Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin

Wolfgang Hermann stellt sich mit seiner neuen Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ die Frage: Was weiss ich von meiner Mutter? Ich habe Bilder, Erinnerungen, Fantasien. Und ich habe mein Nichtwissen: Aus diesem Nichtwissen will ich meine Kraft schöpfen. Ein Buch über viele Mütter!

Vater- und Mütterbücher scheinen in Mode zu sein. Das ist aber nur oberflächlich betrachtet so. Ein grosses Thema, nicht nur in der Literatur, ist die Herkunft. Letztlich beschäftigt sich auch die Geschichtsforschung mit nichts anderem als unserer Herkunft. Grosse Teile der Astronomie, der Naturwissenschaften überhaupt; Woher komme ich. Wer und was wir sind, ist in vielem Resultat. Wir alle haben Mütter und Väter, die einen als Geschenk, viele als lebenslange Hypothek. Man kann sich dieser Herkunft stellen. Man kann sein familiäres Erbe nicht ausschlagen. Wer in den Spiegel sieht, sieht all die Generationen zuvor, mit Sicherheit Mutter und Vater. Was und wie viel ist Teil meiner selbst? Wie sehr leitet mich, was Generationen vor mir mitverursachten?

Wolfgang Hermann schrieb eine Erzählung über seine Mutter, nicht über seinen Vater. Auch wenn dieser in seiner Erzählung „Bildnis meiner Mutter“ auch eine Rolle hat, wenn nicht sogar eine eigentliche Hauptrolle, denn er war der Grund, warum es seiner Mutter nie gelang, die zu werden, die sie gerne hätte werden wollen; eine eigenständige, emanzipierte Frau, eine erfolgreiche Sängerin, eine Künstlerin, eine Mutter, die ihren Kindern nicht aus lauter Verzweiflung all ihre verfügbare Liebe gibt, sondern eine, die sich im Gefüge einer liebenden Familie allen zuwenden kann; milde, fürsorglich.

Wolfgang Hermann «Bildnis meiner Mutter», Czernin, 2023, 120 Seiten, CHF 29.90, ISBN 978-3-7076-0788-8

Aber Wolfgang Hermanns Mutter wurde ein solches Leben verweigert. Nicht nur von ihrem Ehemann, auch von der Zeit, der Geschichte, dem Leben in der Provinz, in den Fesseln von Konvention und Patriarchat. In einem Interview erklärte Wolfgang Hermann, er habe seiner Mutter mit dem Buch ein „kleines Denkmal“ setzen wollen. Die Erzählung ist sehr wohl ein Denkmal. Ein Denkmal für all die Frauen in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten, die Pläne, Gaben, Talente mit sich herumtrugen, die Zeit es ihnen aber verweigerte, diese zu Gelebtem werden zu lassen.

Wolfgang Hermanns Mutter wächst in der Zwischenkriegszeit auf, ist die Tochter eines erfolgreichen Geschäftsmannes, der in Bregenz eine Sägerei betrieb. Zusammen mit ihren Geschwistern wuchs sie in einer Familie auf, in der es klar war, dass man die Kinder ihren Neigungen entsprechend unterstützte. Nicht zuletzt, weil das Geld vorhanden war. Sie nahm Gesangsstunden, träumte von einer Karriere als Sängerin. Aber weil man erst etwas Solides lernen sollte, begann sie in der Sägerein ihres Vaters, später im Bauunternehmen ihres Onkels zu arbeiten. Dass sie neben ihrer künstlerischen Ader auch eine für Zahlen und Bilanzen hatte, schien erst ein Fluch, später im Leben der Mutter die Rettung. Früh hatte sie ein eigenes Auto, schien genau zu wissen, was sie wollte, wie ihr Weg in eine selbstbestimmt Zukunft aussehen sollte. Aber weil sie stets alles zu kalkulieren versuchte, weil sie alles bestimmen wollte, nahm ihr das Schicksal schnell das Heft aus der Hand. Ihre wahre Liebe heiratete eine andere und der Mann, der sich erst mit Manieren von der besten Seite zeigte, ihr Mann, der Vater ihrer Kinder wurde, entpuppte sich immer mehr zum Wüterich, zum unbeherrschten Patriarch, zum unkontrolliert um sich schlagenden Tyrannen. Nicht nur seiner Frau, auch seinen Kindern, auch dem kleinen Wolfgang gegenüber, der schon als kleiner Junge seine Mutter aus schierer Verzweiflung aufforderte, sich scheiden zu lassen. Ihr Mann, anfänglich glühender Kommunist, versucht sich mehr schlecht als recht als Architekt in einem bürgerlich konservativen Umfeld, dass es dem «Roten» alles andere als einfach macht. Trotz seines langsam wachsenden Erfolgs zwingt er seine Familie zu sparen, schickt seine Kinder in abgetragenen Kleidern zur Schule, gibt sich gegen alles und jeden misstrauisch, nimmt in keine Weise an jenem Leben teil, dass seiner Frau einst alles bedeutete.

Obwohl seine Mutter die ist, die die Familie durch die Wirren der Nachkriegszeit manövriert, die das brüchige Gefüge zusammenhält, die sich gegen die Ablehnung ihrer eigenen Familie stemmen muss, die nichts von dem erreicht, was einst ihr Herz bewegte, bleibt sie an der Seite des Tyrannen. Trennung ist keine Option. Einmal ja gesagt, ist ein Versprechen, das sich nicht erweichen lässt. Erst als ihr Mann stirbt, als reife Frau, nimmt sie in schriftlichen Aufzeichnung „das Heft in die Hand“ und rächt sich zumindest im geschriebenen Wort.

„Bildnis meiner Mutter“ ist ein Denkmal für all die Frauen, denen man(n) die Kraft absaugte, das zu tun, was ihnen gegeben war. Wolfgang Hermann zeichnet mit aller Liebe dieses Bildnis. Das Bildnis seiner Mutter, die auf Fotos zu lächeln versucht, die aber ein Leben lang beinahe erstickt an den Zwängen ihrer Zeit.

Interview

Auch wenn es ein Buch über Deine Mutter ist, ist es auch eines über Deinen Vater. Ein Vater, der seine Liebe verloren hatte. Nicht nur die Liebe zu Deiner Mutter, auch die Liebe zu seinen Kindern. Eine Tatsache, für die es kein Zurück mehr gab. Der Ehemann Deiner Mutter, Dein Vater war ein Gefangener seiner selbst. „Bildnis meiner Mutter“ ist eine Liebeserklärung an Deine Mutter – aber nicht auch ein leiser Beginn, jenen groben Vater verstehen zu wollen?
Familie ist ein Labyrinth an unterirdischen Verbindungen. Ich wollte meiner Mutter ein kleines Denkmal setzen. Sie hat viel mitgemacht mit meinem Vater. Keine mitteleuropäische Frau würde das heute mit sich machen lassen. Mein Vater kam aus einer kargen, harten Welt. Sozialistische Ideale, keine Menschlichkeit. Und Armut. Meine Mutter setzte dem ihre Operettenwelt entgegen.
In ihren letzten Lebensjahren fanden beide zu Frieden und beinahe Harmonie. Vielleicht war es auch nur Erschöpfung.

Du hast das Buch noch zu Lebzeiten Deiner Mutter zu schreiben begonnen, es aber erst lange nach ihrem Tod zu Ende geschrieben. Im Buch erklärst Du, warum Du es damals nicht hättest veröffentlichen können. Braucht es nicht auch eine gewisse Distanz, um sich beim Schreiben nicht von einem verzehrenden Feuer leiten zu lassen?
Ich schrieb einmal eine kleine Erzählung nach einer Episode aus dem Leben meiner Mutter, die sie mir erzählt hatte. Die Erzählung hiess „Die Eisenbahn“. Nach der Veröffentlichung meinte meine Mutter: „Ach, das war doch alles ganz anders! Das hast du falsch verstanden!“
So ist es wohl immer, wenn jemand anderes unsere Geschichte aufschreibt; es kann nie stimmen.

Dein „Bildnis meiner Mutter“ ist das Bildnis der Mehrzahl aller Frauen über Jahrzehnte und Jahrhunderte. Meine Mutter beispielsweise wäre gerne länger zur Schule gegangen, hätte gerne ein Instrument erlernt. Aber ihre Eltern hatten dafür kein Ohr. Sie würde sowieso heiraten und hätte genug zu tun als Ehefrau, Mutter und Haushälterin. Zwänge sind auch heute Thema und werden es bleiben. Verschieben sie sich einfach? Was Du an Deiner Mutter exemplarisch zeigst, erleben Frauen auch noch heute millionenfach.
Ja, Frauen erleben in großen Teilen der Welt auch heute noch Unterdrückung und Unfreiheit. Meine Mutter stammte aus vergleichsweise privilegierten Verhältnissen, sie nahm Gesangsstunden, besuchte die Handelsschule. Eine Generation zuvor wäre das unmöglich gewesen. Austrofaschismus und Naziherrschaft warfen das Land für Jahrzehnte zurück. Meine Mutter, auf der Suche nach Selbstverwirklichung im Gesang, heiratete einen Mann, der dafür keinerlei Verständnis aufbrachte. Es ging um wirtschaftlichen Aufschwung und Wohlstand, da blieb keine Zeit für die Kunst. Ausserdem wurde sie Mutter von fünf Kindern.

