in memoriam: Jürgen Ploog «Fake Fiktion»

Es gab angenehme Dilettanten & solche, die einem gewaltig auf die Nerven gehen konnten. Das waren die, die zu viel darüber nachdachten, was sie machten. Ein echter Amateur überlegt nicht lang, er macht einfach. Es ist wie mit Schönheitsoperationen: Die meisten gehen daneben, obwohl sie mit großem Aufwand betrieben werden. (Der auch mit den Schmerzen danach kaum zu rechtfertigen ist.) Ein echtes Spiegelbild ist eben nicht über Nacht hinzukriegen.
Ich war in der Altstadt von Maskat, Oman, unterwegs. Mein Hemd war durchgeschwitzt, ich hatte den Geschmack von Khat im Mund & machte in der drückenden Hitze bei jeder Gelegenheit halt, um einen Mokka zu trinken. Dabei gingen mir Passagen aus einem Filmskript durch den Kopf, mit dem ich mich seit einiger Zeit herumgeschlagen hatte. Der erste Entwurf stammte nicht von mir. Ein Filmer, den ich kaum kannte, wollte, dass ich es durchsehe, um dem Wirrwarr der Szenen eine „Struktur“ zu geben, wie er sagte. Mir kamen sofort starke Zweifel, ob ich der richtige Mann dafür war. Ich hatte etwas gegen Filmer, die einfach nur eine Story herunterkurbeln wollen & den Schnitt dazu nutzen, sich aus der Affäre zu ziehen, wenn sie mit der Story nicht mehr weiterkommen.
Wer filmisch etwas umsetzen will, muss mit dem Zeitablauf umgehen wie einer, der Karten legt.
Wieso Oman? Es ging um einen schwedischen DJ, der dort verschwunden war. Freunde von ihm wollten, dass ich mich vor Ort unauffällig umsehe. Wie oft steckte wahrscheinlich mehr dahinter, aber das, was sie mir anvertrauten, reichte, um mich ins Flugzeug zu setzen & mich getarnt als Tourist ins Gedränge in den Gassen der Altstadt zu stürzen.
Nachts fiel das Mondlicht auf die bleichen Mauern der Stadt wie auf eine Theaterkulisse. Es war ein Bild, das ohne Wirkung auf mich blieb, aber für die Eingangsszene eines Films taugte es. Um dem exotischen Effekt entgegenzuwirken, stellte ich mir vor, es zerspringen & die Splitter über die Leinwand taumeln zu lassen…
Als der Kaffee nicht mehr wirkte, griff ich zu Ritalin, das damals im Mittleren Osten rezeptfrei zu haben war. Ich konnte mir nicht leisten, mich von den Reizen der fremden Umgebung ablenken zu lassen.
Erste Erkundungen brachten mich nicht weiter. Meine Fragen wurden freundlich, aber mit einem Achselzucken abgewiesen. Ich musste mich irren, hieß es, wenn ich versuchte, Genaueres herauszufinden. Auch ein Foto des vermissten DJ half nicht weiter.
Einmal wachte ich in der Dunkelheit des Hotelzimmers auf & sah Sterne wie Schneeflocken durch die Nacht flattern. Am Rand eines Platzes standen ein paar gebogene Palmstämme vor einem Streifen Silberschimmer, wo ich das Meer vermutete. Als ich kurz die Rippen der Jalousie auseinanderbog, fuhr ein schnittiges Cabrio eine leere Straße entlang. Auf dem Beifahrersitz saß eine schlanke Frau mit dem Körper einer Schaufensterpuppe. Hinter dem Lenkrad konnte ich niemand entdecken. Der Blick auf die Straße hatte mir die Vision eines selbstfahrenden Wagens beschert…

Lust & das sie begleitende Skript. Ich blätterte in den Seiten auf der Suche nach einer erotischen Stelle, wie ich sie in alten französischen Schwarzweiß-Pornos in Bangkok gesehen hatte. Stummfilme, die hauptsächlich von der Kraft der Bilder lebten. Wenn eine Frau die Lippen bewegte, konnte sie Bon soir sagen, aber auch eine ermunternde Bemerkung von sich geben. Die Szenen spielten meist an halböffentlichen Orten. Im Taxi, in einem Separee, in einem Gitterlift… Sex braucht geschlossene Räume. Verführerische Episoden dagegen können sich an jedem beliebigen Ort ereignen.
In einer Bar spiegelten sich Lust & Verlangen bei Gegenlicht im Gesicht einer Frau… das Kleid hing an ihr wie eine im Wind flatternde Flagge… im Mondlicht trieben Schatten über ein wie ein Orientteppich gemustertes Mohnfeld am Rand einer levantinischen Stadt… ein türkischer Soldat beobachtete die Szene mit einer entsicherten Walther in der Hand…
Sex im Film läuft heute anders. Die Frau schwingt sich auf den Mann, der ihre abrupten Bewegungen kaum ertragen kann. Wenn er Glück hat, gerät er nicht an eine wie Xenia aus dem Bond-Film GoldenEye, die ihre Lover beim Cunnilingus mit den Schenkeln erwürgt. Was mit etwas Übung jede Frau hinbekommt… von der Lust bis zum Machtspiel, das Sex zur Todesfalle macht, ist nur ein kleiner Schritt.

Nach einem Whisky zu viel sagte sie (die flüchtige Bekanntschaft aus einer Bar): „Deine Hände zittern ja.“
Sie lehnte mit einem Handtuch um die Hüften an der Kachelwand eines türkischen Bads & tauschte heimlich die Chips mit den Daten aus, die ich einem Kontaktmann in Istanbul übergeben sollte. Mit der Gelenkigkeit einer Akrobatin hatte sie mich kampfunfähig gemacht & dann ihre Aktion durchgezogen.
Beim Showdown auf dem Dach des Hotels stellte sich heraus, dass sie bei mir an den Falschen geraten war, was daran lag, dass sie das verabredete Zeichen ihres Komplizen übersehen hatte, auf das sie wartete, um ihr den genauen Zeitpunkt zu verraten, wann die Wirkung des Betäubungsmittels bei mir einsetzte.
Stümper auf beiden Seiten, wie man in der Branche sagt…
Manchmal bleibt eben nur die Taktik, die weibliche Version des Skripts außer Acht zu lassen. Gewöhnlich stiftet das genug Verwirrung, um einen Coup durchzuziehen. Die meisten Akteusen können nicht vertragen, wenn man vom Skript abweicht & plötzlich als ein Anderer auftritt. Sie haben schließlich Jahrzehnte damit verbracht, ihre Rolle einzustudieren.
Xenia mit einem Handtuch um die Hüften suchte verzweifelt den Panikknopf… sie erkannte gerade noch durch die Kuppel des türkischen Bads, dass die Killer des Syndikats im Anrücken waren, bevor die Wirkung des Skopolamins einsetzte & ihre Synapsen versagten. Sie sackte auf eine Pritsche & zappelte mit den Beinen wie ein auf dem Rücken liegender Käfer.
Weder hier noch in einem anderen Land kannst du irgendjemand vertrauen, & was dich betrifft, Tourist, dein Gegenüber hat sich längst aus dem Staub gemacht & nur seine Epidermis zurückgelassen…

Ein Hauch Erox (ein Parfüm aus menschlichen Pheromonen) strömte durchs Gedränge in den Gassen der Altstadt. Ich musste mein Verlangen zügeln, noch einen Kaffee zu trinken. Seiten des Filmskripts waren mit braunen Flecken überzogen & manche Passagen nicht mehr zu lesen.
Wie Stalaktiten fiel Mondlicht auf brüchiges Gemäuer. Ich weiß nicht, aber es kam mir vor, als schaute ich vom Balkon meines Zimmers auf eine weibliche Stadt. Möglich, dass mich die bleichen Mauern an den Teint einer blonden Frau erinnerten, die mit nackten Schultern in einem Cabrio saß, dessen Sitze im Schatten einer Zypresse wie mit Moos überzogen wirkten. Das hatte wohl mit der Art von Erotik zu tun, die durch manche Passagen des Skripts wehte. Von allen Szenen, die als „intim“ markiert waren, wurden heimlich Fotos gemacht, die anschließend unter Sammlern von Hand zu Hand gingen.

Eddie, der sich meist als Agent ausgab, schwang sich nach einem One-Night-Stand mit einer Informatikerin auf die Feuerleiter & verschwand übers Dach. Er hatte versucht, einen Chip mitgehen zu lassen, war sich aber nicht sicher, ob er den richtigen erwischt hatte. Erst anschließend wurde ihm klar, dass ihm die Informatikerin was vorgemacht & nie ihren elektronischen Keuschheitsgürtel abgelegt hatte. Um sicherzugehen, hatte sie sich nicht nur auf die Elektronik verlassen & ihm einen Drink mit Skopolamin verpasst. Das Ergebnis war, dass er erst gegen Morgen in einem Eck neben der Rezeption wieder aufwachte.
Das war nicht Eddies erste unterirdische Nacht. Er hatte schon öfter Bodenberührung gehabt, wenn er an eine gewiefte Gegenspielerin geraten war. Einmal war er mitten in einer Nummer in Panik geraten & getürmt, ohne sich um die an ein Messingbett gefesselte Replikantin zu kümmern, die den Lockvogel gespielt hatte. Sie war gerade dabei, seinen Schwanz auf ihrer Zunge zu balancieren, als die Flammen eines infernalischen Sonnenuntergangs wie ein Buschfeuer durchs Zimmer schwappten & Eddie die Luft abschnürten. Kurz vor einem Erstickungsanfall schwebte er in einem Funkenschwall sprudelnder Lava davon…

