Lisa Elsässer «schnee relief», Wolfbach

Warum einen Gedichtband lesen, der den Schnee besingt. Jetzt, wo die Sonne brennt, die Hitze flirrt und Schnee und Eis zur Erinnerung werden. Weil Lisa Elsässer in ihrem neusten Gedichtband den Schnee als Zustand beschreibt, Schnee in seinen Aggregatzuständen. Kein Zustand zwischen Wasser und Eis, so wie die Lyrik kein Zwischending ist zwischen Erzählen und Gesang.

Lisa Elsässer ummantelt sich mit Schnee, steht in ihn hinein, fühlt sich aus Räumen hinaus in den Schnee und vom Schnee hinein in Innenräume. Sie geht durch den Schnee, durch die Landschaft, schreitet durch Erinnerungen, Gefühle, Gedanken, die sie einnehmen, begleiten, durchdringen. Schnee ist das Weisse, das das Denken zudeckt, vergessen macht, was darunter liegt, was für eine Weile in Starre verborgen bleibt. 

Im Gedicht „schnee von gestern“ beschreibt die Dichterin genau das, eine Vergangenheit, die in einem Gespräch mit einem Gegenüber von der Redewendung zur schmerzhaften Geste, einem wegwischenden Kommentar wird.

3 Gedichte in Fragen eingebettet:

schnee von gestern

es regnete bindfäden
weiss waren nur die häuser
die möwen der rand einer
zeitung und der pappbecher

unsere schuhe schlürften wasser
und durstig waren auch wir
doch es schneite nicht
schnee von gestern sagtest du

meintest den winter vor jahren
jenen regen den windzerfetzten
schirm die weissgetränkte gischt
das gestern voller schnee doch

es schneite nicht

In ihrem Gedicht „schnee von gestern“ offenbart sich mir ein gemeinsamer Spaziergang. Nicht einfach ein Spaziergang, um sich Bewegung zu verschaffen. Da wird nicht viel gesprochen, auch nicht mehr viel verstanden, dafür umso mehr dem nachgehangen, was einzelne Satzfetzen auslösen, so wie das wegwischende „schnee von gestern“, das Vergangenheit zunichte macht. In vielen ihrer Gedichte transformieren sie Zustände, Momente in Bilder, die sich in den Farben des Schnees beschreiben lassen. War der „Schnee“ von Beginn weg das Programm?

Ja, das war Absicht: ich wollte für einmal einen thematisch „engen“ Raum, und darauf warten, was das Wort Schnee mir alles (ausser nur Schnee) hinschneien würde, was sich sprachlich ergeben könnte! Und da war halt plötzlich, wie fast immer beim Gedicht, der „Schwellenzustand“ (Inger Christensen) da, also der Ort, wo sich Äusseres und Inneres sprachlich zu verbinden suchen!

Lisa Elsässer «Schnee Relief», Lyrik, Wolfbach, 2020, 79 Seiten, CHF 23.90, ISBN 978-3-906929-38-5

In einem Gedicht von Inger Christensen steht „Stehe ich / alleine im schnee / wird klar / dass ich eine uhr bin». Im Schnee wächst scheinbar das Bewusstsein der Vergänglichkeit, zerrinnender Zeit, weniger wie eine tickende Uhr, als das Vergehen und Erwachen in der Natur, diese kosmische, viel umfassendere Uhr. Sind dann diese Schneegedichte, ist dieser Schneezyklus die Hoffnung im Vergänglichen? Ein Versuch, die vom Menschen eingerichtete Zeit aufzureissen?

Die Vergänglichkeit wird schon in einigen Gedichten thematisiert, aber meines Erachtens nicht als Hoffnung, sondern als klare oder schmerzliche Wahrnehmung dessen, was uns allen passiert! Die Zeit ist ja bloss die unschuldige Zuschauerin dieses Welkens … die lass ich gerne „unzerrissen“!

mitläufer

nur kurz die schönheit
rostgefärbte bäume
mein schatten läuft
vor mir stummer
Begleiter überm boden
hartes weiss

hände fallen mir ein
von gleichem kalt
beschattet unerlöst
auf starrem grund
erfroren das berührte
einst im schnee erstickt

Der Schatten als Mitläufer. Ihre Gedichte sind Bilder mit intensiven Farben und starker Textur. Wovon lassen Sie sich während des Schreibens beeinflussen?

