein Grund zum Feiern. Ich gratuliere herzlich und wünsche dem zukünftigen Literaturhaus Thurgau weiterhin viel Erfolg!“
Katrin Eckert, Leiterin Literaturhaus Basel, das im April 20 Jahre alt geworden ist

Ich gratuliere dem Stiftungsrat, all den treuen Besucherinnen und Besuchern, den Geldgebern und den bisherigen Programmmachern. Ganz besonders bedanke ich mich bei der Stiftungssekretärin Brigitte Conrad, die sich mit Ruhe, Umsicht und grösstem Engagement seit Jahr und Tag um Literatur, Haus und Gäste bemüht. Eine Kraft, die unschätzbare Arbeit leistet!

«Landschaften wie die, in der sich das Bodmanhaus befindet, hat man früher ‹gesegnete› genannt, weil das Zusammenwirken der Naturgegebenheiten und der 2000jährigen Kultivierung der Natur etwas hat entstehen lassen, das man nur als Schönheit bezeichnen kann. Und deshalb ist mir, wenn ich dort zu Gast war, auch immer eine wichtige und oft vergessene Aufgabe der Literatur wieder bewußt geworden: die Schaffung von Schönheit in und mittels der Sprache. Denn auch Schönheit kreieren zu wollen, ist eine Gesinnung, und vielleicht von allen Gesinnungen, die dem Schriftsteller abverlangt werden, nicht die Unwichtigste.»
Michael Kleeberg, Schriftsteller

Anfang Juli wird das neue Programm von August bis Oktober 2020 bekannt gegeben!

Literaturhaus Thurgau

Handbuchbinderei Merten

„Ich wünsche dem schönen Bodman-Haus in Gottlieben ein stetes weiteres Aufblühen, Wachsen, Erstarken und Ausstrahlen – immer mit dem Wissen darum, dass das Wachsen an sich für ein Kulturhaus immer auch viele Aspekte des Erfolgs mit sich bringt, die wenig mit Kunst zu tun haben und mit dieser auch in Konflikt kommen können. Wachstum, mehr Aktivitäten von Jahr zu Jahr, dieser Dynamik entgeht beinahe kein Kulturort und kein Literaturhaus – umso mehr braucht es heutzutage die Reflexion darüber, was Kulturförderung, was Literaturförderung soll und warum und für wen. Den Hausverantwortlichen, den Programmverantwortlichen wünsche ich deshalb viel Weisheit, Einsicht und Weitsicht bei ihren Entscheidungen, viel Mut zur Eigenständigkeit und Gelassenheit angesichts der Erwartungen von Geldgebern, politischen Entscheidungsträgern, Partnern, Autor/innen und Publikum – und viele Portionen Extrahumor und überbordenden Enthusiasmus. Die Schriftstellerinnen und Schriftsteller, die Literaturbegeisterten, die wiederkehrenden Besucherinnen und Besucher, die treuen Seelen werden es euch danken. Letztlich sind es nicht die Zahlen, weder die der Besucher noch die der Einnahmen oder die einer Veranstaltungsstatistik, um die sich alles drehen sollte, sondern diese Sternschnuppenmomente in einem Gespräch über einen Text, eine unerwartete, erhellende Perspektive, der Widerhall von Worten, Ideen, Sprachklängen an den Wänden eines Ortes, dieses tiefe Leuchten in den Augen.“
Bettina Spoerri, Schriftstellerin und Leiterin Aargauer Literaturhaus Lenzburg

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag

„Yeki Bud. Yeki Nabud“, (Es gab jemanden, es gab niemanden.) damit beginnen persische Märchen. Ein Hakawati ist ein Geschichtenerzähler, der mit seiner Schauspielerei das Erzählte unterstreicht, nichts anderes als der Autor selbst, Pierre Jarawan, der einst deutscher Meister im Poetry Slam war und nun, nach seinem 2016 erschienen Debütroman „Am Ende bleiben die Zedern“ mit „Ein Lied für die Vermissten“ erneut einen atmosphärisch starken Roman vorlegt.

„Ein Lied für die Vermissten“ ist ein Familienroman, ein Roman über Freundschaft, die zerstörerische Kraft des Schweigens und die „verlorene Generation“ eines Bürgerkriegs der während 15 Jahren (1975 – 1990) fast 100 000 Tote, 20 000 Vemisste und unzählige Vertriebene forderte. Ein Krieg, der aus dem Paris des Nahen Ostens, der Orchidee des Mittelmeers ein Trümmerfeld machte. Im Libanon, einem Land, aufgerieben in der Geschichte der letzten 70 Jahre, im Dauerkriegszustand mit Israel, zerfleischt von Milizen, annektiert von der syrischen Diktatur, erschüttert von abertausend Bomben. 

„Unser Land ist ein Haus mit vielen Zimmern. In einigen Räumen wohnen die, die sich an nichts erinnern wollen. In anderen hausen die, die nicht vergessen können. Und oben wohnen immer die Mörder.“

Ob der Bürgerkrieg in Libanon oder die Kriege nach dem Zusammenbruch Jugoslawiens – für mich waren es „Sofakriege“, denen man sich während der Nachrichten oder beim Lesen der Zeitungen aussetzte, die durchaus Betroffenheit auslösten, aber zumindest für mich im Hintergrund blieben. Eine Tatsache, für die ich mich heute bis zu einem gewissen Grad schäme, denn diese Kriege klopften immer wieder unüberhörbar an meine Tür, sei es durch das Schicksal von Flüchtlingen, die ich kennenlernte oder eben durch die Literatur.

„Erinnerungen waren Pforten, hinter denen sich ganze Reiche auftaten, die ich noch zu entdecken hatte.“

Pierre Jarawan «Ein Lied für die Vermissten», Berlin Verlag, 2020, 464 Seiten, 32.90 CHF, ISBN 978-3-8270-1365-1

Pierre Jawaran erfindet Amin und erfindet ihn nicht. Einen Jungen, der zusammen mit seiner Grossmutter nach dem Tod von Amins Eltern nach Deutschland flieht. 12 Jahre später findet die Grossmutter den Mut, wieder zurück ins Land ihrer Familie, in ihre Heimat zu reisen, um einen Neuanfang zu wagen. Einen Neuanfang als Familie, als Unternehmerin, als Malerin. Amin lernt in seiner neuen Umgebung Jafar kennen, einen Mitschüler aus seiner Klasse, den einzigen, der sich für ihn zu interessieren scheint. Jafar ist anders. Nicht nur weil er als kleiner Junge ein Auge verlor, sondern weil er in seinem Wesen wild und nur schwer fassbar ist, weil er mit Amin durch die Ruinen der Stadt zieht, weil er wie ein Hakawati Geschichten erzählen kann, so gut, dass sich damit sogar Geld verdienen lässt, wenn auch nicht immer zum Vorteil aller.

„Das Schweigen ist tiefer als die Stille. Weil Stille nie wirklich alles verschluckt.“

Amin wächst behütet bei seiner Grossmutter auf, einer Frau, die in der Altstadt Beiruts ein Café eröffnet und Bilder von sich an die Wand hängt. Bilder, die kryptisch von den Schrecken des Bürgerkrieges erzählen, so wie das einzige Bild von Amins Mutter, die als junge Frau als Studentin nach Paris kam, eifrig zu malen und zu lieben begann und schwanger und mit dem Bild „Ein Lied für die Vermissten“ nach Hause kam. Die Grossmutter, die die Wahrheit in Bilder und Geschichten verpackt, verpackt die Wahrheit auch für ihren Enkel. Die Wahrheit um Amins Eltern, um Amins Grossvater, ihren Mann, so wie sich in dem Land zwischen den Fronten alles hinter dem Schweigen zu verbergen scheint.

„Schon ein Sandkorn genügt, um eine grosse Geschichte daraus zu machen.“

Amin lernt, dass nichts von Dauer ist, weder die Liebe noch die Freundschaft, weder der Moment grösstmöglicher Nähe noch das Gefühl von abgrundtiefer Verlassenheit, weder Sicherheit noch Geborgenheit. Er begibt sich auf die Suche, die Suche nach seiner Wahrheit, seiner Geschichte, den verlorenen Momenten, die das Glück versprachen. Pierre Jawarans Schreiben widerspiegelt genau dieses Suchen. Sei es die Suche nach Gerüchen, Augenblicken, Erinnerungen, sei es jene nach dem, was Herkunft ebenso ausmacht wie Zukunft. Pierre Jarawan beschränkt sich aber nicht nur auf die Suchreise eines jungen Mannes. Sein Roman ist die Geschichte eines Landes, eines Sehnsuchtsorts, eine Kampfschrift gegen das Vergessen, Verschweigen und Verdrängen.

© Pierre Jarawan

Interview mit Pierre Jarawan

Irgendwo im ersten Teil Ihres neuen Romans heisst es „Das alte Schiff Beirut. Das Prinzip, das es über Wasser hält, heisst Verdrängung.“ Gilt dieses Prinzip nicht für jedes Schiff, wenn es nicht in den Stürmen untergehen will? Würde dieses Prinzip nicht für jedes Land, jede Stadt, jeden Menschen gelten, müssten wir nicht längst das Steuer herumreissen, was wir auch nach einer Pandemie nicht tun werden?

Ganz sicher ist Verdrängung immer der erste Schritt, bevor es überhaupt eine Form der Aufarbeitung gibt oder geben kann. Verdrängung ist nicht per se negativ, sie kann auch heilsam sein. Und ganz sicher gilt das für alle Länder und Gesellschaftsformen, in denen es Konflikte gab, die eine bestehende Ordnung aufgelöst haben. Ein Schiff kann sich das Prinzip der Verdrängung nicht aussuchen, es ist ein physikalisches Gesetz, so wie sie in Gesellschaften sicher etwas Normales ist, das erstmal passiert. Allerdings darf man Verdrängung und das aktive Verhindern von Aufarbeitung nicht gleichsetzen. Die Figur, die den Satz äussert, bezieht beide Seiten mit ein. Beirut funktioniert, weil verdrängt wird, im Stadtbild, in der Gesellschaft – aber die Frage der Vermissten bspw. wird nicht nur verdrängt, sie wird in ihrer Aufarbeitung mit politischen Mitteln verhindert. 

Wir sollten hier auch nicht zwei unterschiedliche Ebenen vermengen, indem wir die Auswirkungen einer Pandemie mit denen eines Bürgerkriegs vergleichen, zumal wir im ersten Fall diese Auswirkungen noch nicht kennen.

© Pierre Jarawan

Sie selbst sind ein Hakawati, ein Geschichtenerzähler. Aber sie wollen nicht bloss ver- und bezaubern. Sie transportieren. Was steht auf ihrer Fahne ganz oben auf ihrem Mast?

Auch die echten Hakawati, die traditionellen Geschichtenerzähler, wollten nie nur verzaubern oder unterhalten. Ihre Geschichten beinhalteten immer auch eine Art Moral und Aussage über die Gesellschaft. Es ist in meinem Fall nicht so, dass ich programmatisch schreibe, also mit wehender Fahne an den Schreibtisch trete, um eine bestimmte Botschaft loszuwerden. Wenn jemand meine Romane liest, und sie einfach nur spannend findet, und sich gut unterhalten fühlt, dann ist das für mich vollkommen in Ordnung. Im Fall von „Ein Lied für die Vermissten“ war es mir allerdings tatsächlich ein Anliegen, das Thema durch das Erzählen vor dem Verschwinden zu bewahren, denn genau dieses Verschwindenlassen durch Schweigen passiert – der Roman versucht, dem etwas entgegenzusetzen.

© Pierre Jarawan

„Ein Lied für die Vermissten“ erzählt von Beziehungen, Freundschaften, von der Liebe. Sei es die tiefe und gleichsam verletzliche Beziehung Amins zu seiner Grossmutter, die Freundschaft zu Jafar, oder die Liebe zu Zarah oder Soraya. Die Nähe scheint immer flüchtig, instabil. So wie der Frieden im Nahen Osten. Ist jeder/jede letztlich schmerzvoll auf sich selbst zurückgeworfen?

Das ist schwer zu verallgemeinern. Denn in den Gesellschaften des Nahen Ostens spielt das Individuum gar keine so grosse Rolle. Es geht fast immer um eine Gemeinschaft, sei es die Familie, oder eine Art Glaubensgemeinschaft, und dieses Auf-sich-selbst-zurückgeworfen-sein ist vielleicht eher ein Abgrenzen, das man gegenüber anderen vollzieht. Aber es stimmt schon, Amin erkennt am Ende des Romans, dass sich sein Leben – wie die Region – in einem immer wiederkehrenden Kreislauf abzuspielen scheint, aus Verlust und Wiederfinden, aus Rätselhaftigkeit und Erkenntnis, und so wieder von vorn …

© Pierre Jarawan

Amins Mutter malte. Ihr Mutter, Amis Grossmutter, bei der er aufwuchs genauso. Sie malen auch, wenn nicht mit Pinsel, dann sicher mit Sprache. Findet da manchmal ein Kampf statt zwischen dem Sprachmaler und dem der Historie verpflichteten Erzähler?

Ich empfinde es nicht so. Die Historie ist die Grundlage, die diese Geschichten ermöglicht. Sie wirbelt die Figuren durcheinander, zwingt sie zu unterschiedlichen Handlungen, aber sie bleibt im Hintergrund. Sie ist immer nur das auslösende Ereignis, das etwas in Gang setzt, mit dem die Figuren sich auseinandersetzen müssen. Insofern betrachte ich Historie eher als etwas sehr Fruchtbares für mein Schreiben. Als eine Art Katalysator oder – um in Ihrem Bild zu bleiben – als Leinwand oder Grundierung, auf das dann die Sprache gemalt werden kann.

© Pierre Jarawan

Bleibt der Arabische Frühling ein Frühling, dessen Blühten verdorren oder erfrieren? Wie sehr blutet das libanesische Herz? Ist das der Grund, warum sich ihr Schrieben in ihren ersten zwei Romanen ganz um die Geschichte des Libanons dreht? 

Das ist leider unmöglich pauschal zu beantworten, weil die Revolutionen in den Arabischen Ländern unterschiedliche Ausgangspunkte, Voraussetzungen und Verläufe hatten. Ich habe mich immer an dem Begriff gestört, schon 2011, weil er einerseits zu romantisch ist, angesichts der zahlreichen Menschen, die beim Kampf um grundlegende Menschenrechte ihre Leben verloren haben, andererseits, weil er eine zeitliche Begrenzung suggeriert, die schon damals irreführend war. 

Ich habe den Arabischen Frühling als Endpunkt für den Roman gewählt, weil ich mit diesem Moment der Hoffnung aufhören wollte, der damals zweifellos bestand, und nur aus heutiger Perspektive sind wir in der Lage, diese Hoffnung als tragisches Missverständnis zu entlarven. Und im Bezug auf den Libanon bedeutet 2011 eine Umkehrung von etwas Grundlegendem. Nachdem jahrzehntelang Libanesen in das sichere Syrien fliehen mussten, kehrt sich das plötzlich um, eine alte Ordnung wird in ihr Gegenteil verkehrt.

Es ist nicht so, dass mein libanesisches Herz blutet, auch wenn ich natürlich eine Enttäuschung angesichts unterschiedlicher Punkte verspüre – die Perspektivlosigkeit für die Jugend, der Unwille, die Vergangenheit aufzuarbeiten, aber ich würde nicht sagen, dass das der Grund ist, weshalb die Historie in beiden Romanen eine grosse Rolle spielt – und ich würde sogar widersprechen darin, dass sie sich „ganz um die Geschichte des Libanons drehen“ – da beide Bücher sich für mich um andere Fragen viel zentraler drehen, nämlich um die Leerstellen, die dort entstehen, wo es eben kein Sprechen über Geschichte gibt. Wie oben gesagt: Für mich ist die Historie eher ein Katalysator, um etwas Kleineres im Grösseren zu erzählen, und das Miterzählen von Geschichte erlaubt es, den Lesern Zusammenhänge vor Augen zu führen, die dieses Kleine erklärbar machen.

© Marvin Ruppert

Pierre Jarawan wurde 1985 als Sohn eines libanesischen Vaters und einer deutschen Mutter in Amman, Jordanien, geboren, nachdem seine Eltern den Libanon wegen des Bürgerkriegs verlassen hatten. Im Alter von drei Jahren kam er nach Deutschland. 2012 wurde er internationaler deutschsprachiger Meister im Poetry Slam. 2013 nahm er an der Weltmeisterschaft in Paris teil. Sein Romandebüt «Am Ende bleiben die Zedern» erschien 2016. Der Roman wurde als bestes deutschsprachiges Debüt beim Festival du Premier Roman in Chambéry vorgestellt. Pierre Jarawan lebt in München.