Sternschnuppen zerrissen die Nacht. Irrlichter erleuchteten blitzlichthaft die Landschaft. Man konnte hören, wie die Geister der Finsternis aus ihren unterirdischen Revieren auszubrechen versuchten. Es hörte sich an wie das Scharren von Pferdehufen. Lautlose Flügelschläge ließen die Luft erzittern. Als der Strom ausfiel, verflüssigten sich die Farben der letzten Strahlen des Sonnenuntergangs. Dann wurde es schlagartig dunkel. Auf dem verdorrten Rasen vor dem Dschungelhotel, in dem Eddie festsaß, war es drückend heiß.
Immer wieder kam es nach unerklärlichen Kurzschlüssen zu Stromausfällen & er musste sich an den tapezierten Wänden der Gänge entlangtasten, an denen präparierte Tiere wie Fledermäuse, Spinnen mit Fangarmen, Echsen mit fluoreszierenden Häuten & getrocknete Amphibien hingen. Sie sahen aus wie Trophäen von Jägern auf der Suche nach ausgestorbenen Spezies & unbekannten Giften.
Im Schein einer Öl-Funzel erkannte er Lorita, die sich ihm, nur mit einem Patronengürtel & Rucksack bekleidet, in den Weg stellte.
„Wo willst du hin? Ich bin marschbereit“, verkündete sie. Ihr Atem streifte ihn wie der Flügelschlag eines Falters.
Er folgte den Glanzlichtern auf ihrer Haut ins Freie. Er hatte keine Ahnung, was sie vorhatte, & in der dampfigen Dunkelheit war sein T-Shirt nach wenigen Schritten durchgeschwitzt. Sie bahnten sich einen Weg durch ein Gestrüpp aus Schlingpflanzen & Luftwurzeln, die von unsichtbaren Ästen herunterhingen. Manchmal leuchtete kurz der Silberstreifen eines Rinnsals auf. Hin & wieder schimmerten Blüten wie bunte Leuchtzeichen im undurchdringlichen Gebüsch. In der feuchten Hitze kam er kaum zu Atem. Einmal blieb Lorita unerwartet stehen, & er prallte gegen ihre schweißüberzogenen Brüste.
„Ayahuasca… schon mal davon gehört?“, hauchte sie.
Ein Stück weiter endete der Pfad am Eingang einer kleinen Höhle. Eddie wusste nur, dass Ayahuasca aus Lianen gewonnen & von Einheimischen eingenommen wurde, um sich in Trancezustände zu versetzen. Er vermutete, dass sich Lorita Blätter der Pflanze besorgen wollte. Aber sie schien sich in keiner Weise für Gewächse der Gegend zu interessieren.
Die Höhle ging in einen Durchgang über, der dem Flur eines primitiven Krankenhauses glich. Eddie spürte einen leichten Schwindel, den er auf die bedrückende, leicht modrig angehauchte Luft im Gang zurückführte. Er stolperte über einen Kübel, & an den Wänden standen ungewöhnlich kleine Baststühle. Halb verdeckt von verdorrten Kletterpflanzen entdeckte er einen Spiegel & erkannte sein seltsam verzerrtes Gesicht. Durch Ritzen in der Decke drang trübes Licht.
Dann fiel sein Blick auf Lorita. Ihre Schritte waren in die geschmeidigen Bewegungen einer Tempeltänzerin übergegangen, die sich auf ihren Patronengürtel übertrugen, der ihre Hüften umschlang.
Plötzlich öffnete ein als Schamane verkleideter Arzt die Tür eines Raums, der wie ein Wartezimmer eingerichtet war.
„Doktor von Meier… welche Überraschung“, sagte Lorita.
„Du weißt ja… die Arbeit. Hast du einen Patienten mitgebracht?“
„Nicht ganz. Eddie & ich haben beschlossen, eine Reise zu unternehmen.“
Sie setzten sich & ein Indiojunge brachte Mate-Tee in Schädeltassen. Der Doktor, fiel Eddie auf, trank aus einem Kristallschädel.
Einmal, als der Doktor kurz verschwand, beugte sich Eddie zu Lorita hinüber & fragte, was hier lief. Ein Dschungelcamp oder eine Art Kokainlabor?
Ehe sie antworten konnte, kam der Doktor zurück. Er war ein stämmiger Mann um die 50, dessen leicht vergilbte Haut verriet, dass er lange in den Tropen gelebt hatte.
„Sie fragen sich sicher, was wir hier mitten im Urwald treiben. Schon mal von der Amazonas Gesellschaft gehört? Nun, sie hat vor einiger Zeit die Anlage übernommen, in der wir uns befinden… hat Ihnen das Lorita nicht verraten? Das Gebäude diente ursprünglich als Drogenlabor. Als das zu riskant wurde – genauere Einzelheiten kenne ich nicht – entstand eine Klinik für plastische Chirurgie. Für Leute verstehen Sie, die das Licht der Öffentlichkeit scheuen. Berühmte Leute… Leute mit Geld, die sich davor scheuen, dass es zu einem Vorher-Nachher-Vergleich kommt. Die Boulevardpresse, verstehen Sie? Berühmte brasilianische Ärzte steckten dahinter… Sie können sich denken, dass sich die Eingriffe nicht aufs Gesicht beschränkten… manchen ist der Intimbereich wichtiger als die Physiognomie. Mit der Zeit kamen Geschlechtsanpassungen dazu. In der Chirurgie ist mittlerweile nichts unmöglich, folgen Sie mir?“
Lorita schien der Vortrag zu langweilen. „Ich weiß nicht, ob sich Eddie dafür interessiert“, warf sie ein.
„Ich schätze ihn als Mann ein, der erfahren will, was in der Welt geschieht“, fuhr von Meier fort. „Unsere Kundschaft besteht hauptsächlich aus Männern, die sich als Frauen fühlen. Zumindest wollen sie keine Männer mehr sein… ihr Leben als Mann kommt ihnen abwegig vor, sie wollen ihre Männlichkeit ablegen. Die meisten leben nach wie vor heterosexuell, & wenn sie Kinder haben, dann nur, damit sie in die Mutterrolle schlüpfen können. Andere gehen einen Schritt weiter & wollen eine sogenannte Neovagina. Kein besonders komplizierter Eingriff, muss ich sagen. Die Folge ist zwar Unfruchtbarkeit, aber der fehlende Nachwuchs in den… sagen wir entwickelten Ländern… wird reichlich durch die demografische Entwicklung in den Schwellenländern ausgeglichen.“
Eddies Gedanken waren abgedriftet. Der Tee, die Hitze & die Rede des Doktors hatten ihn benommen gemacht.
„Hören Sie mir überhaupt zu, junger Mann?“, hörte er die Stimme des Arztes. „Spüren Sie nicht auch gelegentlich die Neigung, ihre Männerrolle abzulegen & sich aufs Gendersurfing einzulassen?“
„Kann ich nicht sagen. Ich hab noch nie das Verlangen gespürt, mit meinen Gefühlen Roulette zu spielen.“
„Aber es geht nicht um Gefühle, junger Mann. Wir haben es hier mit ernsthaften Identitätsproblemen zu tun.“
Der Doktor drückte auf einen Knopf & eine Schiebetür öffnete sich. Der Raum dahinter war eingerichtet wie ein Sprechzimmer. Ohne sich weiter um Eddie zu kümmern, setzte sich von Meier an einen Bürotisch, auf dem Geldscheine & ein Plastikhandschuh lagen. Daneben bemerkte Eddie einen mit toten Faltern gefüllten Aschenbecher.
„Ich könnte Sie einem kleinen Gentest unterziehen, wenn Sie wollen“, meinte von Meier. Er sagte es, während er in einer Schriftmappe blätterte.
Plötzlich fiel Eddie auf, dass Lorita verschwunden war. Er spürte keine Lust, sich länger in dieser angeblichen Klinik aufzuhalten, in die er nur wegen Lorita geraten war.
„Ich hatte eigentlich vor, Anakondas zu jagen“, sagte er, ohne recht zu wissen, wie er darauf kam.
Von Meier schien diese Bemerkung überhört zu haben. Er stand plötzlich auf & seine Gestalt zerbrach vor Eddies Augen. Er sah den Doktor wie durch eine zersplitternde Glasscheibe. Als die Scherben am Boden gelandet waren, hatte sich von Meier in Luft aufgelöst, & Eddie erkannte, dass er wieder in der Eingangshalle des Dschungelhotels stand. Es gab wieder Strom, & in der gedämpften Beleuchtung sah die Einrichtung aus wie in angenehmes, gelbliches Dämmerlicht getaucht.
Es war ein Anblick, wie ihn Eddie noch nie gesehen hatte.
Ich versuchte den Transceiver, den ich für Notfälle immer dabei hatte, in Gang zu setzen, was mir aber nicht gelang. Zu viele kosmische Störungen, die gelegentlich Schwindelanfälle hervorriefen… Ein Lichtstreifen deutete den Übergang zur Zukunft an, eine astrophysische Chimäre, wie ich annahm, auf die Zeitreisende immer wieder hereinfallen.
Alle Räume der Raumstation, in der ich übernachten wollte, waren offen. Es gab keine Türen, nur Durchgänge. Auf der Suche nach meinem Quartier kam ich an einem Badezimmer vorbei, in dem sich eine nackte Frau mit dem Hintern zu mir die Beine rasierte.
Ich hatte einige Schwierigkeiten, mein Zimmer zu finden, denn eins sah aus wie das andere & es gab keine Markierungen. Schließlich entschied ich mich für ein beliebiges & stellte meine Sachen ab. Durch ein Panoramafenster konnte ich auf eine trostlose Siedlung sehen, über die ein paar grobkörnige Wolken trieben.
Man hatte mich gewarnt, dass die Verständigung auf der Station wortlos ablief. Wünsche, Fragen & dergleichen wurden transverbal wahrgenommen. Sprachlose Sprache war der letzte technologische Schrei, der auf Künstliche Intelligenz zurückging. Das Ganze beruhte auf Sensoren, die in der Lage waren, von Gehirnströmen & winzigen Muskelbewegungen auf Wörter zu schließen. Das Verfahren funktionierte noch nicht ganz eindeutig, war aber so ausgelegt, dass es sich ständig selbstständig verbesserte.
Mir fiel auf, dass mich die Stille in der Station ungewöhnlich empfindlich für Geräusche & Töne machte. Hin & wieder glaubte ich das Knistern von elektrischen Funken zu hören. Ein schwach bläulicher Schimmer, der von einem Geruch der Leere begleitet wurde, durchzog sämtliche Räume. Leere riecht nicht, könnte man meinen. Aber das Fehlen von Gerüchen kann das Empfinden eines intensiven Nicht-Geruchs hervorrufen.
Das waren Eindrücke, um die ich mich nicht weiter kümmerte. Mutation & Science-Fiction waren Gebiete, mit denen ich mich kaum auseinandergesetzt hatte. Im Hier & Jetzt gab es genug Phänomene, mit denen ich mich herumschlagen konnte, & sie wurden keineswegs weniger. Etwa Sprache, die auf Buchstaben & Wörtern beruht & ähnlich Viren Signale im Bewusstsein verbreitet, die sich von der ursprünglichen Bedeutung der Wörter gelöst haben. Am Ende dieser Entwicklung konnten Wörter jede beliebige Bedeutung annehmen & wurden so zu Wirtszellen von Bezeichnungen, die sich willkürlich mit jedem Begriff, Vorgang oder Objekt assoziieren ließen. Eine Programmierung, die allmählich & unbewusst geschah.
Semantische Verschiebungen waren Bestandteil der sprachlichen Entwicklung & nötig, solange sie sich auf veränderte Erkenntnisse oder Zustände bezogen. Sprache projiziert Bilder in den Raum der Dinge. Ohne sie & wörtliche Festlegungen bliebe er unsichtbar. Mit der Zeit ist es zu einer Art Höhenrausch der Abstraktion gekommen, & Sprache hat auf Kosten der Wahrnehmung die Deutungshoheit über die reale Welt übernommen. Stürme des Verfalls wehten über virtuelle Boulevards…
Verfall war zu einem Synonym von Verwirrung geworden.
Städte im Morgengrauen lösen bei mir gewöhnlich eine nervöse Übelkeit aus. In den ersten Momenten, wenn der Tag einsetzt, brechen die Schutzmechanismen der Konditionierung zusammen, & es kommt zu affektiven Reaktionen, meist im Zusammenhang mit sexuellen Phantasien. Ich nahm an, dass das auf Veränderungen der Orgonschicht zurückzuführen war. Besonders wenn ich einen Nachtflug hinter mir hatte, war dann an Schlaf nicht zu denken.
Ich machte mich auf den Weg durch die Gänge der Station & geriet in eine Art Imbissbar, wo mir ein Mädchen mit rosa Pupillen & lilienweißer Haut einen Detox-Drink anbot.
„Wozu ist das gut?“, fragte ich.
„Du wirst schon sehen“, meinte sie cool. Typisch für die Mädchen des Territoriums, die bekannt waren für ihre röhrenförmigen Zungen, die sie trotz Überlänge mit erstaunlicher Geschicklichkeit handhabten.
Die Ebenen des Territoriums glichen einer erstarrten Topografie, über die immer wieder Sonnenstürme fegten. Am Himmel hingen ein paar von der Raumkrümmung lädierte Sternbilder. Erst jetzt fiel mir auf, dass der Dialog mit dem Mädchen in der Bar tatsächlich sprachlos abgelaufen war. Ich hatte die Frage mehr gedacht als ausgesprochen & sie hatte mit einem Zirpen geantwortet, dass sich mit dem Zischen der Kaffeemaschine mischte. Es war ganz selbstverständlich passiert, denn ihr Aussehen hatte mich abgelenkt.
War es nicht Verlangen, das Leben zum Abfalleimer machte? Wenn er voll ist, leert man ihn, & das geht so lange, bis er schließlich bricht.
Immer wieder streifte mein Blick das Mädchen hinterm Tresen, während sie mir mit schlanken, elastischen Fingern, an denen ich winzige Saugnäpfe zu erkennen glaubte, den Kaffee hinschob. Etwas an ihr erweckte meine Neugier & ich wollte herausfinden, was es war. Manchmal warf sie mir einen hämischen Blick zu. Er kam mir mehrdeutig vor.
Ich war der einzige Gast an der Bar, weshalb meine Aufmerksamkeit immer wieder an ihr hängen blieb. Möglich, dass ich die Nachwirkungen des Höhenrauschs noch nicht überwunden hatte, die oft mit bipolaren Empfindungen verbunden sind. Mein Zustand erinnerte mich an Versuche in der Unterdruckkammer. Streckenweise glich er Phasen, die sich während des Entzugs einstellen, was vermutlich mit Schwankungen der Sauerstoffzufuhr zu tun hatte.
„Geht’s dir nicht gut?“, fragte die Mutantin hinter der Theke. Sie war eine Mutantin, keine Frage. Ihre Lippen schimmerten grünlich & ihre Erscheinung hatte etwas Künstliches.
„…oder hast du die falsche Droge erwischt?“
Sie war offensichtlich interessiert, Genaueres über mich zu erfahren.
„Ich bin mir nicht sicher“, gab ich ihr zu verstehen, „ob ich dasselbe höre, was du sagst.“
„Verlass dich auf mich.“ Ihr Gesicht nahm plötzlich die Farbe von Asche an & wurde starr wie eine Larve. Lichtblitze durchzuckten den Raum um uns, & ich verlor die Orientierung, als wäre ich in der Leere des Universums in ein euphotisches Vertigo geraten, wo es nur Hell & Dunkel gab. Mein nächster Gedanke war, dass sie mir etwas in den Kaffee geschüttet hatte. Wahllos tauchten Bilder aus vergangenen Zeiten auf. Aufmärsche & Szenen von Revolten auf städtischen Straßen… stumm gehaltene öffentliche Reden… hastig in Träumen hingekritzelte Gedichte… Echtzeit-Bilder von Terroristen, die ihre Anschläge filmten… Flugblätter mit algebraischen Formeln…
Ich musste in eine Sphäre geraten sein, in der die Zeit durchlässige Stellen hat. Schwaden von schwarzem Geruch umhüllten mich. Die Farbe der Hintergrundstrahlung zwischen Galaxien war Sehnsucht. Lichter schossen durch kosmische Stadtviertel. Bilder hatten sich selbständig gemacht & waberten zwischen Klumpen Dunkler Materie. Das Klicken von Assoziationen überlagerte farblose Traumbilder.