Das Leben Deiner Mutter war von „Verzicht“ dominiert. Eine durchaus katholisch geprägte Haltung, trug ihre Mutter noch während Jahren einen Kapuzinergürtel, ging zu Beichte. „Verzicht“ an sich ist nicht schlechtes. Vielleicht ist Verzicht sogar der einzige Weg, unsere Existenz auf diesem Planet auch in hundert Jahren noch zu ermöglichen. War ihr Verzicht eine reine Selbstgeisselung, die Überzeugung, dass ein Mensch grundsätzlich schlecht ist?
Meine Mutter wurde streng katholisch erzogen, aber sie war lebensfroh und gesellig. Sie hatte das Pech, in karge, düstere Zeiten geboren zu werden. Fleiss und Arbeit waren hohe Werte für sie, aber sie war gesellig und liebte Bälle und tanzen. Sie glaubte immer an das Gute, sah auch in jedem Menschen seine guten Qualitäten. Sie glaubte daran, daß es allen gut gehen sollte. Nein, sie war keine Asketin, sie war sehr dem Leben zugewandt.

Dein Vater war in seinen frühen Jahren ein glühender Kommunist. Doch eigentlich auch nur auf der Suche nach einer Gesellschaftsform, die allen ihr Recht geben soll. Wann und warum kippte die Suche in Gram, Wut und unsägliches Misstrauen?
Mein Vater wuchs in Armut im Austrofaschismus auf, er finanzierte sich das Geld fürs Gymnasium selbst durch Nachhilfestunden. Kaum aus der Schule heraus, steckte er in der Uniform der deutschen Wehrmacht und nahm am Polen-Feldzug teil. Durch eine Entzündung kam er ins Lazarett und war von da an b-tauglich, d.h. ihm blieb die Teilnahme am Überfall auf die Sowjetunion erspart. Die Lektion, die das Leben ihn lehrte war, dass alles Kampf und Überleben des Stärkeren ist. Also Disziplin und Entsagung, um nach oben zu kommen. Seine Mutter war eine sehr harte, kalte Frau aus Böhmen. Ich denke, sie lehrte ihn Sätze wie „Beim Geld hört die Freundschaft auf“ und auch, dass du hart und stark sein musst, wenn du da draussen in dieser Welt der Wölfe überleben möchtest. Als „Roter“ hatte er es im schwarzen Vorarlberg als Architekt nicht leicht.

Wolfgang Hermann, geboren in Bregenz, studierte Philosophie in Wien, anschliessend lange Aufenthalte in verschiedenen Ländern. 1996–1998 Universitätslektor in Tokio. Lebt in Wien. Zahlreiche Bücher, u. a. «Herr Faustini verreist», «Abschied ohne Ende», «Schatten auf dem Weg durch den Bernsteinwald«, «Das japanische Fährtenbuch», «Walter oder die ganze Welt«, «Der Lichtgeher», «Herr Faustini bekommt Besuch» und «Insel im Sommer«. Übersetzungen in zahlreiche Sprachen.

Webseite des Autors

Beitragsbild © Volker Derlath

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhunderts», dtv

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ meint jedes Liebespaar des letzten Jahrhunderts. Julia Schochs zweiter Roman einer Trilogie beschreibt die Mechanismen einer Partnerschaft derart entlarvend, als wäre ihr Schreiben in ein grelles, blau schimmerndes Neonlicht getaucht. Ein schonungsloser Roman über den Schattenwurf eines institutionalisierten Lebenstraums.

Sie kennen das; Sie schauen in einen fremden Spiegel, in einem Raum, dessen Licht die kleinste Pore in ihrem Gesicht zeigt, der ein Spiegelbild offenbart, das einem zweifeln, das den kalten Schauer der Ernüchterung über den Rücken kriechen lässt, die leise Ahnung darüber, wie leicht man sich von Idealen betäuben, von Fassaden blenden, von Ernüchterungen verstummen lässt.

Eine Frau erzählt von ihrer Ehe. 30 Jahre ist sie verheiratet und in einer Beziehung geblieben, die sich wie ein nur noch schwer manövrierbares Schiff immer weiter von allen Küsten entfernt. Eigentlich hatte sie schon längst die Absicht, jene drei Wörter loszuwerden, die dieser Ehe endlich ein Ende mit Schrecken setzen würden. Aber aus der Jahrzehnte lang verschobenen Absicht wird ein romanlanger Erklärungsversuch darüber, was Beziehungen anrichten, die sich institutionell in Gewohnheiten und gegenseitigen Abhängigkeiten verloren haben. „Ich verlasse dich“ – so kurz wie die drei Worte, die meist zu Beginn einer Beziehung stehen; „Ich liebe dich“.

Julia Schoch «Das Liebespaar des Jahrhundert», dtv, 2023, 192 Seiten, CHF 32.90 ISBN 978-3-423-28333-5

Vielleicht erklärt sich der Umstand, dass sie bleibt, darin, dass das Abwägen zwischen Vor- und Nachteilen, zwischen Verlust und Gewinn über die meiste Zeit ein unentschiedenes ist. Das, was zu Beginn jeder Ehe, jeder offiziell gemachter Beziehung als Leidenschaft und Zustand des Verliebtseins, Herz und Verstand in Wallung versetzte, verändert sich mit der Zeit, erst recht in einer amtlich gewordenen Ehe, einem Konstrukt, das selbst mit grösster Anstrengung nicht so einfach beendet werden kann. Die Gründe warum man bleibt und eben diese drei Worte „Ich verlasse Dich“ nicht ausspricht, sind so vielfältig wie das, was Menschen bei einer Ehe einander hinter diesem „Ja“ versprechen. So wie im Roman von Julia Schoch, eigentlich ein buchlanger Monolog: „Du warst seit langem der erste Mensch in meinem Leben, der nicht sofort wieder verschwinden wollte.“

„Ich dachte: Das wird nicht mehr gut. Aber es ging einfach weiter.“

Sie erinnert sich an die Zeit, als sie sich während des gemeinsamen Studiums kennen lernten. An die Zeit, in der alles wie ein Wunder erschien, der Himmel golden schimmerte und man sich diesem ganz nah fühlte. Sie beide wuchsen in der DDR auf, einer Diktatur, und die Liebe war nicht nur ein unendlich weites Land, das man zu zweit entdecken wollte, sondern Rückzugsort und Bastion in einem System, das omnipräsent kontrollieren wollte. Die Liebe versprach ein gemeinsames Abenteuer. Aber mit dem gemeinsamen Weg wächst nicht nur das Reservoir an überstandenen Prüfsteinen, sondern jenes vieler kleiner und grosser Verletzungen, nicht zuletzt von Selbstverletzungen. Was zu Beginn nur Gefühl, Leidenschaft, Glück war, wird im Zusammenleben in einer Wohnung, im Teilen der Aufgaben, mit einer Familie, den Kindern, all den Pflichten nach innen und nach aussen zu einem feinmaschigen Konstrukt von Erwartungen und Mechanismen.

„Das Liebespaar des Jahrhunderts“ ist eine erzählte Liste all der Gründe, warum es dreissig Ehejahre wurden, obwohl es eine lange Kette von Momenten gab, die ihr genügend Gründe geliefert hätten, einen Punkt zu machen. Julia Schoch hält mir selbst einen Spiegel hin, leuchtet mit bläulich grellem Neonlicht in die Winkel, die wir gerne im Dämmer lassen. Manche Szene, mancher Gedankengang war wie ein Schlag in die Kniekehle. Sie entblösst, reisst alle Maskerade, alle falschen Fassaden weg. Aus der Lektüre tauchen Gedanken, die das eigene Verdrängen bis über Schmerzgrenzen hinaus spiegeln. Schlussendlich bleibt ihre Gewissheit: „Jeder lebt sein Leben.“

Ein Roman, der nicht umgarnen will. Aber ein Roman, der mich staunen lässt, nicht nur inhaltlich, nicht nur über seine Wirkung, auch über den Mut dieser Autorin!

Julia Schoch, 1974 in Bad Saarow geboren, aufgewachsen in der DDR-Garnisonsstadt Eggesin in Mecklenburg, gilt als »Virtuosin des Erinnerungserzählens« (FAZ) und bekam für ihre von der Kritik hochgelobten Romane und Erzählungen schon viele Preise, zuletzt den Schubart-Literaturpreis für ihren Roman «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau». Für ihr schriftstellerisches Gesamtwerk wurde ihr 2022 die Ehrengabe der Deutschen Schillerstiftung verliehen. Sie lebt in Potsdam.