Webseite des Autors

in memoriam: Jürgen Ploog «Fake Fiktion»

Es gab angenehme Dilettanten & solche, die einem gewaltig auf die Nerven gehen konnten. Das waren die, die zu viel darüber nachdachten, was sie machten. Ein echter Amateur überlegt nicht lang, er macht einfach. Es ist wie mit Schönheitsoperationen: Die meisten gehen daneben, obwohl sie mit großem Aufwand betrieben werden. (Der auch mit den Schmerzen danach kaum zu rechtfertigen ist.) Ein echtes Spiegelbild ist eben nicht über Nacht hinzukriegen.
Ich war in der Altstadt von Maskat, Oman, unterwegs. Mein Hemd war durchgeschwitzt, ich hatte den Geschmack von Khat im Mund & machte in der drückenden Hitze bei jeder Gelegenheit halt, um einen Mokka zu trinken. Dabei gingen mir Passagen aus einem Filmskript durch den Kopf, mit dem ich mich seit einiger Zeit herumgeschlagen hatte. Der erste Entwurf stammte nicht von mir. Ein Filmer, den ich kaum kannte, wollte, dass ich es durchsehe, um dem Wirrwarr der Szenen eine „Struktur“ zu geben, wie er sagte. Mir kamen sofort starke Zweifel, ob ich der richtige Mann dafür war. Ich hatte etwas gegen Filmer, die einfach nur eine Story herunterkurbeln wollen & den Schnitt dazu nutzen, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn sie mit der Story nicht mehr weiterkommen.
Wer filmisch etwas umsetzen will, muss mit dem Zeitablauf umgehen wie einer, der Karten legt.
Wieso Oman? Es ging um einen schwedischen DJ, der dort verschwunden war. Freunde von ihm wollten, dass ich mich vor Ort unauffällig umsehe. Wie oft steckte wahrscheinlich mehr dahinter, aber das, was sie mir anvertrauten, reichte, um mich ins Flugzeug zu setzen & mich getarnt als Tourist ins Gedränge in den Gassen der Altstadt zu stürzen.
Nachts fiel das Mondlicht auf die bleichen Mauern der Stadt wie auf eine Theaterkulisse. Es war ein Bild, das ohne Wirkung auf mich blieb, aber für die Eingangsszene eines Films taugte es. Um dem exotischen Effekt entgegenzuwirken, stellte ich mir vor, es zerspringen & die Splitter über die Leinwand taumeln zu lassen…
Als der Kaffee nicht mehr wirkte, griff ich zu Ritalin, das damals im Mittleren Osten rezeptfrei zu haben war. Ich konnte mir nicht leisten, mich von den Reizen der fremden Umgebung ablenken zu lassen.
Erste Erkundungen brachten mich nicht weiter. Meine Fragen wurden freundlich, aber mit einem Achselzucken abgewiesen. Ich musste mich irren, hieß es, wenn ich versuchte, Genaueres herauszufinden. Auch ein Foto des vermissten DJ half nicht weiter.
Einmal wachte ich in der Dunkelheit des Hotelzimmers auf & sah Sterne wie Schneeflocken durch die Nacht flattern. Am Rand eines Platzes standen ein paar gebogene Palmstämme vor einem Streifen Silberschimmer, wo ich das Meer vermutete. Als ich kurz die Rippen der Jalousie auseinanderbog, fuhr ein schnittiges Cabrio eine leere Straße entlang. Auf dem Beifahrersitz saß eine schlanke Frau mit dem Körper einer Schaufensterpuppe. Hinter dem Lenkrad konnte ich niemand entdecken. Der Blick auf die Straße hatte mir die Vision eines selbstfahrenden Wagens beschert…

Lust & das sie begleitende Skript. Ich blätterte in den Seiten auf der Suche nach einer erotischen Stelle, wie ich sie in alten französischen Schwarzweiß-Pornos in Bangkok gesehen hatte. Stummfilme, die hauptsächlich von der Kraft der Bilder lebten. Wenn eine Frau die Lippen bewegte, konnte sie Bon soir sagen, aber auch eine ermunternde Bemerkung von sich geben. Die Szenen spielten meist an halböffentlichen Orten. Im Taxi, in einem Separee, in einem Gitterlift… Sex braucht geschlossene Räume. Verführerische Episoden dagegen können sich an jedem beliebigen Ort ereignen.
In einer Bar spiegelten sich Lust & Verlangen bei Gegenlicht im Gesicht einer Frau… das Kleid hing an ihr wie eine im Wind flatternde Flagge… im Mondlicht trieben Schatten über ein wie ein Orientteppich gemustertes Mohnfeld am Rand einer levantinischen Stadt… ein türkischer Soldat beobachtete die Szene mit einer entsicherten Walther in der Hand…
Sex im Film läuft heute anders. Die Frau schwingt sich auf den Mann, der ihre abrupten Bewegungen kaum ertragen kann. Wenn er Glück hat, gerät er nicht an eine wie Xenia aus dem Bond-Film GoldenEye, die ihre Lover beim Cunnilingus mit den Schenkeln erwürgt. Was mit etwas Übung jede Frau hinbekommt… von der Lust bis zum Machtspiel, das Sex zur Todesfalle macht, ist nur ein kleiner Schritt.

Nach einem Whisky zu viel sagte sie (die flüchtige Bekanntschaft aus einer Bar): „Deine Hände zittern ja.“
Sie lehnte mit einem Handtuch um die Hüften an der Kachelwand eines türkischen Bads & tauschte heimlich die Chips mit den Daten aus, die ich einem Kontaktmann in Istanbul übergeben sollte. Mit der Gelenkigkeit einer Akrobatin hatte sie mich kampfunfähig gemacht & dann ihre Aktion durchgezogen.
Beim Showdown auf dem Dach des Hotels stellte sich heraus, dass sie bei mir an den Falschen geraten war, was daran lag, dass sie das verabredete Zeichen ihres Komplizen übersehen hatte, auf das sie wartete, um ihr den genauen Zeitpunkt zu verraten, wann die Wirkung des Betäubungsmittels bei mir einsetzte.
Stümper auf beiden Seiten, wie man in der Branche sagt…
Manchmal bleibt eben nur die Taktik, die weibliche Version des Skripts außer Acht zu lassen. Gewöhnlich stiftet das genug Verwirrung, um einen Coup durchzuziehen. Die meisten Akteusen können nicht vertragen, wenn man vom Skript abweicht & plötzlich als ein Anderer auftritt. Sie haben schließlich Jahrzehnte damit verbracht, ihre Rolle einzustudieren.
Xenia mit einem Handtuch um die Hüften suchte verzweifelt den Panikknopf… sie erkannte gerade noch durch die Kuppel des türkischen Bads, dass die Killer des Syndikats im Anrücken waren, bevor die Wirkung des Skopolamins einsetzte & ihre Synapsen versagten. Sie sackte auf eine Pritsche & zappelte mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer.
Weder hier noch in einem anderen Land kannst du irgendjemand vertrauen, & was dich betrifft, Tourist, dein Gegenüber hat sich längst aus dem Staub gemacht & nur seine Epidermis zurückgelassen…

Ein Hauch Erox (ein Parfüm aus menschlichen Pheromonen) strömte durchs Gedränge in den Gassen der Altstadt. Ich musste mein Verlangen zügeln, noch einen Kaffee zu trinken. Seiten des Filmskripts waren mit braunen Flecken überzogen & manche Passagen nicht mehr zu lesen.
Wie Stalaktiten fiel Mondlicht auf brüchiges Gemäuer. Ich weiß nicht, aber es kam mir vor, als schaute ich vom Balkon meines Zimmers auf eine weibliche Stadt. Möglich, dass mich die bleichen Mauern an den Teint einer blonden Frau erinnerten, die mit nackten Schultern in einem Cabrio saß, dessen Sitze im Schatten einer Zypresse wie mit Moos überzogen wirkten. Das hatte wohl mit der Art von Erotik zu tun, die durch manche Passagen des Skripts wehte. Von allen Szenen, die als „intim“ markiert waren, wurden heimlich Fotos gemacht, die anschließend unter Sammlern von Hand zu Hand gingen.

Eddie, der sich meist als Agent ausgab, schwang sich nach einem One-Night-Stand mit einer Informatikerin auf die Feuerleiter & verschwand übers Dach. Er hatte versucht, einen Chip mitgehen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob er den richtigen erwischt hatte. Erst anschließend wurde ihm klar, dass ihm die Informatikerin was vorgemacht & nie ihren elektronischen Keuschheitsgürtel abgelegt hatte. Um sicherzugehen, hatte sie sich nicht nur auf die Elektronik verlassen & ihm einen Drink mit Skopolamin verpasst. Das Ergebnis war, dass er erst gegen Morgen in einem Eck neben der Rezeption wieder aufwachte.
Das war nicht Eddies erste unterirdische Nacht. Er hatte schon öfter Bodenberührung gehabt, wenn er an eine gewiefte Gegenspielerin geraten war. Einmal war er mitten in einer Nummer in Panik geraten & getürmt, ohne sich um die an ein Messingbett gefesselte Replikantin zu kümmern, die den Lockvogel gespielt hatte. Sie war gerade dabei, seinen Schwanz auf ihrer Zunge zu balancieren, als die Flammen eines infernalischen Sonnenuntergangs wie ein Buschfeuer durchs Zimmer schwappten & Eddie die Luft abschnürten. Kurz vor einem Erstickungsanfall schwebte er in einem Funkenschwall sprudelnder Lava davon…