Der Raumflug durchs Bewusstsein endete in einem klimatisierten Hotel mit einem griechischen Portier, der bei unserer Ankunft gerade einen Vortrag über „Kontinuität“ hielt. Der Blick durch seine starken Brillengläser konnte einen Gast glatt durchlöchern. Ich zahlte für ein Doppelzimmer & die Mutantin fragte: „Wo bin ich?“ Solche Fragen führen oft zu unbedachten Schritten, erklärte ich ihr. Ich suchte die Windungen meines Gehirns ab, um einen Namen für sie zu finden.
Auf dem Zimmer gerieten wir sofort aneinander & fickten kreuzweise auf einer quadratischen Matratze. Durch eine Schiebetür schaute ich auf eine fensterlose Hauswand & ein schmales Stück Strand mit grellen Sonnenschirmen. Man muss immer darauf gefasst sein, in einem Reiseprospekt zu landen.
Ausgestreckt aufs Bett erinnerte ich mich an eine Safari-Lodge in Afrika, wo ältere Damen beim Fünf Uhr-Tee durch Ferngläser die Rüssel von Elefanten bewunderten. Sie waren entschlossen, sich nicht von Insekten belästigen zu lassen, die überall herumkrochen.
Am Nachmittag fegten heftige Windstöße durchs Stiegenhaus.
Plötzlich wusste ich, dass der passende Name für die Mutantin Oliviera war.
Allmählich verblassten die Zeichen der Sehnsucht. Die wirren Nächte waren nicht lang genug, um Erinnerungen an Träume zu hinterlassen.
Als ich aufwachte, war mir der Name der Mutantin entfallen, & ich fragte sie danach. Sie tat so, als hätte sie nie einen gehabt. Aber so wie ein Gedicht einen Titel hat, musste auch sie einen Namen haben. Während ich mich an den zu erinnern versuchte, den ich ihr gegeben hatte, rätselte ich, ob es Ophelia oder Odette war. Ich wusste, ohne Namen war sie auf dem Planeten verloren.
Wer mit Assoziationen handelt, muss sich auf Überfälle aus dem Hinterhalt gefasst machen. Ich lag noch ausgestreckt auf dem Bett, als mir die Mutantin ihre röhrenförmige Zunge um den Hals legte & wie eine Schlinge zuzog. Sie war in die Rolle einer mexikanischen Malerin geschlüpft, die ihre Liebhaber beim Ficken erwürgte (was angeblich einen mächtigen Orgasmus erzeugt). La carne de los muertos…
Das Zimmer hatte sich in ein Filmstudio verwandelt, das wie das Innere eines mittelamerikanischen Tempels ausgestattet war. Angestellte arbeiteten mit der stumpfen Routine von Gefangenen. Szenen verschiedener Arbeitsabläufe wurden von Filmprojektoren auf die leinwandähnlichen Innenwände geworfen. Die filmische Geschwindigkeit änderte sich ständig, & die Gefangenen waren gezwungen, ihr Arbeitstempo entsprechend anzupassen. Zeit war zum Film geworden.
Ich versuchte herauszufinden, wo die algebraischen Flugblätter aufbewahrt wurden, die, wie ich annahm, verschlüsselte Angaben über meine Reise mit Oliviera enthielten. Mir war klar, dass es Sex & emotionale Reflexe waren, die uns in der Zeit festhielten. Mit jedem Orgasmus wurden wir tiefer in die schwarze Singularität eines Zeittunnels gezogen, aus dem es irgendwann kein Entkommen mehr geben würde.
Um mich von eigenständigem Handeln abzuhalten, versuchte Oliviera, ihre Stimme über einen Sprach-Transceiver mit meiner zu mixen, so dass es unmöglich wurde, festzustellen, wer sprach. Lautlose Sprache hatte anscheinend mit dem Versuch zu tun, einem die eigene Stimme zu nehmen. Auf diese Weise konnte ein „Ich“ in jeden beliebigen Körper schlüpfen.
Der Sprach-Transceiver ließ sich auch dafür verwenden, sexuelle Erregung von einem Körper auf einen anderen zu übertragen. Sex konnte so programmiert werden, dass der Betroffene keinen Einfluss darauf hatte, wie er ablief. Mit diesem Programm war es möglich, den Ablauf von Lust & Handlungen akustisch steuern. Sobald das Gerät aktiviert wurde, setzte ein leises Ticken wie bei einem Geigerzähler ein, & ich wusste, dass sich die Mutantin für eine neue sinnliche Spielart entschieden hatte. Ich war ihr ausgeliefert, denn ich wusste nicht, welche Signale zu den einzelnen Praktiken passten. Ich konnte nicht anders, als mich auf jede Eigenart wie Sado-Maso oder Tantra einzulassen.
Ich wusste nicht, was ich unternehmen konnte, sollte der Sprach-Transceiver fehlerhaft arbeiten oder gar versagen. Ich erwog, ihn zu zerstören, wagte es aber nicht, weil ich die Folgen nicht abschätzen konnte. Auch kam mir der Gedanke, die Mutantin einer kryonischen Behandlung auszusetzen, einer Methode, die gelegentlich auf langen Raumreisen angewandt wird. Aber ich wollte sie nicht allein in einer Zeitschleife zurücklassen.
Plötzlich füllte sich das Tempelstudio mit grünem Licht. Olivieras Körper wurde durchsichtig. Sie betrachtete mich mit toten Augen & ließ den Sprach-Transceiver über mein Rückgrat gleiten. Eine starke sinnliche Erregung erfasste meinen Körper, der unter den neuronalen Erschütterungen zu zerfallen drohte. Elektrische Stösse durchfuhren & hinderten mich, Bewegungen auszuführen. Wie aus eisiger Ferne sah ich, wie Olivieras Körper mit meinem verschmolz. Bei der geringsten Berührung zwischen uns wurde ich von heftigen Spasmen geschüttelt, & ich verlor kurz die Besinnung.
Ein unsichtbares Wesen geisterte durch mein Gehirn, was eine leichte Übelkeit auslöste, ähnlich der, die bei Raumreisen vorkommt. Ich betrachtete Oliviera, deren Gestalt sich trotz der Verschmelzung unserer Körper kaum verändert hatte. Sie versuchte etwas zu sagen. Es war, als würde sie um Hilfe rufen. Sie bewegte den Mund, blieb aber stumm. Auch die wortlose Verständigung funktionierte nicht.
Etwas musste schiefgelaufen sein bei Olivieras Transferversuch, mich in eine zeitliche Sackgasse abzuschieben, aus der es keine Rückkehr gab. Das Ganze ähnelte einem Ritual, das einst Priester im Verborgenen von prähistorischen Tempelanlagen vollzogen, um durch ein Opfer andere Zeitbereiche zu erreichen.
In ihrem nahezu durchsichtigen Zustand entging Oliviera der Gravitation & begann frei im Raum zu schweben. Ich versuchte sie im Auge zu behalten, aber immer wieder verschwamm der schwache Umriss ihrer Gestalt zwischen Linien & Konturen, die das Filmstudio durchzogen. Aus der gleichmäßigen Silhouette ihres Torsos schloss ich, dass sie nackt war.
Während sie sich entfernte, fing die Einrichtung des Studios an, sich zurück in ein Hotelzimmer zu verwandeln. Die Projektionen an den Wänden überschnitten sich, wodurch der Eindruck entstand, dass der Raum schrumpfte. Der grobe Putz glättete sich, & die handgroßen Mauerdurchbrüche weiteten sich zu einer Fensterfront. Das Gewicht des Himmels drückte auf Raum & Zeit, & ich schloss die Augen.
Ich war kurz eingenickt, & als ich wieder zu mir kam, sah ich Oliviera nackt bis auf einen Slip am Geländer auf dem Balkon des Hotelzimmers stehen. Es musste kurz vor Sonnenuntergang sein, denn flutartig hatte sich die Färbung von Blutorangen ins Zimmer ergossen.
Oliviera drehte sich um, kam langsam auf mich zu & betrachtete mich mit grünlich funkelnden Augen. Einen Augenblick zweifelte ich, ob sie es war. Sie sah älter aus, als ich sie in Erinnerung hatte. Lichtflammen, die durchs Zimmer züngelten, erfassten meinen Körper. Aber ich war immun für ihre erotisierende Wirkung.
„Wo bist du gewesen?“, fragte Oliviera.
„Ich hab versucht, dich zu finden.“
„Aber ich war die ganze Zeit hier.“
Sie würde nie zugeben, dass die Operation, mich in eine andere Zeit zu entführen, misslungen war. Ihre Lippen bewegten sich nicht synchron zu dem, was sie sagte.
„Es kann nicht jedes Mal klappen“, sagte sie, stand auf & zog sich an. Dann: „Vielleicht an einem anderen Ort zu einer anderen Zeit.“
Ich kam mir vor wie in einer Kurzgeschichte mit dem Titel: Das Ende einer Affäre. Bevor ich recht mitbekam, was geschehen war, war sie zur Tür hinaus, die mit einem leisen Klick hinter ihr ins Schloss schnappte.

In einer abgelegenen algebraischen Gegend geriet ich in eine mir unbekannte Biografie. Sie versetzte mich in eine Lage, in der ich mich erst zurechtfinden musste. Ich hatte den Auftrag, die Vorgänge auf der Panamericana zwischen Totolapan & Aurora spiegelverkehrt zu betrachten. Ich war mit einem alten VW-Bus unterwegs & ständig abgebrannt, rauchte Gras & aß vegetarisch. Zu meinem Unbehagen war das eine für einen Alt-Hippie typische Biografie. Die eines Anthropologen, der sich für indigene Kulturen interessiert, wäre mir lieber gewesen. Aber in meiner Branche muss man die Biografien nehmen, wie sie kommen…
Während der Fahrt fiel mir nach einiger Zeit auf, dass mir ein schräger Typ auf den Fersen war, der sich ähnlich unverdächtig zu verhalten versuchte wie ich. Spiegelbildlich gesehen konnte er ohne weiteres mein Doppelgänger sein, der mich vorsichtshalber im Auge behalten wollte, falls es Ärger mit den Narcos oder den Los Zetas geben würde. In meinem Tran aus Skunk (Marihuana-Duft) & Tequila-Schwaden bekam ich nur flüchtig mit, was in der Gegend vor sich ging. Vermutlich hatte man mich vor der Abreise mit einer Körperkamera verdrahtet, von der nicht mal ich wusste, wo sie steckte. Von einem Alt-Hippie kann man schließlich nicht erwarten, dass er mit allen Neuigkeiten der technischen Entwicklung vertraut ist.
Ein Schlitzohr von Dealer hatte mir in der Nähe von Salina Cruz mit Damiana verschnittenes Sinsemilla angedreht, das zu irren Albträumen & Halluzinationen führte. Es war, als hätte sich ein gefräßiges Insekt in meinem Gehirn eingenistet. Es fraß, & ich musste mich mit seinen Ausscheidungen herumschlagen, die zu Dauererektionen schlimmer als mit Viagra führten. Ich hatte den Verdacht, dass der Dealer mit den Los Zetas unter einer Decke steckte & mich durch Lähmung außer Gefecht setzen wollte.
Um diese Symptome loszuwerden, verbrachte ich eine Nacht mit einem Chitin-Girl in einem Hotelzimmer. Sie wollte es so, der VW-Bus war ihr zu schäbig. Das Zimmer war im Preis inbegriffen. Das war vermutlich die Idee ihres Loddels, der auf die Art doppelt kassierte. Sie faselte mehrmals von Cucaracha, & ich hab nie herausgefunden, ob das ihr Name war oder ob sie damit andeuten wollte, dass sie eine Rebellin war.
Sie wollte es auf die Schnelle, aber darauf habe ich mich nicht eingelassen. Schnell kommen & schnell abkassieren, das ist eine alte Nuttenmasche. Obwohl ich mir nicht sicher war, ob das Chitin-Girl eine Nutte war. Natürlich war sie nicht ohne Geld zu haben. Sie tat so, als ginge es um eine Gefälligkeit, für die wegen der Umstände (wir kannten uns kaum & würden uns auch nie wieder begegnen) eine finanzielle Gegenleistung angebracht war. Ich sagte ihr, dass die Bezahlung keine Rolle spielte. Das überraschte sie, & ihre Haltung mir gegenüber änderte sich. „Komm morgen um dieselbe Zeit wieder.“ Keine Nutte vertröstet ihre Kunden, deswegen nahm ich an, dass mehr dahintersteckte als eine kurze „Gefälligkeit“.
Am nächsten Tag trat sie mit einem Fotografen auf, den sie als Jimmy Garcia vorstellte. Er hatte in der Nähe des Hotels ein Fotostudio, wo wir den Nachmittag mit Gesprächen verbrachten. Er sagte, dass er seine Aufnahmen dazu benutze, bestimmte Reaktionen bei den Betrachtern hervorzurufen. Es ging um ein Verfahren, das er als Umkehrfotografie bezeichnete.
Es störte mich, dass er sich mit dem Chitin-Mädchen auf Spanisch unterhielt. Ich erklärte, dass mir die Situation nicht ganz geheuer sei, & machte Anstalten, zu gehen. Die Vermutung lag nahe, dass er einen Porno drehen & damit nicht unumwunden herausrücken wollte.
„Ich glaube, ich bin nicht der Richtige dafür“, sagte ich.
„Ich fürchte, Sie verstehen nicht, Señor“, meinte er. Er hatte einen kalten, unpersönlichen Blick & fummelte ständig an den Kameras herum. Durchaus möglich, dass er bereits heimlich Aufnahmen gemacht hatte.
Schließlich ging er daran, einen Film vorzuführen, den er an die brüchige Wand seines Studios projizierte. Ich konnte nur erkennen, dass er Gesichter von Männern & Frauen zeigte, die sich gelegentlich überlagerten & dabei eine erregte Mimik verrieten. Ich spürte, dass die Aufnahmen eine erotisierende Wirkung auf mich hatten, ohne dass ich sagen konnte, wieso. Es war möglich, dass die Aufnahmen gemacht worden waren, während die Dargestellten einen Orgasmus hatten. Der Fotograf erklärte, dass es ihm darum ging, verschiedene Stadien sexueller Erregung festzuhalten.
Das Chitin-Girl wurde so genannt, weil sie einen geometrisch makellosen Körper hatte & ihre Mimik keine Regungen erkennen ließ, was ihr eine teils animalische, teils exotische Ausstrahlung gab. Das wirkte besonders auf Europäer erregend & geheimnisvoll.
Der Fotograf forderte mich auf, mich ihr gegenüber zu setzen. Mein Misstrauen war inzwischen einer Neugier gewichen, deswegen spielte ich mit.
„Die Zeit ist gekommen“, erklärte er, „körperlich Energien zu übertragen.“
Ich spürte, dass es zu einem Austausch von – wie soll ich sagen – Spannung oder Erregung zwischen dem Mädchen & mir kam, der durch Veränderungen meines Gesichts sichtbar wurde, denn ich erinnere mich, dass ich das Gefühl hatte, es zu verlieren. Ich versuchte, so gut es ging, mein gewohntes zu behalten.
Eingefahrene Vorstellungen drifteten durch ferne Weiten. Es störte mich, dass ich den Namen des Chitin-Girls nicht kannte, & ich fragte mich, wieso ich annahm, dass sie eine Nutte war.
Jimmy der Fotograf zeigte mir ein Foto, auf dem ihr Gesicht einer byzantinischen Ikone ähnelte. Plötzlich sah ich sie in einem anderen Licht. Auch ihr Körper hatte sich verändert. Ihre Haut glänzte & zeigte erstaunliche Geschmeidigkeit.
Ich überlegte, wie ich an sie geraten war. Gab es eine geheimnisvolle Verbindung zwischen uns, die mir bisher entgangen war? Vermutlich war die Wirkung des Damians stärker als ich dachte, denn ich ertappte mich dabei, dass ich einen 3D-Film betrachtete, in dem sie nackt auf einer Pritsche lag & mir zuwinkte. Etwas schien mein Lustzentrum zu blockieren, denn ich spürte kein Verlangen nach ihr. Auch weil mir bewusst war, dass ich nicht sie, sondern eine Reproduktion betrachtete.
Grünliches Licht füllte das Studio, erschütterte die starren Formen der Einrichtung, so dass Gegenstände durchsichtig wirkten.
Ein billiger Trick, sagte ich mir, durch den der Eindruck erweckt wurde, dass ich mich statt im Studio des Fotografen in einem magischen Garten befand. Gedämpfte Musik erklang, & eine Hängematte baumelte zwischen Palmen. Blüten leuchteten in Technicolorfarben, & hinter dichtem Gestrüpp schimmerte das türkisene Wasser einer Lagune.
Es war Zeit, ein paar Fragen zu stellen. Hatten die Lichtmuster des Films mich in einen Theta-Zustand versetzt & meine Traumnerven aktiviert? Ich erinnerte mich an eine Stelle bei Castaneda, wo Don Juan sagt: „…für einen Zauberer ist die Welt des täglichen Lebens nicht real, auch nicht außen, wie wir glauben… die Welt, die wir alle kennen, ist nur eine Beschreibung.“
War das Chitin-Girl ein Medium, das der Fotograf benutzte, um Leute wie mich in einen halluzinogenen Zustand zu versetzen, der mir die Augen für Dinge hinter den Dingen öffnete? Unterlag Sehen nicht auch der Anpassung & Konditionierung, was einen Betrachter dazu verführt, das zu sehen, was er erwartet, & spontane Einsichten verhindert? Was kontrollierte die visuelle Wahrnehmung & Auswahl der Bilder?
Konditionierte Sicht kontrollierte Gefühle & begrenzte, was gesehen wurde & was nicht. Diese vorprogrammierte Sichtweise aufzubrechen, kam einer Revolte gleich, bei der eine Kamera zur Waffe werden konnte. Eine Waffe, mit der sich die Wort-Bild-Struktur der Realität niederreißen & zerstören ließ.
Die ersten Schritte, die in diese Richtung führen, fühlen sich an wie ein Erdbeben. Der Himmel senkte sich schwer wie Blei auf die sichtbare Welt. Palmen fielen um, eine gewaltige Flutwelle schwappte über die Landschaft der Gegenwart, & der gregorianische Zeitkalender zerbrach…