Rezension (und Interview) von «Das Vorkommnis. Biographie einer Frau» auf literaturblatt.ch

Beitragsbild © Bogenberger Autorenfotos

Eva Strautmann «Ohne Titel 1 – 4», Plattform Gegenzauber

Ohne Titel 1

Im Flug der Raben wellt
sich die Luft, sie gräbt
Gedanken in seinen Körper.
Er spreizt seinen Mund und
schreit und hört den
anderen, dessen
Voraussage er verkündet.
Er wirft toll um sich und
schmeißt sich gegen eine
Wand, aus Grau und Stein,
sein Fleisch fängt zu bluten
an und zu sprechen, aber
sein Körper geht weiter,
fliegt und fällt. Er wirft sich
gegen den Himmel, fängt
sein Blau auf und wälzt
sich darin, er speit Feuer
und ist voller bunter
Geschichten vom Vater, der
Mutter, den Geschwistern
und erzählt teuerste
Geschichten, die
nirgendwo zu haben sind.
Dann leckt er seine
Wunden, seine
Auszehrungen und schaut
einmal in die Welt, dort
hört man sein lautes
Lachen und schreit um Hilfe.

Akt Dreierkonstellation © Eva Strautmann
Oil nn Papier Mache 70cm x 100cm

 

Ohne Titel 2

Eine den Blick aufrichtende
Verdichtung,
die in ihrer Bewegung
lichterzeugende Reibung trägt.
Man schaut
gewissermaßen durch ein
geluktes Muster, das
keinen einzigen Weg
freihält,
vorne Liegt das
Blau des Himmels,
als Wasser,
als meerische Möchtegern
des Lebens.

 

Ohne Titel 3

Das Zwischenweltliche,
das Fabrizieren
ohne zu gehen und das
Bewegen im Wörterraum,
es ist eine Maßnahme, es ist
ein Streben gegen den Tod
und dann das Auferstehen,
das Erliegen,
im empfindungslosen,
leeren Gehen
und was für
ein Sehen ins Nichts.

Akt 12 © Eva Strautmann

 

Ohne Titel 4

Das Begehren einmal der
Sprache die Aufmerksamkeit
zu schenken, schleudert wie
ein abgewetzter Schuh durch
den Kopf, eine alte
ausgetretene Stimme, die
sich dabei ihre Bänder
wäscht.
Im Schreiben den Tod zu
hören, ihn zu spüren, seine
Kraft wie ein Dach über dem
Haus wirken zu lassen ist ein
Herausschreiten aus dem
Sein, ein Verlieren und ein
Schmerzkönnen.

Eva Strautmann lebte nach dem Abitur in Großbritannien. Sie ist Autorin, Künstlerin und Dozentin. Während des Studiums der Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin war sie zunächst als Tutorin und anschliessend als künstlerische Mitarbeiterin an der Hochschule der Künste Berlin tätig. Nach ihrer Tätigkeit als Regie-Assistentin am Berliner Ensemble folgte ein Umzug nach Frankfurt am Main. Im September 2005 hatte sie eine grosse Einzelausstellung in der Heussenstamm – Galerie am Römer in Frankfurt am Main unter dem Titel „Im Schreiben gehen – Im Malen schauen», bei der sie Bilder und Prosa-Texte kombinierte.

Webseite der Künstlerin

«Verpuppt» – je eine Lesung von Ana Marwan im Literaturhaus Thurgau und am «Wortlaut» St. Gallen

Ana Marwans Sprache beeindruckt. An zwei Lesungen in der Schweiz, im Literaturhaus Thurgau in Gottlieben und am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen, bezauberte die slowenische Schriftstellerin mit Bild- und Sprachkraft, die noch lange nachhallen wird!

“Die Anreise per Boot und Zug nach Gottlieben und der wild blühende Baum vor dem Zimmer im Literaturhaus waren ein Anfang, dem der Rest im gleichen Takt folgte. Es war eine wunderbare Lesereise, meine erste in die Schweiz. Danke, Gallus, für die Einladung, Moderation, und besonders für deine vertieften Leseweisen und bereichernden Gespräche!“ Ana Marwan

„Verpuppt“ („Zabubljena“) wurde in Slowenien 2021 als „Bestes Buch des Jahres“ ausgezeichnet. 2022 gewann Ana Marwan den Bachmannpreis mit ihrem Text „Wechselkröte“. Ana Marwan hat Romanistik studiert, hat sich mit Fotographie auseinandergesetzt und widmet sich seit bald 10 Jahren nun ganz dem Schreiben. 2019 kam ihr Roman „Der Kreis des Weberknechts“ auf die Bühne der deutschen Literatur, ein Roman, dessen Dichte und Kunst schon damals überraschte und überzeugte. Im vergangenen Jahr trat Ana Marwan im Otto-Müller-Verlag die nicht ganz einfache Nachfolge von Karl-Markus Gauß an, als Herausgeberin der Zeitschrift „Literatur und Kritik“.


Die junge Rita landet in der geschlossenen, psychiatrischen Klinik, ohne Möglichkeiten mit der Aussenwelt, ausser durch gelegentliche Besuche, in Kontakt zu kommen. Sie war schon als Mädchen anders, viel mehr nach innen orientiert, als ihre Mitschülerinnen und Mitschüler. Warum Rita in die Psychiatrische eingeliefert wurde, kann zumindest ich bloss erahnen. Aber eine nicht unwesentliche Rolle dabei hat wohl ihre Mutter gespielt – Frau Klammer. Im Laufe einer Therapie ermuntert man Rita zu schreiben. Und Rita schreibt, beschreibt ihre Innenwelt. Eine Innenwelt, die kein Abbild der Realität ist, sie aber sehr wohl spiegelt. Rita schreibt, schreibt nie von einer Klink, aber von einem Ministerium für Verkehr und Kommunikation, Abteilung Raumfahrt, in dem sie arbeitet. Von Ivo Jež, einem 30 Jahre älteren Mitarbeiter, einen Bürokraten, dem sie einige Nähe zulässt. Von ihrer viel schöneren Freundin Anja, der alle Sympathie zufällt, ganz im Gegensatz zu ihr, die sich lieber mit Büchern anfreundet. Oder von Frau Klammer wie Rita ihre Mutter nennt, wenn sie sich in ihrem Schreiben inszeniert. Rita erzählt, wie sie mit aller Souveränität das Leben auf der Bühne des Erzählens ausbreitet.


Ana Marwans Roman liest sich, als wäre es der aufgewickelte Seidenfaden jener Puppe, die die Protagonistin Rita umwickelt, der sie einengt und einschnürt, der sie aber auch schützt vor der Welt „draussen“. „Verpuppt“ ein Versuch, die Welt ausserhalb dieser Puppe zu verstehen. „Jede Geschichte ist Gewalt über das Leben.“ Rita fürchtet sich, ihre Sprache zu verlieren. Eine Angst, die angesichts dessen, was aktuell in der Welt passiert, nachvollziehbar ist. Ritas Therapeuten legen ihr ans Herz, Herr Jež sei der Schlüssel. Rita schreibt sich immer mehr in die Nähe dieses Herrn Jež, seinem Leben, seiner verlorenen Ehe, seiner Einsamkeit. Rita erzählt von der Welt, die sie sich macht, einer Welt im Kopf.

Ana Marwans Roman ist nicht plottorientiert, entzieht sich in vielem den gängigen Mustern der Unterhaltung. Bei der Lektüre ihres Buches hatte ich das Gefühl, als ob die Synapsen meines begrenzen Verstands dauernd gezwungen sind, neue Verbindungen, Kopplungen einzugehen. Sie schreibt, um Bilder zu erzeugen (Fotografie, die sich dem reinen Abbilden entziehen), um Geschichten zu erzählen, aber nie, um zu erklären, zu klären, schon gar nicht, warum Rita dort ist, wo sie ist, in der Psychiatrie. Ana Marwan möchte „schön verbergen“.

Lesung am «Wortlaut» Literaturfestival in St. Gallen

Ihr Roman ist voller Sätze, die man wie Sprachperlen mitnehmen und nicht mehr hergeben möchte. Ein Beispiel: «Das schöne an verpassten Gelegenheiten ist, dass uns nichts hindert, sie Gelegenheiten zu nennen.“ Immer wieder Sätze, über die man mit Vergnügen stolpert. „Jeder Künstler ist lieber begabt als fleissig, eher ein König denn ein Arbeiter.“ Noch so ein Satz. Oder „Gott sei dank schützt uns die Etikette vor allem, zu was uns der Wusch zwingen möchte, sie schützt uns wie eine starre Ritterrüstung.“ Oder „In der Handtasche hatte sie einen Taschenspiegel, um sich von Zeit zu Zeit zu vergewissern, wer sie war.“

Rezension zu «Verpuppt» auf literaturblatt.ch

Ana Marwan «Die Wechselkröte» Siegertext Bachmannpreislesen 2022 auf der Plattform Gegenzauber

Rezension zu «Der Kreis des Weberknechts» auf literaturblatt.ch

Beitragsbilder © Philipp Frei

Hansjörg Schneider „Spatzen am Brunnen“, Diogenes – ein Geburtstagsgeschenk an seine LeserInnen

„Spatzen am Brunnen“ ist nicht das erste Alterswerk des Schriftstellers Hansjörg Schneiders, das zurückschaut, hineinschaut und dabei weit mehr als in der klein gewordenen Welt eines alten Mannes bleibt, stets ehrlich und äusserst sympathisch. Hansjörg Schneider interpretiert nicht. Er ist und bleibt ein feiner Erzähler – und feiert heute seinen 85. Geburtstag!