Sternschnuppen zerrissen die Nacht. Irrlichter erleuchteten blitzlichthaft die Landschaft. Man konnte hören, wie die Geister der Finsternis aus ihren unterirdischen Revieren auszubrechen versuchten. Es hörte sich an wie das Scharren von Pferdehufen. Lautlose Flügelschläge ließen die Luft erzittern. Als der Strom ausfiel, verflüssigten sich die Farben der letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Dschungelhotel, in dem Eddie festsaß, war es drückend heiß.
Immer wieder kam es nach unerklärlichen Kurzschlüssen zu Stromausfällen & er musste sich an den tapezierten Wänden der Gänge entlangtasten, an denen präparierte Tiere wie Fledermäuse, Spinnen mit Fangarmen, Echsen mit fluoreszierenden Häuten & getrocknete Amphibien hingen. Sie sahen aus wie Trophäen von Jägern auf der Suche nach ausgestorbenen Spezies & unbekannten Giften.
Im Schein einer Öl-Funzel erkannte er Lorita, die sich ihm, nur mit einem Patronengürtel & Rucksack bekleidet, in den Weg stellte.
„Wo willst du hin? Ich bin marschbereit“, verkündete sie. Ihr Atem streifte ihn wie der Flügelschlag eines Falters.
Er folgte den Glanzlichtern auf ihrer Haut ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, & in der dampfigen Dunkelheit war sein T-Shirt nach wenigen Schritten durchgeschwitzt. Sie bahnten sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Schlingpflanzen & Luftwurzeln, die von unsichtbaren Ästen herunterhingen. Manchmal leuchtete kurz der Silberstreifen eines Rinnsals auf. Hin & wieder schimmerten Blüten wie bunte Leuchtzeichen im undurchdringlichen Gebüsch. In der feuchten Hitze kam er kaum zu Atem. Einmal blieb Lorita unerwartet stehen, & er prallte gegen ihre schweißüberzogenen Brüste.
„Ayahuasca… schon mal davon gehört?“, hauchte sie.
Ein Stück weiter endete der Pfad am Eingang einer kleinen Höhle. Eddie wusste nur, dass Ayahuasca aus Lianen gewonnen & von Einheimischen eingenommen wurde, um sich in Trancezustände zu versetzen. Er vermutete, dass sich Lorita Blätter der Pflanze besorgen wollte. Aber sie schien sich in keiner Weise für Gewächse der Gegend zu interessieren.
Die Höhle ging in einen Durchgang über, der dem Flur eines primitiven Krankenhauses glich. Eddie spürte einen leichten Schwindel, den er auf die bedrückende, leicht modrig angehauchte Luft im Gang zurückführte. Er stolperte über einen Kübel, & an den Wänden standen ungewöhnlich kleine Baststühle. Halb verdeckt von verdorrten Kletterpflanzen entdeckte er einen Spiegel & erkannte sein seltsam verzerrtes Gesicht. Durch Ritzen in der Decke drang trübes Licht.
Dann fiel sein Blick auf Lorita. Ihre Schritte waren in die geschmeidigen Bewegungen einer Tempeltänzerin übergegangen, die sich auf ihren Patronengürtel übertrugen, der ihre Hüften umschlang.
Plötzlich öffnete ein als Schamane verkleideter Arzt die Tür eines Raums, der wie ein Wartezimmer eingerichtet war.
„Doktor von Meier… welche Überraschung“, sagte Lorita.
„Du weißt ja… die Arbeit. Hast du einen Patienten mitgebracht?“
„Nicht ganz. Eddie & ich haben beschlossen, eine Reise zu unternehmen.“
Sie setzten sich & ein Indiojunge brachte Mate-Tee in Schädeltassen. Der Doktor, fiel Eddie auf, trank aus einem Kristallschädel.
Einmal, als der Doktor kurz verschwand, beugte sich Eddie zu Lorita hinüber & fragte, was hier lief. Ein Dschungelcamp oder eine Art Kokainlabor?
Ehe sie antworten konnte, kam der Doktor zurück. Er war ein stämmiger Mann um die 50, dessen leicht vergilbte Haut verriet, dass er lange in den Tropen gelebt hatte.
„Sie fragen sich sicher, was wir hier mitten im Urwald treiben. Schon mal von der Amazonas Gesellschaft gehört? Nun, sie hat vor einiger Zeit die Anlage übernommen, in der wir uns befinden… hat Ihnen das Lorita nicht verraten? Das Gebäude diente ursprünglich als Drogenlabor. Als das zu riskant wurde – genauere Einzelheiten kenne ich nicht – entstand eine Klinik für plastische Chirurgie. Für Leute verstehen Sie, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Berühmte Leute… Leute mit Geld, die sich davor scheuen, dass es zu einem Vorher-Nachher-Vergleich kommt. Die Boulevardpresse, verstehen Sie? Berühmte brasilianische Ärzte steckten dahinter… Sie können sich denken, dass sich die Eingriffe nicht aufs Gesicht beschränkten… manchen ist der Intimbereich wichtiger als die Physiognomie. Mit der Zeit kamen Geschlechtsanpassungen dazu. In der Chirurgie ist mittlerweile nichts unmöglich, folgen Sie mir?“
Lorita schien der Vortrag zu langweilen. „Ich weiß nicht, ob sich Eddie dafür interessiert“, warf sie ein.
„Ich schätze ihn als Mann ein, der erfahren will, was in der Welt geschieht“, fuhr von Meier fort. „Unsere Kundschaft besteht hauptsächlich aus Männern, die sich als Frauen fühlen. Zumindest wollen sie keine Männer mehr sein… ihr Leben als Mann kommt ihnen abwegig vor, sie wollen ihre Männlichkeit ablegen. Die meisten leben nach wie vor heterosexuell, & wenn sie Kinder haben, dann nur, damit sie in die Mutterrolle schlüpfen können. Andere gehen einen Schritt weiter & wollen eine sogenannte Neovagina. Kein besonders komplizierter Eingriff, muss ich sagen. Die Folge ist zwar Unfruchtbarkeit, aber der fehlende Nachwuchs in den… sagen wir entwickelten Ländern… wird reichlich durch die demografische Entwicklung in den Schwellenländern ausgeglichen.“
Eddies Gedanken waren abgedriftet. Der Tee, die Hitze & die Rede des Doktors hatten ihn benommen gemacht.
„Hören Sie mir überhaupt zu, junger Mann?“, hörte er die Stimme des Arztes. „Spüren Sie nicht auch gelegentlich die Neigung, ihre Männerrolle abzulegen & sich aufs Gendersurfing einzulassen?“
„Kann ich nicht sagen. Ich hab noch nie das Verlangen gespürt, mit meinen Gefühlen Roulette zu spielen.“
„Aber es geht nicht um Gefühle, junger Mann. Wir haben es hier mit ernsthaften Identitätsproblemen zu tun.“
Der Doktor drückte auf einen Knopf & eine Schiebetür öffnete sich. Der Raum dahinter war eingerichtet wie ein Sprechzimmer. Ohne sich weiter um Eddie zu kümmern, setzte sich von Meier an einen Bürotisch, auf dem Geldscheine & ein Plastikhandschuh lagen. Daneben bemerkte Eddie einen mit toten Faltern gefüllten Aschenbecher.
„Ich könnte Sie einem kleinen Gentest unterziehen, wenn Sie wollen“, meinte von Meier. Er sagte es, während er in einer Schriftmappe blätterte.
Plötzlich fiel Eddie auf, dass Lorita verschwunden war. Er spürte keine Lust, sich länger in dieser angeblichen Klinik aufzuhalten, in die er nur wegen Lorita geraten war.
„Ich hatte eigentlich vor, Anakondas zu jagen“, sagte er, ohne recht zu wissen, wie er darauf kam.
Von Meier schien diese Bemerkung überhört zu haben. Er stand plötzlich auf & seine Gestalt zerbrach vor Eddies Augen. Er sah den Doktor wie durch eine zersplitternde Glasscheibe. Als die Scherben am Boden gelandet waren, hatte sich von Meier in Luft aufgelöst, & Eddie erkannte, dass er wieder in der Eingangshalle des Dschungelhotels stand. Es gab wieder Strom, & in der gedämpften Beleuchtung sah die Einrichtung aus wie in angenehmes, gelbliches Dämmerlicht getaucht.
Es war ein Anblick, wie ihn Eddie noch nie gesehen hatte.
Ich versuchte den Transceiver, den ich für Notfälle immer dabei hatte, in Gang zu setzen, was mir aber nicht gelang. Zu viele kosmische Störungen, die gelegentlich Schwindelanfälle hervorriefen… Ein Lichtstreifen deutete den Übergang zur Zukunft an, eine astrophysische Chimäre, wie ich annahm, auf die Zeitreisende immer wieder hereinfallen.
Alle Räume der Raumstation, in der ich übernachten wollte, waren offen. Es gab keine Türen, nur Durchgänge. Auf der Suche nach meinem Quartier kam ich an einem Badezimmer vorbei, in dem sich eine nackte Frau mit dem Hintern zu mir die Beine rasierte.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, mein Zimmer zu finden, denn eins sah aus wie das andere & es gab keine Markierungen. Schließlich entschied ich mich für ein beliebiges & stellte meine Sachen ab. Durch ein Panoramafenster konnte ich auf eine trostlose Siedlung sehen, über die ein paar grobkörnige Wolken trieben.
Man hatte mich gewarnt, dass die Verständigung auf der Station wortlos ablief. Wünsche, Fragen & dergleichen wurden transverbal wahrgenommen. Sprachlose Sprache war der letzte technologische Schrei, der auf Künstliche Intelligenz zurückging. Das Ganze beruhte auf Sensoren, die in der Lage waren, von Gehirnströmen & winzigen Muskelbewegungen auf Wörter zu schließen. Das Verfahren funktionierte noch nicht ganz eindeutig, war aber so ausgelegt, dass es sich ständig selbstständig verbesserte.
Mir fiel auf, dass mich die Stille in der Station ungewöhnlich empfindlich für Geräusche & Töne machte. Hin & wieder glaubte ich das Knistern von elektrischen Funken zu hören. Ein schwach bläulicher Schimmer, der von einem Geruch der Leere begleitet wurde, durchzog sämtliche Räume. Leere riecht nicht, könnte man meinen. Aber das Fehlen von Gerüchen kann das Empfinden eines intensiven Nicht-Geruchs hervorrufen.
Das waren Eindrücke, um die ich mich nicht weiter kümmerte. Mutation & Science-Fiction waren Gebiete, mit denen ich mich kaum auseinandergesetzt hatte. Im Hier & Jetzt gab es genug Phänomene, mit denen ich mich herumschlagen konnte, & sie wurden keineswegs weniger. Etwa Sprache, die auf Buchstaben & Wörtern beruht & ähnlich Viren Signale im Bewusstsein verbreitet, die sich von der ursprünglichen Bedeutung der Wörter gelöst haben. Am Ende dieser Entwicklung konnten Wörter jede beliebige Bedeutung annehmen & wurden so zu Wirtszellen von Bezeichnungen, die sich willkürlich mit jedem Begriff, Vorgang oder Objekt assoziieren ließen. Eine Programmierung, die allmählich & unbewusst geschah.
Semantische Verschiebungen waren Bestandteil der sprachlichen Entwicklung & nötig, solange sie sich auf veränderte Erkenntnisse oder Zustände bezogen. Sprache projiziert Bilder in den Raum der Dinge. Ohne sie & wörtliche Festlegungen bliebe er unsichtbar. Mit der Zeit ist es zu einer Art Höhenrausch der Abstraktion gekommen, & Sprache hat auf Kosten der Wahrnehmung die Deutungshoheit über die reale Welt übernommen. Stürme des Verfalls wehten über virtuelle Boulevards…
Verfall war zu einem Synonym von Verwirrung geworden.
Städte im Morgengrauen lösen bei mir gewöhnlich eine nervöse Übelkeit aus. In den ersten Momenten, wenn der Tag einsetzt, brechen die Schutzmechanismen der Konditionierung zusammen, & es kommt zu affektiven Reaktionen, meist im Zusammenhang mit sexuellen Phantasien. Ich nahm an, dass das auf Veränderungen der Orgonschicht zurückzuführen war. Besonders wenn ich einen Nachtflug hinter mir hatte, war dann an Schlaf nicht zu denken.
Ich machte mich auf den Weg durch die Gänge der Station & geriet in eine Art Imbissbar, wo mir ein Mädchen mit rosa Pupillen & lilienweißer Haut einen Detox-Drink anbot.
„Wozu ist das gut?“, fragte ich.
„Du wirst schon sehen“, meinte sie cool. Typisch für die Mädchen des Territoriums, die bekannt waren für ihre röhrenförmigen Zungen, die sie trotz Überlänge mit erstaunlicher Geschicklichkeit handhabten.
Die Ebenen des Territoriums glichen einer erstarrten Topografie, über die immer wieder Sonnenstürme fegten. Am Himmel hingen ein paar von der Raumkrümmung lädierte Sternbilder. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Dialog mit dem Mädchen in der Bar tatsächlich sprachlos abgelaufen war. Ich hatte die Frage mehr gedacht als ausgesprochen & sie hatte mit einem Zirpen geantwortet, dass sich mit dem Zischen der Kaffeemaschine mischte. Es war ganz selbstverständlich passiert, denn ihr Aussehen hatte mich abgelenkt.
War es nicht Verlangen, das Leben zum Abfalleimer machte? Wenn er voll ist, leert man ihn, & das geht so lange, bis er schließlich bricht.
Immer wieder streifte mein Blick das Mädchen hinterm Tresen, während sie mir mit schlanken, elastischen Fingern, an denen ich winzige Saugnäpfe zu erkennen glaubte, den Kaffee hinschob. Etwas an ihr erweckte meine Neugier & ich wollte herausfinden, was es war. Manchmal warf sie mir einen hämischen Blick zu. Er kam mir mehrdeutig vor.
Ich war der einzige Gast an der Bar, weshalb meine Aufmerksamkeit immer wieder an ihr hängen blieb. Möglich, dass ich die Nachwirkungen des Höhenrauschs noch nicht überwunden hatte, die oft mit bipolaren Empfindungen verbunden sind. Mein Zustand erinnerte mich an Versuche in der Unterdruckkammer. Streckenweise glich er Phasen, die sich während des Entzugs einstellen, was vermutlich mit Schwankungen der Sauerstoffzufuhr zu tun hatte.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte die Mutantin hinter der Theke. Sie war eine Mutantin, keine Frage. Ihre Lippen schimmerten grünlich & ihre Erscheinung hatte etwas Künstliches.
„…oder hast du die falsche Droge erwischt?“
Sie war offensichtlich interessiert, Genaueres über mich zu erfahren.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich ihr zu verstehen, „ob ich dasselbe höre, was du sagst.“
„Verlass dich auf mich.“ Ihr Gesicht nahm plötzlich die Farbe von Asche an & wurde starr wie eine Larve. Lichtblitze durchzuckten den Raum um uns, & ich verlor die Orientierung, als wäre ich in der Leere des Universums in ein euphotisches Vertigo geraten, wo es nur Hell & Dunkel gab. Mein nächster Gedanke war, dass sie mir etwas in den Kaffee geschüttet hatte. Wahllos tauchten Bilder aus vergangenen Zeiten auf. Aufmärsche & Szenen von Revolten auf städtischen Straßen… stumm gehaltene öffentliche Reden… hastig in Träumen hingekritzelte Gedichte… Echtzeit-Bilder von Terroristen, die ihre Anschläge filmten… Flugblätter mit algebraischen Formeln…
Ich musste in eine Sphäre geraten sein, in der die Zeit durchlässige Stellen hat. Schwaden von schwarzem Geruch umhüllten mich. Die Farbe der Hintergrundstrahlung zwischen Galaxien war Sehnsucht. Lichter schossen durch kosmische Stadtviertel. Bilder hatten sich selbständig gemacht & waberten zwischen Klumpen Dunkler Materie. Das Klicken von Assoziationen überlagerte farblose Traumbilder.

Der Raumflug durchs Bewusstsein endete in einem klimatisierten Hotel mit einem griechischen Portier, der bei unserer Ankunft gerade einen Vortrag über „Kontinuität“ hielt. Der Blick durch seine starken Brillengläser konnte einen Gast glatt durchlöchern. Ich zahlte für ein Doppelzimmer & die Mutantin fragte: „Wo bin ich?“ Solche Fragen führen oft zu unbedachten Schritten, erklärte ich ihr. Ich suchte die Windungen meines Gehirns ab, um einen Namen für sie zu finden.
Auf dem Zimmer gerieten wir sofort aneinander & fickten kreuzweise auf einer quadratischen Matratze. Durch eine Schiebetür schaute ich auf eine fensterlose Hauswand & ein schmales Stück Strand mit grellen Sonnenschirmen. Man muss immer darauf gefasst sein, in einem Reiseprospekt zu landen.
Ausgestreckt aufs Bett erinnerte ich mich an eine Safari-Lodge in Afrika, wo ältere Damen beim Fünf Uhr-Tee durch Ferngläser die Rüssel von Elefanten bewunderten. Sie waren entschlossen, sich nicht von Insekten belästigen zu lassen, die überall herumkrochen.
Am Nachmittag fegten heftige Windstöße durchs Stiegenhaus.
Plötzlich wusste ich, dass der passende Name für die Mutantin Oliviera war.
Allmählich verblassten die Zeichen der Sehnsucht. Die wirren Nächte waren nicht lang genug, um Erinnerungen an Träume zu hinterlassen.
Als ich aufwachte, war mir der Name der Mutantin entfallen, & ich fragte sie danach. Sie tat so, als hätte sie nie einen gehabt. Aber so wie ein Gedicht einen Titel hat, musste auch sie einen Namen haben. Während ich mich an den zu erinnern versuchte, den ich ihr gegeben hatte, rätselte ich, ob es Ophelia oder Odette war. Ich wusste, ohne Namen war sie auf dem Planeten verloren.
Wer mit Assoziationen handelt, muss sich auf Überfälle aus dem Hinterhalt gefasst machen. Ich lag noch ausgestreckt auf dem Bett, als mir die Mutantin ihre röhrenförmige Zunge um den Hals legte & wie eine Schlinge zuzog. Sie war in die Rolle einer mexikanischen Malerin geschlüpft, die ihre Liebhaber beim Ficken erwürgte (was angeblich einen mächtigen Orgasmus erzeugt). La carne de los muertos…
Das Zimmer hatte sich in ein Filmstudio verwandelt, das wie das Innere eines mittelamerikanischen Tempels ausgestattet war. Angestellte arbeiteten mit der stumpfen Routine von Gefangenen. Szenen verschiedener Arbeitsabläufe wurden von Filmprojektoren auf die leinwandähnlichen Innenwände geworfen. Die filmische Geschwindigkeit änderte sich ständig, & die Gefangenen waren gezwungen, ihr Arbeitstempo entsprechend anzupassen. Zeit war zum Film geworden.
Ich versuchte herauszufinden, wo die algebraischen Flugblätter aufbewahrt wurden, die, wie ich annahm, verschlüsselte Angaben über meine Reise mit Oliviera enthielten. Mir war klar, dass es Sex & emotionale Reflexe waren, die uns in der Zeit festhielten. Mit jedem Orgasmus wurden wir tiefer in die schwarze Singularität eines Zeittunnels gezogen, aus dem es irgendwann kein Entkommen mehr geben würde.
Um mich von eigenständigem Handeln abzuhalten, versuchte Oliviera, ihre Stimme über einen Sprach-Transceiver mit meiner zu mixen, so dass es unmöglich wurde, festzustellen, wer sprach. Lautlose Sprache hatte anscheinend mit dem Versuch zu tun, einem die eigene Stimme zu nehmen. Auf diese Weise konnte ein „Ich“ in jeden beliebigen Körper schlüpfen.
Der Sprach-Transceiver ließ sich auch dafür verwenden, sexuelle Erregung von einem Körper auf einen anderen zu übertragen. Sex konnte so programmiert werden, dass der Betroffene keinen Einfluss darauf hatte, wie er ablief. Mit diesem Programm war es möglich, den Ablauf von Lust & Handlungen akustisch steuern. Sobald das Gerät aktiviert wurde, setzte ein leises Ticken wie bei einem Geigerzähler ein, & ich wusste, dass sich die Mutantin für eine neue sinnliche Spielart entschieden hatte. Ich war ihr ausgeliefert, denn ich wusste nicht, welche Signale zu den einzelnen Praktiken passten. Ich konnte nicht anders, als mich auf jede Eigenart wie Sado-Maso oder Tantra einzulassen.
Ich wusste nicht, was ich unternehmen konnte, sollte der Sprach-Transceiver fehlerhaft arbeiten oder gar versagen. Ich erwog, ihn zu zerstören, wagte es aber nicht, weil ich die Folgen nicht abschätzen konnte. Auch kam mir der Gedanke, die Mutantin einer kryonischen Behandlung auszusetzen, einer Methode, die gelegentlich auf langen Raumreisen angewandt wird. Aber ich wollte sie nicht allein in einer Zeitschleife zurücklassen.
Plötzlich füllte sich das Tempelstudio mit grünem Licht. Olivieras Körper wurde durchsichtig. Sie betrachtete mich mit toten Augen & ließ den Sprach-Transceiver über mein Rückgrat gleiten. Eine starke sinnliche Erregung erfasste meinen Körper, der unter den neuronalen Erschütterungen zu zerfallen drohte. Elektrische Stösse durchfuhren & hinderten mich, Bewegungen auszuführen. Wie aus eisiger Ferne sah ich, wie Olivieras Körper mit meinem verschmolz. Bei der geringsten Berührung zwischen uns wurde ich von heftigen Spasmen geschüttelt, & ich verlor kurz die Besinnung.
Ein unsichtbares Wesen geisterte durch mein Gehirn, was eine leichte Übelkeit auslöste, ähnlich der, die bei Raumreisen vorkommt. Ich betrachtete Oliviera, deren Gestalt sich trotz der Verschmelzung unserer Körper kaum verändert hatte. Sie versuchte etwas zu sagen. Es war, als würde sie um Hilfe rufen. Sie bewegte den Mund, blieb aber stumm. Auch die wortlose Verständigung funktionierte nicht.
Etwas musste schiefgelaufen sein bei Olivieras Transferversuch, mich in eine zeitliche Sackgasse abzuschieben, aus der es keine Rückkehr gab. Das Ganze ähnelte einem Ritual, das einst Priester im Verborgenen von prähistorischen Tempelanlagen vollzogen, um durch ein Opfer andere Zeitbereiche zu erreichen.
In ihrem nahezu durchsichtigen Zustand entging Oliviera der Gravitation & begann frei im Raum zu schweben. Ich versuchte sie im Auge zu behalten, aber immer wieder verschwamm der schwache Umriss ihrer Gestalt zwischen Linien & Konturen, die das Filmstudio durchzogen. Aus der gleichmäßigen Silhouette ihres Torsos schloss ich, dass sie nackt war.
Während sie sich entfernte, fing die Einrichtung des Studios an, sich zurück in ein Hotelzimmer zu verwandeln. Die Projektionen an den Wänden überschnitten sich, wodurch der Eindruck entstand, dass der Raum schrumpfte. Der grobe Putz glättete sich, & die handgroßen Mauerdurchbrüche weiteten sich zu einer Fensterfront. Das Gewicht des Himmels drückte auf Raum & Zeit, & ich schloss die Augen.
Ich war kurz eingenickt, & als ich wieder zu mir kam, sah ich Oliviera nackt bis auf einen Slip am Geländer auf dem Balkon des Hotelzimmers stehen. Es musste kurz vor Sonnenuntergang sein, denn flutartig hatte sich die Färbung von Blutorangen ins Zimmer ergossen.
Oliviera drehte sich um, kam langsam auf mich zu & betrachtete mich mit grünlich funkelnden Augen. Einen Augenblick zweifelte ich, ob sie es war. Sie sah älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Lichtflammen, die durchs Zimmer züngelten, erfassten meinen Körper. Aber ich war immun für ihre erotisierende Wirkung.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Oliviera.
„Ich hab versucht, dich zu finden.“
„Aber ich war die ganze Zeit hier.“
Sie würde nie zugeben, dass die Operation, mich in eine andere Zeit zu entführen, misslungen war. Ihre Lippen bewegten sich nicht synchron zu dem, was sie sagte.
„Es kann nicht jedes Mal klappen“, sagte sie, stand auf & zog sich an. Dann: „Vielleicht an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit.“
Ich kam mir vor wie in einer Kurzgeschichte mit dem Titel: Das Ende einer Affäre. Bevor ich recht mitbekam, was geschehen war, war sie zur Tür hinaus, die mit einem leisen Klick hinter ihr ins Schloss schnappte.