Zurück zum Schauplatz der Inszenierung, wo alles begonnen hatte. Kino der Sinne, wenn alles möglich & die einzige Rettung die Dunkelheit des Zuschauerraums ist. Wenn Körper in Polstersitzen versinken & Gerüche intime Aufdringlichkeit annehmen.
„Red’ nicht so viel, mach’s einfach.“
Lichter verflüchtigten sich. Ein flauer Schimmer schob sich über das Blau der Leinwand. Experten in den ersten Reihen wieherten. Eine schmutzige Sonne tauchte langsam aus dem satten Grün eines Dschungels auf. Dazu der Ton eines Saxofons, der einen zerrissenen Himmel zum Einstürzen bringen konnte.
Immer wieder stellt sich heraus, dass in diesem Geschäft die ersten Sequenzen entscheiden. Sound, Farben & das Panorama des Sets. Der Zuschauer muss sofort wissen, wo er ist. Der Rest ist in den meisten Fällen Routine, Plot, Timing… den Horror des Augenblicks sichtbar machen.
Eine Nebenfigur wird abgeführt, Uniformierte legen an, das Opfer fällt kopfüber in den Sand. Das spielt sich nicht in irgendeiner Bananenrepublik ab, das ist Europa, Abendland. Sarajewo, Berlin in den letzten Kriegstagen, Baskenland, Sizilien, polnisches Hinterland… lachen Sie nicht, es geht um mehr als den Surplus historischer Errungenschaften… Gewalt, Vernichtungslager… eine Mischung aus Macht, ethnischem Wahn & Rückständigkeit… eine Gegend, gepflastert mit Schwarzen Löchern, in denen Zeit spurlos versinkt…
Manchmal dringt er doch noch durch, der vergessene Duft des Kontinents. In Pizzakneipen von Rom, in gekachelten Bistros auf griechischen Inseln & an Austernständen der Normandie, wo die Kühle des Atlantiks durch Zellen weht.
„Noch einen Absinth.“ Langsam schiebt sich der Erdschatten über den Fernsehschirm, & ein Luftschiff verschwindet über dem westlichen Kap. In verstaubten Klamotten gekleidete bürgerliche Imitate schlendern durch das ausgestorbene Biarritz.
Ruhe, Aufnahme… auf sämtlichen Kanälen wird der Augenblick der Wahrheit mitgeschnitten, ins rechte Licht gerückt, mit Kommentaren überschüttert. Nichts entgeht dem Auge der Kamera & doch sind die Bilder inszeniert.
Auf ein verabredetes Zeichen treten die Schauspieler in Aktion. „Ist euch doch klar, was es heißt, es bis zur Schlussszene zu schaffen“, meint der Regisseur. Der Plot verlangt unerbittliche Auslese & entscheidet, wer auf der Strecke bleibt.
Bereitwillig ziehen sich die Schauspieler noch einmal aus, zeigen, was Körper ist. Anschließend werden sie ausbezahlt.
„Okay, das wär’s, haut ab.“
Unschlüssig bleiben noch ein paar Statisten zurück. Sie glauben, dass sie eine zweite Chance bekommen, wenn sie lang genug warten würden.
Die Nacht entfaltet sich wie eine tätowierte Blume. Hauser, „der Regisseur“, tritt aus dem Erdschatten, mustert misstrauisch einen Komplizen, während sein eingebauter Scanner das Umfeld nach feindlichen Impulsen abtastet.
In einer Nebenstraße eine Kaffeebar. Säuerlicher Geruch schlägt ihm entgegen. Ein Glatzkopf dreht sich nach ihm um. Auf einem Hocker eine rosa Perücke, daneben Fotos von zerstörten Pyramiden auf einem Plastiktisch.
Kiki im Hotel nackt an der Jalousie. Sie schaut hinaus aufs Araberviertel & den treibenden Sand im Schein von Karbidlampen. Jedes Wort, das sie von sich gibt, kommt mit einem Klirren über ihre Lippen. Unbeirrt zieht Zeit dahin. Geräusche werden von jahrhundertalten Mauern geschluckt.
„Ville“, eine künstliche Feriensiedlung unweit der Grenze. Hauser, von Paranoia gepackt, gibt das Drehbuch nicht aus der Hand. Er hat Schwierigkeiten, das Team in der Januarkälte bei der Stange zu halten. Ein Sicherheitsmann hat sich Johnny geschnappt, der den Hauptdarsteller in Sexszenen doubelt, & schreit ihn an: „Mann, jetzt verrate ich dir mal was. Hier wird nicht gedealt.“ Ein Techniker wirft eine Windmaschine an & eine Kokswolke wirbelt auf. Overalls flattern im Wind.
Leere Grundstücke, verlassene Tankstellen, schwarzer Kaffee. Kiki mit schlaksiger Anatomie Schulter an Schulter mit einem Coke-Automaten.
„Wo willst du hin?“ Ihr Lächeln verschwimmt im kühlen Licht der Landstraße. Sie rückt die Sonnenbrille zurecht, springt in einen Strandbuggy & rast über eine kondensmilchfarbene Dünenlandschaft.
Vor Mauerresten des Atlantikwalls ein Mädchen am Straßenrand, rausgeputzt wie ein Tanzgirl. (Schreie aus meterdicken Bunkerbauten.)
„Wohin?“
„Egal. Bloß weg hier.“
Ein türkisener Himmel, die Mülltonnen grün. Mit einem Knopfdruck lassen sich Städte, Landschaften & Kontinente abrufen. Eine Bedingung digitaler Anwesenheit heißt: fleischliche Projektion. Nur nicht den Panikknopf erwischen… könnte sein, dass der Bildnomade dann als raumloser Schatten in die Skyline von Manhattan, die Lichter von Casablanca oder in die Silhouette der Istanbuler Moscheen entschwindet…
Augenblicke des Exils: Während eines Blackouts mit einem Pappbecher in der Hand zwischen überladenen Fassaden sitzen & alten Zeitungsseiten hinterherschauen, die über den Gehsteig wehen…
Ahnungslose Opfer, eingesperrt in die Echokammer der Zeit. „Bin fremd hier. Kommst du mit?“, fragt das Tanzgirl im Bikini.
Vor einer Strandvilla ein Cabrio mit einem blonden Androiden am Steuer. Die Fassaden an der Promenade schief wie verwitterte Filmkulissen aus der Zeit pompöser Monumentalschinken.
Johnny & Kiki auf dem Weg zu einem Klub vor der Stadt. Muschicats, in tiefe Sessel versunken, warten auf Kunden. Licht frisst sich durch die Markise des Sonnendachs.
„Ich freu mich“, sagt Kiki, die Sonnenbrille im Gesicht.
„Worauf?“
„Auf jetzt.“
Für einen Augenblick verliert Johnny wie nach einem Autounfall die Orientierung. Flashbacks, grelle Blitze, Doppelbelichtungen flattern durch sein Gehirn. Ein Film, der angelaufen ist, lang bevor er das Kino betreten hat.
„Hab dir was mitgebracht“, sagt sie & berührt ihn an der Hand.
„Zeig her.“ Es ist ein Anhänger, eine Art Amulett. Eine Buddha-Figur, dreieckig eingefasst, billiger orientalischer Import. Bis spät in der Nacht ist sie bei ihm. Sie tanzen, fummeln sich ab. Landen in einem Hinterzimmer mit Diwan. Rollen einen Joint & fallen übereinander her.
„Hey, der Vibrator funktioniert nicht.“
Etwas kippt weg in ihm, nur mühsam kommt er zurück, ein verrutschtes Lächeln auf den Lippen. Auch ihr Gesicht hat sich verändert, sieht aus wie schlecht zusammengeklebt. Die Haut findet keinen rechten Halt.

Ein paar Klubgäste kehren ermattet von einem Ausflug in die Wüste zurück, wo sie wie in einem Sandkasten herumgeirrt sind, lassen sich in Polstersessel fallen & vertiefen sich in Zeitungen. Eine Katze schreit, was Johnny an die endlos sich hinziehenden Routen der frühen Fliegerei erinnert. Damals war Kiki schneller aus den Klamotten als eine Stripperin. Im Haus an der Rue Mohammed V. roch es nach Küchenabfällen, nicht selten hatte sich ein Skorpion ins Zimmer verirrt, & jenseits der Stadt schimmerte das Band der Brandung die Küste entlang.
Verblasst die langsam fallenden Sterne, der matte Schein schwankender Straßenleuchten, ein Foto mit einer startenden Maschine an der Wand.
Johnny erinnert sich an die Taxifahrt auf der anderen Seite des Atlantiks nach einem langen Nachtflug. Leichter Regen, der Asphalt von Glanzlichtern zerkratzt, Leute in Mänteln, Dunstfahnen über Hochhäusern, Brücken & dann der Tunnel unterm Fluss hindurch…
„Was ist, kannst du nicht schlafen?“
Kikis Hand, die ihn zaghaft berührt.
Ein fast schon obszöner Akt von Konzentration. Südliche Morgendämmerung erhebt sich im Osten, durchsichtig fast & mit der hypnotischen Anziehungskraft eines Spiegels.
Alte Junkies krepieren nicht, sie verschwinden einfach…
Ein erster Schritt, um zurückzufinden: ohne Entzugserscheinungen den Körper einer Frau betrachten.
Das dumpfe Dröhnen der Stadt, gleichmäßig wie das Summen einer Kamera.

Johnny schaffte es nie mehr ganz, von seinen Trips zurückzukehren. Tagelang verließ er das Zimmer nicht, unsicher, wo er gerade war. Undurchdringliches Schattengewirr nächtlicher Filmaufnahmen umgab ihn, Gegenstände, die er berührte, hinterließen einen zerebralen Abdruck auf seiner Haut.
Mit der abendlichen Dunkelheit wich das Sichtbare aus seinem Gesichtsfeld & gab ihm seine Bewegungsfreiheit zurück. Er zog sich an & tastete sich durchs Treppenhaus, wo es nach Katzenpisse & ranzigem Pommes-Öl roch. Bevor er die Straße betrat, verharrte er einen Augenblick. Von irgendwoher kamen verzerrt Pianoklänge, die sich wie Fetzen eines Tangos anhörten. Strahlen eines Scheinwerfers streiften ein halb abgerissenes Plakat, als er den ersten Schritt auf der Straße machte.
Sofort war er von aufdringlichen Geräuschen umringt. Er hörte Knistern von Zeitungspapier, Worte wurden geschrien oder geflüstert, Weichteile gedrückt, Schritte hallten, Körperteile rieben sich, Türen knarrten, Tassen klirrten & blieben im kalten Licht liegen.
Während sich die Nacht in Fetzen auflöste, winkte er ein Taxi heran. Im Café de France entdeckte er Kiki neben einem schleimigen Dealer; einer von vielen, die dort ständig herumhängen & Karten oder Backgammon spielen. Genau wie in alten Filmen zogen von Zeit zu Zeit Rauchschwaden über ihre verschlagenen Gesichter. Die Kellner glitten mit Blicken von Attentätern & in ungebügelten weißen Kitteln geschmeidig an den Tischen vorüber. Die Männer saßen versteinert da, & Frauen, zerbrechlich wie Wachsfiguren, nippten an buntfarbigen Säften, in denen Perlen wie Diamantsplitter glitzerten.
Zeit, zu verschwinden, jetzt, wo der Tod die Scheiben zum Klirren brachte. Johnny wusste, dass die Filmleute ihn nicht aus den Augen ließen, auch wenn sie sich nicht zeigten. „Macht ihn fertig, er hat uns den Plot versaut.“ Aber er war ihnen zuvorgekommen, hatte vor Tagen die Seiten des Skripts vertauscht. Er konnte sehen, wie ihnen vor Hass die Drinks in den Gläsern gerannen & ihre von Zeitkrankheit entstellten Gesichter erstarrten.
Das verschaffte ihm einen kurzen Vorsprung. Er nutzte ihn & verschwand mit katzenartigen Schritten in einer dunklen Gasse in Richtung Kaffeebar.