Seit einem halben Jahrhundert veröffentlicht Hansjörg Schneider Romane, Theaterstücke, Hörspiele. Seit der Verfilmung seiner Hunkeler-Krimis mit dem 2015 verstorbenen, unverwechselbaren Hunkeler-Darsteller Mathias Gnädinger, kennen ihn auch jene LeserInnen, denen das breite Werk des Schriftstellers bisher verschlossen blieb. Für Theaterbegeisterte unvergessen bleibt Hansjörg Schneiders Stück „Sennentuntschi“, das 1981 als Theaterübertragung im Schweizer Fernsehen ausgestrahlt wurde und zu einem Skandalstück wurde. Ebenso unvergessen bleibt der Film „Der Erfinder“ mit dem Schauspieler Bruno Ganz in der Hauptrolle, ein Spielfilm, der auf dem gleichnamigen Theaterstück Hansjörg Schneiders basiert. In den Jahren nach „Sennentuntschi“ und „Der Erfinder“ galt Hansjörg Schneider nach Friedrich Dürrenmatt und Max Frisch zu den meistgespielten Dramatikern der Schweiz.

2020 erschien der zehnte und bislang letzte Hunkeler-Krimi unter dem Titel „Hunkeler in der Wildnis“. Nicht dass es danach ruhig um den Schriftsteller geworden wäre, Hansjörg Schneider veröffentlicht munter weiter, aber ganz offensichtlich hat das literarische Bewusstsein eines Landes bloss ein Kurzzeitgedächnis und man vergisst schnell, wer einst im Land die Literaturszene aufmischte und mit seinem breiten Œuvre durchaus das Zeug hätte, dass man wenigstens einen Platz in seinem Geburtsort oder seinem Wohnort nach dem Schriftsteller benennen könnte.

Hansjörg Schneider «Spatzen am Brunnen», Diogenes, 2023, 208 Seiten, CHF 29.00, ISBN 978-3-257-07241-9

In Coronazeiten begann Hansjörg Schneider ein Tagebuch zu führen. Nicht aus einer Not und schon gar nicht als Auseinandersetzung mit der Pandemie. Vielleicht weil ein Mann von über 80 Jahren unvermittelt spürt, dass jeder Tag zu einem Geschenk wird, der mitansehen und miterleben muss, wie einstige Freundschaften durch Krankheit, Sterben und Tod ein Ende finden. Ganz bestimmt, weil das Schreiben für Hansjörg Schneider längst zu einer Lebensnotwendigkeit geworden ist, weil Schreiben seine Form der Auseinandersetzung mit seiner Welt, seinen Erinnerungen, seinen Träumen und Befürchtungen geworden ist.

„Sprache als ordnende, rettende Kraft.“

Hansjörg Schneiders Tage sind still, verlaufen langsam. Seine täglichen Spaziergänge gehören zu seinem Schreiben. Gehen, Sitzen, Kaffee trinken, Beobachten, und sei es auch nur das gesellige Treiben der Spatzen am Brunnen – das braucht der Autor, um später am Küchentisch seinen Stift in die Hand zu nehmen und wie seit Jahrzehnten stets Heft um Heft damit zu füllen. Schreiben bestimmt seinen Tag. Schreiben ist seine Art des Sehens, des Erinnerns, seine Auseinandersetzung mit einer Welt, die nicht nur ihm immer fremder und unzugänglicher wird. „Spatzen am Brunnen“ ist ein Füllhorn an Kleinstgeschichten, Anekdoten, kleinen Denkmälern für Persönlichkeiten aus Literatur, Film und Theater, Menschen, die aus dem kollektiven Bewusstsein zu verschwinden drohen, eine Welt, die mit dem Autor ins Vergessen rutscht.

„Es gibt für mich nur die erhellende Klarheit der Sprache. Sprache wirft Licht in die Welt, auf das Leben, auf das Sterben.“

Ich liebe Hansjörg Schneiders unaufgeregten Blick auf das, was passiert, selbst auf die Auswirkungen der Pandemie, die ihn in seinem Leben nur rudimentär betreffen. Um den Autor ist es ruhig geworden, auch wenn sich die Gedanken im Autor sebst manchmal zu Stürmen auftürmen, nicht zuletzt dann, wenn er sich unverstanden fühlt, sei es als Autor, als Zeitgenosse oder als Rädchen im (Kultur-) Getriebe. Trotz allem spricht keine Bitterkeit, kein Weltschmerz. Hansjörg Schneiders Fenster zur Welt wird wohl kleiner, die Tiefenschärfe aber nimmt zu. Und mich selbst ermuntert sein Buch, sein Tagebuch, meinen eigenen Blick zu weiten, weg von meinem Nabel, meinen Befindlichkeiten, dem Unveränderbaren.

Hansjörg Schneider, geboren 1938 in Aarau, arbeitete als Lehrer und als Journalist. Mit seinen Theaterstücken, darunter «Sennentuntschi» und «Der liebe Augustin», war er einer der meistaufgeführten deutschsprachigen Dramatiker, seine «Hunkeler»-Krimis führen regelmässig die Schweizer Bestsellerliste an. 2005 wurde er mit dem Friedrich-Glauser-Preis ausgezeichnet. Er lebt als freier Schriftsteller in Basel.

Beitragsbild © Philipp Keel Diogenes

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta

Raphaela Edelbauer schrieb sich in einen Rausch. „Die Inkommensurablen“ ist eine flirrende Momentaufnahme in der Metropole Wien kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs. Bestechend virtuos begleitet sie vier Leben, die in diesen Tagen schicksalshaft miteinander verschlungen werden, in einer Stadt, die in den Wirren der Zeit kocht.

Inkommensurable – eigentlich ein Begriff aus der Mathematik; nicht messbar, nicht vergleichbar.

Am 28. Juni 1914 starb bei einem Attentat das deutsch-österreichische Thronfolgerpaar in Sarajevo. Nachdem Russland eine Teilmobilmachung anordnete, Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärte und wenig später Russland die Generalmobilmachung erliess, wuchs die Spannung in Europa bis zum Überlaufen. In Wien wartete man elektrisiert auf die unmittelbaren Auswirkungen der Spannungen zwischen den Grossmächten. 

In einer Stimmung aus Euphorie, Umbruch, Ausgelassenheit und Fatalismus steigt am Wiener Hauptbahnhof ein junger Mann aus dem Zug. Hans hat ein Inserat in der Zeitung gelesen. Das Inserat einer Psychoanalytikerin, einer Frau, von der er sich Klärung verspricht. Dass Hans, der im Tirol Pferdeknecht war, und mit seinem Verschwinden auf dem Hof eine Rückkehr unmöglich macht, in eben jenem Wien auftaucht, das zu kippen beginnt, ist Zufall. Hans, der ungewohnt belesen ist und durchaus weiss, was sich auf dem Kontinent abspielt, hat keine Ahnung, in was für eine Stadt er eintaucht. Er war noch nie in Wien. Er war überhaupt noch nie weg, nur immer bei seinen Pferden, von denen er sicher war, dass sie ihn besser verstehen als alle andern auf dem Hof.

Raphaela Edelbauer «Die Inkommensurablen», Klett-Cotta, 2023, 352 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-608-98647-1

Zielsicher, aber mit kaum mehr Geld in der Tasche, findet er das Haus der Psychoanalytikerin Helene Cheresch, kann sie überreden, ihn kurz anzuhören und Hans erzählt. Hans ist davon überzeugt, dass er Dinge träumt, von denen andere danach erzählen, dass seine Gedanken mit deren anderer in unerklärlicher Verbindung sind – inkommensurabel, ein Begriff, von dem nicht nur Hans keine Ahnung hat. Nach seiner kurzen Audienz bei der Psychoanalytikerin trifft er Klara und Adam, von denen er förmlich mitgerissen, mitgespült wird. Klara und Adam sind PatientInnen von Helene Cheresch, Klara eine junge Mathematikerin und Adam Sprössling einer Offiziersfamilie. Klara ist kurz davor, ihr Studium in Mathematik zu beginnen als eine der ersten Frauen in Wien und Adam weiss, dass seine Familie mit aller Selbstverständlichkeit erwartet, dass er sich als Freiwilliger meldet, um mit der gleichen Selbstverständlichkeit in einem heldenhaften Einsatz zum schnellen Sieg zu helfen.

Zu dritt sind sie im Gewusel der brodelnden Grossstadt unterwegs, zuerst zu einem Diner in Adams Elternhaus, das wie erwartet im Desaster endet, später dorthin, wo Klara aufwuchs, in die Gosse, einem Ort, dem Hans mit der gleichen Abscheu begegnet wie das Adams Elternhaus. Hans als Knecht, der an Ordnung glaubt, Adams Eltern, die an eine gottgegebene Ordnung glauben, die ihnen sämtliche Privilegien zugesteht, die ihnen schon seit Generationen versprochen sind.