In einer abgelegenen algebraischen Gegend geriet ich in eine mir unbekannte Biografie. Sie versetzte mich in eine Lage, in der ich mich erst zurechtfinden musste. Ich hatte den Auftrag, die Vorgänge auf der Panamericana zwischen Totolapan & Aurora spiegelverkehrt zu betrachten. Ich war mit einem alten VW-Bus unterwegs & ständig abgebrannt, rauchte Gras & aß vegetarisch. Zu meinem Unbehagen war das eine für einen Alt-Hippie typische Biografie. Die eines Anthropologen, der sich für indigene Kulturen interessiert, wäre mir lieber gewesen. Aber in meiner Branche muss man die Biografien nehmen, wie sie kommen…
Während der Fahrt fiel mir nach einiger Zeit auf, dass mir ein schräger Typ auf den Fersen war, der sich ähnlich unverdächtig zu verhalten versuchte wie ich. Spiegelbildlich gesehen konnte er ohne weiteres mein Doppelgänger sein, der mich vorsichtshalber im Auge behalten wollte, falls es Ärger mit den Narcos oder den Los Zetas geben würde. In meinem Tran aus Skunk (Marihuana-Duft) & Tequila-Schwaden bekam ich nur flüchtig mit, was in der Gegend vor sich ging. Vermutlich hatte man mich vor der Abreise mit einer Körperkamera verdrahtet, von der nicht mal ich wusste, wo sie steckte. Von einem Alt-Hippie kann man schließlich nicht erwarten, dass er mit allen Neuigkeiten der technischen Entwicklung vertraut ist.
Ein Schlitzohr von Dealer hatte mir in der Nähe von Salina Cruz mit Damiana verschnittenes Sinsemilla angedreht, das zu irren Albträumen & Halluzinationen führte. Es war, als hätte sich ein gefräßiges Insekt in meinem Gehirn eingenistet. Es fraß, & ich musste mich mit seinen Ausscheidungen herumschlagen, die zu Dauererektionen schlimmer als mit Viagra führten. Ich hatte den Verdacht, dass der Dealer mit den Los Zetas unter einer Decke steckte & mich durch Lähmung außer Gefecht setzen wollte.
Um diese Symptome loszuwerden, verbrachte ich eine Nacht mit einem Chitin-Girl in einem Hotelzimmer. Sie wollte es so, der VW-Bus war ihr zu schäbig. Das Zimmer war im Preis inbegriffen. Das war vermutlich die Idee ihres Loddels, der auf die Art doppelt kassierte. Sie faselte mehrmals von Cucaracha, & ich hab nie herausgefunden, ob das ihr Name war oder ob sie damit andeuten wollte, dass sie eine Rebellin war.
Sie wollte es auf die Schnelle, aber darauf habe ich mich nicht eingelassen. Schnell kommen & schnell abkassieren, das ist eine alte Nuttenmasche. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Chitin-Girl eine Nutte war. Natürlich war sie nicht ohne Geld zu haben. Sie tat so, als ginge es um eine Gefälligkeit, für die wegen der Umstände (wir kannten uns kaum & würden uns auch nie wieder begegnen) eine finanzielle Gegenleistung angebracht war. Ich sagte ihr, dass die Bezahlung keine Rolle spielte. Das überraschte sie, & ihre Haltung mir gegenüber änderte sich. „Komm morgen um dieselbe Zeit wieder.“ Keine Nutte vertröstet ihre Kunden, deswegen nahm ich an, dass mehr dahintersteckte als eine kurze „Gefälligkeit“.
Am nächsten Tag trat sie mit einem Fotografen auf, den sie als Jimmy Garcia vorstellte. Er hatte in der Nähe des Hotels ein Fotostudio, wo wir den Nachmittag mit Gesprächen verbrachten. Er sagte, dass er seine Aufnahmen dazu benutze, bestimmte Reaktionen bei den Betrachtern hervorzurufen. Es ging um ein Verfahren, das er als Umkehrfotografie bezeichnete.
Es störte mich, dass er sich mit dem Chitin-Mädchen auf Spanisch unterhielt. Ich erklärte, dass mir die Situation nicht ganz geheuer sei, & machte Anstalten, zu gehen. Die Vermutung lag nahe, dass er einen Porno drehen & damit nicht unumwunden herausrücken wollte.
„Ich glaube, ich bin nicht der Richtige dafür“, sagte ich.
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Señor“, meinte er. Er hatte einen kalten, unpersönlichen Blick & fummelte ständig an den Kameras herum. Durchaus möglich, dass er bereits heimlich Aufnahmen gemacht hatte.
Schließlich ging er daran, einen Film vorzuführen, den er an die brüchige Wand seines Studios projizierte. Ich konnte nur erkennen, dass er Gesichter von Männern & Frauen zeigte, die sich gelegentlich überlagerten & dabei eine erregte Mimik verrieten. Ich spürte, dass die Aufnahmen eine erotisierende Wirkung auf mich hatten, ohne dass ich sagen konnte, wieso. Es war möglich, dass die Aufnahmen gemacht worden waren, während die Dargestellten einen Orgasmus hatten. Der Fotograf erklärte, dass es ihm darum ging, verschiedene Stadien sexueller Erregung festzuhalten.
Das Chitin-Girl wurde so genannt, weil sie einen geometrisch makellosen Körper hatte & ihre Mimik keine Regungen erkennen ließ, was ihr eine teils animalische, teils exotische Ausstrahlung gab. Das wirkte besonders auf Europäer erregend & geheimnisvoll.
Der Fotograf forderte mich auf, mich ihr gegenüber zu setzen. Mein Misstrauen war inzwischen einer Neugier gewichen, deswegen spielte ich mit.
„Die Zeit ist gekommen“, erklärte er, „körperlich Energien zu übertragen.“
Ich spürte, dass es zu einem Austausch von – wie soll ich sagen – Spannung oder Erregung zwischen dem Mädchen & mir kam, der durch Veränderungen meines Gesichts sichtbar wurde, denn ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, es zu verlieren. Ich versuchte, so gut es ging, mein gewohntes zu behalten.
Eingefahrene Vorstellungen drifteten durch ferne Weiten. Es störte mich, dass ich den Namen des Chitin-Girls nicht kannte, & ich fragte mich, wieso ich annahm, dass sie eine Nutte war.
Jimmy der Fotograf zeigte mir ein Foto, auf dem ihr Gesicht einer byzantinischen Ikone ähnelte. Plötzlich sah ich sie in einem anderen Licht. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Ihre Haut glänzte & zeigte erstaunliche Geschmeidigkeit.
Ich überlegte, wie ich an sie geraten war. Gab es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen uns, die mir bisher entgangen war? Vermutlich war die Wirkung des Damians stärker als ich dachte, denn ich ertappte mich dabei, dass ich einen 3D-Film betrachtete, in dem sie nackt auf einer Pritsche lag & mir zuwinkte. Etwas schien mein Lustzentrum zu blockieren, denn ich spürte kein Verlangen nach ihr. Auch weil mir bewusst war, dass ich nicht sie, sondern eine Reproduktion betrachtete.
Grünliches Licht füllte das Studio, erschütterte die starren Formen der Einrichtung, so dass Gegenstände durchsichtig wirkten.
Ein billiger Trick, sagte ich mir, durch den der Eindruck erweckt wurde, dass ich mich statt im Studio des Fotografen in einem magischen Garten befand. Gedämpfte Musik erklang, & eine Hängematte baumelte zwischen Palmen. Blüten leuchteten in Technicolorfarben, & hinter dichtem Gestrüpp schimmerte das türkisene Wasser einer Lagune.
Es war Zeit, ein paar Fragen zu stellen. Hatten die Lichtmuster des Films mich in einen Theta-Zustand versetzt & meine Traumnerven aktiviert? Ich erinnerte mich an eine Stelle bei Castaneda, wo Don Juan sagt: „…für einen Zauberer ist die Welt des täglichen Lebens nicht real, auch nicht außen, wie wir glauben… die Welt, die wir alle kennen, ist nur eine Beschreibung.“
War das Chitin-Girl ein Medium, das der Fotograf benutzte, um Leute wie mich in einen halluzinogenen Zustand zu versetzen, der mir die Augen für Dinge hinter den Dingen öffnete? Unterlag Sehen nicht auch der Anpassung & Konditionierung, was einen Betrachter dazu verführt, das zu sehen, was er erwartet, & spontane Einsichten verhindert? Was kontrollierte die visuelle Wahrnehmung & Auswahl der Bilder?
Konditionierte Sicht kontrollierte Gefühle & begrenzte, was gesehen wurde & was nicht. Diese vorprogrammierte Sichtweise aufzubrechen, kam einer Revolte gleich, bei der eine Kamera zur Waffe werden konnte. Eine Waffe, mit der sich die Wort-Bild-Struktur der Realität niederreißen & zerstören ließ.
Die ersten Schritte, die in diese Richtung führen, fühlen sich an wie ein Erdbeben. Der Himmel senkte sich schwer wie Blei auf die sichtbare Welt. Palmen fielen um, eine gewaltige Flutwelle schwappte über die Landschaft der Gegenwart, & der gregorianische Zeitkalender zerbrach…

Zurück zum Schauplatz der Inszenierung, wo alles begonnen hatte. Kino der Sinne, wenn alles möglich & die einzige Rettung die Dunkelheit des Zuschauerraums ist. Wenn Körper in Polstersitzen versinken & Gerüche intime Aufdringlichkeit annehmen.
„Red’ nicht so viel, mach’s einfach.“
Lichter verflüchtigten sich. Ein flauer Schimmer schob sich über das Blau der Leinwand. Experten in den ersten Reihen wieherten. Eine schmutzige Sonne tauchte langsam aus dem satten Grün eines Dschungels auf. Dazu der Ton eines Saxofons, der einen zerrissenen Himmel zum Einstürzen bringen konnte.
Immer wieder stellt sich heraus, dass in diesem Geschäft die ersten Sequenzen entscheiden. Sound, Farben & das Panorama des Sets. Der Zuschauer muss sofort wissen, wo er ist. Der Rest ist in den meisten Fällen Routine, Plot, Timing… den Horror des Augenblicks sichtbar machen.
Eine Nebenfigur wird abgeführt, Uniformierte legen an, das Opfer fällt kopfüber in den Sand. Das spielt sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, das ist Europa, Abendland. Sarajewo, Berlin in den letzten Kriegstagen, Baskenland, Sizilien, polnisches Hinterland… lachen Sie nicht, es geht um mehr als den Surplus historischer Errungenschaften… Gewalt, Vernichtungslager… eine Mischung aus Macht, ethnischem Wahn & Rückständigkeit… eine Gegend, gepflastert mit Schwarzen Löchern, in denen Zeit spurlos versinkt…
Manchmal dringt er doch noch durch, der vergessene Duft des Kontinents. In Pizzakneipen von Rom, in gekachelten Bistros auf griechischen Inseln & an Austernständen der Normandie, wo die Kühle des Atlantiks durch Zellen weht.
„Noch einen Absinth.“ Langsam schiebt sich der Erdschatten über den Fernsehschirm, & ein Luftschiff verschwindet über dem westlichen Kap. In verstaubten Klamotten gekleidete bürgerliche Imitate schlendern durch das ausgestorbene Biarritz.
Ruhe, Aufnahme… auf sämtlichen Kanälen wird der Augenblick der Wahrheit mitgeschnitten, ins rechte Licht gerückt, mit Kommentaren überschüttert. Nichts entgeht dem Auge der Kamera & doch sind die Bilder inszeniert.
Auf ein verabredetes Zeichen treten die Schauspieler in Aktion. „Ist euch doch klar, was es heißt, es bis zur Schlussszene zu schaffen“, meint der Regisseur. Der Plot verlangt unerbittliche Auslese & entscheidet, wer auf der Strecke bleibt.
Bereitwillig ziehen sich die Schauspieler noch einmal aus, zeigen, was Körper ist. Anschließend werden sie ausbezahlt.
„Okay, das wär’s, haut ab.“
Unschlüssig bleiben noch ein paar Statisten zurück. Sie glauben, dass sie eine zweite Chance bekommen, wenn sie lang genug warten würden.
Die Nacht entfaltet sich wie eine tätowierte Blume. Hauser, „der Regisseur“, tritt aus dem Erdschatten, mustert misstrauisch einen Komplizen, während sein eingebauter Scanner das Umfeld nach feindlichen Impulsen abtastet.
In einer Nebenstraße eine Kaffeebar. Säuerlicher Geruch schlägt ihm entgegen. Ein Glatzkopf dreht sich nach ihm um. Auf einem Hocker eine rosa Perücke, daneben Fotos von zerstörten Pyramiden auf einem Plastiktisch.
Kiki im Hotel nackt an der Jalousie. Sie schaut hinaus aufs Araberviertel & den treibenden Sand im Schein von Karbidlampen. Jedes Wort, das sie von sich gibt, kommt mit einem Klirren über ihre Lippen. Unbeirrt zieht Zeit dahin. Geräusche werden von jahrhundertalten Mauern geschluckt.
„Ville“, eine künstliche Feriensiedlung unweit der Grenze. Hauser, von Paranoia gepackt, gibt das Drehbuch nicht aus der Hand. Er hat Schwierigkeiten, das Team in der Januarkälte bei der Stange zu halten. Ein Sicherheitsmann hat sich Johnny geschnappt, der den Hauptdarsteller in Sexszenen doubelt, & schreit ihn an: „Mann, jetzt verrate ich dir mal was. Hier wird nicht gedealt.“ Ein Techniker wirft eine Windmaschine an & eine Kokswolke wirbelt auf. Overalls flattern im Wind.
Leere Grundstücke, verlassene Tankstellen, schwarzer Kaffee. Kiki mit schlaksiger Anatomie Schulter an Schulter mit einem Coke-Automaten.
„Wo willst du hin?“ Ihr Lächeln verschwimmt im kühlen Licht der Landstraße. Sie rückt die Sonnenbrille zurecht, springt in einen Strandbuggy & rast über eine kondensmilchfarbene Dünenlandschaft.
Vor Mauerresten des Atlantikwalls ein Mädchen am Straßenrand, rausgeputzt wie ein Tanzgirl. (Schreie aus meterdicken Bunkerbauten.)
„Wohin?“
„Egal. Bloß weg hier.“
Ein türkisener Himmel, die Mülltonnen grün. Mit einem Knopfdruck lassen sich Städte, Landschaften & Kontinente abrufen. Eine Bedingung digitaler Anwesenheit heißt: fleischliche Projektion. Nur nicht den Panikknopf erwischen… könnte sein, dass der Bildnomade dann als raumloser Schatten in die Skyline von Manhattan, die Lichter von Casablanca oder in die Silhouette der Istanbuler Moscheen entschwindet…
Augenblicke des Exils: Während eines Blackouts mit einem Pappbecher in der Hand zwischen überladenen Fassaden sitzen & alten Zeitungsseiten hinterherschauen, die über den Gehsteig wehen…
Ahnungslose Opfer, eingesperrt in die Echokammer der Zeit. „Bin fremd hier. Kommst du mit?“, fragt das Tanzgirl im Bikini.
Vor einer Strandvilla ein Cabrio mit einem blonden Androiden am Steuer. Die Fassaden an der Promenade schief wie verwitterte Filmkulissen aus der Zeit pompöser Monumentalschinken.
Johnny & Kiki auf dem Weg zu einem Klub vor der Stadt. Muschicats, in tiefe Sessel versunken, warten auf Kunden. Licht frisst sich durch die Markise des Sonnendachs.
„Ich freu mich“, sagt Kiki, die Sonnenbrille im Gesicht.
„Worauf?“
„Auf jetzt.“
Für einen Augenblick verliert Johnny wie nach einem Autounfall die Orientierung. Flashbacks, grelle Blitze, Doppelbelichtungen flattern durch sein Gehirn. Ein Film, der angelaufen ist, lang bevor er das Kino betreten hat.
„Hab dir was mitgebracht“, sagt sie & berührt ihn an der Hand.
„Zeig her.“ Es ist ein Anhänger, eine Art Amulett. Eine Buddha-Figur, dreieckig eingefasst, billiger orientalischer Import. Bis spät in der Nacht ist sie bei ihm. Sie tanzen, fummeln sich ab. Landen in einem Hinterzimmer mit Diwan. Rollen einen Joint & fallen übereinander her.
„Hey, der Vibrator funktioniert nicht.“
Etwas kippt weg in ihm, nur mühsam kommt er zurück, ein verrutschtes Lächeln auf den Lippen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, sieht aus wie schlecht zusammengeklebt. Die Haut findet keinen rechten Halt.