Unauffällige Bauten aus zeitlosen Bruchstücken. Straßen übersät mit Ideogrammen, die Archäologen wie Spürhunde zu entziffern versuchten. Nur wenn sie eine Zeitlang verharrten, nahmen ihre Gestalten flüchtig Konturen an. Sie huschten von Zeichen zu Zeichen & blieben unsichtbar wie Piloten von Überschallmaschinen.
Die Schriftschnüffler arbeiteten nach dem aleatorischen Prinzip, ohne sich von öffentlichen Floskeln irritieren zu lassen. Es hieß, dass sie auf dem Weg in unbewusste Räume waren. Ihre Arbeitsweise war nicht beliebig, sondern spielerisch. Sie wollten sehen, um zu erkennen. Nichtsehen bedeutet, unbrauchbare Motive reproduzieren.
Wenn Zeichen zu sprechen beginnen, ist der Augenblick des Schreibens gekommen. Wer Zeichen übergeht, bewegt nur die Lippen & wird zum Bauchredner. Mit jedem Atemzug ergeben sich neue Fragen. Eine ist: Wer spricht, wenn jemand spricht? Reden oder schreiben kann jeder. Buchstaben tippen, Lippen bewegen & Seiten mit Worten füllen. Wo sind die Gegenstände hinter den Wörtern geblieben? Das Wort kann Dinge zum Verschwinden bringen, wenn es in Horden über den Ereignishorizont schwappt & dabei zum Vehikel beliebiger Bezeichnungen wird.
Von Krise will niemand reden. Schnitte durch die Regression zur Mitte werden von der Presse als Aufbruch ins 21. Jahrhundert gefeiert. „Ich wollte einen Städtetrip machen & bin in einem Flüchtlingslager in Tempelhof gelandet.“ Verfechter der Scharia grasen Gehsteige nach Körperteilen ab. Lautlos gellen Schreie aus der Durchgangswelt durch die Nacht. Semantische Frühgeburten erweisen sich nur scheinbar als Lebenszeichen des Alten Europas. Stattdessen geht es um eine Hinrichtung. Bilder davon werden nicht veröffentlicht, um eine Traumatisierung der Bevölkerung zu verhindern. Flashbacks erschüttern die Wahrnehmung, & das Unbewusste rächt sich mit gedanklichen Verknüpfungen.
Nur wenigen gelingt die Flucht durch dunkle Kanäle. Das Universum der Schrift, wo Wörter die einzigen Waffen sind, ist zum Schauplatz des Überlebens geworden. Die Auseinandersetzung um bipolare Begriffe, bei der es um die Kontrolle über das Sehen geht, wird um Bedeutungen geführt. Eine von Flächenbombardements erschütterte Realität zeigt Veränderungen, denen die Oberfläche des Planeten ausgesetzt ist. Fortschritt geht auf Stoffwechselvorgänge zurück. Konzeptionelle Botenstoffe wirken gesellschaftlich gesteuerten Anreizen entgegen & oft neutralisieren sie sich sogar. Kontrolle wird über Rückgriffe auf sinnliche Kodifizierung ausgeübt.
In der Rolle des Cineasten hat der Voyeur seine endgültige Berufung gefunden & damit das Recht auf erotische Beobachtung & die Gier nach Enthüllung für jeden legitimiert. Was kein Freibrief dafür ist, von Hautfarben zu schwelgen & durchsichtiger Unterwäsche den Rang eines Fetischs zu geben. Eher entsteht ein Hang zur Manie, der vom Zuschauer gern mit Realismus verwechselt wird. Das kann so weit gehen, dass etwa ein gebrauchter Schulmädchenslip die Bedeutung einer Ikone in der virtuellen Dimension annimmt. Es gibt keine unkontrollierten Äquivalente. Die Tatsachen stehen nicht mehr für sich, sondern werden zu Symptomen schleichender Agonie, die mit unfassbarer Torsion des Sinns auch Orte erfasst…
Mit ihrem insektenhaften Verhalten haben Attentäter der Stille den virtuellen Terror zur unschlagbaren Waffe im Hass auf real existierende Gesellschaften gemacht. Ob die kraftlose Wahrnehmung des westlich konditionierten Bürgers den als Fortschritt deklarierten Erschütterungen gewachsen ist? Von wuchernder Bürokratie, umfassender Regulierung & unbegrenzter Datenverarbeitung jedenfalls ist keine Abhilfe zu erwarten. Der kontrollierte Verlust des Realen hat den Nachrichtenkonsumenten zum semantischen Zuschauer gemacht, der nicht mitbekommt, dass die von der Schrift geprägte Zeit die Richtung gewechselt hat. Theoretisches Wissen ist eine Voraussetzung dafür, dass getürkte Aussagen & Nachrichten willige Empfänger finden. Manchmal helfen Quantensprünge, um daran zu erinnern, dass der unbekannte Mensch am Leben ist & den Planeten noch nicht verlassen hat. Der synergetische Aufbau des Weltalls kann den Missbrauch der Reiselust nicht verhindern. Anzunehmen, dass erste Schritte in den Raum von Leuten unternommen werden, die sich wie Geisterfahrer in den Kosmos stürzen & keine Ahnung haben, wohin die Reise geht.
Ein Datenflaneur muss die Wahrnehmung auf Punktuelles richten. Über die Grundregeln auf dem Planeten lässt sich nur spekulieren, & mit dem Ausflug zum Mars ist die Raumfahrt auf einer Einbahnstraße gelandet.
Worte simulieren Geschehen, & niemand kümmert sich darum, ob es & wie es tatsächlich stattgefunden hat. Genauso gilt, dass nichts geschieht, was nicht geschrieben steht. Die Gegner der gegenwärtigen Ordnung operieren mit Versuchsanordnungen, die sie solange verschieben, bis es zur Umwandlung der faktischen Verhältnisse kommt. Die Agenten, die diesen Austausch betreiben, werden Daten-Surfer genannt. Allerdings sind die Ergebnisse ihrer Zufalls- & Nebelaktionen wenig verlässlich, & kulturell gesehen werden sie als Varieténummern belacht. Das Publikum grölt, wenn es einen Random-Techniker auf frischer Tat ertappt. Kausal betrachtet befindet sich die globale Ordnung im Belagerungszustand. Die Notwendigkeit einer Generalprobe für das Schicksal des Planeten wird immer dringlicher. Zugemüllt von schriftlichem Ramsch verliert der „Basic-Realist“ seinen Verstand, & auf Sekundärtexte ist noch weniger Verlass.
Der Kopf eines Nobelpreisträgers für Literatur wird von MS-13 Gangmitgliedern durch die leeren Ränge der Königlich Schwedischen Akademie geschleift. Der humanoide Vormund eines in der Petrischale gezüchteten Gehirnersatzes versucht das zu verhindern, indem er das ethische Einsatzkommando alarmiert. Bevor es eintrifft, wird die Akademie in ein Wachsmuseum umgewandelt & ist über Nacht zu einer Touristenattraktion geworden.

Es gibt Nachmittage, wenn es kein Entkommen aus den Vorstädten gibt. Status quo heißt auf der Stelle treten, & Fakten in der Altstadt verkommen lassen.
In Neu-Köln wurden Schwule als „Perverse“ beschimpft. Die thermodynamische Zone zog sich an der Küste wie eine Blockchain entlang. Im Kampf gegen Viren & Trojaner lüfteten verzweifelte Traditionalisten täglich ihre Matratzen. Der Flaneur, der durch staubige Straßen schlenderte, fand keine Fakten, an die er sich halten konnte. Der Himmel über der Zone erstrahlte im Gletscherblau eines Hologramms. Fluchtpläne wurden zu horrenden Preisen gehandelt, aber die Routen auf ihnen erwiesen sich als falsche Fährten & führten zurück in die Gedächtnisstadt. Geheimnisse der Ausbeutung warfen die Gesetze des Marktes über den Haufen. In der allgemeinen Beschleunigung waren die Bildschirme der Fernseher auf die Größe einer Stecknadel geschrumpft.
Zerstörungen in amerikanischen Kleinstädten geschahen hauptsächlich nachts. Traditionalisten zeichneten sich durch geschichtliche Teilnahmslosigkeit aus. Bei sozialen Unruhen & Tumulten wurden die gegnerischen Fraktionen automatisch getrennt. Auch bei Cocktailpartys konnte auf Kontrollmaßnahmen nicht verzichtet werden. Es gab Tage, wenn die Unruhen nie nachließen. Die Kommission für sozialen Widerspruch ging davon aus, dass sie in der Zone einen Freibrief für schrankenlose Organisation hatte. Die kodifizierte Welt beruhte auf einer ausgeklügelten Struktur kausalen Handelns. Widerspruch musste bestraft werden, weil er den gesellschaftlichen Frieden störte. Das Gedächtnis der Aufklärung war aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwunden. In einer Atmosphäre, in der Probleme als unlösbar galten, entstand Raum für ein Spitzelsystem, & das Kontrollarchiv galt als letzte Instanz für politisch korrekte Meinungen. Dem Bürger wurde eine Unfähigkeit zum Wandel unterstellt. Brisante Darstellungen, etwa in Form von Dokumentationen, wurden von medialen Gremien als irreführend abgelehnt.
Spitzel: „Ich bin auf Transparenzgeräte spezialisiert, die anzeigen, was hinter fremden Wänden geschieht.“ Im Interesse der Verwaltung musste auf das schwächste Glied in der Datenübertragung geachtet werden. Kontrolle war erst perfekt, wenn sie keinem Zweck mehr diente.
Übergriffe auf die Wahrheit prägten das städtische Bild der Zone. Wenn Wahrheit das ist, was geschrieben steht, musste gefragt werden: Wer schreibt? Leser, die den Zentralen Datenspeicher anzapften, in dem sämtliche Fragen & Lösungen gespeichert waren, sahen im geschriebenen Wort ein mit undurchsichtigen Motiven befrachtetes Zeichen. Erneuerung durch Zerstörung hieß, die Bilderbank stürmen & am Fundament von „persönlich“ & „öffentlich“ zu rütteln. Bei der Eroberung der eigenen Sichtweise wurde der TV-Bildschirm zum ersten Ziel.
Noch einmal erschien die abendländische Geschichte im letzten Schimmer der Menschheitsdämmerung. Hier der Erfahrungshorizont & dort das hypertrophe Ich. In der kodifizierten Welt drohte jede Handlung in der Fülle von Daten & Zeichen unterzugehen. Es gab keine Verbote, die das Gedächtnis mit der Erinnerung zur Deckung brachten. Bezugspunkte wurden von der Beschleunigung geschluckt. Sobald Big Data übernahm, hatte das Bewusstsein ausgedient. Jedes Objekt konnte die Funktion eines beliebig anderen übernehmen. „Sehen Sie, Boss, ich bin spezialisiert auf kryptische Bilder, die sich wahllos verändern & neu arrangieren lassen.“ Es war der Kontext, dem die Image-Schärfe ihre Gestalt verdankte. Mit der Zeit entfernten sich die Dinge von ihrer spezifischen Bestimmung, & der europäische Mythos von der Funktion des Ganzen begann zu verblassen.