Ein Dreigespann in einer kochenden Menschensuppe. Hans, der Knecht, Klara, das Mädchen aus der Gosse und der Adlige Adam, durch „Zufall“ zu SchicksalsgenossInnen vereint. Ein ganzes Land, eine Stadt in einem fiebrigen Zustand, weil alles spürt, dass eine Zeitenwende alles verändern wird. Eine ganz ähnliche Situation wie in der Gegenwart, wo jeder, der nicht blind und abgeschottet lebt, genau spürt, dass diese fiebrigen Zustände an Intensität zunehmen.

Raphaela Edelbauer hat jene Tage im Sommer 1914 ausgesucht, eigentlich bloss 24 Stunden, in denen gleich mehrere Welten zu implodieren drohen. Ganz bestimmt das Resultat einer gross angelegten Recherche. Aber die Recherche dient nicht der blossen Staffage. In Raphaela Edelbauers Buch tauche ich in die Tiefen jener Zeit. Ihr Roman will jedoch kein Abbild sein, so wie der Maler, selbst wenn er „realistisch“ malt nie die Realität abbildet. „Die Inkommensurablen“ ist Destillat, im Brennglas betrachtet, schrill und doch glasklar. „Die Inkommensurablen“ ist ein Sprachkunstwerk mit Untiefen, Verzerrungen, Doppelböden und Verschränkungen mit Mathematik und Philosophie. Kein einfaches Lesevergnügen – aber selbst das orientiert sich an Zeiten wie damals und heute.

Raphaela Edelbauer, geboren in Wien, studierte Sprachkunst an der Universität für Angewandte Kunst. Für ihr Werk «Entdecker. Eine Poetik» wurde sie mit dem Hauptpreis der Rauriser Literaturtage ausgezeichnet. Ausserdem wurde ihr der Publikumspreis beim Bachmann-Wettbewerb, der Theodor-Körner-Preis und der Förderpreis der Doppelfeld-Stiftung zuerkannt. Ihr Debütroman «Das flüssige Land» stand auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises, für ihren zweiten Roman «DAVE» erhielt sie den Österreichischen Buchpreis. Raphaela Edelbauer lebt in Wien.

Webseite der Autorin

Beitragsbild © Apollonia Bitzan

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck

„Der Magier im Kreml“ fasziniert. Ein Roman, der sich an der Seite eines scheinbar fiktiven Beraters ganz nah an die Person Wladimir Putin heranwagt. Ein Buch, das mich staunen lässt und mit all den Realbezügen einen Schauer des Schreckens über meinen Rücken zieht.

Der Westen reibt sich noch immer die Augen. Seit über einem Jahr Krieg in Europa, ein Krieg, der nicht am 24. Februar 2022 begann, sondern schon viel früher mit der Annexion der Krim und den kriegerischen Handlungen im Donbas. Eine „Spezialoperation“ die nach russischen Vorstellungen schnell und als „Befreiung“ hätte funktionieren sollen. Kein Wunder sind die Sachbuchregale in Buchhandlungen voll mit Publikationen, die zu erklären und verstehen versuchen, warum sich die russische Seele und allen voran Wladimir Putin so sehr in ihrer Existenz, ihrem Stolz und Selbstverständnis bedroht fühlen, das man bereit ist, einen jahrelangen Abnützungskrieg anzuheizen, der eine ganze Generation RussInnen und UkrainerInnen traumatisieren wird.

«Die einzige Waffe, die ein Armer hat, um seine Würde zu bewahren, ist es, anderen Angst einzuflössen.»

Die Figur des russischen Präsidenten wurde und wird zum Mysterium, für die einen zur Verkörperung des Bösen, für eine grosse Mehrheit der Russen selbst zur Lichtgestalt im Kampf gegen eine globale Verschwörung. Und während deutsche PolitikerInnen auf Grossdemonstrationen fordern, man müsse dem Despoten die Hand reichen, man müsse um jeden Preis verhandeln, sterben Tausende Unschuldiger in einem unkontrollierten Gemetzel, wird der Osten der Ukraine unter russischem Dauerbeschuss zur real gewordenen Apokalypse.

Giuliano da Empoli «Der Magier im Kreml», C. H. Beck, 2023, aus dem Französischen von Michaela Meßner, 265 Seiten, CHF 36.90, ISBN 978-3-406-79993-8

Kein Wunder, dass ein Roman mit dem Namen „Der Magier im Kreml“, geschrieben von einem Politikwissenschaftler nicht nur die Hoffnung weckt, mit der Lektüre etwas mehr zu verstehen, sondern all jenen Bestätigung liefert, die schon immer „wussten“ wie die russische Seele tickt, wie ein diktatorisches Staatsgefüge funktioniert. Der italo-schweizer Schriftsteller und Wissenschaftler wollte eigentlich ein Essay schreiben, verstand aber schnell, dass er mit den Mitteln der Fiktion den Zusammenhängen eines russischen Machtapparates viel näher kommen würde.

«Die erste Regel der Macht lautet, auf Fehlern zu beharren, in der Mauer der Autorität nicht den kleinsten Riss zu zeigen.»

Erzählt wird das Zusammentreffen eines Sprachwissenschaftlers und eines ehemaligen Einflüsterers Wladimir Putins; Wadim Baranow. Wadim Baranow, dessen real existierendes Pendant Wladislaw Surkow war, von 2013 bis 2020 Putins Berater, mittlerweile von der Bildfläche verschwunden. Wadim Baranow, die einzige nicht reale Figur im Roman, erzählt vom Aufstieg Putins, einem Mann den man aus dem unscheinbaren Büro des russischen Geheimdiensts holte, um die alten Machtstrukturen nach den verheerenden Annäherungen Gorbatschows und Jelzin an den Westen wieder herzustellen. Damals glaubte man noch, der kleine blonde Mann mit dem leicht linkischen Gang wäre die ideale Figur, die sich leicht führen liesse, die dem russischen Machtapparat jenen Glanz und jene Grösse zurückgeben würde, die man vor den Augen der Weltöffentlichkeit verloren hatte. Aber Wladimir Putins Fähigkeiten gingen weit über jene eines reinen Apparatschiks hinaus. Von Beginn weg schaffte es der russische Präsident sowohl im Kreml wie in seinem Riesenreich in einem Klima der Angst und Verunsicherung seine Macht zu zementieren und dem russischen Selbstbewusstsein das zurückzugeben, was man ihm genommen hatte.

«Der Zar lebt in einer Welt, in der selbst die besten Freunde zu Höflingen oder unerbittlichen Feinden werden, meistens sogar beidem zugleich.»

Giuliano da Empolis Roman fasziniert, weil er mir als Leser nicht den leisesten Zweifel lassen will, der Autor wüsste nicht haargenau, wie der russische Staatsapparat tickt. Giuliano da Empolis Erzählen ist allglatt, auf Hochglanz getrimmt. Dass die Kritik derart klatscht, beweist, wie sehr sich alle bestätigt fühlen, die schon immer ahnten, wie durchtrieben und gefährlich jener unscheinbar wirkende Mann war und ist. Als Sachbuch funktioniert das Buch sehr wohl. Ich verstehe, warum die naive Haltung, man müsse nur mit der offenen Geste der Verhandlungsbereitschaft auf den Kriegsherrn zugehen, angesichts dieser Lektüre unmöglich scheint. Aber als Roman fehlt mir nicht nur die Nähe zum Personal, sondern auch eine gewisse Zurückhaltung in der Art des Erzählens. Das Buch passt perfekt in eine Zeit, in der man krampfhaft nach Erklärungen sucht. Das Buch passt perfekt in die Vorstellung, dass der Kreml der Nabel des Bösen sei. „Der Magier im Kreml“ ist nicht der Versuch einer Erklärung, sondern Erklärung selbst, geschrieben von einem Könner, der nie nur einen Satz lang zweifelt.

Giuliano da Empoli ist ein italo-schweizerischer Schriftsteller und Wissenschaftler. Er ist der Gründer von Volta, einem pro-europäischen Think Tank mit Sitz in Mailand, und Professor für Vergleichende Politikwissenschaft an der Sciences Po Paris. Zuvor war er stellvertretender Bürgermeister für Kultur in Florenz und Berater des italienischen Ministerpräsidenten Renzi. Er ist Autor zahlreicher, international veröffentlichter Essays, darunter zuletzt «Ingenieure des Chaos» (2020) über neue Propagandatechniken, das auch ins Deutsche übersetzt wurde. «Der Magier im Kreml» ist sein erster Roman. In Frankreich wurden über 300.000 Exemplare verkauft und die Rechte inzwischen in fast 30 Länder vergeben, das Buch wurde u.a. ausgezeichnet mit dem Grand Prix du Roman de l’Académie française und war Finalist für den Prix Goncourt.

Michaela Meßner geboren in Mainz, lebt als Literaturübersetzerin in München. Sie hat u.a. Werke von Alexandre Dumas, Anne und Emily Brontë, Jean Baudrillard und César Aira ins Deutsche übertragen. 1992 wurde sie mit dem Raymond-Aron-Preis ausgezeichnet.