Ein paar Klubgäste kehren ermattet von einem Ausflug in die Wüste zurück, wo sie wie in einem Sandkasten herumgeirrt sind, lassen sich in Polstersessel fallen & vertiefen sich in Zeitungen. Eine Katze schreit, was Johnny an die endlos sich hinziehenden Routen der frühen Fliegerei erinnert. Damals war Kiki schneller aus den Klamotten als eine Stripperin. Im Haus an der Rue Mohammed V. roch es nach Küchenabfällen, nicht selten hatte sich ein Skorpion ins Zimmer verirrt, & jenseits der Stadt schimmerte das Band der Brandung die Küste entlang.
Verblasst die langsam fallenden Sterne, der matte Schein schwankender Straßenleuchten, ein Foto mit einer startenden Maschine an der Wand.
Johnny erinnert sich an die Taxifahrt auf der anderen Seite des Atlantiks nach einem langen Nachtflug. Leichter Regen, der Asphalt von Glanzlichtern zerkratzt, Leute in Mänteln, Dunstfahnen über Hochhäusern, Brücken & dann der Tunnel unterm Fluss hindurch…
„Was ist, kannst du nicht schlafen?“
Kikis Hand, die ihn zaghaft berührt.
Ein fast schon obszöner Akt von Konzentration. Südliche Morgendämmerung erhebt sich im Osten, durchsichtig fast & mit der hypnotischen Anziehungskraft eines Spiegels.
Alte Junkies krepieren nicht, sie verschwinden einfach…
Ein erster Schritt, um zurückzufinden: ohne Entzugserscheinungen den Körper einer Frau betrachten.
Das dumpfe Dröhnen der Stadt, gleichmäßig wie das Summen einer Kamera.

Johnny schaffte es nie mehr ganz, von seinen Trips zurückzukehren. Tagelang verließ er das Zimmer nicht, unsicher, wo er gerade war. Undurchdringliches Schattengewirr nächtlicher Filmaufnahmen umgab ihn, Gegenstände, die er berührte, hinterließen einen zerebralen Abdruck auf seiner Haut.
Mit der abendlichen Dunkelheit wich das Sichtbare aus seinem Gesichtsfeld & gab ihm seine Bewegungsfreiheit zurück. Er zog sich an & tastete sich durchs Treppenhaus, wo es nach Katzenpisse & ranzigem Pommes-Öl roch. Bevor er die Straße betrat, verharrte er einen Augenblick. Von irgendwoher kamen verzerrt Pianoklänge, die sich wie Fetzen eines Tangos anhörten. Strahlen eines Scheinwerfers streiften ein halb abgerissenes Plakat, als er den ersten Schritt auf der Straße machte.
Sofort war er von aufdringlichen Geräuschen umringt. Er hörte Knistern von Zeitungspapier, Worte wurden geschrien oder geflüstert, Weichteile gedrückt, Schritte hallten, Körperteile rieben sich, Türen knarrten, Tassen klirrten & blieben im kalten Licht liegen.
Während sich die Nacht in Fetzen auflöste, winkte er ein Taxi heran. Im Café de France entdeckte er Kiki neben einem schleimigen Dealer; einer von vielen, die dort ständig herumhängen & Karten oder Backgammon spielen. Genau wie in alten Filmen zogen von Zeit zu Zeit Rauchschwaden über ihre verschlagenen Gesichter. Die Kellner glitten mit Blicken von Attentätern & in ungebügelten weißen Kitteln geschmeidig an den Tischen vorüber. Die Männer saßen versteinert da, & Frauen, zerbrechlich wie Wachsfiguren, nippten an buntfarbigen Säften, in denen Perlen wie Diamantsplitter glitzerten.
Zeit, zu verschwinden, jetzt, wo der Tod die Scheiben zum Klirren brachte. Johnny wusste, dass die Filmleute ihn nicht aus den Augen ließen, auch wenn sie sich nicht zeigten. „Macht ihn fertig, er hat uns den Plot versaut.“ Aber er war ihnen zuvorgekommen, hatte vor Tagen die Seiten des Skripts vertauscht. Er konnte sehen, wie ihnen vor Hass die Drinks in den Gläsern gerannen & ihre von Zeitkrankheit entstellten Gesichter erstarrten.
Das verschaffte ihm einen kurzen Vorsprung. Er nutzte ihn & verschwand mit katzenartigen Schritten in einer dunklen Gasse in Richtung Kaffeebar.

Unauffällige Bauten aus zeitlosen Bruchstücken. Straßen übersät mit Ideogrammen, die Archäologen wie Spürhunde zu entziffern versuchten. Nur wenn sie eine Zeitlang verharrten, nahmen ihre Gestalten flüchtig Konturen an. Sie huschten von Zeichen zu Zeichen & blieben unsichtbar wie Piloten von Überschallmaschinen.
Die Schriftschnüffler arbeiteten nach dem aleatorischen Prinzip, ohne sich von öffentlichen Floskeln irritieren zu lassen. Es hieß, dass sie auf dem Weg in unbewusste Räume waren. Ihre Arbeitsweise war nicht beliebig, sondern spielerisch. Sie wollten sehen, um zu erkennen. Nichtsehen bedeutet, unbrauchbare Motive reproduzieren.
Wenn Zeichen zu sprechen beginnen, ist der Augenblick des Schreibens gekommen. Wer Zeichen übergeht, bewegt nur die Lippen & wird zum Bauchredner. Mit jedem Atemzug ergeben sich neue Fragen. Eine ist: Wer spricht, wenn jemand spricht? Reden oder schreiben kann jeder. Buchstaben tippen, Lippen bewegen & Seiten mit Worten füllen. Wo sind die Gegenstände hinter den Wörtern geblieben? Das Wort kann Dinge zum Verschwinden bringen, wenn es in Horden über den Ereignishorizont schwappt & dabei zum Vehikel beliebiger Bezeichnungen wird.
Von Krise will niemand reden. Schnitte durch die Regression zur Mitte werden von der Presse als Aufbruch ins 21. Jahrhundert gefeiert. „Ich wollte einen Städtetrip machen & bin in einem Flüchtlingslager in Tempelhof gelandet.“ Verfechter der Scharia grasen Gehsteige nach Körperteilen ab. Lautlos gellen Schreie aus der Durchgangswelt durch die Nacht. Semantische Frühgeburten erweisen sich nur scheinbar als Lebenszeichen des Alten Europas. Stattdessen geht es um eine Hinrichtung. Bilder davon werden nicht veröffentlicht, um eine Traumatisierung der Bevölkerung zu verhindern. Flashbacks erschüttern die Wahrnehmung, & das Unbewusste rächt sich mit gedanklichen Verknüpfungen.
Nur wenigen gelingt die Flucht durch dunkle Kanäle. Das Universum der Schrift, wo Wörter die einzigen Waffen sind, ist zum Schauplatz des Überlebens geworden. Die Auseinandersetzung um bipolare Begriffe, bei der es um die Kontrolle über das Sehen geht, wird um Bedeutungen geführt. Eine von Flächenbombardements erschütterte Realität zeigt Veränderungen, denen die Oberfläche des Planeten ausgesetzt ist. Fortschritt geht auf Stoffwechselvorgänge zurück. Konzeptionelle Botenstoffe wirken gesellschaftlich gesteuerten Anreizen entgegen & oft neutralisieren sie sich sogar. Kontrolle wird über Rückgriffe auf sinnliche Kodifizierung ausgeübt.
In der Rolle des Cineasten hat der Voyeur seine endgültige Berufung gefunden & damit das Recht auf erotische Beobachtung & die Gier nach Enthüllung für jeden legitimiert. Was kein Freibrief dafür ist, von Hautfarben zu schwelgen & durchsichtiger Unterwäsche den Rang eines Fetischs zu geben. Eher entsteht ein Hang zur Manie, der vom Zuschauer gern mit Realismus verwechselt wird. Das kann so weit gehen, dass etwa ein gebrauchter Schulmädchenslip die Bedeutung einer Ikone in der virtuellen Dimension annimmt. Es gibt keine unkontrollierten Äquivalente. Die Tatsachen stehen nicht mehr für sich, sondern werden zu Symptomen schleichender Agonie, die mit unfassbarer Torsion des Sinns auch Orte erfasst…
Mit ihrem insektenhaften Verhalten haben Attentäter der Stille den virtuellen Terror zur unschlagbaren Waffe im Hass auf real existierende Gesellschaften gemacht. Ob die kraftlose Wahrnehmung des westlich konditionierten Bürgers den als Fortschritt deklarierten Erschütterungen gewachsen ist? Von wuchernder Bürokratie, umfassender Regulierung & unbegrenzter Datenverarbeitung jedenfalls ist keine Abhilfe zu erwarten. Der kontrollierte Verlust des Realen hat den Nachrichtenkonsumenten zum semantischen Zuschauer gemacht, der nicht mitbekommt, dass die von der Schrift geprägte Zeit die Richtung gewechselt hat. Theoretisches Wissen ist eine Voraussetzung dafür, dass getürkte Aussagen & Nachrichten willige Empfänger finden. Manchmal helfen Quantensprünge, um daran zu erinnern, dass der unbekannte Mensch am Leben ist & den Planeten noch nicht verlassen hat. Der synergetische Aufbau des Weltalls kann den Missbrauch der Reiselust nicht verhindern. Anzunehmen, dass erste Schritte in den Raum von Leuten unternommen werden, die sich wie Geisterfahrer in den Kosmos stürzen & keine Ahnung haben, wohin die Reise geht.
Ein Datenflaneur muss die Wahrnehmung auf Punktuelles richten. Über die Grundregeln auf dem Planeten lässt sich nur spekulieren, & mit dem Ausflug zum Mars ist die Raumfahrt auf einer Einbahnstraße gelandet.
Worte simulieren Geschehen, & niemand kümmert sich darum, ob es & wie es tatsächlich stattgefunden hat. Genauso gilt, dass nichts geschieht, was nicht geschrieben steht. Die Gegner der gegenwärtigen Ordnung operieren mit Versuchsanordnungen, die sie solange verschieben, bis es zur Umwandlung der faktischen Verhältnisse kommt. Die Agenten, die diesen Austausch betreiben, werden Daten-Surfer genannt. Allerdings sind die Ergebnisse ihrer Zufalls- & Nebelaktionen wenig verlässlich, & kulturell gesehen werden sie als Varieténummern belacht. Das Publikum grölt, wenn es einen Random-Techniker auf frischer Tat ertappt. Kausal betrachtet befindet sich die globale Ordnung im Belagerungszustand. Die Notwendigkeit einer Generalprobe für das Schicksal des Planeten wird immer dringlicher. Zugemüllt von schriftlichem Ramsch verliert der „Basic-Realist“ seinen Verstand, & auf Sekundärtexte ist noch weniger Verlass.
Der Kopf eines Nobelpreisträgers für Literatur wird von MS-13 Gangmitgliedern durch die leeren Ränge der Königlich Schwedischen Akademie geschleift. Der humanoide Vormund eines in der Petrischale gezüchteten Gehirnersatzes versucht das zu verhindern, indem er das ethische Einsatzkommando alarmiert. Bevor es eintrifft, wird die Akademie in ein Wachsmuseum umgewandelt & ist über Nacht zu einer Touristenattraktion geworden.

Es gibt Nachmittage, wenn es kein Entkommen aus den Vorstädten gibt. Status quo heißt auf der Stelle treten, & Fakten in der Altstadt verkommen lassen.
In Neu-Köln wurden Schwule als „Perverse“ beschimpft. Die thermodynamische Zone zog sich an der Küste wie eine Blockchain entlang. Im Kampf gegen Viren & Trojaner lüfteten verzweifelte Traditionalisten täglich ihre Matratzen. Der Flaneur, der durch staubige Straßen schlenderte, fand keine Fakten, an die er sich halten konnte. Der Himmel über der Zone erstrahlte im Gletscherblau eines Hologramms. Fluchtpläne wurden zu horrenden Preisen gehandelt, aber die Routen auf ihnen erwiesen sich als falsche Fährten & führten zurück in die Gedächtnisstadt. Geheimnisse der Ausbeutung warfen die Gesetze des Marktes über den Haufen. In der allgemeinen Beschleunigung waren die Bildschirme der Fernseher auf die Größe einer Stecknadel geschrumpft.
Zerstörungen in amerikanischen Kleinstädten geschahen hauptsächlich nachts. Traditionalisten zeichneten sich durch geschichtliche Teilnahmslosigkeit aus. Bei sozialen Unruhen & Tumulten wurden die gegnerischen Fraktionen automatisch getrennt. Auch bei Cocktailpartys konnte auf Kontrollmaßnahmen nicht verzichtet werden. Es gab Tage, wenn die Unruhen nie nachließen. Die Kommission für sozialen Widerspruch ging davon aus, dass sie in der Zone einen Freibrief für schrankenlose Organisation hatte. Die kodifizierte Welt beruhte auf einer ausgeklügelten Struktur kausalen Handelns. Widerspruch musste bestraft werden, weil er den gesellschaftlichen Frieden störte. Das Gedächtnis der Aufklärung war aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. In einer Atmosphäre, in der Probleme als unlösbar galten, entstand Raum für ein Spitzelsystem, & das Kontrollarchiv galt als letzte Instanz für politisch korrekte Meinungen. Dem Bürger wurde eine Unfähigkeit zum Wandel unterstellt. Brisante Darstellungen, etwa in Form von Dokumentationen, wurden von medialen Gremien als irreführend abgelehnt.
Spitzel: „Ich bin auf Transparenzgeräte spezialisiert, die anzeigen, was hinter fremden Wänden geschieht.“ Im Interesse der Verwaltung musste auf das schwächste Glied in der Datenübertragung geachtet werden. Kontrolle war erst perfekt, wenn sie keinem Zweck mehr diente.
Übergriffe auf die Wahrheit prägten das städtische Bild der Zone. Wenn Wahrheit das ist, was geschrieben steht, musste gefragt werden: Wer schreibt? Leser, die den Zentralen Datenspeicher anzapften, in dem sämtliche Fragen & Lösungen gespeichert waren, sahen im geschriebenen Wort ein mit undurchsichtigen Motiven befrachtetes Zeichen. Erneuerung durch Zerstörung hieß, die Bilderbank stürmen & am Fundament von „persönlich“ & „öffentlich“ zu rütteln. Bei der Eroberung der eigenen Sichtweise wurde der TV-Bildschirm zum ersten Ziel.
Noch einmal erschien die abendländische Geschichte im letzten Schimmer der Menschheitsdämmerung. Hier der Erfahrungshorizont & dort das hypertrophe Ich. In der kodifizierten Welt drohte jede Handlung in der Fülle von Daten & Zeichen unterzugehen. Es gab keine Verbote, die das Gedächtnis mit der Erinnerung zur Deckung brachten. Bezugspunkte wurden von der Beschleunigung geschluckt. Sobald Big Data übernahm, hatte das Bewusstsein ausgedient. Jedes Objekt konnte die Funktion eines beliebig anderen übernehmen. „Sehen Sie, Boss, ich bin spezialisiert auf kryptische Bilder, die sich wahllos verändern & neu arrangieren lassen.“ Es war der Kontext, dem die Image-Schärfe ihre Gestalt verdankte. Mit der Zeit entfernten sich die Dinge von ihrer spezifischen Bestimmung, & der europäische Mythos von der Funktion des Ganzen begann zu verblassen.