Man muss einen Stadtplan auf den Knien haben, auf dem Schriftzeilen sich wie Straßen hinziehen, um sich ein Bild vom Montageprinzip zu machen. In den Außenbezirken der Zone konnten kritische Auseinandersetzungen einen Flaneur in einen Schlafwandler verwandeln, der sich weder auf gewohnte Erscheinungen noch Phänomene verlassen konnte & dem nur Schweigen geblieben war. Die dicht gedrängten Dächer einer Vorstadt verschwammen in der spontanen Oberflächenwahrnehmung, die das Hier & Jetzt zu einer beliebigen Chiffre machte.
Die exterritorialen Jahre wurden einst die biografischen genannt. Einige Genossen waren dabei im Knast gelandet. An luziden, filmischen Rechtfertigungen fehlte es nicht. Intakte Sätze waren mehr denn je semantischen Zerreißproben ausgesetzt. Glauben Sie, was da schwarz auf weiß vor Ihnen steht?
Der beschreibende Code erweist sich als unbrauchbar, wenn der Zufallsfaktor als treibende Kraft übernimmt. Die Grenzen der Zone wurden von der Ausbreitung der Außenbezirke bestimmt. Wie Dokumentarfilme zeigten, blieben auf einem geometrischen Kontinent vor allem die südlichen Viertel unter einem Netz undurchdringlicher Geheimnisse verborgen, & das hieß, dass sie sich jeder schriftlichen Darstellung entzogen. Straßen wurden wahllos gesperrt & Viertel, durch die sie führten, verschwanden über Nacht. Auf Fragen, wo sie geblieben waren, hieß es, sie seien der Stadtplanung zum Opfer gefallen.
Manchmal gelang es sensiblen Flüchtlingen, in den Häusern der Altstadt Zuflucht zu finden. Es gab Zwischenstufen, die eine Rückkehr, wenn auch nur vorübergehend, in die Vergangenheit möglich machten. Nur spontan & in flüchtigen Augenblicken konnte das radikale Jetzt in Flashbacks einer spontanen Wahrnehmung auftauchen.
Der erste Schritt zum Abschied von der Gegenwart ist nicht ohne einen biologischen Nachfolger zu schaffen, was gewöhnlich nur mit Hilfe eines Dritten gelingt. Ein Dritter spielt immer eine Rolle, wenn es ums Verschwinden geht. Wenn zwei sich einig sind, kann die Übernahme durch einen Dritten beginnen, der entweder als Beobachter oder Agent auftritt. Der Plan dafür beruht auf grammatikalischen Regeln, die für die digitale Kommunikation unerheblich & von denen die meisten praktisch verschollen sind.
In der Zone kam es vor, dass man mitten in der Nacht aufwachte & feststellte, dass man telepathisch Gedanken empfangen & lesen konnte (die einzige Art des Lesens, auf die noch Verlass war). Geografische Orientierung reichte nicht aus, denn die meisten Straßen verliefen nach dem Zufallsprinzip. Einige zogen sich endlos hin, andere endeten nach wenigen Häuserblocks. Gedankenstriche waren absolut nötig, um sich im Stadtbild der Zone zurechtzufinden.
Wer als Flaneur unterwegs war, montierte seine Streifzüge aus Randomschritten. Der Orientierungssinn richtete sich nach virtuellen Hinweisen aus den im städtischen Panorama versteckten Zeichen. In einem als unseriös eingestuften Fremdenführer stand, dass Luis Buñuels Grab auf den Hügeln oberhalb der Zone lag. Nach literarischen Merkmalen allerdings suchte man im Stadtbild vergebens. Sie waren entweder verblasst oder kritischen Zweifeln zum Opfer gefallen. Sprache diente vor allem als Entschlüsselungscode für archäologische Funde.
Die Atmosphäre in der Zone suggerierte einen Zustand, in dem es weder Grenzen noch Ziele gab. Die geometrisch angelegten Außenbezirke täuschten vor, frei von Geheimnissen zu sein. Aber es war nicht zu übersehen, dass hier vor allem Fellachen & Beduinen siedelten. Ein Wanderer musste mit dem schriftlichen Versuch scheitern, etwas über die Lage der Zone festzuhalten. Auf welcher Seite des Äquators lag sie? Wie weit nach Süden oder Norden reichte sie? Zwar kursierten stark fiktiv belastete autobiografische Berichte, & in Dokumentarfilmen wurden surrealistische Landschaften gezeigt. Auch gab es Zwischenstufen, die an jeder Straßenecke andere, von den Störfaktoren der Übertragung verseuchte Assoziationen auslösten. Die Altstadt galt als Ort der Inkompetenz, wo sich die Lebensbedingungen laufend änderten. In Touristenhotels kam es ständig zu Auseinandersetzungen darüber, was auf realistischen & was auf suggerierten Vorstellungen beruhte.
Von Zeit zu Zeit (vor allem, wenn von „Arabern“ die Rede war) kam es zu Paniken, die den Sicherheitskräften zusätzliche Einnahmen verschafften. Ein Mädchen trank Ziegenmilch & schon wurde in den Medien über Menschenhandel & Kinderkrieger spekuliert. Französische Intellektuelle entdeckten den europäischen Einfluss auf maghrebinische Fehlentwicklungen. Politiker nutzten die Streitigkeiten, um auf Distanz zu populistischen Tendenzen zu gehen. Verschiedene Interessensgruppen schmiedeten einen Pakt, der das bewährte Links-rechts-Muster umging. Auf dem internationalen Platz der Macht wurde um Informationen nach den Regeln des Showgeschäfts geschachert.
Es kam vor, dass Schieber & Zwischenhändler, die ihre konspirativen Strategien für eine Alternative zur „kolonialen Unterwanderung“ hielten, bei dunklen Geschäften in einen Stummfilm gerieten, der ihr Geplapper wortlos machte.
Allmählich entwickelte sich die Zone zu einer Arabeske des vierten Wegs, wo statt Untertitel nur Schlagzeilen zählten. Welche Promis hatten es mit welchen getrieben? Wahre Absichten wurden nicht ohne Rückendeckung inszeniert. Mit getürkten Meldungen konnten spielend elektronisch generierte Identitäten gewählt werden. Angriffe aus dem fiktiven Raum waren nicht zu identifizieren. Über Grabenkämpfe zwischen einzelnen Fraktionen, an denen sich Publizisten aus allen Lagern beteiligten, wurde ausführlich berichtet, um die Auflagen der Printmedien zu erhöhen. Extremisten ergriffen die Chance, sich mit griffigen Twittersprüchen einzumischen.
Das Verhältnis von Ziegenmilch & Politik zu behandeln, galt als ambivalent & riskant. Diplomaten, die besonders niederträchtig mit Informationen umgingen, hielten sich an der Macht, indem sie scheinbar behutsam auftraten. Keine Konflikte, keine Polarisierung, war ihre Devise. Niemand konnte sagen, wohin der vierte Weg führte. Er wurde schließlich als Vernebelungstaktik & Nährboden fauler Kompromisse gleichzeitig gepriesen & diffamiert. Im virtuellen Raum tobten unübersichtlich inszenierte elektronische Grabenkämpfe & erstickten kritische Auseinandersetzungen.
Wenn das Alphabet mit Geschichte kollidiert, bleibt nur: Einfach dazwischen gehen, einen Freibrief unterschreiben, & den Broadway hinuntersegeln…

Den Auftrag hatte ich längst fahren gelassen. Jetzt ging es nur noch darum, die Zone schleunigst zu verlassen, indem ich versuchte, unterm Datenradar durchzuschlüpfen. Aber die Kontrolleure der „Wahrheitssysteme“ hatten sämtliche Kanäle blockiert. Eine Zeitlang legte ich fiktive Spuren, um Schnüffler abzuschütteln, die wie Zecken an mir klebten. Der Autor in mir, an den ich kaum noch dachte, hatte ein untrügliches Gefühl dafür, wann es brenzlig wurde. Ich wollte nichts von ihm wissen & hörte nicht auf ihn. Aber allmählich wurde mir klar, dass ich in der Klemme saß. Ich bat ihn um den Gefallen, mich einer biografischen Transformation zu unterziehen. Allein schaffte ich das nicht, aber mit seiner Hilfe…
„Was verlangst du dafür?“, fragte er.
„Um Kohle geht’s nicht.“
„Seit wann?“
Er wollte mich nicht verstehen & riet mir, es mit einem Unschuldsengel zu versuchen. Das war dieselbe Masche, mit der sich der Fliegende Holländer vom Fluch eines endlosen Lebens befreien wollte. Bedingungslose Liebe sollte ihm den lang ersehnten Tod bringen. Ich fragte mich, ob es auch mit einem Flittchen oder einer Emanze klappen würde, wo doch die reine Liebe mit der Romantik vergangen war. Inzwischen drehte sich Liebe um die Frage, wer den Müll rausträgt, & Unschuld war mit der Frauenpower auf der Strecke geblieben…
Wer sich als Mann ausgab, konnte in der Zone schnell unangenehm auffallen. Er wurde als Chauvi geschmäht, der in der falschen Epoche gelandet war.
Der Autor verriet mir, dass er sich mit einem Roman über die Machenschaften des Komitees für Interne Frage befasse, ein Ansinnen, für das ich nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Auch die Unauffälligen wurden Opfer der Ideologie. In einer „falschen Epoche“ blieb niemand ungeschoren, was daran lag, dass Konsens ansteckend war.
Mit dem Gerücht, dass Informationen unterirdisch gespeichert wurden, brach ein regelrechtes Fluchtfieber aus. Jeder versuchte seinen genomischen Datensatz zu retten, was in Umkleidekabinen immer wieder zu unerwarteten Konflikten führte. Wer war der Schatten, der wie ein Pantomime die Gestalt & Bewegungen einer Frau nachahmte, die sich in gebückter Haltung den Slip hochzog? Jeden Augenblick konnte sie an ein als Algorithmus getarntes Datenprofil geraten, das sie unter dem Deckmantel sexueller Belästigung aus der Fassung brachte. Belästigung oder nicht, sie schaffte es, den Angriff auf ihre mühsam zurechtgebastelte Identität abzuwehren, indem sie sich als androgyne Emanze ausgab.
Die Realität hing wie eine Klette an mir. Wenn es brenzlig wurde, konnte ich mich vorübergehend in die Fiktion zurückziehen & wochenlang von Salzstangen & Sprudelwasser leben. Aber irgendwann ließ mich die Illusion der Singularität im Stich. In einem ideologisierten Milieu sind es gerade die Unauffälligen, die sich verdächtig machen & ins Visier des Komitees für Interne Fragen & damit in eine Fangschaltung der elektronischen Überwachung geraten.
Durch den Schreibvorgang, behauptete der Autor in mir, konnte sich der ganze Informationsgehalt der Zellen mit einem Schlag entladen & „du stehst mit leeren Händen da“. Wenn das passiert, verwandelt sich der Körper in einen Schatten. Wohin mit dem Ektoplasma, das ist dann die Frage. Ein Schatten entzieht dem Körper die Epidermis, & er kann jede Form annehmen, sichtbar oder nicht.
„Aber die Möglichkeiten, sich in eine dritte Darstellungsform zu retten, verrate ich dir nicht“, sagte der Autor.
Er war zweifellos ein Scharlatan, der mit der List eines Lockvogels & aus dem Hinterhalt auftrat. Allmählich wurde mir klar, dass er mich in eine Falle locken wollte mit der Folge, dass ich nie einen Roman hinkriegen würde. Was einerseits für ihn sprach, andererseits aber war er eine Nervensäge & warf mit Phrasen wie „Protoplasma ist eine Einbahnstraße“ um sich & faselte vage von Fluchtplänen.
Ich schloss die Augen & sah Parkplätze & dampfende Gullys, zwischen denen ich durch die Zone irrte. Es roch nach fleischlichem Zeitungspapier & Abfall in Plastiktüten. In einem Hausflur wollte mir eine dunkle Gestalt eine genetische Verjüngungskur andrehen. Wimmern & Lustgestöhn schwirrte durch die Dunkelheit.
Im Schein des Mondlichts blitzte kurz die Silhouette eines weißen Cadillacs auf, der durch eine hügelige Landschaft fuhr, die von Wiehern & Grunzen erschüttert wurde. Er hielt, die Tür öffnete sich & die schlanken Beine einer Frau schoben sich ins Freie. Sie zögerte, entschloss sich dann aber, sich die Füße zu vertreten. Im Licht der Scheinwerfer konnte ich sehen, wie sie nach wenigen Schritten bis zu den Hüften im Treibsand versank…

Das Filmskript, das ich noch immer mit mir herumschleppte, war ein Dummy. Die Seiten waren mit Fluchtgedanken bekritzelt & kaum noch lesbar. Wegen der Überwachung durch das Komitee wagte ich nicht, ein Hotelzimmer zu nehmen. Ich schlief im Wagen auf Parkplätzen & Aussichtsterrassen. Aus Autos, die in der Nähe standen, war manchmal lautes Lustgestöhn zu hören, das gelegentlich in ein Grunzen überging, wie es beim Oralsex entsteht.
Kosmische Strudel fegten über den Kontinent, & Schwarze Löcher blieben zurück. Ich wollte mich nach Westen durchschlagen, was aber widrige Umstände immer wieder im letzten Augenblick verhinderten, weil entweder Bullen auftauchten & ich eine andere Richtung einschlagen musste oder die Straße an einer Küste endete, wo es nicht weiterging.
Ich überlegte, ob es eine Möglichkeit gab, die Zone per Schiff zu verlassen, was allerdings mit den Gefahren eines historischen Romans verbunden war, in dem Leute um die halbe Welt reisen & dabei riskieren, in die Hände von Piraten zu geraten. Ich wollte mich nicht auf Rückblenden einlassen, denn aus der Vergangenheit kehrt niemand unbeschadet zurück.
„Die besten Ficks…“, erklärte mir ein Matrose. Aber ich winkte ab. Matrosen sind Dilettanten, wenn es um Lust & Befriedigung geht. Im Umgang mit Frauen war es besser, keine großen Töne anzuschlagen & den Mund zu halten.
Ein wenig Skopolamin kann einer Story nicht schaden. Es dämpft den Ekel vor überdeutlichen Bildern, wenn sie anfangen, sich wie Schlingpflanzen um die Nervenstränge zu ranken. Ich kaute Ginkgo, um im Gewirr von Gassen & Passagen einen klaren Kopf zu behalten. Ich wollte endlich die Rolle loswerden, die im Skript für mich vorgesehen war.
Unter der Kuppel eines türkischen Bads kamen mir starke Zweifel, ob die Story dafür taugte, meinen Auftrag unauffällig zu erledigen. Ich wartete auf eine Gelegenheit, den Panikknopf zu drücken & mich aus den zusammengewürfelten Szenen des Plots zu katapultieren. Es reichte nicht, einen Kaffee nach dem anderen zu trinken & im Gedränge von Touristen unterzutauchen. Die Stadt, durch die ich mich bewegte, blieb Theaterkulisse. Schön anzusehen wie der Teint einer Blondine, aber von keinen Eigentümlichkeiten getrübt. Die Schatten der Zypressen & Zedern zerbröselten, & auf dem Silver Screen blieben verschneite Fade-outs zurück.
Aus einem Zeitungsbericht erfuhr ich, dass der vermisste DJ bei einer Gegenüberstellung leugnete, sich das Leben genommen zu haben. Er deutete an, dass er vom Rummel um seine Person die Nase voll hatte. Ich glaubte ihm kein Wort, & der Reporter hakte nicht nach. Die Angelegenheit erwies sich als geschickter Publicity Stunt.