Beitragsbild © Francesca Mantovani, Editions Gallimard

Paubry: Neues zum Lehrermangel – Der Zusammenzwang, BLOX, 4

Der Lehrermangel hat sicherlich verschiedene Gründe, aber nicht alle sind im Gespräch. Zum Beispiel der Zusammenzwang. Damit meine ich die Erwartung, dass die Schule regelmässig in der Öffentlichkeit als Einheit auftreten soll. Das erfordert ständige Teamarbeit, wie von Reformern dringend gewünscht, und somit Ablenkung von einem Kerngeschäft, das anspruchsvoll geworden ist.


Die Stofffülle auf Primarstufe hat sich in den vergangenen Jahrzehnten gefühlt verdreifacht. Die Lehrkräfte haben also mit ihrem Kerngeschäft alle Hände voll zu tun. Neun Fächer oder mehr sind unter einen Hut zu bringen, sprich neun ausgefeilte Jahrespläne. Um so erfreulicher ist es, wenn Schulleitungen mitsamt Logopädie, Schulischer Heilpädagogik und Psychomotorik in Inseraten ihre «tatkräftige Unterstützung» zusichern. Leider ist das Augenwischerei. Einerseits deshalb, weil diese Unterstützung erst erfolgt, wenn es Probleme gibt. Bis dahin bleibt die Lehrperson mit ihrem Kerngeschäft wie seit je allein. Andererseits ist diese Unterstützung dann mit einem bürokratischen Aufwand verbunden, der beträchtlich ist. Zum Beispiel muss neuerdings die Lehrkraft bei der Anmeldung zu einer schulpsychologischen Abklärung in drei getrennten Gesichtspunkten angeben, ob das Kind seine Wünsche angemessen äussert, seine Meinung angemessen äussert und seine Kritik an anderen angemessen äussert, wobei die Angemessenheit mit drei bis fünf Graden zu qualifizieren ist.

Die wohlwollende Unterstützung von allen Seiten lenkt also vom Kerngeschäft ab, indem sie zusätzliche Belastung bringt.

Aufschlussreich ist die Unterstützung vonseiten der Schulleitung besonders deshalb, da sie dafür sorgt, dass die Schule als Einheit auftritt. Bei allem Wohlwollen, das die Schulleitung den Lehrpersonen entgegenbringen mag, ändert sich nichts daran, dass sie letztlich Funktionärin der Bildungspolitik ist, sowie eine insgeheime Beschwerdestelle für Eltern und Sonstige. Zu den Disziplinen, die für Einheitlichkeit sorgen, gehören Quartalsbriefe an die Elternschaften mit möglichst vielen Daten zu Anlässen, die belegen, dass die Schule dynamisch am Ball bleibt: Sportanlässe, Adventsanlässe, klassenübergreifende Kleinprojekte, Lager, Exkursionen, Pausenevents, Sonderwochen, bei der ganzen Stufen zusammenwirken, sowie Projektwochen vornehmlich gegen Ende des Jahres, an der alle teilnehmen, vom Kindergarten bis zur sechsten Klasse. Da schlagen die Herzen höher, wenn Frühpubertierende die Kleinsten an der Hand nehmen, die erst halbwegs trocken sind. Ein pädagogischer Kitsch sondergleichen. Die älteren Kinder tun das gewiss nicht von sich aus, sondern auf Anweisung hin. Auch beschweren sie sich, warum man sie andauernd mit den Kleinen mischt. Ein gemeinsamer Sporttag, bei dem sich die älteren Kinder gerne mit Weitsprung und Ballwerfen messen würden, gerät für sie zu läppischen Spielen, wie etwa ein Wettrennen auf Holzskiern quer über den Rasen, wobei sie sich unentwegt um die Kleinen zu besorgen haben. Dieser Kitsch vom Zusammenzwang missachtet Befunde der Entwicklungspsychologie. Diese hebt klar hervor, dass die Bedürfnisse unterschiedlicher Alter in diesem eng bemessenen Zeitraum weit auseinanderklaffen. Diese Wissenschaft empfiehlt ihre beliebige Mischung wohl nur unter Vorbehalt. Und wir wären eigentlich demokratisch verpflichtet, ernst zu nehmen, was die Wissenschaft sagt. So kommt es also wiederholt zu Grossanlässen, mit einer beispiellosen Organisierwut und viel Pressarbeit. Musicalevents oder Zirkusaufführungen. Mit allem, was dazu gehört, vom Poppkorn bis zur Programmgestaltung. Landauf landab wetteifern Landschulen mit prunkvolleren Events. Zwar gibt es dafür pfannenfertige Angebote einzukaufen. Ganze Zirkusse, die mit schulischen Anlässen ihr Geld verdienen. Auch einzelne Spezialisten bieten Workshops an, die auf die Schule zugeschnitten sind. Das mag die Arbeit der Lehrperson auf den ersten Blick erleichtern. Der besondere Rahmen dazu gehört gleichwohl organisiert und betreut: Sonderzeiten, Sonderfahrten der Schulbusse, Verköstigung, Betreuung in Leerzeiten, Kommunikation zu den Fachkräften, die man eigens beizieht, Ausnahmeregelungen mit einzelnen Eltern, Gruppenbildung und die Schwierigkeiten regeln, die damit einhergehen. Dies alles versteht sich derart von selbst, dass man sich fragt, was daran zu kritisieren wäre. Nun ganz einfach: Diese Anlässe lenken andauernd vom Kerngeschäft ab. Das führt mich zu einer Art Formel:

Der Lehrermangel beruht darauf, dass nicht nur das Kerngeschäft in erheblichem Masse ausgebaut wurde. Auch die verpflichtenden Ablenkungen davon, die dazu dienen, die Schule als Einheit zu bekräftigen, hat man aufgestockt.

Die Frage scheint mir berechtigt: Wozu dient diese Einheit? Warum dieser Zusammenzwang, über den es auch keine Grundsatzdebatte gibt? Sofern es sie denn gegeben hat. Offenbar ist es ausgeschlossen, dass eine einzelne Lehrperson mit ihren Klassen eigenmächtig Sonderwochen, Ausflüge und Projekte durchführt. Diese Eigenbrötlerei wird heute rundweg abgelehnt, sie gilt als anfällig für Willkür. Und dafür gibt es einschlägige Beispiele genug. Aber es gab auch unter Lehrkräften vergangener Semester Sonderlinge, die ihr Kerngeschäft hervorragend betrieben. Ihr Beispiel fiel unter den Tisch, nur die willkürlichen Eigenbrötler bestimmten die Politik, die verlangt, dass man Lehrpersonen zu Teams zusammenzwingt. Ich bin überzeugt, dass hierzu keine Daten greifbar waren, die die Willkür von Einzelgängern unter Lehrkräften signifikant belegt hätten. Die Überzeugung von der Willkür von Lehrkräften infolge ihrer Eigenbrötlerei beruht auf der Erfahrung einer ganzen Generation, die für die Reformen verantwortlich zeichnet und sich auf ein miserables Lehrerbild verständigt hat, das wissenschaftlich nicht aufbereitet ist. Eine weitere Formel, die für diese Leute handlungsweisend war, könnte wie folgt lauten:

Lehrpersonen neigen zu Eigenbrötlerei und damit zu Willkür und Machtmissbrauch. Sie tun, was sie wollen. Also gehören sie kontrolliert durch Lernzielmanagement und Teambildung.

Teambildung ist für wirtschaftliches Projektmanagement von der Sache her unabdingbar, während sie im Bereich Bildung keine Notwendigkeit hat. Im wirtschaftlichen Projektmanagement arbeiten unterschiedliche Fachleute zusammen: Programmierer, Designer, Ingenieure. Lehrkräfte sind Pädagogen ohne Spezialisierung. Dennoch wird ihre Zusammenarbeit für hochdringend befunden. Mitarbeiter eines Wirtschaftsprojekts wirken ausserdem nur auf Zeit zusammen, während die Lehrpersonen einer Schule Jahr für Jahr ihre Teamfähigkeit mit den immer gleichen Leuten zu beweisen haben.

Der notorische Zusammenzwang zu Teams ist vermutlich ideologisch bedingt. Zwar gibt es gewiss eine Handvoll Kompetenzen, die sich dank solch gemeinsamer Anlässe abhaken lassen, wie der Lehrplan sie vorsieht. Diese Anlässe sind also hinreichend zu ihrer Erfüllung, aber sind sie auch notwendig dazu? Ich bin sicher, die nämlichen Kompetenzen liessen sich auch anderweitig beschulen. Dieser Zusammenzwang hat meiner Ansicht nach zwei ideologische Wurzeln. Die eine ist in pädagogischen Reformen zu finden, wo man eben diese autoritäre Eigenbrötlerei durch klassenübergreifende Zusammenarbeit zu überwinden hoffte. Ich erinnere mich an Lehrkräfte alter Schule, die sich weigerten, an einer solchen Vermischung mitzumachen. Dies mit der Begründung, man würde so nichts lernen. Das klingt zugegeben wohl eher abgestanden, als weise.