Man muss einen Stadtplan auf den Knien haben, auf dem Schriftzeilen sich wie Straßen hinziehen, um sich ein Bild vom Montageprinzip zu machen. In den Außenbezirken der Zone konnten kritische Auseinandersetzungen einen Flaneur in einen Schlafwandler verwandeln, der sich weder auf gewohnte Erscheinungen noch Phänomene verlassen konnte & dem nur Schweigen geblieben war. Die dicht gedrängten Dächer einer Vorstadt verschwammen in der spontanen Oberflächenwahrnehmung, die das Hier & Jetzt zu einer beliebigen Chiffre machte.
Die exterritorialen Jahre wurden einst die biografischen genannt. Einige Genossen waren dabei im Knast gelandet. An luziden, filmischen Rechtfertigungen fehlte es nicht. Intakte Sätze waren mehr denn je semantischen Zerreißproben ausgesetzt. Glauben Sie, was da schwarz auf weiß vor Ihnen steht?
Der beschreibende Code erweist sich als unbrauchbar, wenn der Zufallsfaktor als treibende Kraft übernimmt. Die Grenzen der Zone wurden von der Ausbreitung der Außenbezirke bestimmt. Wie Dokumentarfilme zeigten, blieben auf einem geometrischen Kontinent vor allem die südlichen Viertel unter einem Netz undurchdringlicher Geheimnisse verborgen, & das hieß, dass sie sich jeder schriftlichen Darstellung entzogen. Straßen wurden wahllos gesperrt & Viertel, durch die sie führten, verschwanden über Nacht. Auf Fragen, wo sie geblieben waren, hieß es, sie seien der Stadtplanung zum Opfer gefallen.
Manchmal gelang es sensiblen Flüchtlingen, in den Häusern der Altstadt Zuflucht zu finden. Es gab Zwischenstufen, die eine Rückkehr, wenn auch nur vorübergehend, in die Vergangenheit möglich machten. Nur spontan & in flüchtigen Augenblicken konnte das radikale Jetzt in Flashbacks einer spontanen Wahrnehmung auftauchen.
Der erste Schritt zum Abschied von der Gegenwart ist nicht ohne einen biologischen Nachfolger zu schaffen, was gewöhnlich nur mit Hilfe eines Dritten gelingt. Ein Dritter spielt immer eine Rolle, wenn es ums Verschwinden geht. Wenn zwei sich einig sind, kann die Übernahme durch einen Dritten beginnen, der entweder als Beobachter oder Agent auftritt. Der Plan dafür beruht auf grammatikalischen Regeln, die für die digitale Kommunikation unerheblich & von denen die meisten praktisch verschollen sind.
In der Zone kam es vor, dass man mitten in der Nacht aufwachte & feststellte, dass man telepathisch Gedanken empfangen & lesen konnte (die einzige Art des Lesens, auf die noch Verlass war). Geografische Orientierung reichte nicht aus, denn die meisten Straßen verliefen nach dem Zufallsprinzip. Einige zogen sich endlos hin, andere endeten nach wenigen Häuserblocks. Gedankenstriche waren absolut nötig, um sich im Stadtbild der Zone zurechtzufinden.
Wer als Flaneur unterwegs war, montierte seine Streifzüge aus Randomschritten. Der Orientierungssinn richtete sich nach virtuellen Hinweisen aus den im städtischen Panorama versteckten Zeichen. In einem als unseriös eingestuften Fremdenführer stand, dass Luis Buñuels Grab auf den Hügeln oberhalb der Zone lag. Nach literarischen Merkmalen allerdings suchte man im Stadtbild vergebens. Sie waren entweder verblasst oder kritischen Zweifeln zum Opfer gefallen. Sprache diente vor allem als Entschlüsselungscode für archäologische Funde.
Die Atmosphäre in der Zone suggerierte einen Zustand, in dem es weder Grenzen noch Ziele gab. Die geometrisch angelegten Außenbezirke täuschten vor, frei von Geheimnissen zu sein. Aber es war nicht zu übersehen, dass hier vor allem Fellachen & Beduinen siedelten. Ein Wanderer musste mit dem schriftlichen Versuch scheitern, etwas über die Lage der Zone festzuhalten. Auf welcher Seite des Äquators lag sie? Wie weit nach Süden oder Norden reichte sie? Zwar kursierten stark fiktiv belastete autobiografische Berichte, & in Dokumentarfilmen wurden surrealistische Landschaften gezeigt. Auch gab es Zwischenstufen, die an jeder Straßenecke andere, von den Störfaktoren der Übertragung verseuchte Assoziationen auslösten. Die Altstadt galt als Ort der Inkompetenz, wo sich die Lebensbedingungen laufend änderten. In Touristenhotels kam es ständig zu Auseinandersetzungen darüber, was auf realistischen & was auf suggerierten Vorstellungen beruhte.
Von Zeit zu Zeit (vor allem, wenn von „Arabern“ die Rede war) kam es zu Paniken, die den Sicherheitskräften zusätzliche Einnahmen verschafften. Ein Mädchen trank Ziegenmilch & schon wurde in den Medien über Menschenhandel & Kinderkrieger spekuliert. Französische Intellektuelle entdeckten den europäischen Einfluss auf maghrebinische Fehlentwicklungen. Politiker nutzten die Streitigkeiten, um auf Distanz zu populistischen Tendenzen zu gehen. Verschiedene Interessensgruppen schmiedeten einen Pakt, der das bewährte Links-rechts-Muster umging. Auf dem internationalen Platz der Macht wurde um Informationen nach den Regeln des Showgeschäfts geschachert.
Es kam vor, dass Schieber & Zwischenhändler, die ihre konspirativen Strategien für eine Alternative zur „kolonialen Unterwanderung“ hielten, bei dunklen Geschäften in einen Stummfilm gerieten, der ihr Geplapper wortlos machte.
Allmählich entwickelte sich die Zone zu einer Arabeske des vierten Wegs, wo statt Untertitel nur Schlagzeilen zählten. Welche Promis hatten es mit welchen getrieben? Wahre Absichten wurden nicht ohne Rückendeckung inszeniert. Mit getürkten Meldungen konnten spielend elektronisch generierte Identitäten gewählt werden. Angriffe aus dem fiktiven Raum waren nicht zu identifizieren. Über Grabenkämpfe zwischen einzelnen Fraktionen, an denen sich Publizisten aus allen Lagern beteiligten, wurde ausführlich berichtet, um die Auflagen der Printmedien zu erhöhen. Extremisten ergriffen die Chance, sich mit griffigen Twittersprüchen einzumischen.
Das Verhältnis von Ziegenmilch & Politik zu behandeln, galt als ambivalent & riskant. Diplomaten, die besonders niederträchtig mit Informationen umgingen, hielten sich an der Macht, indem sie scheinbar behutsam auftraten. Keine Konflikte, keine Polarisierung, war ihre Devise. Niemand konnte sagen, wohin der vierte Weg führte. Er wurde schließlich als Vernebelungstaktik & Nährboden fauler Kompromisse gleichzeitig gepriesen & diffamiert. Im virtuellen Raum tobten unübersichtlich inszenierte elektronische Grabenkämpfe & erstickten kritische Auseinandersetzungen.
Wenn das Alphabet mit Geschichte kollidiert, bleibt nur: Einfach dazwischen gehen, einen Freibrief unterschreiben, & den Broadway hinuntersegeln…

Den Auftrag hatte ich längst fahren gelassen. Jetzt ging es nur noch darum, die Zone schleunigst zu verlassen, indem ich versuchte, unterm Datenradar durchzuschlüpfen. Aber die Kontrolleure der „Wahrheitssysteme“ hatten sämtliche Kanäle blockiert. Eine Zeitlang legte ich fiktive Spuren, um Schnüffler abzuschütteln, die wie Zecken an mir klebten. Der Autor in mir, an den ich kaum noch dachte, hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wann es brenzlig wurde. Ich wollte nichts von ihm wissen & hörte nicht auf ihn. Aber allmählich wurde mir klar, dass ich in der Klemme saß. Ich bat ihn um den Gefallen, mich einer biografischen Transformation zu unterziehen. Allein schaffte ich das nicht, aber mit seiner Hilfe…
„Was verlangst du dafür?“, fragte er.
„Um Kohle geht’s nicht.“
„Seit wann?“
Er wollte mich nicht verstehen & riet mir, es mit einem Unschuldsengel zu versuchen. Das war dieselbe Masche, mit der sich der Fliegende Holländer vom Fluch eines endlosen Lebens befreien wollte. Bedingungslose Liebe sollte ihm den lang ersehnten Tod bringen. Ich fragte mich, ob es auch mit einem Flittchen oder einer Emanze klappen würde, wo doch die reine Liebe mit der Romantik vergangen war. Inzwischen drehte sich Liebe um die Frage, wer den Müll rausträgt, & Unschuld war mit der Frauenpower auf der Strecke geblieben…
Wer sich als Mann ausgab, konnte in der Zone schnell unangenehm auffallen. Er wurde als Chauvi geschmäht, der in der falschen Epoche gelandet war.
Der Autor verriet mir, dass er sich mit einem Roman über die Machenschaften des Komitees für Interne Frage befasse, ein Ansinnen, für das ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Auch die Unauffälligen wurden Opfer der Ideologie. In einer „falschen Epoche“ blieb niemand ungeschoren, was daran lag, dass Konsens ansteckend war.
Mit dem Gerücht, dass Informationen unterirdisch gespeichert wurden, brach ein regelrechtes Fluchtfieber aus. Jeder versuchte seinen genomischen Datensatz zu retten, was in Umkleidekabinen immer wieder zu unerwarteten Konflikten führte. Wer war der Schatten, der wie ein Pantomime die Gestalt & Bewegungen einer Frau nachahmte, die sich in gebückter Haltung den Slip hochzog? Jeden Augenblick konnte sie an ein als Algorithmus getarntes Datenprofil geraten, das sie unter dem Deckmantel sexueller Belästigung aus der Fassung brachte. Belästigung oder nicht, sie schaffte es, den Angriff auf ihre mühsam zurechtgebastelte Identität abzuwehren, indem sie sich als androgyne Emanze ausgab.
Die Realität hing wie eine Klette an mir. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich mich vorübergehend in die Fiktion zurückziehen & wochenlang von Salzstangen & Sprudelwasser leben. Aber irgendwann ließ mich die Illusion der Singularität im Stich. In einem ideologisierten Milieu sind es gerade die Unauffälligen, die sich verdächtig machen & ins Visier des Komitees für Interne Fragen & damit in eine Fangschaltung der elektronischen Überwachung geraten.
Durch den Schreibvorgang, behauptete der Autor in mir, konnte sich der ganze Informationsgehalt der Zellen mit einem Schlag entladen & „du stehst mit leeren Händen da“. Wenn das passiert, verwandelt sich der Körper in einen Schatten. Wohin mit dem Ektoplasma, das ist dann die Frage. Ein Schatten entzieht dem Körper die Epidermis, & er kann jede Form annehmen, sichtbar oder nicht.
„Aber die Möglichkeiten, sich in eine dritte Darstellungsform zu retten, verrate ich dir nicht“, sagte der Autor.
Er war zweifellos ein Scharlatan, der mit der List eines Lockvogels & aus dem Hinterhalt auftrat. Allmählich wurde mir klar, dass er mich in eine Falle locken wollte mit der Folge, dass ich nie einen Roman hinkriegen würde. Was einerseits für ihn sprach, andererseits aber war er eine Nervensäge & warf mit Phrasen wie „Protoplasma ist eine Einbahnstraße“ um sich & faselte vage von Fluchtplänen.
Ich schloss die Augen & sah Parkplätze & dampfende Gullys, zwischen denen ich durch die Zone irrte. Es roch nach fleischlichem Zeitungspapier & Abfall in Plastiktüten. In einem Hausflur wollte mir eine dunkle Gestalt eine genetische Verjüngungskur andrehen. Wimmern & Lustgestöhn schwirrte durch die Dunkelheit.
Im Schein des Mondlichts blitzte kurz die Silhouette eines weißen Cadillacs auf, der durch eine hügelige Landschaft fuhr, die von Wiehern & Grunzen erschüttert wurde. Er hielt, die Tür öffnete sich & die schlanken Beine einer Frau schoben sich ins Freie. Sie zögerte, entschloss sich dann aber, sich die Füße zu vertreten. Im Licht der Scheinwerfer konnte ich sehen, wie sie nach wenigen Schritten bis zu den Hüften im Treibsand versank…

Das Filmskript, das ich noch immer mit mir herumschleppte, war ein Dummy. Die Seiten waren mit Fluchtgedanken bekritzelt & kaum noch lesbar. Wegen der Überwachung durch das Komitee wagte ich nicht, ein Hotelzimmer zu nehmen. Ich schlief im Wagen auf Parkplätzen & Aussichtsterrassen. Aus Autos, die in der Nähe standen, war manchmal lautes Lustgestöhn zu hören, das gelegentlich in ein Grunzen überging, wie es beim Oralsex entsteht.
Kosmische Strudel fegten über den Kontinent, & Schwarze Löcher blieben zurück. Ich wollte mich nach Westen durchschlagen, was aber widrige Umstände immer wieder im letzten Augenblick verhinderten, weil entweder Bullen auftauchten & ich eine andere Richtung einschlagen musste oder die Straße an einer Küste endete, wo es nicht weiterging.
Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, die Zone per Schiff zu verlassen, was allerdings mit den Gefahren eines historischen Romans verbunden war, in dem Leute um die halbe Welt reisen & dabei riskieren, in die Hände von Piraten zu geraten. Ich wollte mich nicht auf Rückblenden einlassen, denn aus der Vergangenheit kehrt niemand unbeschadet zurück.
„Die besten Ficks…“, erklärte mir ein Matrose. Aber ich winkte ab. Matrosen sind Dilettanten, wenn es um Lust & Befriedigung geht. Im Umgang mit Frauen war es besser, keine großen Töne anzuschlagen & den Mund zu halten.
Ein wenig Skopolamin kann einer Story nicht schaden. Es dämpft den Ekel vor überdeutlichen Bildern, wenn sie anfangen, sich wie Schlingpflanzen um die Nervenstränge zu ranken. Ich kaute Ginkgo, um im Gewirr von Gassen & Passagen einen klaren Kopf zu behalten. Ich wollte endlich die Rolle loswerden, die im Skript für mich vorgesehen war.
Unter der Kuppel eines türkischen Bads kamen mir starke Zweifel, ob die Story dafür taugte, meinen Auftrag unauffällig zu erledigen. Ich wartete auf eine Gelegenheit, den Panikknopf zu drücken & mich aus den zusammengewürfelten Szenen des Plots zu katapultieren. Es reichte nicht, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken & im Gedränge von Touristen unterzutauchen. Die Stadt, durch die ich mich bewegte, blieb Theaterkulisse. Schön anzusehen wie der Teint einer Blondine, aber von keinen Eigentümlichkeiten getrübt. Die Schatten der Zypressen & Zedern zerbröselten, & auf dem Silver Screen blieben verschneite Fade-outs zurück.
Aus einem Zeitungsbericht erfuhr ich, dass der vermisste DJ bei einer Gegenüberstellung leugnete, sich das Leben genommen zu haben. Er deutete an, dass er vom Rummel um seine Person die Nase voll hatte. Ich glaubte ihm kein Wort, & der Reporter hakte nicht nach. Die Angelegenheit erwies sich als geschickter Publicity Stunt.