Das Schreiben bedingt, zumindest bei mir, grosse Konzentration und Fokussierung auf das, was ich als Wesentliches erachte: Sprache, Sprache und nochmals Sprache! Ablenkungen sind unerwünscht! Ich lasse mich nur von dem beeinflussen, was der Dringlichkeit dient: bei sich und dem Wort bleiben. Das ist übrigens auch bei der Prosa das gleiche Prinzip: ich gewichte das Literarische wesentlich stärker als den Marktschrei, was natürlich auch seinen Preis hat!

gras

wächst
darüber
bald wächst
schnee
darüber
wächst
vergessen
darüber
erblindet
im schnee
ertrinkt
im vergessen
bald wächst

zeit darüber

Wieder ist es die Zeit, die Einsicht, dass unter den Schichten des Schnees nichts verborgen wird und schon gar nicht verborgen bleibt. Es legt sich bloss Schicht um Schicht, Ring an Ring, Haut auf Haut. Sie suchen in ihren Gedichten nicht nach Antworten, sondern reflektieren, was mit ihnen und in ihnen geschieht. Für mich als Leser präsentiert sich ihre Offenheit in sprachlicher Harmonie. Ist aber das Schreiben, das Feilen, das Warten, das Verändern nicht oft ein schmerzlicher Prozess?

Das, was als fertiges Gedicht sichtbar ist, trägt oft, gerade auch durch die grosse Zurückhaltung die Spuren dessen, wonach man ringt! Das ist ja nicht nur die Form, es ist der Inhalt, die Sprache, der Rhythmus! Ich würde diesen Prozess nicht als schmerzlich, aber als sehr anspruchsvoll, durchdacht benennen!

Naturbeobachtungen überlagern sich mit Weltbetrachtung, Erkenntnissen. Das eine spiegelt sich im andern. Können Sie etwas erzählen über die Entstehungsgeschichte eines Gedichts? Gibt es Zustände, in die Sie sich hineinversetzen oder fangen Sie die Bilder ein?

Viele Dinge entzünden sich bei Beobachtungen in der Natur oder auch bei genauem Beobachten von Menschen, ihrer Sprache, ihrem Klang! Und manchmal fängt das schon unterwegs an, in meinem  „Sprachgebäude“ zu brodeln, wirr und noch unfertig, bis ich dann vor dem weissen Blatt sitze, und „über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Beobachten“ (Handke hat Reden gesagt!) zum Schreiben finde! Dort entstehen dann eben oft auch Querverbindungen, Assoziationen zu ganz andern Bildern: ein Schneefeld wird plötzlich Blendung eines anderen schneefernen Ereignisses! Ein wunderbarer Spannungsbogen, der das ursprünglich Beobachtete verlässt, und in einen ganz unbekannten Fluss mündet! 

(Die drei Gedichte aus «schnee relief» wurden mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlags auf literaturblatt.ch wiedergegeben.)

Lisa Elsässer-Arnold ist 1951 in Bürglen, Kanton Uri, geboren und lebt sei 1986 in Walenstadt. Diverse Ausbildungen, unter anderem Bibliothekarin und Buchhändlerin. Von 2003-2005 absolvierte sie den Literaturlehrgang an der EB in Zürich (Peter Morf), von 2005-2008 studierte sie am Deutschen Literaturinstitut der Universität Leipzig. Lisa Elsässer ist für ihre Arbeiten mehrfach ausgezeichnet worden. Neben Gedichtbänden beim Wolfbach Verlag erschienen im Rotpunktverlag Lyrik, Erzählungen und der Roman „Fremdgehen“ (2016), zuletzt die Erzählungen „Erstaugust“ (2019).

Fotos © Niklaus Strauss, Zürich