Dennoch ist es heute der Fall, dass der Lernzuwachs solcher Anlässe nicht gemessen wird. Es bleibt bei der Organisierwut, die Kräfte verzehrt, und bei ein paar Rückmeldungen, die man zehn Minuten vor Ende der gemeinsamen Veranstaltung noch flüchtig einzieht. Wie immer geht es in der Praxis darum, dass man Listen überprüfbar abarbeitet, damit die Kirche im Dorf bleibt. So macht man es sich allabendlich vorwurfsfrei auf dem Sofa bequem.

Die zweite Wurzel sehe ich im Unternehmertum als Vorbild für Schulen. Eine Firma tritt einheitlich auf. Das beginnt damit, dass man Lehrpersonen wie im Management üblich vor dem genau gleichen unscharfen Hintergrund abfotografiert und im genau gleichen Winkel zur Kamera gewandt. Dieses Vorbild hält sich hartnäckig, obwohl Fachleute seit Langem das Ansinnen verneinen, man könne Grundsätze der Wirtschaft einfach so auf Schulen übertragen. Dann wäre nach dem Produkt zu fragen, das die Schule als Unternehmen erzeugt. Allerdings untersagt es sich, dass man junge Menschen, die mit einer Handvoll Kompetenzen ausgebildet sind, als Produkt zu behandeln. Auch findet sich in der Wirtschaft kein Unternehmen mit Zwangskunden. Im Übrigen sorgt das Steuerwesen dafür, dass die Einnahmen einer Schule Jahr für Jahr konstant hereinsprudeln.

Die Schule als Unternehmen erachte ich aus diesen Gründen als naiven Unsinn.

Bleibt der einheitliche, möglichst pompöse Auftritt in der Öffentlichkeit, der eine Schule scheinbar zum Unternehmen macht. Mir sind einige Lehrkräfte bekannt, die gerne beim Kerngeschäft blieben, Unterricht und Elternarbeit miteingerechnet, wenn nur dieser ganze Zirkus rund um die Schule nicht wäre.

Anna Kim «Die Zähne», Plattform Gegenzauber

Gilbert träumt: Er sitzt in einem Zugabteil neben zwei Frauen. Sie stellen sich mit einer kleinen Verbeugung vor. Martha sagt, sie heißen Ida und Martha. Ida ist stumm, da sie aus ihrem Mund eine Gebirgslandschaft bläst. Sie hört nicht auf, bis alle Berggipfel vollzählig sind und die Wolken einen Himmel gebildet haben. Martha trägt eine Fellmütze auf dem Kopf. Endlich knarrt Ida: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Gilbert: Sprechen Sie mit mir? Martha wiederholt: Der Arzt sagt, Sie sind ein Engel. Sie nestelt in ihrer Handtasche, gibt ihm zwei verschlossene Briefumschläge. Er öffnet sie, beide Karten sind unbeschrieben. Ida und Martha ziehen schwarze Lederhandschuhe an. Sie nähern sich seinem Hals, drücken auf seinen Kehlkopf. Er zieht eine Bratpfanne aus der Hosentasche. Gilbert schlägt auf Idas und Marthas Köpfe. Die Pfanne gewinnt. Das Abteil verwandelt sich in einen Hotelflur. Martha ruft den Aufzug herbei. Der Aufzug stürzt ab.

An einem Sonntagmorgen, die Kopfschmerzen lagen noch im Bett, und auf den Straßen herrschte schüchterner Verkehr, schüttelte Gilbert den Traum ab, einen Wiederkehrer, und beschloss statt einer Dusche ein Sandbad zu nehmen. Er füllte die rote Plastikwanne seiner Kinder mit Vogelsand und warf sich, Rücken voran, in den Sand; die Beine und Füße wälzte er zuletzt. Anschließend schüttelte er sich so lange, bis er den Sand vollkommen losgeworden war, und lief in die Küche, wo er ein hart gekochtes Ei und eine Scheibe Toastbrot in seine Backen schob, ohne zu kauen. Im Badezimmer spuckte er die Ladung in den Wäschekorb, die Reste, die in den Zähnen und Wangen stecken geblieben waren, holte er mit den Fingern hervor und schmierte sie dazu. Er schloss den Korb und lief erneut in die Küche, wo er Kaffee aus der Kanne schleckte. Beim Hinauslaufen packte er ein paar Salamischeiben, etwas Vollkornbrot und eine Gewürzgurke in die Wangen und spie die Mischung auf die Dreckwäsche. Danach lief Gilbert in die Abstellkammer zum Schlafen, in einen dunklen Raum unter der Treppe, der wegen der Heizrohre in der Wand warm war.

Als er erwachte, waren seine Lippen zerbissen, und es war ihm kaum möglich, den Mund zu schließen. Seine Zähne waren gewachsen; Gilbert überprüfte dies mit Hilfe eines Spiegels und eines Lineals. Noch während er sie abtastete, musste er feststellen, dass sie bereits weitergewachsen waren, so beschloss er, sie an einem Tischbein abzuwetzen. Er wieselte aus der Kammer, blieb aber mit einer Wange an der Türklinke hängen. Auch die Backen hatten sich verändert, wieder griff Gilbert zum Spiegel, sie hatten sich in Hängebacken verwandelt, reichten bis zur Kinnspitze und schlabberten bei jeder Bewegung. Gilbert machte dies allerdings nichts aus, im Gegenteil: Sie gefielen ihm besser als vorher. Zufrieden ließ er sie in seinen Händen auf und ab hüpfen, als wären sie Brüste.

Es begann zu dämmern, Gilberts Magen knurrte laut und anhaltend. Auf Salami hatte er keine Lust mehr, wohl aber auf Vollkornbrot. Nach dem mühsamen Abendessen, es bestand aus Sonnenblumenkernen, die er mit seinen Zähnen und Fingern aus den Fitnessbrötchen pulte, verspürte er den Drang zu laufen. Laufen gehörte zu den Dingen, die Gilbert früher stets vermieden hatte: Nie wäre er gerannt, um einen Bus zu erwischen, und schon gar nie aus Spaß. Doch heute drängte es ihn geradezu danach zu rennen, er war besessen von dem Wunsch, die Beine zu bewegen, den Wind in den Haaren und hinter den Ohren zu spüren. Hin und wieder schlich sich der Gedanke an Sonnenblumenkerne ein, dann hielt er Ausschau nach einem weiteren Fitnessbrötchen, schließlich aber gewannen die Füße die Oberhand, und er nahm sie unter die Arme und rannte los, aus dem Haustor, die Straße hinauf zur Busstation und weiter nordwärts bis zum Ende der asphaltierten Wege; er lief auf verlassenen Schienen, die mit Gras überwuchert waren, Gras und Unkraut, rannte auf ein Wäldchen zu, über eine Wiese, und verrannte sich. Da er sich nicht entscheiden konnte, in welcher Richtung er weiterrennen sollte, rannte er auf der Stelle, nur um zu rennen. Als er ein verdächtiges Knacksen hinter sich hörte, floh er in den U-Bahn-Schacht.

Für die Zwillinge vergingen die Stunden im Hort zu langsam, die Mädchen starrten auf die große Uhr mit dem römischen Zifferblatt, hatten aber das Gefühl, die Zeiger bewegten sich nicht, tatsächlich waren sie sich nicht sicher, ob der Zeitzähler überhaupt Zeit zählen konnte. Zudem mussten sie stillsitzen, ein Buch in der Hand war alles, was ihnen gestattet war; die Beine brav übereinander geschlagen, und aus den zusammengebundenen Haaren verirrte sich keine Strähne. Die Aufpasserin war stets auf der Suche nach Briefchen, die die Mädchen einander zusteckten. Vielleicht aber, meinte der eine Zwilling, war sie nicht auf der Suche nach Briefchen, sondern dabei, ihre Nummer zu proben. Nummer, fragte der andere. Siehst du denn nicht, sagte daraufhin der eine Zwilling, dass sie eine Schlangenfrau ist?

An der Haltestelle stiegen die Zwillinge in die Tram und pressten ihre Gesichter an die Glasscheibe: Ein Luftballon versuchte dem Gartenzaun zu entkommen. Plötzlich sprang ein Mann auf die Schienen, der Schaffner zog die Notbremse, der Mann blickte sich verwirrt um und verschwand im U-Bahn-Tunnel, und die Schwestern sprangen aus dem Zug und jagten ihm hinterher.

Es roch nach Berührungen von Regen mit Welt; im Tunnel fanden sich weder Gehwege noch der rasende Wilde, nur Feuchtigkeit und die Gewissheit, dass sich Moder in den Haaren und in der Kleidung niederlässt, um für immer eingenistet zu bleiben, und doch kehrten die Zwillinge nicht um, sondern versuchten, den Mann mit den langen Wangen zu erschnuppern; es schien ihnen, als müsste er duften.