Ich nahm ein Flugzeug nach Guatemala, wo ich wegen der Regenzeit drei Tage auf einem miesen, kleinen Flugplatz festsaß. Ständig hieß es, die Maschine nach Mexiko würde aufgetankt, aber dann wurde der Flug immer wieder verschoben, weil ein Gewitter die Abfertigung unmöglich machte.
Immer mehr Passagiere tauchten auf & die Abflugshalle füllte sich. Als alle Sitzplätze belegt waren, setzten die Leute sich auf den Boden. Manche packten Proviant aus, andere schliefen. Die meisten waren in ihr Handy vertieft & versuchten, Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen. Immer wieder fiel die Klimaanlage aus & es wurde stickig heiß.
Das Personal an den Schaltern wechselte & machte hinhaltende Ansagen. Draußen, in der Dunkelheit, zuckten immer wieder Blitze auf. Wartende berieten, ob es einen Ausweg aus der Misere gab. Zurück in die Stadt? Bis zum nächsten Tag durchhalten? Auf den Tisch hauen & sich Klarheit verschaffen?
An einem kleinen Stand gab es Getränke & Sandwiches, der ständig belagert wurde. Um ihn zu erreichen, musste man sich einen Weg durch Koffer, Taschen & auf dem Boden Sitzende bahnen. Irgendwann hieß es, dass die Maschine zwar betankt sei, aber die Besatzung ihre Dienstzeit überschritten habe & eine andere angefordert werden müsse.
Allmählich schwand das Gefühl für Zeit. Wo zum Teufel war ich überhaupt? Ein Mann in meiner Nähe fragte, ob es eine Möglichkeit gab, ein Wasserflugzeug zu chartern. Ich hatte keine Ahnung, was ihn auf diese Idee brachte. Ein anderer schlug vor, es mit einem Heißluftballon zu versuchen, sobald der Sturm sich verzogen hatte. Mir war mehr danach, die Nacht in einem Puff abseits von Touristenhotels zu verbringen. Aber mit einem Transitticket konnte ich das Flughafengebäude nicht verlassen.
Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich eine Art Zuneigung für eine Gestalt in meiner Nähe entwickelte. Eine junge Asiatin, die eine lange Reise hinter sich zu haben schien, saß ruhig & gelassen da, als meditierte sie mit offenen Augen. Kinder spielten gleichmütig mit Voudou-Puppen, die sie aus der Tasche ihrer Mütter gekramt hatten. Ein dunkelhäutiger Reinigungsmann in einer adretten Uniform am Eingang zum Klo, der sich mit der Gelassenheit ländlicher Bewohner bewegte, schaute verwundert auf das wirre Getümmel in den Gängen. Es war ein Anblick, der ihn vermutlich an den Errungenschaften der Zivilisation zweifeln ließ.
Ich verlor die Hoffnung, diesen Ort je wieder zu verlassen. Es schüttete unentwegt, & selbst wenn der Regen vorübergehend nachließ, wurden die Phasen der Beruhigung von Donner & fernen Blitzen erschüttert. Es war, als hätte ich Tage auf einem unbequemen Sitz verbracht. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, um mir einen ruhigen Fleck im Abflugsbereich zu suchen, wo die Luft ein wenig besser war. Damit riskierte ich, anschließend keinen Sitzplatz mehr in der Nähe des Abfertigungsschalters zu finden mit der Aussicht, die nächsten Stunden in einer Ecke am Boden zu verbringen.
Gäste standen an den Fenstern & verfolgten das nächtliche Spektakel auf dem Vorfeld. Kurz blitzten Umrisse von Maschinen auf, dann verschwanden sie wieder hinter einer Schattenwand.
Zeitweilig wurde es atemlos still in der Halle. Die meisten Leute schliefen. Als ich einen Blick nach draußen warf, konnte ich Palmstämme erkennen, die sich im Wind bogen. Die Rippen einer Jalousie klapperten, & ich glaubte, in einen Hurrikan geraten zu sein. War es möglich, dass die Airlines das den Wartenden verheimlicht hatten? Alles war möglich an einem Ort, der von der Außenwelt abgeschnitten war. Kaum zu glauben, aber es kam mir vor, als wäre das Bodenpersonal hinter den Schaltern gegen Schaufensterpuppen ausgetauscht worden. Manchmal waren Ansagen zu hören, von denen ich kein Wort verstand.
Wieder zuckten Blitze auf & verzerrten die Gesichter in meiner Nähe. Plötzlich wurde mir klar, dass der Strom & mit ihm die Beleuchtung ausgefallen war, wodurch sich das Treiben in der Halle nur bruchstückhaft erkennen ließ, wenn ein verirrter Lichtschein über zusammengesunkene Gestalten & Gepäckstücke glitt. Kinder schrien im Schlaf auf. Dunkle Gestalten wankten durch die Sitzreihen, als suchten sie einen Verdächtigen, der durch die Sicherheitskontrolle geschlüpft war. Verschlafen hantierte ein Mann in einem Poncho mit Pillen & Pulvern, die er verstohlen zu sich nahm. Frauen saßen da wie in Gedanken an ein vergessenes Gewerbe versunken. Spärlich bekleidete Engel huschten zwischen den Schlafenden herum, um Hilflose mit dem Nötigsten zu versorgen.
Aus den wahllos zusammengewürfelten Passagieren war eine Gemeinschaft von Gestrandeten geworden, die ohnmächtig auf ein Zeichen der Rettung warteten. Kranke, denen die Medikamente ausgegangen waren, gingen die Nerven durch. Einige wurden von Zuckungen erschüttert, andere versanken in regloser Apathie. Schwarzmarkthändler boten nutzlose Waren an, die sie in Seesäcken mit sich herumschleppten.
In meiner Nähe saß ein Mann, der ständig fotografierte & sich Notizen machte wie ein Ziviler, der Einzelheiten für einen Lagebericht zusammentrug. Schachspieler hatten sich am Boden niedergelassen & versuchten, sich auf die Figuren zu konzentrieren, die aber immer wieder von achtlos Auftretenden über den Haufen geworfen wurden.
Blicke einer Lesbe verrieten, dass sie keinen Mann in ihrer Nähe wollte & in tödlicher Mission unterwegs war. Ein suchtkranker Junky saß da wie von einer Krankheit befallen, die ihn an jeder Regung hinderte. Er schien die Gegenwart hinter sich gelassen zu haben & in eine zeitlose Ära abgetaucht & zum Scheintoten erstarrt zu sein. Die Abfertigungshalle glich allmählich einem Asyl verirrter Seelen, die in einem Zustand zwischen Verzweiflung & Aussichtslosigkeit gefangen waren.
Ein Forschungsreisender mit Augen, die nach einem langen Dschungelaufenthalt zugeschwollen waren, hinkte zwischen den Wartenden herum. Sie wichen erschrocken zurück, wenn er ihnen zu nah kam. Ein betrunkener Bulle schlug wild um sich, um sich Moskitos vom Hals zu halten. Er fuchtelte mit unleserlichen Meldezetteln herum, die er für gefälschte Rezepte für Ayahuasca hielt. Ein Indio mit kupferfarbenem Gesicht ahmte die Laute von Urwaldtieren nach. Zwischendurch schwirrten Schwaden von Pulque durchs Gedränge in der Halle. Tote, die kaum von apathisch Ausharrenden zu unterscheiden waren, wurden auf Bahren ins Freie gebracht & den Aasgeiern überlassen.
Zerlumpte Geisterwesen drängten sich um einen klapprigen Spielautomaten, den sie mit Chips aus Knochenteilen fütterten. Halb Verhungerte & von geisteskranken Göttern besessene Sektenmitglieder schleppten sich mit letzter Kraft ins Klo, wo sie sich auf einen Sitz fallen ließen & ihr Leben aushauchten.
Abenteuerliche Pläne wurden ausgeheckt, erwiesen sich aber als undurchführbar, denn es gab kein Entkommen aus dem Inferno. Die Szene glich allmählich dem Sektencamp von Jonestown, wo Plastikbecher mit vergiftetem Kool-Aid verteilt wurden. Einige Passagiere waren bereit, Schluss zu machen, die meisten allerdings schreckten ängstlich vor jedem Getränk zurück & riskierten lieber, zu verdursten. Dass Vollmond war, wurde als schlechtes Omen betrachtet. Apokalyptische Visionen machten die Runde, in denen es um das Ende einer Dschungelexpedition auf der Suche nach El Dorado ging. Es hiess, der Flughafen würde allmählich von der unaufhaltsamen Vegetation des Urwalds geschluckt & verschwinden, wie einst die Tempelstädte der Maya. Zwischen Koffern & Taschen ringelten sich Schlangen. Frauen schrien & Männer gingen mit Plastikmessern & Gehstöcken auf sie los. Nach kurzer Zeit bot die Halle ein Bild mörderischer Zerstörung.
Was tun in einer aussichtslosen Lage? Ruhe bewahren hiess, dem Verderben in die Augen schauen. Ich war von Geistern umgeben, die wie Sternschnuppen durch die Dunkelheit rauschten. Ein paar Verwegene, die den Platz vor dem Flughafen erreicht hatten, klammerten sich an Palmstämme, um nicht von Regengüssen & Sturmböen mitgerissen zu werden. Ein zerfetztes Kleid flatterte im Wind. Die Finsternis hatte sämtliche auf dem Vorfeld abgestellten Maschinen geschluckt. Längst waren Snacks & Getränke ausgegangen. Rettung war nicht zu erwarten.
Allmählich verschwand das Gefühl für Schatten, & das Flugfeld war einem bunt gefleckten Mohnfeld gewichen. Jemand fragte nach einer Möglichkeit, in die nächste Stadt zu kommen. Ein Uniformierter meinte, dass es weit & breit keine Stadt gab.
Das Klo glich plötzlich einem türkischen Bad, in dem Männer mit Handtüchern um die Hüften standen & sich unterhielten.

Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, um die letzten Tage zu vergessen & einen Bus oder ein Taxi zu ergattern, ganz gleich wohin. Als ich ins Freie trat, fuhr mir ein Hauch von exotischen Gewürzen in die Nase. Ich wusste, es würde eine lange Reise werden. Ich erinnerte mich nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich als einziger Fahrgast in einem Bus saß, der durch die Schneise einer dichtbewachsenen Landschaft fuhr. Manchmal tauchten Fußgänger auf, ihre Gesichter mit Tüchern vermummt.
Die undurchdringliche Vegetation öffnete sich zu einem Strand, auf dem wie auf dem Korridor eines Hospitals Patienten mit blutgetränkten Verbänden herumliefen. Vor einer schäbigen Hütte wurde auf Widerspenstige eingeprügelt & Fliehende mit Bolas & Ruten mit Widerhaken gejagt. Ein bläulich angelaufener Asiate lief mit einem Kris in der Hand Amok… & eine skandinavische Touristin stürzte sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe eines Wasserfalls.
Von Zeit zu Zeit hielt der Busfahrer & betrachtete eine Landkarte, als hätte er sich verfahren. Es war ein heißer Septembertag, & die Ausläufer eines Hurrikans verhüllten die Sonne. Aus dem Off war ein nervöses Kichern zu hören. Es klang, als würde sich jemand darüber amüsieren, dass der Fahrer die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Während ich mit geschlossenen Augen auf dem schlecht gepolsterten Sitz im Bus saß, verfolgten mich Albtraumbilder. Wenn ich bestimmte Reizwörter wie Yagé oder Traumstrand hörte, bäumte sich mein Körper auf. Ich wusste, die Landschaftsbilder würden über kurz oder lang in einem Filmarchiv verschwinden.
Es gab Anzeichen, dass es im Erbgut des verseuchten Planeten zu genomischen Mutationen gekommen war. Berichte über ungeklärte Unfälle häuften sich. Als Ursache für einen Fehler, bei dem der Pilot vom Kurs abgekommen war, wurde die Hitze genannt. Tatsächlich hatte sich das Magnetfeld verschoben & die Richtung geändert.
Es gab Tage, die, verbunden mit einem Gefühl erotisierter Gleichgültigkeit, geeignet waren, den Kontinent physiologisch hinter sich zu lassen.
Allmählich entfaltete sich in meinem Unterbewusstsein der Fahrplan für eine Fahrt ins Unbekannte, der mich in einen Zustand versetzte, der dem des Fliegens glich. Hinter sich lassen… in räuberische Gegenden geraten… in Hieroglyphen denken… akustischen Schatten nachgehen… Wörter kitzeln & Dinge zurücklassen… sich Gefechte mit Bildern liefern… Gebiete ideologischer Kriege meiden… Sprache mit dem Stoffwechsel abstimmen… auf Flammen balancieren, die aus der Hölle hochschlagen… im freien Fall Straßenkontrollen überwinden…
Sucht lauerte hinter sozial gesteuerten Kodifizierungen. Aussagen zur geistigen Selbstverstümmelung mussten ständig angepasst werden. Auf den Boden spucken, & in einem gottverlassenen Nest einen Seco schlürfen.
Sprache kann einen überall erwischen.
Langsam verfärbte sich der rote Faden des chronologischen Ablaufs. Flimmerndes Blau ging in der Hingabe in einen nackten Körper über. Im schwachen Schamlicht glitzerte ein venezianisch verzierter Tisch. Es war ein Bild, das mich den Fluch des räumlichen Sehens spüren ließ…
In der Komplexität von Flauten zwischen Passatwinden verschwanden die Koordinaten des Bewusstseins, & die Gegenwart beschränkte sich auf Schwitzen, Trinken & Flugerinnerungen im triebhaften Takt von Traum & Rausch beim langsamen Hinübergleiten in den außerirdischen Raum…

MOLOKO PRINT 045 | 2018
© Jürgen Ploog
Collagen. Jürgen Ploog
Gestaltung. Robert Schalinski
ISBN 978-3-943603-48-4

Jürgen Ploog war Schriftsteller und Publizist. Er war 33 Jahre lang Linienpilot, seit 1993 widmete er sich ausschliesslich dem Schreiben. Er lebte in Frankfurt und Florida. Am 19. Mai 2020 starb Jürgen Ploog 85jährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Beitragsbild © Cohen Archive LLC

Helena Adler «Die Infantin trägt den Scheitel links», Jung und Jung, Gastbeitrag «Konzepte»

Die Österreicherin Helena Adler beherrscht die Kunst der Übertreibung wie weiland der Grossmeister des Grants, Thomas Bernhard. Sie verwandelt eines seiner Lieblingsthemen, die Verkommenheit des Landlebens, in ein Sprachkunstwerk zwischen katholischer Klagelitanei und brachialem Punksong.

Wutrede aus der „Misthaufenresidenz“
Gastrezension von Christian Lorenz Müller

Biobauernhöfe haben ein gutes Image. Anstelle von Gülle und Kunstdünger lässt krümeliger Mist das Gras und das Getreide spriessen; den Kühen wird nicht zwei Mal am Tag ein Protein-Burger aus brasilianischem Soja vorgesetzt, sondern gesundes Vollkorn-Heu von der artenreichen Wiese hinter dem Haus. Die ländliche Idylle ist in den Köpfen der Stadtbevölkerung längst wieder komplett – auch in Salzburg. Dort zerschmetterte in den 1970er Jahren Franz Innerhofer das Bild vom beschaulich-friedlichen Landleben. Der Bergbauernsohn war vom eigenen Vater über Jahre hinweg als Arbeitssklave missbraucht worden; seine stark autobiographisch geprägten Romane zeichnen nach, wie er sich unter grössten Mühen einen Weg aus einer sprach- und fühllosen Familie bahnt, wie er zum Schriftsteller wird, und, von der literarischen Welt tief enttäuscht, schliesslich wieder verstummt. 

Nun hat ein anderes Bauernkind aus Salzburg einen Roman über das Aufwachsen auf dem Land vorgelegt. Helena Adler, Jahrgang 1983, stammt von einem biologisch bewirtschafteten Betrieb, der hoffentlich nicht in allem das Vorbild für den Hof abgegeben hat, den sie beschreibt. Allein schon die Figuren in ihrem provokanten Text sind allesamt zum Fürchten: Zuvorderst das „wilde Vatertier“, das zwar „lieb zu seinen Kindern“ ist, ansonsten aber „alle anderen auffrisst.“ Kurz vor Weihnachten fährt dieses Vieh mit seinem Nachwuchs in die nahe Stadt, kauft auf dem Christkindlmarkt Halbedelsteine, an deren Heilkraft es glaubt, und pöbelt ein paar Minuten später im Dom gegen die katholische Kirche. Die Mutter hingegen, eine Person von „abgründiger Fürstlichkeit“, füllt die Opferstöcke der Gotteshäuser mit einem Geld, das die Familie nicht hat. So überschuldet ist das Anwesen, dass erst ein Blitzeinschlag Erleichterung bringt: Der Stall brennt ab und die Versicherung zahlt. Der Vater hat wieder die Mittel für seine Ausflüge in einschlägige Spelunken und Hurenhäuser, von denen er manchmal erst nach Tagen übel zugerichtet zurückkommt. Und dann gibt es noch die Grosseltern und die Urgrosseltern, und es gibt die älteren Schwestern, Zwillinge, die sich „ihr Erbgut, ihr Hirn und die Jausenbrote“ teilen. Dass sie die Ich-Erzählerin einmal in die Selchkammer einsperren und ihr weismachen, sie werde bald „ganz schwarz“ aussehen „wie der alte Speck“, gehört noch zu den minderen Gemeinheiten, die sie ihr im Lauf der Jahre antun. 

„Der Herrgott in der Ecke am Kreuz streckt die Arme aus, seine Knie schlottern. Meine Zähne klappern. Nicht mehr lange, dann wird er herunterfallen. Wer beschützt mich dann vor den Raubschwestern?“

Es geht also denkbar derb und direkt zu in Adlers Roman. Dementsprechend ist auch die Sprache, sie packt sofort zu, sie zerrt die LeserInnen hinein in eine Welt, in der sich gegen das Beherrschtwerden nur wehren kann, wer kräftige Fäuste hat oder eine – wie man in Salzburg sagt – g‘schnappige Goschen. Die Hände der Erzählerin sind baybyweich wie Pfoten, also bleibt ihr nichts anderes übrig, als Widerworte zu geben. Wohl auch deswegen gerät „Die Infantin trägt den Scheitel links“ über weite Strecken zu einer kunstvollen Wut- und Verteidigungsrede, die immer wieder überrascht, verblüfft und verstört. Adler schwingt sich auf ihre Sprache wie auf einen Traktor, sie tritt das Gaspedal durch und brettert sicher durch schwieriges, literarisch eigentlich längst abgeschriebenes Gelände: Durch das sanft sich dahinhügelnde Katholische zum Beispiel, durch das Bitten und Beten und Psalmodieren; durch tiefe Wälder voller Jäger- und Wildererdramen und einmal sogar über die rauen, kalten Hochebenen körperlicher Arbeit, in der ein knapper Realismus herrscht.

Allerdings geht es fast immer mit Höllenradau dahin, was meistens Vergnügen macht, nach den ersten furiosen Kapiteln aber auch enerviert. Etwas vom Gas zu gehen oder den Traktor auch einmal im Leerlauf vor sich hinbullern zu lassen, hätte vor allen Dingen den Figuren gutgetan. Nur selten stolpern sie nicht schrill und überzeichnet durch die Seiten, nur selten gelangen sie kurz zu sich selbst, ehe wieder Vollgas gegeben wird und der thrashige Traktorritt weitergeht. Was steht hinter dem brutalen Gehabe des Vaters, hinter der Herrschsucht der Urgrossmutter, den Bosheiten der Zwillinge? Ist all die brachial inszenierte Wut, sind die Häme, die Verachtung der Hauptfigur vielleicht nur Fassade? Erst gegen Ende des Romans, als der Hof verkauft und die Kühe von ihrem Erzfeind, dem Fleischwolf gefressen worden sind, bringt die Autorin das erste Mal die Familiengeschichte ins Spiel, versucht, so etwas wie ein Innenleben ihrer Figuren zu rekonstruieren: 

„Er erzählt von der erdrückenden Liebe seiner Mutter. Idealisiert den Vater, der mit dem Auto im Suff einen Offizier getötet hat und dafür ins Gefängnis musste, als er, mein Vater, gerade sechs Jahre alt war.“

Derartige Sätze tragen nicht wirklich dazu bei, die Bestien vom Bauernhof nachträglich zu Menschen zu machen. Dass über ihre verschütteten Ängste, ihre unterdrückten Sehnsüchte kaum etwas zu erahnen ist, unterscheidet „Die Infantin trägt den Scheitel links“ grundlegend von Debütromanen zum gleichen Thema, zum Beispiel von Reinhard Kaiser-Mühleckers „Der lange Gang über die Stationen“ oder von Franz Innerhofers „Schöne Tage“. Trotzdem wird klar, dass das Grosswerden auf einer „Misthaufenresidenz“ über die Jahrzehnte nicht eben leichter geworden ist. Auch das Aufkommen der Biolandwirtschaft hat daran nichts geändert.