Ich nahm ein Flugzeug nach Guatemala, wo ich wegen der Regenzeit drei Tage auf einem miesen, kleinen Flugplatz festsaß. Ständig hieß es, die Maschine nach Mexiko würde aufgetankt, aber dann wurde der Flug immer wieder verschoben, weil ein Gewitter die Abfertigung unmöglich machte.
Immer mehr Passagiere tauchten auf & die Abflugshalle füllte sich. Als alle Sitzplätze belegt waren, setzten die Leute sich auf den Boden. Manche packten Proviant aus, andere schliefen. Die meisten waren in ihr Handy vertieft & versuchten, Verbindung zur Außenwelt aufzunehmen. Immer wieder fiel die Klimaanlage aus & es wurde stickig heiß.
Das Personal an den Schaltern wechselte & machte hinhaltende Ansagen. Draußen, in der Dunkelheit, zuckten immer wieder Blitze auf. Wartende berieten, ob es einen Ausweg aus der Misere gab. Zurück in die Stadt? Bis zum nächsten Tag durchhalten? Auf den Tisch hauen & sich Klarheit verschaffen?
An einem kleinen Stand gab es Getränke & Sandwiches, der ständig belagert wurde. Um ihn zu erreichen, musste man sich einen Weg durch Koffer, Taschen & auf dem Boden Sitzende bahnen. Irgendwann hieß es, dass die Maschine zwar betankt sei, aber die Besatzung ihre Dienstzeit überschritten habe & eine andere angefordert werden müsse.
Allmählich schwand das Gefühl für Zeit. Wo zum Teufel war ich überhaupt? Ein Mann in meiner Nähe fragte, ob es eine Möglichkeit gab, ein Wasserflugzeug zu chartern. Ich hatte keine Ahnung, was ihn auf diese Idee brachte. Ein anderer schlug vor, es mit einem Heißluftballon zu versuchen, sobald der Sturm sich verzogen hatte. Mir war mehr danach, die Nacht in einem Puff abseits von Touristenhotels zu verbringen. Aber mit einem Transitticket konnte ich das Flughafengebäude nicht verlassen.
Manchmal ertappte ich mich dabei, dass ich eine Art Zuneigung für eine Gestalt in meiner Nähe entwickelte. Eine junge Asiatin, die eine lange Reise hinter sich zu haben schien, saß ruhig & gelassen da, als meditierte sie mit offenen Augen. Kinder spielten gleichmütig mit Voudou-Puppen, die sie aus der Tasche ihrer Mütter gekramt hatten. Ein dunkelhäutiger Reinigungsmann in einer adretten Uniform am Eingang zum Klo, der sich mit der Gelassenheit ländlicher Bewohner bewegte, schaute verwundert auf das wirre Getümmel in den Gängen. Es war ein Anblick, der ihn vermutlich an den Errungenschaften der Zivilisation zweifeln ließ.
Ich verlor die Hoffnung, diesen Ort je wieder zu verlassen. Es schüttete unentwegt, & selbst wenn der Regen vorübergehend nachließ, wurden die Phasen der Beruhigung von Donner & fernen Blitzen erschüttert. Es war, als hätte ich Tage auf einem unbequemen Sitz verbracht. Von Zeit zu Zeit stand ich auf, um mir einen ruhigen Fleck im Abflugsbereich zu suchen, wo die Luft ein wenig besser war. Damit riskierte ich, anschließend keinen Sitzplatz mehr in der Nähe des Abfertigungsschalters zu finden mit der Aussicht, die nächsten Stunden in einer Ecke am Boden zu verbringen.
Gäste standen an den Fenstern & verfolgten das nächtliche Spektakel auf dem Vorfeld. Kurz blitzten Umrisse von Maschinen auf, dann verschwanden sie wieder hinter einer Schattenwand.
Zeitweilig wurde es atemlos still in der Halle. Die meisten Leute schliefen. Als ich einen Blick nach draußen warf, konnte ich Palmstämme erkennen, die sich im Wind bogen. Die Rippen einer Jalousie klapperten, & ich glaubte, in einen Hurrikan geraten zu sein. War es möglich, dass die Airlines das den Wartenden verheimlicht hatten? Alles war möglich an einem Ort, der von der Außenwelt abgeschnitten war. Kaum zu glauben, aber es kam mir vor, als wäre das Bodenpersonal hinter den Schaltern gegen Schaufensterpuppen ausgetauscht worden. Manchmal waren Ansagen zu hören, von denen ich kein Wort verstand.
Wieder zuckten Blitze auf & verzerrten die Gesichter in meiner Nähe. Plötzlich wurde mir klar, dass der Strom & mit ihm die Beleuchtung ausgefallen war, wodurch sich das Treiben in der Halle nur bruchstückhaft erkennen ließ, wenn ein verirrter Lichtschein über zusammengesunkene Gestalten & Gepäckstücke glitt. Kinder schrien im Schlaf auf. Dunkle Gestalten wankten durch die Sitzreihen, als suchten sie einen Verdächtigen, der durch die Sicherheitskontrolle geschlüpft war. Verschlafen hantierte ein Mann in einem Poncho mit Pillen & Pulvern, die er verstohlen zu sich nahm. Frauen saßen da wie in Gedanken an ein vergessenes Gewerbe versunken. Spärlich bekleidete Engel huschten zwischen den Schlafenden herum, um Hilflose mit dem Nötigsten zu versorgen.
Aus den wahllos zusammengewürfelten Passagieren war eine Gemeinschaft von Gestrandeten geworden, die ohnmächtig auf ein Zeichen der Rettung warteten. Kranke, denen die Medikamente ausgegangen waren, gingen die Nerven durch. Einige wurden von Zuckungen erschüttert, andere versanken in regloser Apathie. Schwarzmarkthändler boten nutzlose Waren an, die sie in Seesäcken mit sich herumschleppten.
In meiner Nähe saß ein Mann, der ständig fotografierte & sich Notizen machte wie ein Ziviler, der Einzelheiten für einen Lagebericht zusammentrug. Schachspieler hatten sich am Boden niedergelassen & versuchten, sich auf die Figuren zu konzentrieren, die aber immer wieder von achtlos Auftretenden über den Haufen geworfen wurden.
Blicke einer Lesbe verrieten, dass sie keinen Mann in ihrer Nähe wollte & in tödlicher Mission unterwegs war. Ein suchtkranker Junky saß da wie von einer Krankheit befallen, die ihn an jeder Regung hinderte. Er schien die Gegenwart hinter sich gelassen zu haben & in eine zeitlose Ära abgetaucht & zum Scheintoten erstarrt zu sein. Die Abfertigungshalle glich allmählich einem Asyl verirrter Seelen, die in einem Zustand zwischen Verzweiflung & Aussichtslosigkeit gefangen waren.
Ein Forschungsreisender mit Augen, die nach einem langen Dschungelaufenthalt zugeschwollen waren, hinkte zwischen den Wartenden herum. Sie wichen erschrocken zurück, wenn er ihnen zu nah kam. Ein betrunkener Bulle schlug wild um sich, um sich Moskitos vom Hals zu halten. Er fuchtelte mit unleserlichen Meldezetteln herum, die er für gefälschte Rezepte für Ayahuasca hielt. Ein Indio mit kupferfarbenem Gesicht ahmte die Laute von Urwaldtieren nach. Zwischendurch schwirrten Schwaden von Pulque durchs Gedränge in der Halle. Tote, die kaum von apathisch Ausharrenden zu unterscheiden waren, wurden auf Bahren ins Freie gebracht & den Aasgeiern überlassen.
Zerlumpte Geisterwesen drängten sich um einen klapprigen Spielautomaten, den sie mit Chips aus Knochenteilen fütterten. Halb Verhungerte & von geisteskranken Göttern besessene Sektenmitglieder schleppten sich mit letzter Kraft ins Klo, wo sie sich auf einen Sitz fallen ließen & ihr Leben aushauchten.
Abenteuerliche Pläne wurden ausgeheckt, erwiesen sich aber als undurchführbar, denn es gab kein Entkommen aus dem Inferno. Die Szene glich allmählich dem Sektencamp von Jonestown, wo Plastikbecher mit vergiftetem Kool-Aid verteilt wurden. Einige Passagiere waren bereit, Schluss zu machen, die meisten allerdings schreckten ängstlich vor jedem Getränk zurück & riskierten lieber, zu verdursten. Dass Vollmond war, wurde als schlechtes Omen betrachtet. Apokalyptische Visionen machten die Runde, in denen es um das Ende einer Dschungelexpedition auf der Suche nach El Dorado ging. Es hiess, der Flughafen würde allmählich von der unaufhaltsamen Vegetation des Urwalds geschluckt & verschwinden, wie einst die Tempelstädte der Maya. Zwischen Koffern & Taschen ringelten sich Schlangen. Frauen schrien & Männer gingen mit Plastikmessern & Gehstöcken auf sie los. Nach kurzer Zeit bot die Halle ein Bild mörderischer Zerstörung.
Was tun in einer aussichtslosen Lage? Ruhe bewahren hiess, dem Verderben in die Augen schauen. Ich war von Geistern umgeben, die wie Sternschnuppen durch die Dunkelheit rauschten. Ein paar Verwegene, die den Platz vor dem Flughafen erreicht hatten, klammerten sich an Palmstämme, um nicht von Regengüssen & Sturmböen mitgerissen zu werden. Ein zerfetztes Kleid flatterte im Wind. Die Finsternis hatte sämtliche auf dem Vorfeld abgestellten Maschinen geschluckt. Längst waren Snacks & Getränke ausgegangen. Rettung war nicht zu erwarten.
Allmählich verschwand das Gefühl für Schatten, & das Flugfeld war einem bunt gefleckten Mohnfeld gewichen. Jemand fragte nach einer Möglichkeit, in die nächste Stadt zu kommen. Ein Uniformierter meinte, dass es weit & breit keine Stadt gab.
Das Klo glich plötzlich einem türkischen Bad, in dem Männer mit Handtüchern um die Hüften standen & sich unterhielten.

Ich nutzte die Gunst des Augenblicks, um die letzten Tage zu vergessen & einen Bus oder ein Taxi zu ergattern, ganz gleich wohin. Als ich ins Freie trat, fuhr mir ein Hauch von exotischen Gewürzen in die Nase. Ich wusste, es würde eine lange Reise werden. Ich erinnerte mich nicht, wie es dazu gekommen war, dass ich plötzlich als einziger Fahrgast in einem Bus saß, der durch die Schneise einer dichtbewachsenen Landschaft fuhr. Manchmal tauchten Fußgänger auf, ihre Gesichter mit Tüchern vermummt.
Die undurchdringliche Vegetation öffnete sich zu einem Strand, auf dem wie auf dem Korridor eines Hospitals Patienten mit blutgetränkten Verbänden herumliefen. Vor einer schäbigen Hütte wurde auf Widerspenstige eingeprügelt & Fliehende mit Bolas & Ruten mit Widerhaken gejagt. Ein bläulich angelaufener Asiate lief mit einem Kris in der Hand Amok… & eine skandinavische Touristin stürzte sich von einem Felsvorsprung in die Tiefe eines Wasserfalls.
Von Zeit zu Zeit hielt der Busfahrer & betrachtete eine Landkarte, als hätte er sich verfahren. Es war ein heißer Septembertag, & die Ausläufer eines Hurrikans verhüllten die Sonne. Aus dem Off war ein nervöses Kichern zu hören. Es klang, als würde sich jemand darüber amüsieren, dass der Fahrer die falsche Richtung eingeschlagen hatte.
Während ich mit geschlossenen Augen auf dem schlecht gepolsterten Sitz im Bus saß, verfolgten mich Albtraumbilder. Wenn ich bestimmte Reizwörter wie Yagé oder Traumstrand hörte, bäumte sich mein Körper auf. Ich wusste, die Landschaftsbilder würden über kurz oder lang in einem Filmarchiv verschwinden.
Es gab Anzeichen, dass es im Erbgut des verseuchten Planeten zu genomischen Mutationen gekommen war. Berichte über ungeklärte Unfälle häuften sich. Als Ursache für einen Fehler, bei dem der Pilot vom Kurs abgekommen war, wurde die Hitze genannt. Tatsächlich hatte sich das Magnetfeld verschoben & die Richtung geändert.
Es gab Tage, die, verbunden mit einem Gefühl erotisierter Gleichgültigkeit, geeignet waren, den Kontinent physiologisch hinter sich zu lassen.
Allmählich entfaltete sich in meinem Unterbewusstsein der Fahrplan für eine Fahrt ins Unbekannte, der mich in einen Zustand versetzte, der dem des Fliegens glich. Hinter sich lassen… in räuberische Gegenden geraten… in Hieroglyphen denken… akustischen Schatten nachgehen… Wörter kitzeln & Dinge zurücklassen… sich Gefechte mit Bildern liefern… Gebiete ideologischer Kriege meiden… Sprache mit dem Stoffwechsel abstimmen… auf Flammen balancieren, die aus der Hölle hochschlagen… im freien Fall Straßenkontrollen überwinden…
Sucht lauerte hinter sozial gesteuerten Kodifizierungen. Aussagen zur geistigen Selbstverstümmelung mussten ständig angepasst werden. Auf den Boden spucken, & in einem gottverlassenen Nest einen Seco schlürfen.
Sprache kann einen überall erwischen.
Langsam verfärbte sich der rote Faden des chronologischen Ablaufs. Flimmerndes Blau ging in der Hingabe in einen nackten Körper über. Im schwachen Schamlicht glitzerte ein venezianisch verzierter Tisch. Es war ein Bild, das mich den Fluch des räumlichen Sehens spüren ließ…
In der Komplexität von Flauten zwischen Passatwinden verschwanden die Koordinaten des Bewusstseins, & die Gegenwart beschränkte sich auf Schwitzen, Trinken & Flugerinnerungen im triebhaften Takt von Traum & Rausch beim langsamen Hinübergleiten in den außerirdischen Raum…

MOLOKO PRINT 045 | 2018
© Jürgen Ploog
Collagen. Jürgen Ploog
Gestaltung. Robert Schalinski
ISBN 978-3-943603-48-4

Jürgen Ploog war Schriftsteller und Publizist. Er war 33 Jahre lang Linienpilot, seit 1993 widmete er sich ausschliesslich dem Schreiben. Er lebte in Frankfurt und Florida. Am 19. Mai 2020 starb Jürgen Ploog 85jährig an den Folgen eines Herzinfarkts.

«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Beitragsbild © Cohen Archive LLC

«Jürgen Ploog, eine Gegenfigur zum etablierten Literaturbetrieb» von Florian Vetsch

Das Spielen mit Bombensplittern gehörte für den 1935 in München geborenen Jungen zu den Illuminationen im tristen Kriegsalltag. «Ich habe nie unter der Bettdecke Bücher verschlungen. Nach dem Krieg war keine Zeit fürs Lesen.» Es folgt ein Schnitt: Der Adoleszente verbringt ein Jahr in den USA und kehrt mit einem glühenden Interesse an der transatlantischen Subkultur nach Deutschland zurück. Er bricht ein Studium der Gebrauchsgrafik ab, heuert bei der Deutschen Lufthansa an, absolviert die Pilotenausbildung und fliegt schliesslich 33 Jahre lang in deren Langstreckendienst. Das sichert Jürgen Ploogs bürgerliche Existenz, neben der es aber diejenige des Autors gibt: «Ich bin doppelt belastbar.»