Gilbert war in einem Aufsichtsraum angekommen, in einer kleinen Kammer in einem Seitentunnel. Ein Fernseher stand auf einem Plastiktisch, die Zeitung war zusammengefaltet und hing (gerade noch) über der Lehne. Vorsichtig sah sich Gilbert um, seine Schnurrhaare auf dem Nasenrücken zuckten nicht, also schlüpfte er in den Raum, zog die Tür hinter sich zu, schlüpfte unter den Tisch und schlief ein. Vielleicht hatte es ihn danach gedrängt, aus der Wohnung zu laufen, weil er sich in den Höhlen unterhalb der Stadt sicherer fühlte. Die Dunkelheit machte ihm nicht zu schaffen, im Gegenteil, sie erleichterte das Erkennen: Die Finsternis schärfte seinen Sehsinn. Zudem konnte er endlich seinem Drang nachgehen, mit den Händen und Füßen zu graben, in der Erde zu wühlen, sich auf der Erde und in ihr zu wälzen und Dreck auf sich zu häufen, ohne gesellschaftliche Konsequenzen.

Nach dem Nickerchen begann er in den Nebenhöhlen des U-Bahnnetzes Gänge zu graben, vier Eingänge hatte er geplant, die Nestkammer sollte sich genau einen Meter unter der Erdoberfläche befinden und mit Gras ausgelegt sein, seine Fingernägel, seine Schaufeln, hatten schon begonnen, sich diesem Wunsch anzupassen, sie wuchsen sich aus zu Krallen, und die Hände zu Pfoten, etwas stärker behaart und um einiges kräftiger als zuvor. Zunehmend entfiel ihm die helle Welt, und seine Erinnerungen wurden vom Dunkel verschluckt.

Die Zwillinge hatten sich verlaufen. Seit einigen Tagen irrten sie durch das unterirdische Labyrinth und hatten es schon fast aufgegeben, an die Erdoberfläche zu gelangen, als sie an einer Abzweigung eine Abstellkammer entdeckten. Die hölzerne Tür war hinter einem Vorsprung verborgen; sie war ihnen nur aufgefallen, weil ein eigenartiger Geruch durch einen Spalt in den Tunnel strömte.

Vorsichtig spähten sie in den Raum, konnten aber im Schein des Streichholzes nicht viel erkennen. Um sicher zu gehen, dass im Inneren der Höhle niemand auf sie lauerte, blieben sie eine Weile vor der verschlossenen Tür sitzen und horchten auf verdächtige Geräusche. Erst als sie sich vergewissert hatten, dass ihr Leben nicht in Gefahr war, schlüpften sie in die Futterkammer. Eine große Auswahl an Lebensmitteln gab es nicht, sie ertasteten hauptsächlich Erdnüsse, Haselnüsse, Walnüsse, Sonnenblumenkerne und etwas weiches, fauliges Obst, außerdem tote Fliegen, Würmer und Käfer.

Die Mädchen stürzten sich auf das Essen. Im Schein des vorletzten Streichholzes beschlossen sie, an diesem Ort zu bleiben und auf den Besitzer der Fressalien zu warten; auch wenn er böse auf sie wäre, weil sie seinen Vorrat dezimiert hatten, wollten sie ihn um Hilfe bitten, er musste den Weg ins Freie kennen, vielleicht würde er sie sogar bis zur Erdoberfläche begleiten. Doch bereits nach wenigen Stunden bereuten sie ihre Entscheidung: Nichts deutete darauf hin, dass der Sammler zurückkehren würde, wahrscheinlicher war, dass er diesen Ort aufgegeben hatte, daher das verfaulte Obst und die vielen toten Insekten. Diese Kammer war nicht für die Lebenden gedacht, schoss es ihnen durch den Kopf.

Gerade, als sie sich wieder in die Finsternis wagen wollten, kam ein Schatten durch die Tür gehumpelt, stieß bei ihrem Anblick ein aufgeregtes Pfeifen aus und begann bedrohlich zu knurren.

Sein rechter Unterschenkel stand waagrecht in die Luft, Gilbert war auf seinen Beutezügen von einem Balkon gefallen. Er hatte zwar als Vierbeiner eine beachtliche Geschicklichkeit erworben, war aber gerade deswegen leichtsinnig geworden und hatte sich seine Ziele immer höher und höher gesteckt. Während er von Balkon zu Balkon gesprungen war, mehr ein Affe als ein Nager, war er abgerutscht und dabei mit einem Fuß im Geländer hängen geblieben. Also hatte er die Futtersuche abgebrochen und war in seinen Bau zurückgehinkt. Auf dem Weg in den U-Bahn-Schacht hatte er sich ständig umgesehen, er war das beklemmende Gefühl nicht losgeworden, dass sich ihm ein Raubtier näherte. Nun hatte er zwei Mädchen vor sich, denen die Finsternis sämtliche Farben von Gesicht und Kleidung gestohlen hatte: zwei Geister.

Gilbert machte es sich (so gut es ging) in seinem Nest bequem, krempelte das rechte Hosenbein hoch und untersuchte die Verletzung, die sich, von Schwärze angesteckt, ebenfalls schwarz verfärbt hatte. Das Geisterduo fragte, ob es in der Nähe ein Krankenhaus gebe, aber Gilbert hörte nicht zu, er hatte sich schon über das Bein gebeugt und begonnen, es abzubeißen.

Als er die Operation beendet hatte, reinigte er seine Zähne mit der Zunge und den Fingern. Die Schwestern, die ihm noch immer stumm gegenübersaßen, ignorierte er, akzeptierte aber die Haselnuss, die ihm Nummer Eins anbot. Nummer Zwei trug den abgetrennten Unterschenkel in den Nachbargang und stopfte ihn in einen Spalt, dann säuberte sie Gilberts Nest und streute trockenes Stroh auf die blutdurchtränkte Stelle.

Wie zahm er ist, dachten die Zwillinge, als sie ihm, wie jeden Tag, den Bauch kraulten und ihm Sonnenblumenkerne und Erdnüsse zusteckten. Ließen sie die Nuss auf der Hand, setzte er sich sogar auf ihre Hände, wobei diese vollkommen unter seinem Gesäß verschwanden. Da er sich weigerte mit ihnen zu sprechen – außer einem lauten Pfeifen kam nichts aus seinem Mund –, nannten sie ihn Hallo. Dies war das einzige Wort, auf das er reagierte. Auf die Idee, sich selbst mit Namen vorzustellen, kamen sie nicht. Es reichte ihnen, dass er wusste, wann er angesprochen war.

Sie begleiteten ihn überall hin, auch bei der Futtersuche, da er ständig das Gleichgewicht verlor und sich wunderte, wenn er umfiel. Manchmal versuchte er gar, sich mit dem Phantomfuß am Oberschenkel zu kratzen. Sein wohliger Gesichtsausdruck stand dabei ganz im Gegensatz zum Gelenk, das orientierungslos durch die Luft ruderte. Gilbert schien die Amputation vergessen zu haben, ebenso seinen Unfall; das Einzige, an das er sich erinnerte, waren gute Futterplätze und -verstecke sowie die Mädchen, die ihn mit Nüssen und Streicheleinheiten gezähmt hatten.

Aber auch die Zwillinge vergaßen; sie vergaßen, dass sie vor wenigen Tagen noch verzweifelt versucht hatten, einen Ausgang aus dem Labyrinth zu finden. Nun, da sie ihre genaue Position kannten, genossen sie Gilberts Gesellschaft und dachten gar nicht mehr daran, in ihr Zuhause zurückzukehren. An manchen Abenden wagten sie sich ohne seine Hilfe in die Oberwelt und brachten ihm einen Eimer voll Sand mit, den sie in seine Sandkiste schütteten, damit er ein Sandbad nehmen konnte. Ihr altes Leben vermissten sie nicht; an seinem Haar lasen sie den Wechsel der Jahreszeiten ab, im Oktober verlor es seine Farbe und wurde winterweiß, im Februar dunkelte es nach und wurde wieder hellbraun.

Gilbert wurde ihr Haustier und Anführer, was immer er befahl, sie folgten ihm. Er lehrte sie das Leben im Untergrund, und die Zwillinge revanchierten sich, indem sie ihm seine dreibeinige Existenz so angenehm wie möglich machten – zu angenehm, wie sich herausstellte: Er vergaß vollkommen, seine Zähne zu wetzen. So wuchsen seine unteren Nagezähne aus der Mundhöhle heraus und spiralförmig in seinen Oberkiefer, die oberen Zähne aber krümmten sich um sich selbst und durchstießen sein Kinn.

Kurz bevor Gilbert erstickte, streichelten ihn die ergrauten Zwillinge und stellten sich endlich vor. Du sollst unsere Namen erfahren, sagten sie, wir heißen Ida und Martha.

(Eine längere Fassung erschien 2017 im Erzählband „Fingerpflanzen“, Topalian & Milani)

Anna Kim wurde 1977 in Südkorea geboren, zog 1979 mit ihrer Familie nach Deutschland und schliesslich weiter nach Wien, wo die Autorin heute lebt. Im Suhrkamp Verlag erschienen zuletzt die Romane «Anatomie einer Nacht» (2012) und «Die grosse Heimkehr» (2017). Für ihr erzählerisches und essayistisches Werk erhielt sie zahlreiche Stipendien und Preise, darunter den Literaturpreis der Europäischen Union.

Illustration © leafrei.com