© Eva-Maria Mrazek

Helena Adler, geboren 1983 in Oberndorf bei Salzburg in einem Opel Kadett, lebt als Autorin und Künstlerin in der Nähe von Salzburg. Studium der Malerei am Mozarteum sowie Psychologie und Philosophie an der Universität Salzburg. Diverse Ausstellungen und Kunstaktionen, Veröffentlichungen in Anthologien und Literaturzeitschriften.

Diese Rezension ist eine Kooperation zwischen der Literaturzeitschrift «Konzepte» und literaturblatt.ch!

Die Konzepte erscheinen einmal jährlich und versammeln auf bis zu 180 Seiten Texte arrivierter sowie erstklassiger junger Autorinnen und Autoren. Lyrik und Prosa, Essays, Hörspiele und Rezensionen. In jeder Ausgabe werden Arbeiten von bildenden Künstlern oder Fotografen präsentiert.

Werke von bereits etablierten Autorinnen und Autoren stehen neben bislang unbekannten Stimmen. Damit ermöglichen die Konzepte den Zugang zu unterschiedlichen sprachlichen Ebenen und weisen den Weg für junge Schriftstellerinnen und Schriftsteller. „Jung“ bezieht sich hier weniger auf das Alter, sondern vielmehr auf das „zu festigende Standbein“ neuer Autorinnen und Autoren.

Seit nun schon dreissig Jahren erweisen sich die Konzepte als „Entdeckerquelle“ für schriftstellerische Debüts. Viele der hier erstmals vorgestellten Autorinnen und Autoren sind aus der zeitgenössischen Literaturszene inzwischen nicht mehr wegzudenken. Die Konzepte begleiteten den Weg zahlreicher wichtiger literarischer Stimmen, so z.B. Tanja Dückers, Joachim Zelter, Jan Wagner, Kurt Drawert, Ulrike Draesner, Nico Bleutge, Mirko Bonné, Norbert Hummelt, Marion Poschmann, Björn Kuhligk. Mit den jüngsten Ausgaben der Konzepte zeigt sich verstärkt das Interesse bekannter Dichter, neue Werke in der Zeitschrift vorzustellen, so z.B.  Günter Herburger, Jürgen Brôcan oder José F.A. Oliver.

Die Chefredaktion hatte von 1999 bis 2003 Markus Orths inne. 2003 übergab er die redaktionelle Verantwortung an die Lyrikerin Christine Langer (Findelgesichter, Jazz in den Wolken, Verlag Klöpfer & Meyer). Seit 2015 wird sie von Christian Lorenz Müller (Wilde Jagd, Roman, Hoffmann und Campe) unterstützt.

Hier bestellen Sie die einmal jährlich erscheinende Literatur-Zeitschrift Konzepte.

Beitragsbild © evatrifft.com

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese

In Zeiten globaler Katastrophen, ob virus- oder klimabedingt, verliert sich der Fokus auf die kleinen Katastrophen, die für Betroffene ein ganzes Leben nicht nur beeinflussen, sondern dominieren. Regula Portillo schrieb mit „Andersland“ einen Roman über das Auseinanderbrechen von Familien und wie sehr eine andere Epidemie, die in den letzten drei Jahrzehnten über 30 Millionen Tote forderte, das Leben nicht nur der Direktbetroffenen zerreissen kann.

Pascal lernt in Mexiko Lucía kennen. Lucía wird schwanger, will das Kind in ihrer Not aber nicht zur Welt bringen. Pascal setzt sich durch, das Mädchen Matilda kommt zur Welt und Pascal nimmt es mit in die Schweiz. Keine einfache Aufgabe für einen alleinerziehenden Vater. Aber Tobias, sein Bruder und dessen Lebenspartner Michael unterstützen Tobias und Matilda wächst in den ersten sieben Jahren wohlbehütet in der Fürsorge der beiden Brüder auf.

Bis Pascal an seinem Arbeitsort zusammensackt und ein Herzinfarkt Matilda zur Halbwaisen macht. Pascals Bruder Tobias setzt alles daran, dass Matilda bei ihm und Michael aufwachsen, in ihrer kleinen Welt bleiben kann. Aber Lucía in Mexiko erfährt vom Tod ihres einstigen Geliebten. Verschüttete Muttergefühle werden wach und Lucía setzt alles daran, dass Matilda bei ihr in Mexiko ein neues Zuhause findet, eine Familie, einen kleinen Bruder, einen sicheren Hafen.

„Wenn du nicht sprichst, ist die Stille zu laut“, sagte Matilda heute beim Abendessen, als ich müde und deshalb nicht sehr gesprächig war. (24. 6. 1984)

Aber auch Tobias setzt alles daran, dass das kleine, vaterlose Mädchen, das er in den ersten sieben Jahren wie eine eigene Tochter lieben lernte, das untrennbar in sein Leben gehört, bei ihm und Michael bleiben kann. Aber weil in den 90ern die Angst vor AIDS grassiert und man dem schwulen Paar den amtlichen Segen verweigert, gemeinsam das Kind aufziehen zu dürfen, fliegt Matilda mit der fremden Mutter nach Mexiko, in eine fremde Familie, ein fremdes Land mit einer fremden Sprache. Zurück bleiben gebrochene Herzen. Jenes von Matilda, das den Schmerz wie einen Kloss mit sich durch ihr Leben trägt und jenen von Tobias, dem nicht nur eine liebgewordenene Nichte entrissen wurde, sondern dem man amtlich das Recht verweigerte, das Sorgerecht für die Tochter seines toten Bruders zu erkämpfen. 

Regula Portillo «Andersland», edition bücherlese, 2020, 272 Seiten, 30.90 CHF, ISBN 978-3-906907-30-7

Regula Portillo beschreibt in ihrem zweiten Roman die Auswirkungen dessen, was die Entwurzelung der kleinen Matilda in den Leben in Mexiko und der Schweiz auslöst. Lucía versucht alles, um dem Mädchen ein gutes Zuhause zu schenken. Ihr Mann Fabio behandelt das Mädchen ebenso herzlich wie die Grosseltern. Und doch fällt Matilda der Start im neuen Leben schwer. Der Knoten bleibt, entwirrt sich nie, zieht sich im Mädchen phasenweise nur noch heftiger zusammen, vor allem Jahre später, während der Pubertät und noch später, als die erwachsen gewordene Matilda selbst spürt, dass ihr in Beziehungen die Nähe schnell beengend wird.
Gleichzeitig schliesst sich die offene Wunde, die der Abschied von Matilda hinterliess, bei Tobias nie. Tobias stürzt sich in den Kampf, sein politisches Engagement für die Rechte Homosexueller, nicht zuletzt jenes, selbst Familie sein zu dürfen. In den 90ern, als in der Gesellschaft die kollektive Angst vor AIDS grassierte, galt jede Berührung mit Menschen dieser Risikogruppe als Bedrohung. Schwule standen unter Generalverdacht, Träger einer hochansteckenden Krankheit zu sein. So konnte auch ein siebenjähriges Mädchen unmöglich bei einem schwulen Paar aufwachsen.

Unter den wenigen Dingen, die Matilda in ihr neues Leben in Mexiko mitnimmt, ist ein rotes Büchlein, in das Pascal, ihr Vater, kleine Episoden wie in einem Tagebuch hineinschrieb. Ein Büchlein, das ihr verschlossen bleibt, weil sie in den Jahren nach ihrem Neubeginn auf der andern Seite des Ozeans die Sprache ihrer Kindheit vergisst. Nur ein paar wenige Fotos bleiben, auch wenn die damit verbundenen Erinnerungen immer blasser werden.

Regula Portillo erzählt ganz behutsam. Sie trennt nicht auf, ordnet nicht in Gut und Böse. Lucías Leben nimmt seine Richtung nicht, weil Lucía die Richtung wählt, sondern weil man sie stösst und drängt, zwingt und weitgehend alleine lässt. Genauso das Leben von Matilda, das Leben von Tobias, ihrem Onkel in der Schweiz. Bleibt die Frage, ob man es schafft, den Knoten zu lösen, den Kloss freizulegen. „Andersland“ ist ein Roman über das verlorene Glück.

Interview mit Regula Portillo:

Ganz am Schluss des Buches steht unten auf einer sonst leeren Seite: „Vielen Dank Veronica, dass ich mich von deiner Geschichte inspirieren lassen durfte.“ Können Sie etwas über die Entstehungsgeschichte Ihres Romans erzählen?

Veronica steht ganz am Anfang dieser Geschichte. Wir haben uns kennengelernt, als wir beide acht Jahre alt waren. Kurz davor war ihr alleinerziehender Vater gestorben. Sie wohnte deshalb vorübergehend bei einer Pflegefamilie im Dorf, wo ich aufgewachsen bin, und wartete darauf, von ihrer Mutter, die im Ausland lebte, abgeholt zu werden. Eigentlich wäre Veronica lieber in der Schweiz bei ihrem Onkel geblieben. Diese Ausgangslage hat mich nie ganz losgelassen – wobei ich nicht weiss, ob die Ausgangslage, so wie ich sie schildere, überhaupt der Realität entspricht. Ich war ja noch sehr klein damals. Veronica und ich haben uns daraufhin aus den Augen verloren; erst vor ein paar Jahren haben wir den Kontakt zueinander wieder aufnehmen können. Ich habe ihr von meinen Erinnerungen an sie erzählt und von Matilda, der Protagonistin in Andersland. Ihre beiden Lebenswege sind natürlich sehr unterschiedlich verlaufen und doch gibt es einige Überschneidungen. Der Verlust der deutschen Sprache zum Beispiel.

Matilda verliert ihren Vater mit sieben. Ihr Onkel tröstet sie: „Er wartet anderswo auf uns.“ Verständlich. Im jenseitigen „Andersland“. Aber Ihr Roman erzählt auch vom diesseitigen „Andersland“, einer neuen Heimat, einem neuen Zuhause, wo alles anders ist. Auch vom „Andersland“ der Erinnerungen, die sich wandeln, die verblassen, die verklären. Ein schöner Titel! Wie sind Sie auf ihn gestossen?

Ursprünglich wollte ich Tobias und Michael miteinander über den fragwürdigen Ausdruck «vom anderen Ufer sein» reden lassen. Doch unabhängig davon, dass die Szene so nicht im Buch erscheint, war mir Ufer vom Bild her zu schmal, es sollte grösser, weiter sein – ein Stück Land, das auch positiv besetzt, erobert und gestaltet werden kann. Daraus entstand «Andersland». Es gefällt mir, dass Matilda, die so sehr zwischen die Welten fällt und zeitenweise verloren ist, diesen Ort schon als Kind zu ihrem eigenen erklärt. Obwohl damit auch viel Schmerzhaftes verbunden ist. Es ist ein Ort, an dem ihre verschiedenen Welten, Erinnerungen und Lieblingsmenschen Platz finden und keinen Normen entsprechen müssen.

AIDS schien vor dreissig Jahren apokalyptische Ausmasse anzunehmen. Heute scheint man sich mit dieser Epidemie arrangiert zu haben, obwohl in Deutschland beispielsweise noch immer jährlich 600 Menschen an den Folgen der Immunsystemzerstörung sterben. Wollten Sie eine globale Katastrophe in Erinnerung rufen?

@ Ayse Yavas

Ja. Aids hat sehr viel Leid angerichtet und ist auf jeden Fall ein Thema, das nicht in Vergessenheit geraten darf. In der Generation meiner Eltern kennen die allermeisten jemanden, der daran gestorben ist. Problematisch war ja nicht nur die Krankheit an sich, sondern auch die Stigmatisierung, die damit verbunden war – bzw. bis heute ist. Lange Zeit war von «Sex-Seuche» oder «Schwulenkrankheit» die Rede. Positiv war, dass Schwulenverbände und die staatlichen Gesundheitsbehörden früh zusammenspannten, um die beispiellose Aufklärungs- und Präventionskampagne «STOP AIDS» zu lancieren. Ich glaube nicht, dass jemals eine andere Kampagne so viele Menschen erreicht und geprägt hat. Dadurch hat eine Annäherung stattgefunden, die gesellschaftlich sehr bedeutend ist. Es ist auch dieses Momentum, das ich festhalten wollte: Wie selbst die schlimmste Katastrophe eine Chance bietet.

Matilda wird im Moment ihrer „Umsiedlung“ nie nach ihrer Meinung gefragt, jedenfalls nicht von den Entscheidungsträgern. Sie wird wie ein Gegenstand nach Mexiko verfrachtet und in ein neues Leben hineingestellt, abgestellt. „Zum Wohle des Kindes“ wird zum Wohl ausgewählter Erwachsener, um dem Gesetz zu genügen. Ein ewiges Dilemma? Nehmen wir Kinder zu wenig ernst?

Ein Dilemma, ja. Nach dem Tod von Matildas Vater gibt es zwei Entscheidungen, bzw. Verfügungen, in die Matilda nicht miteinbezogen wird. Zuerst entscheidet das Jugendamt, dass Tobias aufgrund seiner sexuellen Orientierung nicht für Matilda sorgen darf. Für Matilda, aber insbesondere für Tobias ist das ungeheuerlich. Matildas Wunsch, bei Tobias leben zu dürfen, hätte unbedingt berücksichtigt werden müssen. Weniger eindeutig ist es danach, als Matilda von ihrer Mutter nach Mexiko geholt wird. In den meisten Fällen spricht vieles dafür, dass das Kind nach dem Tod eines Elternteils beim anderen Elternteil leben kann. Auch bei Matilda. Zumal sich Lucía ja auch sehr ernsthaft bemüht, Matilda eine liebevolle Mutter zu sein. Lucías Fehler ist, dass sie Matildas Vergangenheit keinen Platz einräumt.

Ob Kinder generell zu wenig ernst genommen werden, finde ich schwierig zu beantworten. Ich denke, dass sich auf dieser Ebene schon auch viel verändert hat und die Bedürfnisse und Wünsche von Kindern – auch in Extremsituationen – stärker gewichtet werden als früher. In der Regel haben Kinder innerhalb der Familien heute mehr Mitspracherecht als zu Zeiten, in denen meine Eltern und Grosseltern Kinder gewesen sind.

Lucía leidet ein Leben lang, Matilda genauso, Tobias ihr Onkel auch. Einziges Mittel gegen dieses Leiden ist die Versöhnung. Nicht zuletzt die Versöhnung mit sich selbst. Und Versöhnung funktioniert nur über die Sprache, über das Sprechen. Das tägliche Brot aller TherapeutInnen. Millionen leiden unter dem Zwang der Menschheit, alles in die zwei Schubladen „weiblich“ und „männlich“ zu spalten. Versöhnen wir uns tatsächlich oder öffnen sich mit jeder Versöhnung nur neue Türen zu dunklen Räumen?

Versöhnung hat auch mit Verständnis zu tun; dem Willen und der Möglichkeit, sich in die Schuhe des Anderen hineinzuversetzen. Es ist zum Beispiel leicht, die eigenen Eltern zu kritisieren – bis man selber Kinder hat und merkt, was es bedeutet, vollumfänglich für einen kleinen Menschen verantwortlich zu sein. Die eigenen Themen und Abgründe lösen sich durchs Elternsein ja nicht einfach auf.

Ich denke, Versöhnung und Akzeptanz liegen nah beieinander. Habe ich eine Situation akzeptiert, werde dann aber aufs Neue mit ihr konfrontiert, können da durchaus wieder Türen zu dunklen Räumen aufgehen. Habe ich mich aber wirklich mit mir, der Situation, einem anderen Menschen oder dem, was passiert ist, versöhnt, bin ich davon befreit – so hoffe ich es zumindest.

Vieles wäre einfacher, wenn wir uns von unseren starren Geschlechter-, Rollen- und Familienbildern verabschieden könnten. Warum sollte beispielsweise Tobias nicht für ein Kind sorgen dürfen? Dass er es kann, hat er ja längst bewiesen. Oder warum ist die Wahrnehmung eine ganz andere, wenn sich eine Frau gegen ein Kind ausspricht als wenn ein Mann dasselbe tut? Sich von den gesellschaftlichen Erwartungen bezüglich unserer Rollen, die wir selber ja auch verinnerlicht haben, zu befreien, ist keine einfache Sache. 

Regula Portillo, geboren 1979, wuchs im Kanton Solothurn auf, studierte Germanistik und Kunstgeschichte an der Universität Fribourg und Buch- und Medienpraxis an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Sie lebte und arbeitete mehrere Jahre in Nicaragua, Mexiko und Deutschland. Für ihr Schaffen hat sie Förder­preise und Werkbeiträge von Stadt und Kanton Bern und dem Kuratorium für Kultur­förderung des Kantons Solothurn erhalten. 2017 ist ihr ­erster Roman «Schwirrflug»­ erschienen. Seit 2018 lebt sie mit ihrer Familie in Bern und ­arbeitet als Texterin in einer Kommunikationsagentur.

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Beitragsfoto © Ayse Yavas