Ploogs erste literarische Versuche erscheinen in Zeitschriften, wobei sich rasch die Montage, dann das Schneiden als bevorzugte Schreibmethode abzeichnen. Der Schnitt entspricht dem unsteten, diskontinuierlichen Pilotenleben: 10 Tage zu Hause in Frankfurt, dann New York, dann Buenos Aires, dann Sydney, Kalkutta, Port Said… Jürgen Ploog wendet seit den frühen 1960er Jahren – im direkten Anschluss an ihre Erfindung in Paris durch Brion Gysin im September 1959 – die Cut-up-Methode an:

«Nehmt ein buch irgendein buch
zerschneidet es
zerschneidet
prosa
gedichte
zeitungen
zeitschriften
die bibel
den koran
das buch von moroni
lao-tse
konfuzius
das bhagawadgita
irgendwas
briefe
geschäftskorrespondenz
werbung
alle wörter

schlitzt es der mitte nach auf würfelt
die abschnitte zusammen
wie es euerm geschmack entspricht
schneidet ein wenig bibel hinein
streut ein wenig werbeprosa
darüber
mischt es wie karten werfts
wie konfetti herum
schmeckt es ab wie kochendheisse
buchstabensuppe

gebt die briefe eurer freunde
euer durchschlagspapier
durch irgendein sieb das ihr findet
oder erfindet

ihr werdet bald sehen
was sie in wirklichkeit sind
und sagen dies ist die ultimative methode
der wahrheitsfindung

reimt ein meisterwerk zusammen
pro woche
verwertet bessere materialien
hochexplosivere wörter

es ist nicht länger nötig eine zeit
der genies
anzubahnen seid euer eigener agent»

Mit diesen Worten rief Brion Gysin 1960 in Minutes To Go zur allgemeinen Anwendung der Cut-up-Methode auf. Und einer seiner Komplizen wurde der junge Ploog, der sich zum konsequentesten deutschsprachigen Cut-up-Autor mausern sollte – um nicht mit Carl Weissner zu sagen: zum «besten deutschen Cut-up-Autor». Wie William S. Burroughs, zu dessen persönlichen Kollaborateuren Ploog seit 1969 zählte, entwickelte er Gysins Erfindung zu einem eigenen Stil weiter.

Cut-up oder die Durchkreuzung des Nullpunkts der Literatur. Was erscheint auf der anderen Seite? Was passiert nach dem Durchbruch in den Grauen Raum? Welche Gestalten und Prozesse treten jenseits des Flusses in Erscheinung? Ploogs Schriften stellen zweifellos eine Antwort auf diese Fragen dar.

Einen politischen Spiegel fand die anarchische Schnittmethode in den linkstheoretischen Pamphleten von Kropotkin oder Herbert Marcuse, die Ploog als schmale Hefte in der Nova Press abdruckte. Doch seine eigenen frühen Experimente mündeten in ein Buch, das 1969 im Melzer Verlag erschien, ins Cola-Hinterland, das nur deshalb nicht «Coca-Cola Hinterland» heisst, weil Ploog den Darmstädter Kleinverleger Joseph Melzer von allem Anfang an vor einer millionenschweren Klage des Riesenkonzerns bewahren wollte. Cola-Hinterland wird – wie die späteren Bücher von Ploog – vom offiziellen Feuilleton weitgehend ignoriert, ver- oder geschmäht, erlangt aber in subliterarisch orientierten Kreisen Kultstatus.

Ploogs frühe Prosa zeichnet sich durch harte, rasche Schnitte aus, durch Atemlosigkeit und hohe Pressur, durch einen dissoziativen Bewusstseinsstrom, durch ständiges Auf-Zack-Sein gleichsam: «Ich versuche zu schlafen/Durcheinander aus Nerven Kreislaufschwächen & Sex-Gerüchen nach einem türkischen Bad/ die Kabine erinnerte mich immer stärker an eine Zelle/ ‹versuche dir den Orgasmus bewusst zu machen› sagte Suzie Geruch kirgisischer Haut zurücklassend – (…) gerade noch trinkbares Wasser wird von Syros gebracht… waschen ist unmöglich… es wären mindestens 5 Dimensionen nötig um eine solche Reise zu beschreiben… um der erdrückenden Gewissheit zu entgehen dass 20 000 Jahre Geschichte verspielt sind… es wurde spät, der Wind rappelte – Nordwind – das Postboot werde nicht kommen. Sagte der Kapitän… keine Spur von Kalypso… wenigstens heissen Kaffee zum Frühstück?»

Jürgen Ploog: Collage

Ploog ist kein Einzelkämpfer. In seiner Frankfurter Wohnung trifft sich, von der lokalen Szene bizarr und dandyhaft umschwirrt, die Underground-Avantgarde, darunter Jörg Fauser, Carl Weissner, Wolf Wondratschek und Udo Breger. Fauser setzt in seinem dieser Zeit gewidmeten autobiografischen Roman Rohstoff (1984) Jürgen Ploog unter dem Pseudonym Anatol Stern ein Denkmal: «Manchmal ging ich nach Feierabend zu Anatol Stern. Er lebte mit Frau und Tochter im Westend. Stern war im Hauptberuf Pilot, das Schreiben erledigte er nebenher, meistens in den Hotels, in denen die Crews abstiegen, in Karachi, Bombay, Bangkok, New York, Los Angeles, Rio. Seine Frau war außerordentlich attraktiv und gastfreundlich. Es schienen eine Menge Hippies und Junkies in der Wohnung zu verkehren, aber nach und nach bekam ich mit, dass es Literaturstudenten waren, Models, Boutiquenbesitzerinnen, Künstler, Autoren. Alle trugen lange, fließende Gewänder und lange, wehende Haare und waren mit Ketten, Ringen, Tüchern, Zöpfen, Glasperlen behängt. Unentwegt kreisten die Joints und die Teekannen.»

Ploog veröffentlicht nicht nur weitere Bücher, sondern gibt auch die Zeitschrift Gasolin 23 und, zusammen mit Walter Hartmann und Pociao, 1980 den Reader Amok/Koma – Ein Bericht zur Lage (Expanded Media Editions, Bonn) heraus. Das little mag Gasolin 23 erscheint mit einer fingierten ersten Nummer in acht Ausgaben von 1972 bis 1986. Es verdankt seinen Namen der Zusammenführung der Schicksalsziffer 23 mit dem ins Deutsche transponierten Titel des Gedichtbands Gasoline von Gregory Corso (City Lights, San Francisco 1958). Ploog sagt dazu: «Der Aufbruch im Kulturellen übers rein Rhetorische hinaus zeigte sich uns in der Entwicklung von Beat-Literatur & weiterführenden experimentellen Techniken wie Cut-up, wo sich zeitgemäßes Bewusstsein am direktesten & unverfälschtesten niederschlug. Deswegen sahen wir in Arbeiten von Burroughs, Kerouac, Ginsberg, Pélieu & Norse eine Art Leitmotiv. Entwicklungen auf besonderen Gebieten wie etwa dem Trivialen (Raymond Chandler) oder der Story (Charles Bukowski) zeichneten sich ab. Wir behandelten das nicht theoretisch, sondern belegten Einflüsse & Auseinandersetzungen durch eigene ästhetische Versuche, Übersetzungen oder auch Counterscripte. Wir erfanden die Zeitschrift also, ‹um unabhängiges, nicht zensiertes Schreiben am Leben zu erhalten›. Damit ist nicht etwa eine institutionelle Zensur gemeint (die es hier nicht gibt, sonst könnten wir zweifellos nicht veröffentlichen), sondern die Zensur, die der etablierte Begriff von tradierter ‹Kultur› immanent ausübt.»

Aber Ploogs Schreibe unterwandert nicht nur aufgrund expliziter politischer Äusserungen, randständiger Publikationsstrategien oder der anarchischen Schnittmethode die Konventionen. Es sind auch seine Motive, die mit allen moralischen Standards der konventionellen Literatur brechen. Durch das Universum der Ploog-Texte treiben massenhaft politisch inkorrekte Elemente: Pornografisches, Sodomie, Sexismen, Betrug, Diebstahl, Terror und Gewaltverherrlichungen… Doch keines dieser Elemente bleibt ungebrochen. Die Messermethode dekodiert sie, macht ihre Abgründe transparent, konterkariert sie mit wesensfremdem Material oder führt sie in gewitzten variativen Durchläufen, sogenannten Routines, ad absurdum. Schnitt und Falz deterritorialisieren Machtansprüche, Engführungen und Schrecknisse, kappen Erwartungshaltungen. Deshalb sei vor oberflächlichen Lesarten dieser Prosa gewarnt, auch wenn es klar ist, dass wir mit Ploogs Werken eine rotledern eingefasste dunkle Phiole aus dem Giftschrank für die Menschheit in Händen halten, ein wortalchemistisches Abenteuer eines Zöglings aus der Schule des Marquis de Sade, eine schwarzromantische Ausschweifung eines «Weltraumjunkies», eine Zumutung, ein Wagnis, aber auch ein besonderes Album der deutschen Subliteratur, die im Schatten der Gruppe 47 in den Sixties und Seventies zählebig und innovativ Wurzeln schlug – neben Hubert Fichte, Ralf-Rainer Rygulla und Rolf Dieter Brinkmann auch hier, mitten im Kreis der Gasolin 23.

«Ein alter blaustichiger Porno, der an jeder Stelle reissen kann»… Ploog und seine Komplizen leisteten einen namhaften Beitrag zur Verbreitung «kosmo-orgasmonautischer Produkte», zum Sexualisierungsprozess ihrer Epoche, den Klaus Theweleit in seinen Ghosts-Vorträgen (Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt/M 1998) treffend als «Salzen» im Widerspiel von «Salzen & Entsalzen», von Enthemmung und Hemmung, bezeichnet hat. Stimuliert u.a. von Wilhelm Reichs Orgon-Schriften, startete in den 1960er Jahren, feministisch oft unterbelichtet, der Prozess einer selbstbestimmten Befreiungssexualität, der, um an Äusserungen von Peter Sloterdijk anzuknüpfen, den «Orgasmus links» definierte.

In diesem Zusammenhang drängt sich die Frage auf: Gibt es einen anderen deutschsprachigen Autor, der so intensiv wie Jürgen Ploog an den Grenz- und Zentralgebieten des Sexus, an den Perversionen, Fantasien und Gelüsten der Wunschmaschine Mann gearbeitet hat? Einen «Beitrag zur kybernetischen Erotik» nannte Ploog im Untertitel seine lange Erzählung Die Fickmaschine (Expanded Media Editions, Göttingen 1970), und zwei seiner jüngeren Titel lauten ebenso signifikant: Lustspuren oder Die Exekution der Sinne bzw. Kleine Pornografie des Reisens (Moloko Print, Pretzien 2012 bzw. 2017). Ploogs Arbeiten stellen, wie etwa die Bücher der von ihm hoch geschätzten Punk-Ikone Kathy Acker, eine Literatur des Begehrens dar.

In seiner Prosa verfolgt er seit den 1980er Jahren vermehrt Ansätze zu Geschichten – die Schnitte werden weniger hart, dafür geschmeidiger und konziser. Zugleich beginnt er grössere theoretische Essays zu verfassen; deren bekanntester sind die Strassen des Zufalls / Über Burroughs (Lichtspuren, Bern 1988, zweite Auflage Galrev, Berlin 1998); eine Fortsetzung von Ploogs Auseinandersetzung mit Burroughs‘ Arbeiten erschien 2014 in dem kurzlebigen, aber innovativen Luzerner Verlag Der Kollaboratör unter dem Titel Word is Virus / 100 Jahre WSB. Anderseits markiert die selbstreferentielle Schrift Rückkehr ins Coca & Cola-Hinterland (Engstler, Ostheim 1995) einen Höhepunkt in Ploogs theoretischen Arbeiten.

Damit ist der weitere Weg vorgezeichnet. Jürgen Ploogs späte Texte weisen einen Zustand sprachlicher Glätte und Präzision auf, den die früheren Texte selten erreichen (und natürlich auch nicht erreichen wollen). Gesteigert haben sich die passagenweise Schlüssigkeit der Narration sowie Dichte und Stimmigkeit der Atmosphären. «Auf seine Weise ist Ploog ein grosser Stilist», meinte Wolf Wondratschek einmal, und dies tritt wohl selten so klar zutage wie in den Geschichten aus den letzten Jahren, darunter Santa Muerte (Engstler, Ostheim 2011) und Ferne Routen (Moloko Print, Pretzien 2016). Dank der «verlegerischen Grosstat» (Joachim Sartorius) von Moloko Print sind wichtige frühere Werke Ploogs in neuen durchgesehenen und z.T. mit Hör- und Bildmaterial angereicherten Ausgaben wieder erhältlich, bislang Nächte in Amnesien, RadarOrient und Dillinger in Dahlem. Deshalb lässt sich Ploog als Autor heute (wieder) neu entdecken – diese einflussreiche Gegenfigur zum etablierten Betrieb, ohne welche es die deutschsprachige Pop- und Beat-Literatur so nicht gäbe!

Florian Vetsch

Diese Würdigung erschien in der Fabrikzeitung Nr. 354, Zürich, Dezember 2019; Teile daraus erschienen, ediert von Katja Kullmann, in Der Freitag, Berlin, Ausgabe vom 8. Januar 2015.

Die Fabrikzeitung mit weiteren Texten zu Jürgen Ploog von Udo Breger, Katharina Franck, Pablo Haller, Jan Herman, Boris Kerenski, Claire Plassard, Miriam Spies, Michelle Steinbeck und Wolf Wondratschek.

Webseite von Jürgen Ploog

Foto: Ira Cohen (Copyright: Ira Cohen Archives LLC)